09.12.2021 Aufrufe

SOM- 4_2021

Logopädie, Pflanzen, Probiotika

Logopädie, Pflanzen, Probiotika

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Wissenschaft

Es wird immer deutlicher, wie hochambivalent

die eigenen Eltern besetzt sind.

Der Vater, der aufgrund seiner Alkoholabhängigkeit

Herrn A. als Ältesten wiederkehrend

in die Verantwortung zwang,

sich nicht nur um ihn, sondern auch um

seine jüngeren Geschwister zu kümmern.

Seine Mutter, in der eigenen Passivität

gefangen. Neben Wut, Enttäuschung und

Resignation, die das Erleben zunächst

dominieren, stehen – noch im Nebel –

Wünsche nach Zuneigung, Anerkennung

und positiver Resonanz.

Epidemiologie und

Prävalenz

Jährlich sterben in Deutschland über

10 000 Menschen an vollendeten Suiziden.

Das Geschlechterverhältnis liegt bei

mehr als 2:1 (m:w), mit steigender Tendenz

der Suizidraten (pro 100 000 Einwohner/Jahr)

bei zunehmendem Alter,

insbesondere bezogen auf das männliche

Geschlecht (Tab. 1). Auch bei Menschen

im Alter zwischen 15 und 39 Jahren ist

der vollendete Suizid die zweithäufigste

Todesursache. Bei der noch deutlich höheren

Zahl an Suizidversuchen verhält

sich das Geschlechterverhältnis diametral,

wobei eine nähere Betrachtung dieses

Phänomens [1] den Rahmen hier übersteigt.

Suizid wird definiert als „die Summe aller

Denk- und Verhaltensweisen von Menschen

[...], die in Gedanken, durch aktives

Handeln, handeln lassen oder passives

Unterlassen den eigenen Tod anstreben

bzw. als möglichen Ausgang einer Handlung

in Kauf nehmen“ [2, S. 26].

Eine insgesamt rückläufige Tendenz der

Suizidraten bestärkt die These, dass sich

eine zunehmende Beschäftigung mit der

Thematik auszahlt [3]. Dennoch weisen

Fachverbände darauf hin, dass für suizidpräventive

Maßnahmen längst nicht

hinreichend Ressourcen zur Verfügung

stehen. Aus suizidologischer Perspektive

herrscht Konsens über die Notwendigkeit,

sowohl auf globaler (z. B. weitere Begrenzung

des Zugangs zu tödlichen Mitteln)

als auch auf individueller Ebene (z. B.

niedrigschwellige Anlaufstellen) Strategien

auszubauen, insbesondere jedoch den

politischen und öffentlichen Dialog zu

stärken und nicht zuletzt Aufklärungsarbeit

zu leisten [4, 5]. Wichtig hierbei ist

ein bewusster Umgang mit medialer Berichterstattung

[2]. Serien wie „13 Reasons

Why“, kürzlich auf dem Streamingportal

Netflix ausgestrahlt, schlagen in

ihrer Intention eher fehl, bergen Nachahmungspotenzial

(„Werther-Effekt“) und

tragen zu einer Glorifizierung, nicht aber

zu einer Aufklärung über Auswegmöglichkeiten

bei Suizidgedanken bei [6].

Woran erkenne ich

Suizidaliät?

Möglicherweise als Restspuren gesellschaftlicher

Tabuisierung besteht weiterhin

ein volkstümlicher Irrglaube

dahingehend, dass Menschen, die über

Suizidalität sprechen, sich nicht tatsächlich

etwas antun oder aber, dass das bloße

Nachfragen und Thematisieren von

Suizidalität Betroffene erst auf die Idee

bringen und einen suizidalen Akt gar

befördern möge. Vielmehr ist es so, dass

das „ernsthaft(e) und einfühlsam(e), direkt(e)

und konkret(e)“ [7] Nachfragen

enorm wichtig ist und für den (innerlich)

isolierten Menschen ein erstes Beziehungsangebot

und somit einen wichtigen

suizidpräventiven Faktor darstellt.

Suizidalität wird im psychiatrischen und

psychologischen Verständnis auf einem

Kontinuum angesiedelt, von einer eher

passiven (Lebensüberdruss) bis hin zur

akuten Suizidalität, mit unterschiedlicher

Indikation und Notwendigkeit zum aktiven

Handeln [2]. Sie wird klassischerweise

im Dreischritt erfragt, von Suizidgedanken

(z. B. „Es gibt Menschen, die in

einer vergleichbaren Situation lebensmüde

Gedanken entwickeln. Kennen Sie solche

Gedanken?“), über Suizidabsichten

(mit oder ohne konkreten Plan) bis hin

zu vorbereitenden (z. B. Horten von Tabletten),

begonnenen oder vollendeten

Suizidhandlungen (in der unmittelbaren

oder längeren Vorgeschichte). Ein

wichtiger, oft unterschätzter Hinweis ist

die passive Suizidalität („Zunehmend

wünschte ich mir morgens gar nicht mehr

aufzuwachen“), die i. d. R. mit einer höheren

Fähigkeit der Distanzierung und

einem flexibleren psychischen Innenraum

einhergeht, jedoch langfristig nicht

minder alarmieren sollte. Vielmehr ist die

therapeutische Erreichbarkeit zu diesem

Zeitpunkt begünstigt. Je höher die innere

und häufig auch interaktionelle Einengung

(Rückzug vom äußeren Umfeld),

desto größer die Gefahr (präsuizidales

Syndrom nach Ringel, [2]). Suizidalität

wohnt i. d. R. eine hohe Ambivalenz

inne, und genau hier liegt die Chance zur

Intervention.

Klinisch hilfreich ist das Stadienmodell

der präsuizidalen Entwicklung von Pöldinger

[2], das unterscheidet zwischen:

Insg. 15–20 20–25 25–30 30–35 35–40 40–45 45–50 50–55 55–60 60–65 65–70 70–75 75–80 80–85 85–90 ≥90

m 18.4 6.2 10.2 12.5 14.6 14.5 17.9 19.6 22.7 25.9 21.8 20.3 29.7 36.8 52.4 71.7 112.9

w 6.5 3.2 3.3 3.4 4.2 4.6 6.5 7.2 8.5 8.9 7.9 8.5 11.0 10.8 11.1 13.6 15.6

z 12.3 4.7 6.9 8.1 9.5 9.6 12.2 13.5 15.7 17.4 14.6 14.1 19.7 22.3 27.6 33.0 37.4

Tab. 1: Suizidraten 2015 (Suizid/100 000 Einwohner), Quelle: Statistisches Bundesamt, Todesursachenstatistik [16]

Systemische Orale Medizin · 10. Jahrgang 4/2021 17

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!