Biographisches Handbuch der Rabbiner - Salomon Ludwig ...
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2 Vorwort des Bearbeiters<br />
fähig, auf den raschen Wandel <strong>der</strong> kollektiven Erwartungen an die religiöse Autorität<br />
angemessen zu reagieren: Dieser Generationenkonflikt gab zu den zeittypischen „Rabbinatswirren“<br />
ebenso Anlaß wie <strong>der</strong> umgekehrte Fall theologischer Heißsporne, die sich<br />
am Konservatismus ihrer Gemeinden rieben.<br />
Daß sich das jüdisch-religiöse Autoritätsgefüge <strong>der</strong>art personalisiert darstellt, leitet<br />
sich aus alter Berufstradition her, welche keine festen Amtshierarchien kennt und die<br />
Autorität des Talmudisten nicht von seiner Amtsweihe, son<strong>der</strong>n von seinen fachlichen<br />
und menschlichen Kompetenzen abhängig macht. Die wechselnden Konstellationen<br />
zwischen Amtsperson und Öffentlichkeit, <strong>der</strong>en Bedeutung in einer kirchenlosen Religionsgemeinschaft<br />
ohnehin nicht zu gering veranschlagt werden darf, erhielten während<br />
<strong>der</strong> ungemein kreativen Umbruchphase des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts ein zusätzliches historisches<br />
Gewicht, das mit den in <strong>der</strong> Mehrheitsgesellschaft herrschenden Verhältnissen nur<br />
schwer zu vergleichen ist. Standen beispielsweise im vormärzlichen Preußen den fast<br />
sechstausend evangelischen Pfarrstellen nur etwa 125 Rabbinate gegenüber, so bedeutet<br />
dies nicht einfach, daß uns die berufsgeschichtliche Mo<strong>der</strong>nisierungsproblematik in etwa<br />
fünfzigfacher Verkleinerung begegnet. Vielmehr schafft das demographische Faktum<br />
eine an<strong>der</strong>e Dynamik <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung, in <strong>der</strong> die Unterschiede <strong>der</strong> einzelnen Individualitäten<br />
weitaus weniger durch den berufsständischen Zusammenhang nivelliert<br />
werden. Aus <strong>der</strong> zahlenmäßigen Geringfügigkeit <strong>der</strong> <strong>Rabbiner</strong>schaft, zugleich auch aus<br />
<strong>der</strong> geringeren obrigkeitlichen Privilegierung <strong>der</strong> jüdischen Religion ergibt sich im Vergleich<br />
zu den christlichen Kirchen ein markantes Defizit bei <strong>der</strong> politischen Vereinheitlichung<br />
<strong>der</strong> Berufungen. Eine Reglementierung des <strong>Rabbiner</strong>standes mit Indigenats-,<br />
Studien- und Prüfungsfor<strong>der</strong>ungen wurde in Preußen nie unternommen; die Versuche in<br />
dieser Richtung scheiterten in Österreich und zum Teil auch in Bayern, während manche<br />
westdeutsche Kleinstaaten ihre Kultusgesetze zwar durchsetzen konnten, damit aber<br />
paradoxerweise <strong>der</strong> Subjektivität ihres oftmals einzigen Landesrabbiners eine noch größere<br />
Durchschlagskraft verliehen. „Es hat sich Alles mehr nach den einzelnen Individualitäten,<br />
nach den Umständen gebildet“, beschreibt Abraham Geiger die Entfaltung<br />
<strong>der</strong> rabbinischen Theologie zu seiner Zeit. 6 In <strong>der</strong> jüdischen Diaspora mit ihrer traditionellen<br />
Abwesenheit von zentraler Autorität führt uns die <strong>Rabbiner</strong>biographie also nicht<br />
nur an einen Schnittpunkt von Geistes- und Sozialgeschichte, son<strong>der</strong>n auch in ein offenes<br />
Zwiegespräch zwischen Institution und Individuum.<br />
Zu Recht widmete Michael A. Meyer in seinem Meisterwerk Response to Mo<strong>der</strong>nity<br />
(1988) ein beson<strong>der</strong>es Augenmerk dieser Verschränkung historischer Prozesse mit den<br />
„persönlichen Odysseen“ auf religiösem Gebiet, welche er mit psychologischem und<br />
literarischem Talent darzustellen und auf Generationenfolgen <strong>der</strong> religiösen Erziehung<br />
zurückzuführen vermag 7 . Monographien auf dem Gebiet <strong>der</strong> Biographik, <strong>der</strong> Ideenund<br />
Literaturgeschichte zahlen als Preis für ihre Berücksichtigung des Individuellen allerdings<br />
eine mehr o<strong>der</strong> weniger transparente Hierarchisierung ihrer Daten. So hat die<br />
Geschichtsschreibung die wi<strong>der</strong>sprüchlichen Entwürfe jüdischer Mo<strong>der</strong>nität, die wir<br />
dem 19. Jahrhun<strong>der</strong>t verdanken, im allgemeinen auf drei o<strong>der</strong> vier Formeln kondensiert<br />
und an die Namen von Abraham Geiger, Samson Raphael Hirsch und Zacharias Frankel<br />
gekettet, während <strong>der</strong> traditionalistische Wi<strong>der</strong>stand im Laufe <strong>der</strong> Zeit sein Symbol in<br />
<strong>der</strong> Person von Moses Sofer fand. So legitim diese vereinfachende Betrachtungsweise<br />
6 Ueber die Errichtung einer jüdisch-theologischen Facultät, Wiesbaden 1838, S. 21.<br />
7 Response to Mo<strong>der</strong>nity, Vorwort, S. X.