SOM- 4_2021
Logopädie, Pflanzen, Probiotika
Logopädie, Pflanzen, Probiotika
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Wissenschaft
Es wird immer deutlicher, wie hochambivalent
die eigenen Eltern besetzt sind.
Der Vater, der aufgrund seiner Alkoholabhängigkeit
Herrn A. als Ältesten wiederkehrend
in die Verantwortung zwang,
sich nicht nur um ihn, sondern auch um
seine jüngeren Geschwister zu kümmern.
Seine Mutter, in der eigenen Passivität
gefangen. Neben Wut, Enttäuschung und
Resignation, die das Erleben zunächst
dominieren, stehen – noch im Nebel –
Wünsche nach Zuneigung, Anerkennung
und positiver Resonanz.
Epidemiologie und
Prävalenz
Jährlich sterben in Deutschland über
10 000 Menschen an vollendeten Suiziden.
Das Geschlechterverhältnis liegt bei
mehr als 2:1 (m:w), mit steigender Tendenz
der Suizidraten (pro 100 000 Einwohner/Jahr)
bei zunehmendem Alter,
insbesondere bezogen auf das männliche
Geschlecht (Tab. 1). Auch bei Menschen
im Alter zwischen 15 und 39 Jahren ist
der vollendete Suizid die zweithäufigste
Todesursache. Bei der noch deutlich höheren
Zahl an Suizidversuchen verhält
sich das Geschlechterverhältnis diametral,
wobei eine nähere Betrachtung dieses
Phänomens [1] den Rahmen hier übersteigt.
Suizid wird definiert als „die Summe aller
Denk- und Verhaltensweisen von Menschen
[...], die in Gedanken, durch aktives
Handeln, handeln lassen oder passives
Unterlassen den eigenen Tod anstreben
bzw. als möglichen Ausgang einer Handlung
in Kauf nehmen“ [2, S. 26].
Eine insgesamt rückläufige Tendenz der
Suizidraten bestärkt die These, dass sich
eine zunehmende Beschäftigung mit der
Thematik auszahlt [3]. Dennoch weisen
Fachverbände darauf hin, dass für suizidpräventive
Maßnahmen längst nicht
hinreichend Ressourcen zur Verfügung
stehen. Aus suizidologischer Perspektive
herrscht Konsens über die Notwendigkeit,
sowohl auf globaler (z. B. weitere Begrenzung
des Zugangs zu tödlichen Mitteln)
als auch auf individueller Ebene (z. B.
niedrigschwellige Anlaufstellen) Strategien
auszubauen, insbesondere jedoch den
politischen und öffentlichen Dialog zu
stärken und nicht zuletzt Aufklärungsarbeit
zu leisten [4, 5]. Wichtig hierbei ist
ein bewusster Umgang mit medialer Berichterstattung
[2]. Serien wie „13 Reasons
Why“, kürzlich auf dem Streamingportal
Netflix ausgestrahlt, schlagen in
ihrer Intention eher fehl, bergen Nachahmungspotenzial
(„Werther-Effekt“) und
tragen zu einer Glorifizierung, nicht aber
zu einer Aufklärung über Auswegmöglichkeiten
bei Suizidgedanken bei [6].
Woran erkenne ich
Suizidaliät?
Möglicherweise als Restspuren gesellschaftlicher
Tabuisierung besteht weiterhin
ein volkstümlicher Irrglaube
dahingehend, dass Menschen, die über
Suizidalität sprechen, sich nicht tatsächlich
etwas antun oder aber, dass das bloße
Nachfragen und Thematisieren von
Suizidalität Betroffene erst auf die Idee
bringen und einen suizidalen Akt gar
befördern möge. Vielmehr ist es so, dass
das „ernsthaft(e) und einfühlsam(e), direkt(e)
und konkret(e)“ [7] Nachfragen
enorm wichtig ist und für den (innerlich)
isolierten Menschen ein erstes Beziehungsangebot
und somit einen wichtigen
suizidpräventiven Faktor darstellt.
Suizidalität wird im psychiatrischen und
psychologischen Verständnis auf einem
Kontinuum angesiedelt, von einer eher
passiven (Lebensüberdruss) bis hin zur
akuten Suizidalität, mit unterschiedlicher
Indikation und Notwendigkeit zum aktiven
Handeln [2]. Sie wird klassischerweise
im Dreischritt erfragt, von Suizidgedanken
(z. B. „Es gibt Menschen, die in
einer vergleichbaren Situation lebensmüde
Gedanken entwickeln. Kennen Sie solche
Gedanken?“), über Suizidabsichten
(mit oder ohne konkreten Plan) bis hin
zu vorbereitenden (z. B. Horten von Tabletten),
begonnenen oder vollendeten
Suizidhandlungen (in der unmittelbaren
oder längeren Vorgeschichte). Ein
wichtiger, oft unterschätzter Hinweis ist
die passive Suizidalität („Zunehmend
wünschte ich mir morgens gar nicht mehr
aufzuwachen“), die i. d. R. mit einer höheren
Fähigkeit der Distanzierung und
einem flexibleren psychischen Innenraum
einhergeht, jedoch langfristig nicht
minder alarmieren sollte. Vielmehr ist die
therapeutische Erreichbarkeit zu diesem
Zeitpunkt begünstigt. Je höher die innere
und häufig auch interaktionelle Einengung
(Rückzug vom äußeren Umfeld),
desto größer die Gefahr (präsuizidales
Syndrom nach Ringel, [2]). Suizidalität
wohnt i. d. R. eine hohe Ambivalenz
inne, und genau hier liegt die Chance zur
Intervention.
Klinisch hilfreich ist das Stadienmodell
der präsuizidalen Entwicklung von Pöldinger
[2], das unterscheidet zwischen:
Insg. 15–20 20–25 25–30 30–35 35–40 40–45 45–50 50–55 55–60 60–65 65–70 70–75 75–80 80–85 85–90 ≥90
m 18.4 6.2 10.2 12.5 14.6 14.5 17.9 19.6 22.7 25.9 21.8 20.3 29.7 36.8 52.4 71.7 112.9
w 6.5 3.2 3.3 3.4 4.2 4.6 6.5 7.2 8.5 8.9 7.9 8.5 11.0 10.8 11.1 13.6 15.6
z 12.3 4.7 6.9 8.1 9.5 9.6 12.2 13.5 15.7 17.4 14.6 14.1 19.7 22.3 27.6 33.0 37.4
Tab. 1: Suizidraten 2015 (Suizid/100 000 Einwohner), Quelle: Statistisches Bundesamt, Todesursachenstatistik [16]
Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 17