Biographisches Handbuch der Rabbiner - Salomon Ludwig ...
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Vorwort des Bearbeiters<br />
Als <strong>der</strong> Philosoph Heymann Steinthal einmal von einem hebräischen Literaten gefragt<br />
wurde, welche Persönlichkeit ihn während seiner Dessauer Jugendzeit am meisten beeinflußt<br />
habe, nannte er ohne Zögern den damaligen Gemein<strong>der</strong>abbiner Samuel<br />
Hirsch. 1 Die Erinnerung Steinthals bezog sich nicht auf die literarischen Leistungen des<br />
Autors <strong>der</strong> Religionsphilosophie <strong>der</strong> Juden, son<strong>der</strong>n auf den Religionsunterricht, den<br />
<strong>der</strong> damals noch unbekannte Fünfundzwanzigjährige aus dem Hunsrück im Rahmen<br />
seiner kurzfristigen Anstellung im Anhaltischen versehen hatte. Dieser Aspekt rabbinischen<br />
Wirkens, über den uns heute außer <strong>der</strong>gleichen versprengten Erinnerungen nur<br />
zufällige Hinweise in Archivdokumenten unterrichten, blieb schon <strong>der</strong> Mitwelt nicht<br />
selten verborgen. Seinen Dienstherren jedenfalls, die ihn 1841 aus Sparsamkeit wie<strong>der</strong><br />
entließen, war <strong>der</strong> Dessauer <strong>Rabbiner</strong>philosoph nur als „einer <strong>der</strong> fleißigsten Besucher<br />
von Schankwirtschaften“ aufgefallen. 2 Im aktenfüllenden Streit um seine Entlassung<br />
hatte sich immerhin ein Gemeindemitglied beim Minister für Hirsch verwendet und darauf<br />
hingewiesen, wie vorzüglich dieser in seiner Arbeit mit den Jugendlichen aus den<br />
biblisch-talmudischen Texten „gleich <strong>der</strong> Biene den Honig zu ziehen, und <strong>der</strong> alten Religion<br />
neuen Reiz zu verleihen verstehet“. 3<br />
Das Lob <strong>der</strong> originellen, zeitgemäßen Exegese alter Schriften steht hier nicht von<br />
ungefähr neben <strong>der</strong> Metapher ebenso fleißiger wie unauffälliger Arbeit. Auch ohne in<br />
<strong>der</strong> Literaturgeschichte Spuren zu hinterlassen, haben viele <strong>Rabbiner</strong> als Kultus- und<br />
Schulaufseher, als Kanzel- und Festredner, als Verfasser von Schulbüchern und Synagogenordnungen,<br />
als Autoritäts- und Vertrauenspersonen im Gemeindeleben und bei manchem<br />
empfänglichen Heranwachsenden ihre langsam keimende Saat gestreut. Einem<br />
Zeugen <strong>der</strong> Vormärzjahre zufolge ergab sich eine gewisse kulturelle Schlüsselstellung<br />
des <strong>Rabbiner</strong>s schon aus <strong>der</strong> Situation, daß er oft „<strong>der</strong> Einzige in seiner Gemeinde ist,<br />
<strong>der</strong> mit philosophischen Studien und einem studienerzeugten und erfahrungsgereiften<br />
Verständnisse <strong>der</strong> Zeitfor<strong>der</strong>ungen ausgerüstet, diese zu würdigen und zu befriedigen<br />
weiß“. 4 Die öffentliche deutschsprachige <strong>Rabbiner</strong>predigt hat, wie ein optimistischer<br />
Amtsgenosse aus <strong>der</strong> Oberpfalz anmerkte, sogar manchem christlichen Zuhörer ein neues<br />
Bild des Judentums nahegebracht und das „Lügengewebe falscher und boshafter Verdächtigungen“<br />
aufgerissen. 5<br />
Die begabtesten <strong>Rabbiner</strong> jener Zeit vermochten dem undeutlichen religiösen Gefühl<br />
ihrer Hörer rhetorische und ideologische Transparenz zu verleihen und in ihren Gemeinden<br />
damit ein neues historisches Selbstbewußtsein zu stiften. An<strong>der</strong>e paßten ihre Selbstsicht<br />
und Amtsvorbereitung gefügig <strong>der</strong> vorwegnehmenden Vorstellung ihrer Aufgaben<br />
an; in ihrer Arbeit und Lebensart versuchten sie das kulturelle Ideal <strong>der</strong> Gemeinde zu<br />
verkörpern, bei <strong>der</strong> sie in Amt und Brot standen. Wie<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e waren nicht willig o<strong>der</strong><br />
1 e e<br />
Nachruf von Leon Rabbinowitsch auf Steinthal in Ha-Gath: Me’assef l sifrūth ūl māda‘, St. Petersburg 1897, S. 38.<br />
Steinthal bestätigte selbst in einem Vortrag über Samuel Hirschs Philosophie, daß „gerade die Gedanken dieses<br />
Mannes in meiner ersten Jünglingszeit meine Religion erhellt, mein Judentum gestaltet und mich während meines<br />
Lebens nicht verlassen haben“ (AZJ 1895, S. 127).<br />
2<br />
LA Oranienbaum, Abt. Dessau, Rep. C 15, Nr. 57, 15. Sept. 1840.<br />
3<br />
Ebd., Nr. 67, Eingabe von E. Lepke, 13. Dez. 1840.<br />
4<br />
AZJ 1846, S. 351-353.<br />
5<br />
Maier Löwenmayer, Der Segen des Gotteshauses. Predigt zur Einweihung <strong>der</strong> Israelitischen Synagoge in<br />
Thalmessingen, Fürth 1857, S. 11.