David | Erne |Krüger |Wabel: Körper und Kirche – Symbolische Verkörperung und protestantische Ekklesiologie (Leseprobe)
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Philipp <strong>David</strong> | Thomas <strong>Erne</strong><br />
Malte Dominik Krüger | Thomas Wabel (Hrsg.)<br />
<strong>Körper</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>Kirche</strong><br />
<strong>Symbolische</strong> <strong>Verkörperung</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>protestantische</strong> <strong>Ekklesiologie</strong><br />
Hermeneutik <strong>und</strong> Ästhetik
Vorwort<br />
Die in diesem Buch versammelten Beiträge ergründen Verknüpfungsmöglichkeiten<br />
des kognitionswissenschaftlichen<br />
Paradigmas der <strong>Verkörperung</strong> mit ekklesiologischen Theoriebildungen.<br />
Die vorangegangene Tagung »<strong>Körper</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>Kirche</strong>. <strong>Symbolische</strong> <strong>Verkörperung</strong> <strong>und</strong> <strong>protestantische</strong> <strong>Ekklesiologie</strong>«<br />
fand vom 17. bis 19. Mai 2019 an der Philipps-Universität<br />
Marburg statt. Veranstalter waren das Rudolf-Bultmann-Institut<br />
für Hermeneutik <strong>und</strong> das EKD-Institut für<br />
<strong>Kirche</strong>nbau <strong>und</strong> kirchliche Kunst der Gegenwart an der Philipps-Universität<br />
Marburg in Kooperation mit dem Institut<br />
für Evangelische Theologie am Fachbereich Geschichts- <strong>und</strong><br />
Kulturwissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen<br />
<strong>und</strong> der Dietrich-Bonhoeffer-Forschungsstelle für Öffentliche<br />
Theologie am Institut für Evangelische Theologie der<br />
Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Den öffentlichen Abendvortrag<br />
hielt Matthias Jung (Koblenz-Landau) zum Thema<br />
Artikulation, Bewusstsein, Religion. Einen ästhetischen Höhepunkt<br />
der Tagung bildete die Performance »<strong>Körper</strong> in der<br />
Kunst« der Marburger Künstlerin Bettina Hannsz. Dafür sei<br />
ihr an dieser Stelle auch noch einmal sehr herzlich gedankt.<br />
Für eine finanzielle Unterstützung der Tagung <strong>und</strong> der Publikation<br />
danken wir der Evangelischen <strong>Kirche</strong> in Hessen <strong>und</strong><br />
Nassau sehr.<br />
Die Vorträge der Tagung bilden die Gr<strong>und</strong>lage des Bandes.<br />
Für die Veröffentlichung sind diese ergänzt worden um<br />
eine Reihe von weiteren Beiträgen, die teils aus den angereg-<br />
5
ten Diskussionen sowie aus der Postersession von Nachwuchswissenschaftlerinnen<br />
<strong>und</strong> -wissenschaftlern auf der<br />
Tagung hervorgegangen <strong>und</strong> teils im Nachhinein angefragt<br />
worden sind.<br />
Für allfällige Korrekturvorgänge danken wir Eva-Maria<br />
Böss, Julia Hufnagel <strong>und</strong> Theresa Winkler aus Bamberg. Für<br />
die intensive Endredaktion der Beiträge, die Vorbereitung der<br />
Druckfahne <strong>und</strong> die Erstellung von Sach- <strong>und</strong> Personenregistern<br />
danken wir Martin Jockel aus Gießen. Schließlich<br />
danken wir dem Verlag <strong>und</strong> Frau Dr. Annette Weidhas für die<br />
ausgezeichnete Zusammenarbeit <strong>und</strong> für die Aufnahme der<br />
Reihe »Hermeneutik <strong>und</strong> Ästhetik« in das Verlagsprogramm,<br />
mit der ein Forum für die Gegenwartsdeutung des Christentums<br />
geboten wird. Das geschieht in interdisziplinärer Auseinandersetzung<br />
mit aktuellen Diskursen, die sich mit dem<br />
Wahrnehmen <strong>und</strong> Verstehen von religionskulturellen Transformationsprozessen<br />
in der Moderne befassen. In dieser Reihe<br />
erscheinen aktuelle Beiträge, wissenschaftliche Studien <strong>und</strong><br />
akademische Qualifikationsarbeiten zu allen Bereichen evangelischer<br />
Theologie.<br />
Im Frühsommer 2021<br />
Die Herausgeber<br />
6
Inhalt<br />
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />
I (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong> Religion<br />
Subjekt <strong>und</strong> <strong>Verkörperung</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43<br />
Anton Friedrich Koch<br />
Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59<br />
Jörg Dierken<br />
Artikulation, Bewusstsein <strong>und</strong> Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85<br />
Matthias Jung<br />
Die <strong>Verkörperung</strong> des Absoluten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109<br />
Religion als Medium der Sakralisierung, Ritualisierung <strong>und</strong><br />
Liminalisierung menschlicher Praxis-Raumzeitlichkeit<br />
Magnus Schlette<br />
Tod, Trauma <strong>und</strong> Behinderung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133<br />
Anfragen an eine Theologie der Unversehrten<br />
Maike Schult<br />
II (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong> Gemeinschaft<br />
<strong>Körper</strong>ekklesiologie <strong>und</strong> <strong>Körper</strong>ethik bei Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . 155<br />
Der Christusleib bei Paulus in 1Kor 12 als Leitmetapher<br />
Ruben Zimmermann<br />
Wessen Leib ist die <strong>Kirche</strong>? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193<br />
Das <strong>Verkörperung</strong>sparadigma als Klärungshilfe für die <strong>protestantische</strong><br />
<strong>Ekklesiologie</strong> <strong>–</strong> eine Spurensuche bei Wolfhart Pannenberg<br />
<strong>und</strong> Jürgen Moltmann<br />
Johannes Weth<br />
7
Inhalt<br />
<strong>Kirche</strong> als <strong>Verkörperung</strong> Christi? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221<br />
Die leibbezogene Evangeliumskommunikation im Gottesdienst<br />
<strong>und</strong> ihre ekklesiologischen Implikationen<br />
Isolde Karle<br />
Der <strong>Körper</strong> als Ausdruck Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241<br />
Ekklesiologische Implikationen einer spinozanischen<br />
Denkfigur<br />
André Flimm<br />
Klugheit kommunikativer <strong>Körper</strong>? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271<br />
<strong>Verkörperung</strong> in den Werken von Jürgen Habermas<br />
<strong>und</strong> Eilert Herms<br />
André Munzinger<br />
III (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong> Raum<br />
»Wann werde ich hineingehen <strong>und</strong> Gottes Angesicht sehen?«<br />
(Ps 42,3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291<br />
Alttestamentliche Raumkonzeptionen im Horizont<br />
der aktuellen <strong>Verkörperung</strong>sdiskussion<br />
Alexandra Gr<strong>und</strong>-Wittenberg<br />
Raum <strong>und</strong> Richtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323<br />
Wechselwirkungen von <strong>Kirche</strong> <strong>und</strong> <strong>Körper</strong> in der Erfahrung<br />
des <strong>Kirche</strong>nraums <strong>und</strong> bei Martin Luther<br />
Thomas Wabel<br />
Der aufgeklärte <strong>Kirche</strong>nraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367<br />
Pastoraltheologische <strong>und</strong> architektonische Impulse<br />
der Aufklärungszeit<br />
Malte van Spankeren<br />
<strong>Kirche</strong>nbau der Moderne als <strong>Verkörperung</strong> von <strong>Kirche</strong> . . . . . . . . . 385<br />
Thomas <strong>Erne</strong><br />
<strong>Kirche</strong> als corpus permixtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403<br />
Ikonische <strong>Verkörperung</strong>en einer negationsdialektischen<br />
Denkfigur<br />
Philipp <strong>David</strong><br />
8
IV (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong> Praxis<br />
Inhalt<br />
Von <strong>Verkörperung</strong> zu <strong>Verkörperung</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465<br />
Zur ethischen Dimension körperlicher Vollzüge in<br />
religiösem Kontext<br />
Katharina Eberlein-Braun<br />
Re- <strong>und</strong> Deterritorialisierung von sozialen Praktiken<br />
durch <strong>Körper</strong> <strong>und</strong> in <strong>Körper</strong>n . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495<br />
Marcus Held<br />
Taufe als <strong>Verkörperung</strong>sgeschehen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545<br />
Eine Case-Study-basierte interdisziplinäre Erk<strong>und</strong>ung<br />
Maximilian Bühler, Kristina Fiedler, Simon Jungnickel,<br />
Torben Stamer, Jonathan Weider<br />
Autorinnen <strong>und</strong> Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605<br />
Personen- <strong>und</strong> Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607<br />
9
Einleitung<br />
1. <strong>Symbolische</strong> <strong>Verkörperung</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>protestantische</strong> <strong>Ekklesiologie</strong><br />
Das Projekt »<strong>Körper</strong> <strong>und</strong> <strong>Kirche</strong>« ergründet Verknüpfungsmöglichkeiten<br />
des Paradigmas der »<strong>Verkörperung</strong>« mit der<br />
<strong>protestantische</strong>n <strong>Ekklesiologie</strong>. Mit den Begriffen »<strong>Körper</strong>«<br />
<strong>und</strong> »<strong>Verkörperung</strong>« ist eine perspektivische Neuausrichtung<br />
in der Forschung angesprochen, die von den Kognitionswissenschaften<br />
aus Eingang in die Sozial- <strong>und</strong> Geisteswissenschaften<br />
gef<strong>und</strong>en hat. Neben dem interdisziplinär »neu<br />
erwachten Interesse am <strong>Körper</strong>« 1 (Body Turn) steht die Beob-<br />
1 Robert Gugutzer, Soziologie des <strong>Körper</strong>s, Bielefeld (2004) 5 2015, 33. Den<br />
menschlichen <strong>Körper</strong> aus soziologischer <strong>und</strong> literatur-, kunst- <strong>und</strong> kulturwissenschaftlicher<br />
Perspektive in den Blick zu nehmen, beruht allerdings<br />
nicht erst auf Einsichten des späten 20. <strong>und</strong> frühen 21. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />
wenngleich es so etwas gibt wie eine Zunahme (geistes-) wissenschaftlicher<br />
Beschäftigung mit dem menschlichen <strong>Körper</strong> (vgl. Josette Baer/<br />
Wolfgang Rother [Hrsg.], <strong>Körper</strong>. Aspekte der <strong>Körper</strong>lichkeit in Medizin<br />
<strong>und</strong> Kulturwissenschaften, Basel 2012. Von einem »Somatic Turn«<br />
spricht Markus Schroer in seiner Einführung [7<strong>–</strong>47, 10] für den Sammelband<br />
Markus Schroer [Hrsg.], Soziologie des <strong>Körper</strong>s, Frankfurt a. M.<br />
2005; selten findet sich in der Forschung dagegen der Begriff »Corporeal<br />
Turn«). Man denke auch an die Studien aus der Phänomenologie von Maurice<br />
Merleau-Ponty, Hermann Schmitz (vgl. seinen Systementwurf [1964<strong>–</strong><br />
1980] einer Gefühlstheorie im Rahmen einer »Neuen Phänomenologie«<br />
[1980], mit der »These, dass Gefühle räumlich ergossene, leiblich ergreifende<br />
Atmosphären sind«, die »mit einer Revolution der Anthropologie«, der<br />
Überwindung des Dualismus von Seele bzw. Geist <strong>und</strong> <strong>Körper</strong>, »steht <strong>und</strong><br />
11
Einleitung<br />
achtung, dass menschliches Denken <strong>und</strong> Verstehen wesentlich<br />
an körperliche Vollzüge geb<strong>und</strong>en sind. Diese Wende zu<br />
einem »verkörperten« Verständnis kognitiver Prozesse in den<br />
modernen Kognitionswissenschaften markiert einen neuen<br />
Anfang, von der <strong>Verkörperung</strong> des Geistigen (embodied oder<br />
fällt« [Hermann Schmitz, Entseelung der Gefühle, in: Gefühle als Atmosphären.<br />
Neue Philosophie <strong>und</strong> philosophische Emotionstheorie. Hrsg. v.<br />
Kerstin Andermann <strong>und</strong> Undine Eberlein, Berlin 2012, 21<strong>–</strong>33, hier:<br />
21]) <strong>und</strong> an ihn anschließend Gernot Böhme sowie Bernhard Waldenfels,<br />
Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes,<br />
Frankfurt a. M. (2000) 8 2021; aber u. a. auch an Norbert Elias, Michel Foucault<br />
(vgl. z. B. Michel Foucault, Überwachen <strong>und</strong> Strafen. Die Geburt<br />
des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1976) oder Judith Butler (vgl. Judith<br />
Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991; Dies.,<br />
Bodies that Matter. On the Discursive Limits of »Sex«, New York u. a. 1993),<br />
die zwar den <strong>Körper</strong> stark macht, aber kein <strong>Verkörperung</strong>skonzept vorlegt;<br />
aber auch an die »Disability Studies« (vgl. Markus Dederich, <strong>Körper</strong>,<br />
Kultur <strong>und</strong> Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies, Bielefeld<br />
2007), »Gender Studies«, »Body Studies« mit ihrem zentralen Konzept<br />
des <strong>Körper</strong>gedächtnisses oder »Masculinity Studies«, in denen sich weitere<br />
kultur- <strong>und</strong> geisteswissenschaftliche Forschungsbereiche aufgetan haben.<br />
Die Disziplinen übergreift der <strong>Körper</strong> <strong>und</strong> Geist, (Un-)Bewusstes <strong>und</strong> Seele<br />
umfassende Trauma-Diskurs (vgl. dazu Maike Schult, Verw<strong>und</strong>barkeit<br />
<strong>und</strong> Verletzungsmacht: Dynamiken des Traumas, in: Hildeg<strong>und</strong> Keul/<br />
Thomas Müller [Hrsg.], Verw<strong>und</strong>bar. Theologische <strong>und</strong> humanwissenschaftliche<br />
Perspektiven zur menschlichen Vulnerabilität, Würzburg 2020,<br />
13<strong>–</strong>20; Dies., Nichts wird mehr, wie es war: Das Konstrukt Traumaheilung<br />
aus transgenerationaler Perspektive, in: Yvonne Drosihn/Ingeborg<br />
Jandl/Eva Kowollik [Hrsg.], Trauma <strong>–</strong> Generationen <strong>–</strong> Erzählen. Transgenerationale<br />
Narrative in der Gegenwartsliteratur zum ost-, ostmittel<strong>und</strong><br />
südosteuropäischen Raum, Berlin 2020, 37<strong>–</strong>50; vgl. darin die Unterscheidung<br />
von Trauma als »Diagnosebegriff« <strong>und</strong> »kulturelles Deutungsmuster«).<br />
Anders als die englische Sprache unterscheidet die deutsche<br />
zwischen <strong>Körper</strong> <strong>und</strong> Leib. Vgl. daher zum Leiblichkeitsdiskurs auch Em -<br />
manuel Alloa u. a. (Hrsg.), Leiblichkeit. Geschichte <strong>und</strong> Aktualität eines<br />
Konzepts, Tübingen 2012.<br />
12
Einleitung<br />
embedded cognition) zu sprechen. 2 Fruchtbar erscheint insbesondere<br />
der Brückenschlag zu »hermeneutischen <strong>und</strong>/oder<br />
phänomenologischen Einsichten«, um aufzuzeigen, »dass<br />
geistige Phänomene nur im Zusammenhang mit dem Organismus<br />
<strong>und</strong> seinem Umweltbezug verständlich gemacht<br />
werden können.« 3 Ein in diesem Sinne verkörpertes Verständ-<br />
2 Die verbreitete Vorstellung eines seit der Antike den abendländischen Diskurs<br />
bestimmenden Dualismus von <strong>Körper</strong> <strong>und</strong> Geist lässt sich freilich bei<br />
Platon <strong>und</strong> Aristoteles nicht belegen (vgl. zum <strong>Körper</strong>-Geist-Dualismus<br />
den einführenden Überblick bei Godehard Brüntrup, Das Leib-Seele-<br />
Problem. Eine Einführung, Stuttgart 2016; ferner: Jörg Dierken/Malte<br />
Dominik Krüger [Hrsg.], Leibbezogene Seele? Interdisziplinäre Erk<strong>und</strong>ungen<br />
eines kaum noch fassbaren Begriffs, Tübingen 2015). So ließe sich<br />
zeigen, dass bei Platon nicht von einem strengen Chorismos die Rede ist, so<br />
dass man nicht von einem Dualismus ausgehen kann, sondern von einem<br />
Wirklichkeitsbereich mit verschiedenen Stufungen, die über den Bildbegriff<br />
verb<strong>und</strong>en werden, wie Plotin zu Recht herausstellt. Es ließe sich so<br />
auch zeigen, dass zumindest Aristoteles’ De anima präfiguriert, was der<br />
Begriff Embodiment einzuholen sucht. Unter diesem Gesichtspunkt<br />
scheint die Annahme begründet zu sein, dass der viel beschworene Dualismus<br />
von <strong>Körper</strong> <strong>und</strong> Geist im neuzeitlichen Rationalismus <strong>und</strong> dessen<br />
Wirkungsgeschichte beheimatet ist. Schließlich ließe sich auch aufzeigen,<br />
dass die gegenwärtige Wende zum <strong>Körper</strong> im Gr<strong>und</strong>e eine noch aufzuarbeitende<br />
Rückbesinnung, insofern ein Re-Turn, auf die Gr<strong>und</strong>konstellationen<br />
der (platonisch-) aristotelischen Philosophie ist. Vgl. hier nur<br />
Christoph Poetsch, Platons Philosophie des Bildes. Systematische<br />
Untersuchungen zur platonischen Metaphysik, Frankfurt a. M. 2019, bes.<br />
25<strong>–</strong>123; 199<strong>–</strong>347 (zu Platon); Arbogast Schmitt, Gibt es ein Wissen von<br />
Gott? Plädoyer für einen rationalen Gottesbegriff, Heidelberg 2019, 25<strong>–</strong><br />
165 (zu Aristoteles); Malte Dominik Krüger/Andreas Lindemann/<br />
Arbogast Schmitt, Erkenntnis des Göttlichen im Bild? Perspektiven<br />
hermeneutischer Theologie <strong>und</strong> antiker Philosophie, Leipzig 2021, 92<strong>–</strong>125<br />
(zu Platon, Aristoteles <strong>und</strong> zur evangelischen Theologie).<br />
3 Matthias Jung, Hermeneutik zur Einführung, Hamburg (2001) 5 2018,<br />
167 f.; ferner Thomas Fuchs, Das Gehirn <strong>–</strong> Ein Beziehungsorgan. Eine<br />
phänomenologisch-ökologische Konzeption, Stuttgart (2008) 62021 <strong>und</strong><br />
13
Einleitung<br />
nis kognitiver Prozesse vermag nicht zuletzt auch für die<br />
»Zukunft der Hermeneutik« 4 <strong>und</strong> Ästhetik 5 vielversprechend<br />
zu sein, wenn sich der wissenschaftssprachliche Begriff Embodiment<br />
als eine wissenschaftliche Gr<strong>und</strong>einstellung interdisziplinär<br />
etabliert.<br />
Das mit diesem Band dokumentierte Gespräch des evangelischen<br />
Verständnisses von <strong>Kirche</strong> mit dem vielgestaltigen<br />
<strong>Verkörperung</strong>skonzept leistet dazu einen Beitrag. Mit<br />
dem <strong>Verkörperung</strong>skonzept ist die Einsicht verb<strong>und</strong>en, dass<br />
Geistiges wesentlich verkörpert ist <strong>und</strong> <strong>Körper</strong>liches <strong>und</strong><br />
Geistiges miteinander in stetiger Wechselwirkung stehen. 6<br />
Menschliches Denken ist physisch, medial <strong>und</strong> soziokulturell<br />
eingebettet. Überträgt man dies nun, wie es hier geschieht,<br />
auf die christliche <strong>Kirche</strong>, die in konfessionell je unterschiedlicher<br />
Weise als religiöse Wirklichkeit geglaubt, als soziale<br />
Größe erfahren <strong>und</strong> als Institution gestaltet wird, so ist die<br />
<strong>Kirche</strong> nicht lediglich Ausdruck religiösen Selbst-, Raumoder<br />
Gemeinschaftserlebens, sondern prägt in ihrer <strong>Verkörperung</strong><br />
ihrerseits diese Erlebensformen. 7 Daher lassen sich<br />
Ders., Die Verteidigung des Menschen. Gr<strong>und</strong>fragen einer verkörperten<br />
Anthropologie, Berlin 2020.<br />
4 So jedenfalls die Prognose von Jung, Hermeneutik (s. Anm. 3), 8.<br />
5 Vgl. z. B. Cornelia Logemann/Miriam Oesterreich/Julia Rüthemann<br />
(Hrsg.), <strong>Körper</strong>-Ästhetiken. Allegorische <strong>Verkörperung</strong>en als ästhetisches<br />
Prinzip, Bielefeld 2013; Maren Bienert/Monika E. Fuchs<br />
(Hrsg.), Ästhetik <strong>–</strong> <strong>Körper</strong> <strong>–</strong> Leiblichkeit. Aktuelle Debatten in bildungsbezogener<br />
Absicht, Stuttgart 2018; Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur<br />
neuen Ästhetik, Berlin (1995) 7 2013; Ders., Leib. Die Natur, die wir selbst<br />
sind, Berlin 2019.<br />
6 Vgl. Thiemo Breyer, Philosophie der <strong>Verkörperung</strong>. Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong><br />
Konzepte, in: Gregor Etzelmüller/Annette Weissenrieder (Hrsg.),<br />
<strong>Verkörperung</strong> als Paradigma theologischer Anthropologie, Berlin/Boston<br />
2016, 29<strong>–</strong>50.<br />
14
Einleitung<br />
religiöse Erfahrung <strong>und</strong> Praxis nicht dualistisch nach dem<br />
Modus »innerlich« oder »äußerlich« denken. Zudem kann die<br />
Beteiligung religiöser Gemeinschaften an gesellschaftlicher<br />
Selbstverständigung nicht auf den Austausch von Argumenten<br />
reduziert werden, sondern ihre Wirkung innerhalb <strong>und</strong><br />
außerhalb ihrer Anhängerschaft schließt vielfältige körperbezogene<br />
Vollzüge <strong>und</strong> Praktiken ein. Dass <strong>Kirche</strong> als konkreter<br />
Ort der <strong>Verkörperung</strong> religiöser Praxis zahlreiche Wechselprozesse<br />
zwischen Sinn <strong>und</strong> Sinnlichkeit in Gang zu setzen<br />
vermag, illustrieren etwa die Fragen: Was verändert sich in<br />
der eigenen Wahrnehmung, wenn jemand einen <strong>Kirche</strong>nraum<br />
betritt? Wie wird bei der Feier des Abendmahls erfahrbar,<br />
dass diese Gemeinschaft sich als Leib Christi versteht? In<br />
diesen Fluchtlinien wird plausibel, dass die <strong>protestantische</strong><br />
<strong>Ekklesiologie</strong> nicht ohne den Horizont ihrer sozialen, personalen,<br />
symbolischen, medialen <strong>und</strong> kultischen <strong>Verkörperung</strong><br />
adäquat gedacht ist. Auf diese Weise trägt sich auch die Theologie<br />
mit ihrer Reflexion zum konkreten Ort »<strong>Kirche</strong>« in den<br />
vielstimmigen <strong>Verkörperung</strong>sdiskurs ein.<br />
1.1 Grenzdialektik: Verschränkung von Binnen<strong>und</strong><br />
Fremdperspektive<br />
Der Beitrag von Religionen zur gesellschaftlichen Willensbildung<br />
wird im Anschluss an Jürgen Habermas’ kommunikationstheoretisches<br />
Paradigma <strong>und</strong> John Rawls’ Proviso gern<br />
im Rahmen von Gründen thematisiert, die unabhängig von<br />
7 Wie dieses Wechselverhältnis von Ausdruck <strong>und</strong> Prägung konfessionell<br />
jeweils Gestalt gewinnt, wäre eine lohnende weiterführende Frage. In den<br />
Beiträgen dieses Bandes, die aus der Perspektive evangelischer <strong>Ekklesiologie</strong><br />
argumentieren, bleibt sie jedoch außer Betracht.<br />
15
Einleitung<br />
ihrer Genese <strong>und</strong> ihrem religiösen Gebrauch möglichst allgemein<br />
zugänglich sein sollen. 8 So leistungsfähig dieser Zugang<br />
ist, so ist er doch auch von gewissen Einschränkungen<br />
im Verständnis religiöser Vollzüge gekennzeichnet. Die öffentliche<br />
Relevanz religiöser Gemeinschaften wird dann<br />
nämlich insbesondere daran festgemacht, in welchem Maße<br />
sie ihre Inhalte in säkulare Kontexte vermitteln können. Dies<br />
entspricht aber häufig nicht dem Selbstverständnis dieser Gemeinschaften<br />
<strong>und</strong> auch nicht deren tatsächlicher Wahrnehmung<br />
von außen. Infolgedessen droht bei der angestrebten<br />
größeren Reichweite der Argumentation eine abstrakte Abkopplung<br />
vom Entstehungskontext religiöser Überzeugungen.<br />
Umgekehrt kann jedoch auch die theologische Durchdringung<br />
religiöser Praktiken nicht nur bei der Nachzeichnung<br />
der Binnenperspektive <strong>und</strong> deren über die jeweilige<br />
Gemeinschaft hinausgreifenden Ansprüchen von Normativität<br />
in Deutungsvollzügen <strong>und</strong> Lebensformen stehen bleiben.<br />
Denn damit unterläuft man nicht nur faktisch diese ausgreifenden<br />
Ansprüche von Normativität, sondern verschließt<br />
sich auch zum eigenen Schaden gegenüber kritischen Anfragen<br />
von außen. Schließlich können diese Anfragen von außen<br />
dazu führen, die eigene Position immer präziser <strong>und</strong> intrikater<br />
zu fassen, so dass die Verständigung zwischen der Binnen<strong>und</strong><br />
Fremdperspektive zunehmend komplexer <strong>und</strong> interessanter<br />
wird.<br />
Noch gr<strong>und</strong>sätzlicher kann man fragen, ob die Binnen<strong>und</strong><br />
Fremdperspektive nicht ohnehin immer schon ver-<br />
8 Vgl. Jürgen Habermas, Religion in der Öffentlichkeit. Kognitive Voraussetzungen<br />
für den »öffentlichen Vernunftgebrauch« religiöser <strong>und</strong> säkularer<br />
Bürger, in: Ders., Zwischen Naturalismus <strong>und</strong> Religion. Philosophische<br />
Aufsätze, Frankfurt a. M. 2005, 119<strong>–</strong>154.<br />
16
Einleitung<br />
schränkt sind. Denn zum einen lässt sich eine solche prinzipielle<br />
Abgrenzung in unserem konkreten kulturellen Kontext<br />
historisch kaum aufrechterhalten, weil Kultur <strong>und</strong> Religion<br />
genetisch eng miteinander verflochten sind. Und zum<br />
anderen verweist systematisch die Rede von der Binnenperspektive<br />
indirekt auf eine andere Perspektive als sie selbst, so<br />
wie jeder Rede von einer Perspektive kategorial eine sie relativierende<br />
Alterität eingeschrieben ist. Mit anderen Worten:<br />
Es scheint religionstheoretisch sinnvoll, eine Grenzdialektik<br />
von Binnen- <strong>und</strong> Fremdperspektive in Rechnung zu stellen,<br />
die wiederum nicht im Allgemeinen verbleiben darf, sondern<br />
sich ihrerseits an einem konkreten Ort bewähren <strong>und</strong> gegebenenfalls<br />
auch weiterentwickeln lassen muss. Genau dies<br />
will das Projekt »<strong>Körper</strong> <strong>und</strong> <strong>Kirche</strong>« realisieren, indem es die<br />
<strong>Kirche</strong> als konkreten Ort in den Blick nimmt, der von dem<br />
nicht-religiösen Konzept der »<strong>Verkörperung</strong>« ebenso (neu) erschlossen<br />
werden kann, wie dieses Paradigma wiederum umgekehrt<br />
aufgr<strong>und</strong> der zu erwartenden Einsichten der <strong>Ekklesiologie</strong><br />
gegebenenfalls neu akzentuiert <strong>und</strong> begriffen zu<br />
werden vermag. So verbindet das Projekt den Begriff der »<strong>Verkörperung</strong>«<br />
mit der <strong>protestantische</strong>n <strong>Ekklesiologie</strong>, um die<br />
spezifische Codierung christlich-religiöser Vollzüge sowie<br />
deren religiösen Eigensinn mit dem Anspruch auf transpartikulare<br />
Geltung zu vermitteln.<br />
1.2 Embodiment: Zum Konzept der »<strong>Verkörperung</strong>«<br />
Kognitionswissenschaftliche Konzepte der <strong>Verkörperung</strong> zielten<br />
darauf, das Geistige als essentiell verkörpert zu verstehen.<br />
Die Dimensionen des <strong>Körper</strong>lichen <strong>und</strong> des Geistigen<br />
menschlicher Existenz stehen demnach in steter Wechselwirkung<br />
miteinander. Von diesem Ursprung her haben diverse<br />
17
Einleitung<br />
Spielarten von <strong>Verkörperung</strong>sbegriffen in unterschiedliche<br />
Disziplinen Eingang gef<strong>und</strong>en. Nicht nur in Kognitionswissenschaften<br />
<strong>und</strong> Philosophie, auch in Soziologie, 9 Geistes<strong>und</strong><br />
Kulturwissenschaften 10 werden seit einigen Jahren die<br />
Stichworte »<strong>Verkörperung</strong>« (Embodiment), »Einbettung« bzw.<br />
»eingebettetes Bewusstsein« (embedded cognition), »Enaktivismus«<br />
(enactivism) oder »ausgedehnter Geist« (extended<br />
mind) verwendet. 11 Dahinter, so heißt es, verbergen sich »aufregende<br />
<strong>und</strong> weitreichende Thesen über das Wesen des Geistes<br />
<strong>und</strong> der Kognition, von denen behauptet wird, dass sie<br />
unser Verständnis psychischer Prozesse <strong>und</strong> mentaler Zustände<br />
gr<strong>und</strong>legend verändern können.« 12<br />
9 Vgl. Robert Gugutzer, <strong>Verkörperung</strong> des Sozialen. Neophänomenologische<br />
Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> soziologische Analysen, Bielefeld 2012; Roslyn M.<br />
Frank u. a. (Hrsg.), Body, Language and Mind. Volume 2: Sociocultural<br />
Situatedness, Berlin, New York 2008; Christoph Durt/Thomas Fuchs/<br />
Christian Tewes (Hrsg.), Embodiment, Enaction, and Culture, Cambridg<br />
(MA)/London 2017; Natalie Boero/Katherine A. Mason (Hrsg.),<br />
The Oxford Handbook of the Sociology of Body and Embodiment, New<br />
York 2021.<br />
10 Jordan Zlatev/Roslyn M. Frank/Tom Ziemke (Hrsg.), Body, Language<br />
and Mind. Vol. 1: Embodiment, Berlin/New York 2007; Emmanuel<br />
Alloa/Miriam Fischer (Hrsg.), Leib <strong>und</strong> Sprache, Weilerswist 2013;<br />
Gregor Etzelmüller/Christian Tewes (Hrsg.), Embodiment in Evolution<br />
and Culture, Tübingen 2016.<br />
11 Eine erste interdisziplinäre Auseinandersetzung mit diesem Paradigma<br />
von Seiten der theologischen Anthropologie findet sich in einem interdisziplinären<br />
Heidelberger Forschungsprojekt. Vgl. Etzelmüller/Weissenrieder<br />
(Hrsg.), <strong>Verkörperung</strong> als Paradigma (s. Anm. 6); ferner:<br />
Gregor Etzelmüller/Thomas Fuchs/Christian Tewes (Hrsg.),<br />
<strong>Verkörperung</strong> <strong>–</strong> Eine neue interdisziplinäre Anthropologie, Berlin/Boston<br />
2017; jetzt erschienen ist: Gregor Etzelmüller, Gottes verkörpertes<br />
Ebenbild. Eine theologische Anthropologie, Tübingen 2021.<br />
12 Joerg Fingerhut/Rebekka Hufendiek/Markus Wild, Einleitung,<br />
18
Einleitung<br />
Die gr<strong>und</strong>legende Dimension, die das Konzept der »<strong>Verkörperung</strong>«<br />
des Geistigen anspricht, erschließt sich, wenn<br />
man <strong>Verkörperung</strong> als Gr<strong>und</strong>struktur menschlicher Artikulation<br />
begreift, die vom <strong>Körper</strong> des Einzelnen bis zur Sozialformation<br />
von Institutionen reicht. Menschliches Verstehen<br />
<strong>und</strong> Artikulieren sind dabei basal an körperliche Vollzüge geb<strong>und</strong>en.<br />
Der Mensch lebt in einem »Kontinuum von der leiblichen<br />
<strong>Verkörperung</strong> [...] bis zu sozialen Institutionen.« 13 Die<br />
körperlichen Vollzüge der Artikulation führen aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />
symbolischen Verfasstheit einen Zug zur Entgrenzung<br />
<strong>und</strong> sprachlichen, metaphorischen Übertragung auf größere<br />
Sozialformationen mit sich. So wird beispielsweise in Thomas<br />
Hobbes’ Leviathan der Staat als <strong>Körper</strong> begriffen, der aus<br />
Menschen besteht, die in den Gesellschaftsvertrag eingewilligt<br />
haben. Solche Traditionen <strong>und</strong> Motive schlagen sich offenbar<br />
auch im juristischen Sprachgebrauch nieder, wenn<br />
Religionsgemeinschaften als »<strong>Körper</strong>schaft des öffentlichen<br />
Rechts« 14 bezeichnet werden.<br />
1.3 <strong>Kirche</strong> als <strong>Körper</strong>? Neuperspektivierungen<br />
des kirchentheoretischen Diskurses<br />
Das Konzept der <strong>Verkörperung</strong> hat in der evangelischen <strong>Kirche</strong>ntheorie<br />
<strong>und</strong> <strong>Ekklesiologie</strong> bislang kaum Resonanz gef<strong>und</strong>en.<br />
15 Theologische Selbstbeschreibungen von <strong>Kirche</strong> als<br />
in: Dies., Philosophie der <strong>Verkörperung</strong>. Gr<strong>und</strong>lagentexte zur aktuellen<br />
Debatte, Berlin 2013, 9.<br />
13 Matthias Jung, Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation,<br />
Berlin/New York 2009, 272.<br />
14 Vgl. zum Begriff Hendrik Munsonius, <strong>Kirche</strong> <strong>und</strong> Recht (Kompendien<br />
Praktische Theologie 2), Stuttgart o. J. [2019], 67<strong>–</strong>69.<br />
15 Während die <strong>Kirche</strong> in der <strong>Ekklesiologie</strong> ihrem Wesen nach als communio<br />
19
Einleitung<br />
Geschöpf des Wortes Gottes (creatura verbi Divini), als Gemeinschaft<br />
der Heiligen (sanctorum communio), Versammlung<br />
der Gläubigen (congregatio sanctorum), als manifeste<br />
<strong>und</strong> latente Geistgemeinschaft oder als sichtbare <strong>und</strong> verborgene<br />
<strong>Kirche</strong> (ecclesia visibilis et abscondita) werden zumeist<br />
diesseits des Leiblichkeits- bzw. <strong>Körper</strong>diskurses reflektiert.<br />
Zwar gehört zum reformatorischen <strong>Kirche</strong>nverständnis gr<strong>und</strong>legend<br />
die Unterscheidung zwischen der verborgenen <strong>Kirche</strong><br />
sanctorum <strong>und</strong> ihrem Zustandekommen nach als creatura verbi bzw. evangelii<br />
ausgehend vom Heilshandeln Christi dogmatisch in den Blick ge -<br />
nommen wird <strong>und</strong> christologische, pneumatologische <strong>und</strong> die Heilsmittel<br />
(media salutis) betreffende Lehraussagen in die Reflexion miteinbezieht,<br />
geht es der soziologisch orientierten <strong>Kirche</strong>ntheorie als »Verbindungsstück<br />
zwischen Systematischer <strong>und</strong> Praktischer Theologie« (Reiner Preul, <strong>Kirche</strong>ntheorie.<br />
Wesen, Gestalt <strong>und</strong> Funktionen der Evangelischen <strong>Kirche</strong>,<br />
Berlin/New York 1997, 4) um die Verschränkung der <strong>Ekklesiologie</strong> mit<br />
sozialphänomenologischen <strong>und</strong> -theoretischen, kirchen- <strong>und</strong> religionssoziologischen<br />
<strong>und</strong> praktisch-theologischen Beschreibungsperspektiven.<br />
Wegbereiter der theologischen Theorie der <strong>Kirche</strong> ist Friedrich Schleiermacher.<br />
Als erstes Buch unter dem Titel »<strong>Kirche</strong>ntheorie« erschienen ist 1997<br />
die o. g. <strong>Kirche</strong>ntheorie des Kieler Praktischen Theologen Reiner Preul, die<br />
Wesen, Gestalt <strong>und</strong> Funktionen der Evangelischen <strong>Kirche</strong> in den Blick<br />
nimmt <strong>und</strong> einen handlungstheoretischen Zugriff verfolgt, der kommunikatives<br />
<strong>und</strong> disponierendes kirchliches Handeln verbindet (vgl. a. a. O.,<br />
6) <strong>und</strong> <strong>Kirche</strong> als »soziale Gestalt des Glaubens« versteht (vgl. Reiner<br />
Preul, Die soziale Gestalt des Glaubens. Aufsätze zur <strong>Kirche</strong>ntheorie,<br />
Leipzig 2008). Als »leibhaftes Sozialgebilde in der Gesellschaft« (Eilert<br />
Herms, <strong>Kirche</strong> in der Gesellschaft, Tübingen 2011, IX) versteht Eilert<br />
Herms die <strong>Kirche</strong>. Vgl. dazu auch seine weiteren Bände zur <strong>Kirche</strong>n- <strong>und</strong><br />
Gesellschaftstheorie: Erfahrbare <strong>Kirche</strong>. Beiträge zur <strong>Ekklesiologie</strong> (Tübingen<br />
1990); <strong>Kirche</strong> für die Welt. Lage <strong>und</strong> Aufgabe der evangelischen <strong>Kirche</strong><br />
im vereinigten Deutschland (Tübingen 1995); <strong>Kirche</strong> <strong>–</strong> Geschöpf <strong>und</strong> Werkzeug<br />
des Evangeliums (Tübingen 2010) sowie jetzt: Eilert Herms, Systematische<br />
Theologie. Das Wesen des Christentums: In Wahrheit <strong>und</strong> aus<br />
Gnade leben. Band 1<strong>–</strong>3 (Tübingen 2017), bes. § 40 <strong>und</strong> §§ 87 f. Zur Kritik <strong>und</strong><br />
Weiterentwicklung des Ansatzes von Herms vgl. Thomas Wabel, Die<br />
20
Einleitung<br />
als der Versammlung der »Heiligen«, also der Glaubenden<br />
(CA VII), <strong>und</strong> der sichtbaren <strong>Kirche</strong>, die man daran erkennen<br />
soll, dass in ihr das Evangelium rein gepredigt wird <strong>und</strong> die<br />
Sakramente recht gebraucht werden (CA VII). Luther versteht<br />
das Verhältnis dieser beiden Dimensionen des <strong>Kirche</strong>nbegriffs<br />
zudem ausdrücklich in Analogie zur Zusammengehörigkeit<br />
von Seele <strong>und</strong> Leib beim Menschen. 16 Die Verborgenheit<br />
der <strong>Kirche</strong> bezeichnet also keine civitas platonica, die von<br />
allen irdischen Formen losgelöst wäre. Vielmehr kommt die<br />
verborgene <strong>Kirche</strong> bei Luther als etwas in den Blick, das die<br />
sichtbare <strong>Kirche</strong> begleitet <strong>und</strong> übersteigt, jedoch auf die<br />
Sichtbarkeit stets dialektisch bezogen bleibt. Trotzdem spielen<br />
der Begriff des <strong>Körper</strong>s bzw. das Konzept der <strong>Verkörperung</strong><br />
für deren Verständnis bislang keine tragende Rolle,<br />
obwohl sie als dialektische »Gegenbegriffe« Erweiterungen,<br />
Ergänzungen <strong>und</strong> gegebenenfalls Neuausrichtungen zu<br />
einer Theorie des Geistes versprechen. <strong>Kirche</strong> wird zudem<br />
religionshermeneutisch als »ausgezeichneter Ort religiöser<br />
Deutungskultur in der Gesellschaft« 17 oder (religions-)so-<br />
nahe ferne <strong>Kirche</strong>. Studien zu einer <strong>protestantische</strong>n <strong>Ekklesiologie</strong> in kulturhermeneutischer<br />
Perspektive, Tübingen 2010, 324<strong>–</strong>342. Gleichzeitig auf<br />
die empirische Vielgestaltigkeit religiöser Praxis <strong>und</strong> die Erweiterung<br />
kirchlicher Handlungsräume achten will Martina Kumlehn, <strong>Kirche</strong> im<br />
Zeitalter der Pluralisierung von Religion. Ein Beitrag zur praktisch-theologischen<br />
<strong>Kirche</strong>ntheorie, Gütersloh 2000. Eng an das Paradigma der »Kommunikation<br />
des Evangeliums« (Ernst Lange) angeschlossen sind die kybernetischen<br />
Entwürfe von Jan Hermelink, Kirchliche Organisation <strong>und</strong><br />
das Jenseits des Glaubens. Eine praktisch-theologische Theorie der evangelischen<br />
<strong>Kirche</strong>, Gütersloh 2011 <strong>und</strong> Christian Grethlein, <strong>Kirche</strong>ntheorie.<br />
Kommunikation des Evangeliums im Kontext, Berlin/Boston 2018.<br />
16 WA 6; 297,3<strong>–</strong>9 (Von dem Papsttum zu Rom wider den hochberühmten<br />
Romanisten zu Leipzig [1520]).<br />
17 Wilhelm Gräb, <strong>Kirche</strong> als Ort religiöser Deutungskultur, in: Ders.,<br />
21
Einleitung<br />
ziologisch als Ort von Religion in der Spätmoderne <strong>und</strong> als<br />
soziales System bedacht. 18 Sie kommt dann insbesondere<br />
als Vergemeinschaftungsform, Institution, Volkskirche, Gemeinde,<br />
Versammlung, Organisation oder gar als Unternehmen<br />
in den Blick. Dies ist zwar nicht einfach von der Hand zu<br />
weisen, ruft aber Fragen hervor, wenn theologische <strong>und</strong> soziologische<br />
Deutungskategorien mitunter tendenziell unverb<strong>und</strong>en<br />
nebeneinanderstehen. Hier kann das Konzept der<br />
<strong>Verkörperung</strong> Einseitigkeiten der Systemtheorie korrigieren<br />
<strong>und</strong> zu einer symboltheoretischen F<strong>und</strong>ierung beitragen, sofern<br />
die symbolische Entgrenzung des <strong>Körper</strong>lichen, die auf<br />
die Einbettung in das Soziale verweist, die partikulare Dimension<br />
des Leiblichen mit den universalen Geltungsansprüchen<br />
einer sozial <strong>und</strong> institutionell verkörperten <strong>Kirche</strong><br />
vermittelt. Das gilt nicht zuletzt im Blick auf Bild- <strong>und</strong> Baukunst,<br />
die zu den sinnenfälligen medialen <strong>Verkörperung</strong>en<br />
christlicher Gemeinschaften gehören <strong>und</strong> ihre öffentliche<br />
Wahrnehmung mitprägen. In je unterschiedlicher Gestaltung<br />
bringen sie die Unterscheidung der <strong>Kirche</strong> von ihrem<br />
Gr<strong>und</strong> zum Ausdruck <strong>und</strong> können so als Bilder verstanden<br />
werden, die eine Gemeinschaft von sich entwirft, »für die es<br />
konstitutiv ist, um ihre eigene Unverfügbarkeit zu wissen<br />
<strong>und</strong> dieses Wissen in ihrem Symbolsystem auch zur Darstellung<br />
zu bringen«. 19<br />
Lebensgeschichten <strong>–</strong> Lebensentwürfe <strong>–</strong> Sinndeutungen. Eine Praktische<br />
Theologie gelebter Religion, Gütersloh (1998) 2 2000, 79<strong>–</strong>99, 79.<br />
18 Vgl. Eberhard Hauschildt/Uta Pohl-Patalong, <strong>Kirche</strong> (Lehrbuch<br />
Praktische Theologie 4), Gütersloh 2013, 55<strong>–</strong>115; 129<strong>–</strong>219.<br />
19 Michael Moxter, Das Unsichtbare der Gemeinschaft <strong>und</strong> die Verborgenheit<br />
der <strong>Kirche</strong>, in: Elisabeth Gräb-Schmidt/Ferdinando G. Menga<br />
(Hrsg.), Grenzgänge der Gemeinschaft. Eine interdisziplinäre Be gegnung<br />
zwischen sozial-politischer <strong>und</strong> theologisch-religiöser Perspektive, Tübin-<br />
22
Einleitung<br />
Dass menschliche Artikulation auf dreifache Weise verkörpert<br />
ist <strong>–</strong> physisch, medial <strong>und</strong> soziokulturell 20 <strong>–</strong> kann somit<br />
dazu verhelfen, auch die <strong>Kirche</strong> in dieser dreifachen Perspektivierung<br />
von <strong>Verkörperung</strong>sleistungen in den Blick zu<br />
nehmen. Einige Andeutungen müssen hier genügen:<br />
Im Sinne physischer <strong>Verkörperung</strong> kann in der <strong>protestantische</strong>n<br />
Theologie der Gegenwart in verschiedener Weise die<br />
Kategorie des Raumes im Kontext des Spatial Turn in den<br />
Vordergr<strong>und</strong> rücken, 21 wenn <strong>Kirche</strong>n im physischen Sinne<br />
als Bauten <strong>und</strong> Räume verstanden werden 22 <strong>und</strong> z. B. als<br />
»Segensräume«, 23 »heilige Orte«, 24 »heilige Räume«, 25 »Orte<br />
gen 2016, 127<strong>–</strong>148, 148. Dass eine damit verb<strong>und</strong>ene »Selbstzurücknahme«<br />
<strong>protestantische</strong>r Kirchlichkeit Formen der <strong>Verkörperung</strong> in Ritus, Bild<br />
<strong>und</strong> Schrift nicht überflüssig macht, sondern im Gegenteil da zu auffordert,<br />
eine Dimension »äußerer Bildlichkeit« wahr- <strong>und</strong> ernst zu nehmen,<br />
zeigt Malte Dominik Krüger, Das andere Bild Christi. Spätmoderner<br />
Protestantismus als kritische Bildreligion, Tübingen 2017, 530<strong>–</strong>537.<br />
20 Vgl. Jung, Der bewusste Ausdruck (s. Anm. 13), 272.<br />
21 Vgl. z. B. Elisabeth Jauss, Raum. Eine theologische Interpretation, Gü -<br />
tersloh 2006; Thomas <strong>Erne</strong>/Peter Schüz (Hrsg.), Die Religion des Raumes<br />
<strong>und</strong> die Räumlichkeit der Religion, Göttingen 2010; Bärbel Beinhauer-Köhler/Mirko<br />
Roth <strong>und</strong> Bernadette Schwarz-Boenneke<br />
(Hrsg.), Viele Religionen <strong>–</strong> ein Raum?! Analysen, Diskussionen <strong>und</strong> Konzepte,<br />
Berlin 2015 sowie den Überblick über den Forschungsdiskurs in:<br />
Anne Koch/Henning Theissen (Hrsg.), Raum <strong>–</strong> Der spatial turn in<br />
Theologie <strong>und</strong> Religionswissenschaft (Verkündigung <strong>und</strong> Forschung 62.<br />
Jg./Heft 1), Gütersloh 2017.<br />
22 Vgl. auch Klaus Raschzok, Ausgewählte <strong>Kirche</strong>nraumdiskurse 2005<strong>–</strong><br />
2017, in: Verkündigung <strong>und</strong> Forschung 62/1 (2017), 63<strong>–</strong>71.<br />
23 Vgl. Ulrike Wagner-Rau, Segensraum. Kasualpraxis in der modernen<br />
Gesellschaft, Stuttgart (2000) 2 2008.<br />
24 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong, <strong>Kirche</strong> (s. Anm. 18), 121<strong>–</strong>124.<br />
25 Helmut Umbach, Heilige Räume <strong>–</strong> Pforten des Himmels. Vom Umgang<br />
der Protestanten mit ihren <strong>Kirche</strong>n, Göttingen 2005.<br />
23
Einleitung<br />
der Begegnung <strong>und</strong> Vergewisserung« 26 oder »Hybridräume<br />
der Transzendenz« 27 in den Blick geraten, denen ein Eigenwert<br />
gegenüber »bloß« subjektiven Deutungsvollzügen eignet.<br />
Das gilt auch für Raum im übertragenen Sinne, wenn <strong>Kirche</strong><br />
etwa als »Raum öffentlicher Kommunikation« 28 verstanden<br />
wird. Denn auch das Verständnis eines öffentlichen Diskursraumes<br />
ist abkünftig von Vorstellungen physisch geteilten<br />
Raums 29 <strong>und</strong> weist damit eine eigentümliche Nähe zum Konzept<br />
der <strong>Verkörperung</strong> auf. 30 Mit Hilfe des Konzepts der Ver-<br />
26 Vgl. Wolfgang Huber, <strong>Kirche</strong> in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher<br />
Wandel <strong>und</strong> die <strong>Erne</strong>uerung der <strong>Kirche</strong>, Gütersloh (1998) 3 1999, 283<strong>–</strong>293.<br />
27 Vgl. Thomas <strong>Erne</strong>, Hybride Räume der Transzendenz. Wozu wir heute<br />
noch <strong>Kirche</strong>n brauchen. Studien zu einer postsäkularen Theorie des <strong>Kirche</strong>nbaus,<br />
Leipzig 2017, 18<strong>–</strong>32, 119 ff.<br />
28 Vgl. Huber, <strong>Kirche</strong> in der Zeitenwende (s. Anm. 26). Hierzu auch Wabel,<br />
Die nahe ferne <strong>Kirche</strong> (s. Anm. 15), 428<strong>–</strong>479. Aus der gegenwärtigen Debatte<br />
um eine »Public Theology« bzw. »öffentliche Theologie«, eine »öffent -<br />
liche <strong>Kirche</strong>« bzw. einem »öffentlichen Protestantismus« vgl. Christian<br />
Albrecht/Reiner Anselm, Öffentlicher Protestantismus. Zur aktuellen<br />
Debatte um gesellschaftliche Präsenz <strong>und</strong> aktuelle Aufgaben des evangelischen<br />
Christentums, Zürich 2017 <strong>und</strong> jetzt auch die Beiträge in: Konzepte<br />
<strong>und</strong> Räume Öffentlicher Theologie: Wissenschaft <strong>–</strong> <strong>Kirche</strong> <strong>–</strong> Diakonie.<br />
Hrsg. v. Ulrich H. J. Körtner/Reiner Anselm/Christian Albrecht,<br />
Leipzig 2020.<br />
29 So versteht Jürgen Habermas Öffentlichkeit in Analogie zu »architektonischen<br />
Metaphern des umbauten Raumes« (Jürgen Habermas, Faktizität<br />
<strong>und</strong> Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts <strong>und</strong> des demokratischen<br />
Rechtsstaats, Frankfurt a. M. [1992] 5 1997, 437). Volker Gerhardt<br />
bevorzugt für die Öffentlichkeit eine »Metaphorik offener Räume […], wie<br />
Städtebau <strong>und</strong> großflächige Siedlungsformen« (Volker Gerhardt, Öf -<br />
fentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins, München 2012, 248).<br />
Zum Zusammenhang vgl. Thomas Wabel, Öffentliche Theologien sozialer<br />
Räume. Eine programmatische Skizze, in: Körtner/Anselm/Albrecht<br />
(Hrsg.), Konzepte <strong>und</strong> Räume Öffentlicher Theologie (s. Anm. 28),<br />
211<strong>–</strong>231, hier: 219<strong>–</strong>226.<br />
24
Einleitung<br />
körperung lässt sich analysieren, wie (materialer, äußerer)<br />
<strong>Körper</strong>(raum) <strong>und</strong> (innere, geistige) Mentalität zusammenwirken.<br />
Was die Perspektive sozialer <strong>Verkörperung</strong> betrifft, so ist<br />
auch die <strong>protestantische</strong> <strong>Ekklesiologie</strong> nicht denkbar ohne<br />
den Horizont gemeinsamer kulturell tradierter Ausdrucksformen<br />
der Raum <strong>und</strong> Zeit übergreifenden Gemeinschaft.<br />
Vollzugsformen von Religion sind stets auf einen intersubjektiven<br />
Kontext angelegt. Das betrifft nicht nur die Mitglieder<br />
einer religiösen Gemeinschaft, sondern auch die Einbettung<br />
religiöser Praxis in andere Formen menschlicher Selbst<strong>und</strong><br />
Weltdeutung, die potentiell für alle zugänglich sind.<br />
Hinsichtlich der Perspektive medialer <strong>Verkörperung</strong><br />
schließlich ist zu betonen, dass die Beteiligung religiöser<br />
Gemeinschaften an gesellschaftlicher Selbstverständigung<br />
nicht auf den Austausch von Argumenten im Diskurs reduziert<br />
werden kann, sondern ihre Wirkung innerhalb <strong>und</strong><br />
außerhalb ihrer Anhängerschaft vielfältige körperbezogene<br />
Vollzüge (Versammlung, Rituale, nonverbale Interaktionsformen,<br />
Kanalisierung <strong>und</strong> Bearbeitung von Emotionen) einschließt.<br />
31 Um das je Eigene religiöser Traditionen zu wahren<br />
30 In phänomenologischer Perspektive erk<strong>und</strong>et die Zusammengehörigkeit<br />
von physischem Raum <strong>und</strong> menschlichem <strong>Körper</strong> Thomas Fuchs, Leib,<br />
Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Stuttgart<br />
(2000) 2 2018. Die konstitutive Verbindung zwischen Raum <strong>und</strong> <strong>Körper</strong><br />
benennt auch Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt a. M. (2001)<br />
92017, 153<strong>–</strong>157, ohne dies aber anthropologisch auf ein Ineinandergreifen<br />
körperlicher <strong>und</strong> geistiger Sphäre zu beziehen.<br />
31 Vgl. Thomas Wabel/Florian Höhne/Torben Stamer (Hrsg.), Öffentliche<br />
Theologie zwischen Klang <strong>und</strong> Sprache, Leipzig 2017; Thomas<br />
Wa bel, Torben Stamer u. Jonathan Weider, Zwischen Diskurs <strong>und</strong><br />
Affekt. Zur Rolle von Gefühlen <strong>und</strong> deren theologischer Kultivierung in<br />
gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, in: Thomas Wabel/Torben<br />
25
Einleitung<br />
<strong>und</strong> zugleich intersubjektiv zugänglich zu machen, wird danach<br />
zu fragen sein, welchen Beitrag zur intersubjektiven<br />
Verständigung nichtdiskursive Gestaltungsformen von <strong>protestantische</strong>r<br />
Religion in Gestalt sozialer, personaler, medialer<br />
<strong>und</strong> kultischer <strong>Verkörperung</strong> leisten können. Wenn es ferner<br />
theologisch häufig heißt, in einer bestimmten Gestaltungsform<br />
würde sich die <strong>Kirche</strong> Jesu Christi zeigen bzw.<br />
verkörpern, so sind damit auch medien-, symbol- oder kulturtheoretisch<br />
beschreibbare Kategorien angesprochen. Deren<br />
theologische Bearbeitung unter Leitbegriffen wie »Leib<br />
Christi«, »Gottesvolk« oder »Gemeinschaft der Glaubenden«<br />
erfolgt allerdings davon abgekoppelt häufig unverb<strong>und</strong>en im<br />
Binnenbereich theologischer Begriffssprache. Wird dagegen <strong>–</strong><br />
wie hier vorgeschlagen <strong>–</strong> die mit dem Begriff der <strong>Verkörperung</strong><br />
implizierte Rückwirkung dieser Kategorien auf leiblich<br />
vermitteltes (Selbst-, Raum- oder Gemeinschafts-)Erleben<br />
einbezogen, so könnte die christologische Vermittlung der<br />
<strong>Ekklesiologie</strong> über die Figur der Inkarnation auch Relevanz<br />
für die religiöse Erfahrung gewinnen.<br />
Ein gr<strong>und</strong>legendes Ziel des Projektes ist es daher, die Rede<br />
von der <strong>Kirche</strong> als »Leib Christi« auf verkörperungstheoretische<br />
Diskurse der Gegenwart zu beziehen. In welchem Maß<br />
dies rechenschaftsfähig gelingen könnte, soll dieser Band zu<br />
klären <strong>und</strong> sondieren helfen. Im konstruktivsten Fall könnte<br />
dies zu einer Neuperspektivierung der <strong>Ekklesiologie</strong> führen.<br />
Dann würde nach dem oben Skizzierten das Verständnis der<br />
»<strong>Kirche</strong> als <strong>Körper</strong>« naheliegen. Die <strong>Kirche</strong> würde als symbolische<br />
<strong>Verkörperung</strong> von Geist <strong>und</strong> der menschliche <strong>Körper</strong><br />
wiederum als religiös sensibles <strong>und</strong> kirchentheoretisch un-<br />
Stamer/Jonathan Weider (Hrsg.), Zwischen Diskurs <strong>und</strong> Affekt. Politische<br />
Urteilsbildung in theologischer Perspektive, Leipzig 2018, 9<strong>–</strong>39.<br />
26
Einleitung<br />
umgängliches Sensorium erscheinen. Umgekehrt könnte<br />
diese religionstheoretische <strong>und</strong> kirchentheoretische Zuspitzung<br />
dazu führen, Aspekte des <strong>Verkörperung</strong>skonzeptes auszuleuchten<br />
oder gegebenenfalls sogar zu entdecken, die bisher<br />
noch nicht oder so noch nicht wahrgenommen worden<br />
sind. Ob <strong>und</strong>, wenn ja, wie das erste Früchte getragen hat, vermag<br />
ein Überblick über die Anliegen <strong>und</strong> das Vorgehen der<br />
einzelnen Beiträge zu zeigen.<br />
2. Überblick über Anliegen <strong>und</strong> Vorgehen<br />
der Beiträge<br />
In unterschiedlichen disziplinären Perspektiven aus Philosophie,<br />
alttestamentlicher <strong>und</strong> neutestamentlicher Exegese,<br />
<strong>Kirche</strong>ngeschichte, Systematischer <strong>und</strong> Praktischer Theologie<br />
beziehen die Beiträge das kognitionswissenschaftliche Paradigma<br />
der <strong>Verkörperung</strong> auf Fragestellungen <strong>protestantische</strong>r<br />
<strong>Ekklesiologie</strong>. Leitende Voraussetzung ist dabei der Gedanke,<br />
dass <strong>Kirche</strong> als institutionell sichtbare Größe wie als<br />
religiöse Wirklichkeit nicht ohne den Horizont ihrer sozialen,<br />
personalen, medialen <strong>und</strong> kultischen <strong>Verkörperung</strong> adäquat<br />
zu denken ist. In diesen <strong>Verkörperung</strong>sformen ist sie nicht<br />
lediglich Ausdruck religiösen Selbst-, Raum- oder Gemeinschaftserlebens,<br />
sondern prägt diese Dimensionen religiöser<br />
Erfahrung. Der erste Teil (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong> Religion beschäftigt<br />
sich mit Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> Grenzen des <strong>Verkörperung</strong>skonzeptes,<br />
der zweite Teil widmet sich dem Aspekt<br />
von (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong> Gemeinschaft, der dritte Teil<br />
fragt nach dem Verhältnis von (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong> Raum,<br />
nimmt also Aspekte der gesteigerten Aufmerksamkeit für die<br />
räumliche Seite der geschichtlichen Welt auf (Spatial Turn)<br />
27
Einleitung<br />
<strong>und</strong> verbindet sie mit dem Embodiment-Konzept, der vierte<br />
Teil schließlich thematisiert (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong> Praxis. So<br />
beginnt der verkörperungstheoretische Blick auf die <strong>protestantische</strong><br />
<strong>Ekklesiologie</strong> bei der Außenperspektive, wird dann<br />
intern reflektiert <strong>und</strong> schließlich an die Genese <strong>und</strong> Praxis<br />
evangelischer Religion zurückgeb<strong>und</strong>en.<br />
Den ersten Teil (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong> Religion eröffnet<br />
Anton Friedrich Koch mit seinem Beitrag Subjekt <strong>und</strong> <strong>Verkörperung</strong>,<br />
in dem er eine Subjektivitätsthese doppelten Inhalts<br />
beweisen will. Der zufolge gehöre innerweltliche, verkörperte<br />
Subjektivität mit logischer Notwendigkeit zum Universum,<br />
was sich als anstößig für den philosophischen Naturalismus<br />
zeigt, <strong>und</strong> Subjektivität sei notwendig leiblich, was dem Theismus<br />
fragwürdig erscheint. Überraschende Schlusspointe Kochs<br />
ist, freilich unter der Prämisse einer noch auszuarbeitenden<br />
Lehre von den drei göttlichen Personen <strong>und</strong> der Inkarnation<br />
des Sohnes, dass der Schöpfungsmonotheismus, der dann<br />
nicht mehr zeittheoretisch verstanden werden dürfe, logisch<br />
akzeptabel werden könnte <strong>und</strong> notwendig inkarnatorisch gedacht<br />
werden müsste, sofern die Leiblichkeit als Schöpfungs-<br />
Parameter zwingend zu diesem Gottesbegriff gehören würde.<br />
Schließlich gebiete eine moralische Teleologie, den Verfolgten<br />
<strong>und</strong> Ermordeten durch Annahme eines Gottesbegriffs<br />
eschatologisch Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wenn<br />
nicht alles in Zynismus enden soll.<br />
Jörg Dierken steigt in seinem Beitrag Hegel, Schleiermacher<br />
<strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong> mit einer Kritik am kognitionswissenschaftlichen<br />
Konzept der <strong>Verkörperung</strong> ein, das nun<br />
seinerseits im Verdacht stehe, die Verhältnisse einfach umzukehren,<br />
wenn es bereits vom Begriff her den Vorrang des <strong>Körper</strong>lichen<br />
<strong>und</strong> des <strong>Körper</strong>s gegenüber dem Geistigen <strong>und</strong> Vernünftigen<br />
betone <strong>und</strong> einen faktischen Primat des Prakti-<br />
28
Einleitung<br />
schen über das Theoretische postuliere. Es stelle sich die<br />
gr<strong>und</strong>legende Frage, ob <strong>und</strong> wie dem <strong>Verkörperung</strong>s-Diskurs<br />
eine Negationsdialektik inhärent sei, um nicht etwas Partikulares,<br />
Nichtabsolutes wie die <strong>Kirche</strong> oder ihre Adiaphora<br />
mit dem Ganzen, Absoluten zu identifizieren. Protestantischekklesiologische<br />
Regelbildung grenzt Dierken ab gegenüber<br />
einem »gleichsam höheren Realismus« der <strong>Kirche</strong> als inkarnationstheologische<br />
<strong>Verkörperung</strong> Gottes in römisch-katholischer<br />
<strong>Ekklesiologie</strong> <strong>und</strong> andererseits zum flüchtigen Wirken<br />
des Geistes, wie er für spiritualistische <strong>und</strong> pentecostale<br />
<strong>Kirche</strong>nkonzepte zentral ist. Damit sei pointiert, dass auch<br />
für die <strong>protestantische</strong> <strong>Ekklesiologie</strong> der Geist verkörpert sein<br />
will, aber eben symbolisch <strong>und</strong> nicht somatisch, sonst werde<br />
der Geist zum Gespenst. Diese Grenzziehungen bilden den<br />
Hintergr<strong>und</strong> für die Rekonstruktion der <strong>Ekklesiologie</strong>n von<br />
Hegel <strong>und</strong> Schleiermacher (Gott, Geist <strong>und</strong> Gemeinde), um<br />
festzustellen, dass auch für sie eine nicht vom Materiellen abgelöste<br />
Geistigkeit <strong>und</strong> das Motiv der Kontextualität essentiell<br />
sind, <strong>und</strong> beiden Ansätzen, anders als dem <strong>Verkörperung</strong>s-Diskurs,<br />
gesteigerte Reflexionsfähigkeit eignet, um<br />
grenzbegriffliche Orientierungskraft für Normativität zur<br />
Verfügung zu stellen.<br />
Mit Hilfe eines verkörperungs- <strong>und</strong> artikulationstheoretischen<br />
Modells, das sich an den philosophischen Zugängen<br />
insbesondere von John Dewey <strong>und</strong> Charles Sanders Peirce orientiert,<br />
entwickelt Matthias Jung in seinem Beitrag Artikulation,<br />
Bewusstsein <strong>und</strong> Religion ein Verständnis von Religionen<br />
<strong>und</strong> Weltanschauungen als Artikulationsgestalten, die<br />
eine kognitive Deutung des eigenen Weltverhältnisses, eine<br />
volitionale Vorstellung des guten Lebens <strong>und</strong> eine affektive<br />
Gr<strong>und</strong>stimmung zueinander ins Verhältnis setzen. Entscheidend<br />
ist hier, dass Religionen keineswegs vornehmlich von<br />
29
Einleitung<br />
ihren kognitiven Gehalten her zu verstehen sind, sondern<br />
diese stets die Rückbindung an leiblich gespürte Qualitäten<br />
<strong>und</strong> soziale Interaktionserfahrungen beinhalten. Daraus ergibt<br />
sich der stets partikulare Charakter von Religionen <strong>und</strong><br />
eo ipso die Pluralität von Religionen <strong>und</strong> Weltanschauungen.<br />
Die Suche nach Übereinstimmung zwischen unterschiedlichen<br />
Traditionen, so spitzt Jung seine Überlegungen zu, kann<br />
in dem Maße gelingen, in dem diese jeweils für verkörperte Erfahrungen<br />
anderer Lebensdeutungen anschlussfähig werden.<br />
Magnus Schlette sucht mit seinem religionstheoretischen<br />
Beitrag Die <strong>Verkörperung</strong> des Absoluten. Religion als<br />
Medium der Sakralisierung, Ritualisierung <strong>und</strong> Liminalisierung<br />
menschlicher Praxis-Raumzeitlichkeit Elemente der<br />
Rede von der <strong>Kirche</strong> als »Leib Christi« auf verkörperungstheoretische<br />
Diskurse der Gegenwart zu beziehen. Auf anthropologischen<br />
<strong>und</strong> biologischen Gr<strong>und</strong>lagen entwickelt er sein<br />
Modell zum Verständnis von Transzendenz. Stufenlogisch<br />
lassen sich ihm zufolge die Begriffe somatischer, semiotischer<br />
<strong>und</strong> absoluter Transzendenz voneinander unterscheiden.<br />
Während erstere das bezeichnet, was sich jenseits der Merk<strong>und</strong><br />
Wirkwelt eines Organismus befindet <strong>und</strong> damit die Tierwelt<br />
ausdrücklich einschließt, ist semiotische Transzendenz<br />
Kennzeichen des Menschen als eines symbolverwendenden<br />
Lebewesens. Dieser Begriff schließt die Relationalität von<br />
Transzendenz ebenso ein wie ein Bewusstsein von der eigenen<br />
Transzendenzbezogenheit <strong>und</strong> die Ambivalenz von Beschränkungserfahrung<br />
<strong>und</strong> Übersteigung. Absolute Transzendenz<br />
schließlich ist ein Phänomen der Metareflexion. Sie<br />
richtet sich auf ein ganz Anderes <strong>und</strong> provoziert eine philosophisch<br />
beschreibbare oder religiös codierte Haltung des<br />
detachment, des renouncement oder der theoria. Über Prozesse<br />
kultureller <strong>Verkörperung</strong> unter den Aspekten der Sakralisie-<br />
30
Einleitung<br />
rung, der Ritualisierung <strong>und</strong> der Liminalisierung lässt sich<br />
dieser Transzendenzbezug in den kollektiv geteilten Erfahrungshorizont<br />
(z. B. religiöser Gemeinschaften) überführen.<br />
Für Maike Schult bietet das Konzept der <strong>Verkörperung</strong><br />
die Chance, den <strong>Körper</strong> als Entstehungsort von Theologie zu<br />
würdigen, Verbindungslinien zwischen Entwurf <strong>und</strong> Erfahrung<br />
aufzuzeigen <strong>und</strong> der Frage nachzugehen, wie sich die<br />
›verkörperten Theologien‹ Einzelner zur Gemeinschaft im<br />
Ganzen verhalten. Dieser Frage geht sie in ihrem Beitrag Tod,<br />
Trauma <strong>und</strong> Behinderung: Anfragen an eine Theologie der<br />
Unversehrten nach <strong>und</strong> vernetzt den <strong>Verkörperung</strong>sdiskurs<br />
mit drei Phänomenbereichen, die auf je eigene Weise das Herausfallen<br />
des <strong>Körper</strong>s aus der Gemeinschaft thematisieren<br />
<strong>und</strong> ihn ihr doch zur Aufgabe machen: Erstens fragt sie nach<br />
dem Umgang der Lebenden mit dem toten <strong>Körper</strong>, zweitens<br />
nach dem Umgang mit dem traumatisierten, versehrten <strong>Körper</strong><br />
<strong>und</strong> zeigt drittens am Beispiel von Nancy Eiesland, wie<br />
Menschen mit Behinderung ihre Behinderung zum Ausgangspunkt<br />
ihres theologischen Denkens gemacht <strong>und</strong> damit<br />
kritische Anfragen an die Mehrheitstheologie gestellt haben.<br />
Alle drei Bereiche machen den <strong>Körper</strong> zum konkreten Bezugspunkt,<br />
lösen ihn aus der Tabuzone heraus <strong>und</strong> muten es<br />
der theologischen Gemeinschaft zu, sich mit ihm zu befassen.<br />
Sie stellen damit auch Anfragen an die Art, wie theologisches<br />
Denken zustande kommt, welche Denkfiguren sich durchsetzen<br />
<strong>und</strong> welche nicht.<br />
Zu Anfang des zweiten Teils (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong> Gemeinschaft<br />
erk<strong>und</strong>et in kritischer Abgrenzung von der These<br />
der Leibfeindlichkeit paulinischer Theologie Ruben Zimmermann<br />
in seinem Beitrag <strong>Körper</strong>ekklesiologie <strong>und</strong> <strong>Körper</strong>ethik<br />
bei Paulus. Der Christusleib bei Paulus in 1Kor 12 als Leitmetapher<br />
die Leib-Metapher als gr<strong>und</strong>legendes Konzept bei Pau-<br />
31
Einleitung<br />
lus, das Mensch, Menschheit, Christus, Gemeinde <strong>und</strong> Kosmos<br />
umgreift. Indem Paulus die Metapher mit einer radikalen<br />
Inkarnationschristologie verbindet, gelangt er zu einer<br />
<strong>Körper</strong>ekklesiologie, deren Konsequenzen sich auf die Bereiche<br />
sozialer Gleichwertigkeit <strong>und</strong> des Verhältnisses von Individuum<br />
<strong>und</strong> Kollektiv ebenso erstrecken wie auf die Lebensführung<br />
des Einzelnen <strong>und</strong> die sich in Riten der »Einverleibung«<br />
erneuert.<br />
Johannes Weth verortet eine Gr<strong>und</strong>frage <strong>protestantische</strong>r<br />
<strong>Ekklesiologie</strong> im Horizont einer Theorie sozialer <strong>und</strong> kultureller<br />
<strong>Verkörperung</strong> <strong>und</strong> fragt: Wessen Leib ist die <strong>Kirche</strong>?<br />
Das <strong>Verkörperung</strong>sparadigma als Klärungshilfe für die <strong>protestantische</strong><br />
<strong>Ekklesiologie</strong> <strong>–</strong> eine Spurensuche bei Wolfhart<br />
Pannenberg <strong>und</strong> Jürgen Moltmann. Er versteht die christlichen<br />
<strong>Kirche</strong>n in ihrer Vielfalt konfessioneller <strong>und</strong> kultureller<br />
Profile als <strong>Verkörperung</strong>en je unterschiedlichen kulturellen<br />
Bewusstseins <strong>und</strong> fragt danach, wie sich ekklesiologisch fassbare<br />
»<strong>Verkörperung</strong>en gemeinsam erfahrenen Sinnes« auf<br />
den Leib Christi beziehen lassen, der die <strong>Kirche</strong> zu sein beansprucht.<br />
Im Durchgang durch die ekklesiologischen <strong>und</strong><br />
pneumatologischen Konzeptionen Wolfhart Pannenbergs <strong>und</strong><br />
Jürgen Moltmanns zielen Weths Überlegungen auf die Frage,<br />
»welches Bewusstsein in [der <strong>Kirche</strong>] in besonderer Weise<br />
zur <strong>Verkörperung</strong> kommt, zugespitzt, wessen Leib sie ist«.<br />
Ausgehend von der gegenläufigen Beobachtung, dass in<br />
soziologischer Beschreibung mit der Moderne sowohl <strong>Körper</strong>verdrängung<br />
als auch <strong>Körper</strong>aufwertung verb<strong>und</strong>en worden<br />
sind, stellt Isolde Karle fest, dass seit der ästhetischen<br />
Wende in der Praktische Theologie die körperliche Dimension<br />
religiöser Vollzüge auch im auf das Wort fixierten Protestantismus<br />
entdeckt wurde, was auch mit dem Selbstverständnis<br />
der <strong>Kirche</strong> als interaktiver Sozial- <strong>und</strong> Kommunika-<br />
32
Einleitung<br />
tionsgestalt zu tun habe. Karles Beitrag <strong>Kirche</strong> als <strong>Verkörperung</strong><br />
Christi? Die leibbezogene Evangeliumskommunikation<br />
im Gottesdienst <strong>und</strong> ihre ekklesiologischen Implikationen<br />
stellt die besondere Qualität der leiblichen Kommunikation<br />
unter konkret anwesenden Menschen heraus. Die digitale<br />
Vermittlung von Leibhaftigkeit ist zwar eingeschränkt für<br />
die Predigt möglich, die auch über den R<strong>und</strong>funk oder andere<br />
Formate vermittelt werden könne, nicht aber für die Seelsorge<br />
<strong>und</strong> schon gar nicht für die Feier des Abendmahls. Realpräsenz<br />
sei hier unabdingbar. So sei der »Leib Christi«, mit<br />
Dietrich Bonhoeffer, kein Ideal, sondern eine konkrete Gemeinschaft<br />
von konkret Anwesenden. Eine körperlose Zusammenkunft<br />
der Gemeinde sei schon aufgr<strong>und</strong> des Eingangs<br />
Christi in das natürliche Leben nicht möglich. Das<br />
werde durch ein Spektrum liturgisch-leiblicher Formen, die<br />
die auf Kognition <strong>und</strong> Bewusstsein ausgerichtete Predigt<br />
sinnlich <strong>und</strong> durch leibliches Beteiligtsein ergänzen, ausgedrückt.<br />
Im Blick auf Salbungsgottesdienste warnt Karle vor<br />
falschen Erwartungen an sogenannte »Heilungsgottesdienste«<br />
<strong>und</strong> sieht in der körperbasierten Kommunikation des Salbungsrituals<br />
eine tiefe Adressierung, die von vielen Menschen<br />
durchaus als heilsam empf<strong>und</strong>en werde. Mit einem Plädoyer<br />
für eine Ausweitung der Leiblichkeit der Evangeliumskommunikation<br />
<strong>und</strong> der leibbezogenen Praxis, die den Neid der<br />
leiblosen Engel auf sich ziehe, <strong>und</strong> einer Spitze gegen eine reduktionistische<br />
neu<strong>protestantische</strong> Innerlichkeitsreligiosität<br />
schließen ihre Ausführungen.<br />
Die beiden den zweiten Teil beschließenden Beiträge erweitern<br />
die Perspektive <strong>und</strong> ziehen produktive Kontrastfolien<br />
durch philosophische <strong>und</strong> sozialphilosophische Theoriemodelle<br />
ein. André Flimm nutzt in seinem Beitrag Der<br />
<strong>Körper</strong> als Ausdruck Gottes. Ekklesiologische Implikationen<br />
33
Einleitung<br />
einer spinozanischen Denkfigur das große Anregungspotential<br />
des jüdischen Philosophen Baruch de Spinoza für eine Änderung<br />
der Blickrichtung von der <strong>Kirche</strong> als <strong>Körper</strong> hin zu<br />
den <strong>Körper</strong>n in der <strong>Kirche</strong>, vom <strong>Körper</strong> als Kriterium von Differenz<br />
zum <strong>Körper</strong> als Sinnbild von Verb<strong>und</strong>enheit. Mit Spinozas<br />
Einsichten <strong>–</strong> Gott als Gr<strong>und</strong> von Mensch <strong>und</strong> Welt zu<br />
denken, Gott nicht in menschlichen Ausdrucksformen aufgehen<br />
zu lassen <strong>und</strong> jeden Menschen als <strong>Körper</strong> als einen<br />
Ausdruck Gottes zu verstehen <strong>–</strong> ist für ein Flimm ein befreiendes<br />
Potential verb<strong>und</strong>en, das bei aller Kontingenz, Begrenzung<br />
<strong>und</strong> Einschränkung des je eigenen Lebens die Gottesunmittelbarkeit<br />
eines jeden einzelnen Menschen durch sein<br />
Sein als <strong>Körper</strong> unterstreichen <strong>und</strong> zugleich kirchliche Ideal<strong>und</strong><br />
Normalitätsvorstellungen gr<strong>und</strong>sätzlich zurückweisen<br />
kann.<br />
André Munzinger lenkt unter der Leitfrage Klugheit kommunikativer<br />
<strong>Körper</strong>? den Blick auf das Paradigma der <strong>Verkörperung</strong><br />
in den Werken von Jürgen Habermas <strong>und</strong> Eilert Herms<br />
<strong>und</strong> stellt im Gespräch mit Einsichten aus ihren Sozialphilosophien<br />
<strong>und</strong> ihren unterschiedlichen Akzentsetzungen <strong>–</strong> kommunikative<br />
Vernunft <strong>und</strong> Bewegkraft religiöser Bildungsprozesse<br />
<strong>–</strong> heraus, dass die Klugheit des <strong>Körper</strong>s wahrzunehmen<br />
heißt, Lernprozesse in ihrer <strong>Verkörperung</strong> zu verorten. In Konzentration<br />
auf die Fragen, wie der Diskurs der <strong>Verkörperung</strong><br />
auf eine normative Sozialphilosophie zu übertragen sei, wie der<br />
Übergang zwischen Geist <strong>und</strong> <strong>Körper</strong>, Kultur <strong>und</strong> Natur aussieht<br />
<strong>und</strong> für welche Funktion die <strong>Kirche</strong> jenseits einer Dienstleistungsfunktion<br />
für ethische Bildung steht, wenn die Gesellschaft<br />
als <strong>Körper</strong> betrachtet wird, sieht Munzinger nur dann<br />
den Anfang einer neuen Sensibilität für die <strong>Körper</strong>lichkeit<br />
von Kommunikations- <strong>und</strong> Bildungsprozessen in der <strong>Kirche</strong>,<br />
wenn sie das Symbol des Leibes Christi als substantialen <strong>und</strong><br />
34
Einleitung<br />
funktionalen Raum für die kommunikative Reflexivität des<br />
<strong>Körper</strong>s versteht. Wenn der <strong>Körper</strong> mitlernt, ist auch Religiosität<br />
leiblich bestimmt, ja die gesamten kulturellen Leistungen<br />
sind im Zusammenhang mit dem Naturgefüge zu<br />
beachten. Und das seien nur erste Schritte zu einem neuen,<br />
integrativen Verständnis des Menschen in der Welt.<br />
Den Auftakt zum dritten Teil (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong><br />
Raum bildet Alexandra Gr<strong>und</strong>-Wittenberg, die in ihrem Beitrag<br />
»Wann werde ich hineingehen <strong>und</strong> Gottes Angesicht<br />
sehen?« (Ps 42,3). Alttestamentliche Raumkonzeptionen im<br />
Horizont der aktuellen <strong>Verkörperung</strong>sdiskussion Einblicke in<br />
erste Rezeptionen des Spatial Turn in der alttestamentlichen<br />
Forschungslandschaft gibt. Themenschwerpunkten sind die<br />
Symbolik des Zentrums, die Vorstellung von der Welt als Lebens-<br />
<strong>und</strong> Segensraum <strong>und</strong> die existentielle Sehnsucht nach<br />
einem besonderen Ort der Gotteserfahrung. Der Blick auf die<br />
Diskussion um das Menschenbild ruft in Erinnerung, dass<br />
die alttestamentliche Anthropologie der Embodiment-Debatte<br />
weit voraus war. Mit Hans Walter Wolffs Anthropologie<br />
des Alten Testaments (1973) wurde bereits vor fast einem<br />
halben Jahrh<strong>und</strong>ert die Debatte zur Überwindung der Dichotomie<br />
von <strong>Körper</strong> <strong>und</strong> Geist bzw. der Trichotomie von<br />
<strong>Körper</strong>, Geist <strong>und</strong> Seele angestoßen <strong>und</strong> mit dem Konzept<br />
vom »ganzen Menschen« ein spezifischer Beitrag in den gegenwärtigen<br />
Diskurs eingespeist. Mit einer exemplarischen<br />
Auslegung von Psalm 42<strong>–</strong>43 als komplexes Selbstgespräch illustriert<br />
Gr<strong>und</strong>-Wittenberg abschließend die Raum-Bezogenheit<br />
der erhofften Gotteserfahrung.<br />
Im Rückgriff auf verkörperungstheoretische, leibphänomenologische<br />
<strong>und</strong> architekturphilosophische Ansätze fragt<br />
Thomas Wabel in seinem Beitrag Raum <strong>und</strong> Richtung. Wechselwirkungen<br />
von <strong>Kirche</strong> <strong>und</strong> <strong>Körper</strong> in der Erfahrung des Kir-<br />
35
Einleitung<br />
chenraums <strong>und</strong> bei Martin Luther nach dem Zusammenwirken<br />
räumlicher, leiblicher <strong>und</strong> geistlicher Ausrichtung in der<br />
Erfahrung von <strong>Kirche</strong>nräumen. Anhand leibbezogener Metaphern<br />
des »sich Ausrichtens« in Predigten <strong>und</strong> einem der frühen<br />
Sermone Martin Luthers zeichnet er nach, wie im Weg<br />
durch das <strong>Kirche</strong>ngebäude, in der eschatologischen Perspektivierung<br />
entlang der Gebäudeachsen <strong>und</strong> in der Ausrichtung<br />
des Blicks leibliche Ausrichtung <strong>und</strong> geistliche Orientierung<br />
korrespondieren können <strong>und</strong> so ein Überschreiten des Raumes<br />
erfahrbar machen.<br />
Anhand zweier Schriften von Johann Joachim Spalding<br />
<strong>und</strong> Johann August Nösselt erörtert Malte van Spankeren in<br />
Der aufgeklärte <strong>Kirche</strong>nraum. Pastoraltheologische <strong>und</strong> architektonische<br />
Impulse der Aufklärungszeit zentrale Aspekte<br />
von Pfarrerbild, Verständnis des Gottesdienstes <strong>und</strong> Funktion<br />
des <strong>Kirche</strong>nbaus in der Aufklärungstheologie. Während<br />
die gesellschaftliche Rolle des Pfarrers als die eines Ratgebers<br />
<strong>und</strong> Volksaufklärers erscheint, hat die Liturgie vor allem die<br />
Aufgabe, den unterweisenden Charakters des Gottesdienstes<br />
in der Anregung von Empfindung <strong>und</strong> Verstand zu unterstützen.<br />
Beidem entspricht die Gestaltung neu erbauter <strong>Kirche</strong>n,<br />
die als einladende, helle Saalbauten dem Wortursprung<br />
des Begriffs »Aufklärung« Ausdruck verleihen.<br />
Ausgehend von der These, dass der menschliche <strong>Körper</strong><br />
im <strong>protestantische</strong>n <strong>Kirche</strong>nbau operativ zentral, aber thematisch<br />
unauffällig ist, entfaltet Thomas <strong>Erne</strong> in seinem Beitrag<br />
<strong>Kirche</strong>nbau der Moderne als <strong>Verkörperung</strong> von <strong>Kirche</strong><br />
die Konsequenzen der Diskretheit verkörperter Subjekte in<br />
der modernen Sakralarchitektur, wozu er Antwortmöglichkeiten<br />
auf die offenen Fragen des liturgischen Formalismus<br />
Cornelius Gurlitts mittels eines relationalen Raumbegriffs<br />
(Spacing <strong>und</strong> deutende Synthese) im Anschluss an Martina<br />
36
Einleitung<br />
Löw durchspielt. Die Kontrastierung mit der handlungstheoretischen<br />
Raumtheorie, die den <strong>Körper</strong> <strong>–</strong> als Gattung wird<br />
ihm eine materiell-symbolische Doppelnatur eingeschrieben<br />
<strong>–</strong> als operativ zentral <strong>und</strong> thematisch auffällig versteht,<br />
erweise sich auch theologisch als fruchtbar, wenn das anthropologische<br />
Defizit in Löws Theorie ausgeräumt wird. Auf<br />
diese Weise wäre der <strong>Kirche</strong>nbau ein ausgezeichneter Ort<br />
menschlicher <strong>Verkörperung</strong>en, der Anlass <strong>und</strong> Anhalt böte,<br />
sich als verkörpertes Subjekt räumlich zu positionieren. Welche<br />
Rolle dabei Atmosphären <strong>und</strong> Stimmungen leibphänomenologisch<br />
(Hermann Schmitz) spielen, zeigt <strong>Erne</strong> im Anschluss<br />
an John Dewey <strong>und</strong> Le Corbusier, wenn <strong>Kirche</strong>n als<br />
verkörperte Gefühle verstanden werden.<br />
Der Beitrag <strong>Kirche</strong> als corpus permixtum. Ikonische <strong>Verkörperung</strong>en<br />
einer negationsdialektischen Denkfigur von<br />
Philipp <strong>David</strong> nimmt die gr<strong>und</strong>sätzliche phänomenale Vermischtheit<br />
der leiblichen Versammlung <strong>Kirche</strong> in <strong>und</strong> als<br />
Teil der Gesellschaft zum Anlass (Mt 5,45), nach Kunstwerken<br />
im Raum <strong>und</strong> Vorraum von <strong>Kirche</strong>ngebäuden zu fahnden,<br />
die Ambivalenz, Fragilität <strong>und</strong> Verw<strong>und</strong>barkeit menschlicher<br />
Ordnungsgefüge in der Welt vor Augen führen, die die<br />
Glaubenden als simul iustus et peccator <strong>und</strong> die Glaubensgemeinschaft<br />
als vermischten Leib unter irdischen Bedingungen<br />
bleibend herausfordern. Mit den Kunstwerken von Bertel<br />
Thorvaldsens Kristus-Statue im Altarraum der Kopenhagener<br />
Vor Frue Kirke, mit Ernst Barlachs Plastik Geistkämpfer<br />
(ursprünglich) vor der Kieler Heiligengeistkirche <strong>und</strong> mit<br />
Sigmar Polkes Menschensohn-Fenster im Zürcher Großmünster<br />
werden anthropologische wie ekklesiologische negationsdialektische<br />
Gr<strong>und</strong>spannungen, in denen sich die<br />
Eigentümlichkeit <strong>und</strong> (Selbst-)Gefährdungen der <strong>Kirche</strong> zeigen,<br />
visualisiert: Die <strong>Kirche</strong> ist zugleich sichtbar <strong>und</strong> un sicht-<br />
37
Einleitung<br />
bar, heilig <strong>und</strong> weltlich, einig <strong>und</strong> vielgestaltig, dauerhaft<br />
<strong>und</strong> werdend, voll des göttlichen Geistes <strong>und</strong> unter dem Gericht<br />
<strong>und</strong> beständig <strong>–</strong> vorläufig <strong>und</strong> zeichenhaft <strong>–</strong> Geschöpf<br />
des Wortes <strong>und</strong> geistgewirkte Geselligkeit, auf Jesus Christus<br />
<strong>und</strong> das Reich Gottes verwiesen. Damit bewegt sich der Beitrag<br />
auf der Grenze der Sektionen von (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong><br />
Gemeinschaft <strong>und</strong> (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong> Raum <strong>und</strong> leitet<br />
über zum letzten Teil.<br />
Der vierte <strong>und</strong> abschließende Teil (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong><br />
Praxis stellt praxeologische Aspekte des <strong>Verkörperung</strong>sparadigmas<br />
in den Mittelpunkt der Analysen. Katharina Eberlein-Braun<br />
entwickelt in Von <strong>Verkörperung</strong> zu <strong>Verkörperung</strong>.<br />
Zur ethischen Dimension körperlicher Vollzüge in religiösem<br />
Kontext einen Ansatz, um körperbezogene Haltungen <strong>und</strong><br />
Gestaltungspraktiken als ethisch relevant wahrzunehmen.<br />
In Anlehnung an Charles Taylors Überlegungen zur Transformation<br />
starker Wertungen versteht sie Religion als einen<br />
Prozess, in dem es zu »Verwandlungen von <strong>Verkörperung</strong>en«<br />
kommen kann, d. h. der Umwertung von <strong>Körper</strong>haltungen<br />
<strong>und</strong> Gesten, wie sie für die Ausübung von Religionen kennzeichnend,<br />
aber nicht allein spezifisch sind, etwa Knien oder<br />
Stehen. Auch karitative Praktiken erscheinen in einem solchen<br />
Zugang nicht einfach als Ableitungen aus religiösen Gehalten,<br />
sondern aus der Wahrnehmung eines <strong>Körper</strong>s als verwandlungsbedürftig.<br />
Für Marcus Held eröffnet das Denken von Gilles Deleuze<br />
<strong>und</strong> Felix Guattari eine Möglichkeit, den Topos der »<strong>Verkörperung</strong>«<br />
mit Denkansätzen aus der Theoriefamilie der Praxeologie<br />
zu verbinden. In seinem Beitrag Re- <strong>und</strong> Deterritorialisierung<br />
von sozialen Praktiken durch <strong>Körper</strong> <strong>und</strong> in <strong>Körper</strong>n<br />
zeigt er auf, dass die Rede von der Re- <strong>und</strong> Deterritorialisierung<br />
in praxistheoretischer Perspektive auf das Verkörpe-<br />
38
Einleitung<br />
rungsparadigma angewendet werden kann. So eröffne sich<br />
ein neues Feld der Beschreibung einer sozialontologischen<br />
Lesart von »<strong>Verkörperung</strong>«, die für ekklesiologische Überlegungen<br />
Anwendung finden <strong>und</strong> die alte Dichotomie von<br />
sichtbarer <strong>und</strong> nicht-sichtbarer <strong>Kirche</strong> ablösen könne.<br />
Das Autorenkollektiv Maximilian Bühler, Kristina Fiedler,<br />
Simon Jungnickel, Torben Stamer <strong>und</strong> Jonathan Weider<br />
entfaltet in seinem Beitrag Taufe als <strong>Verkörperung</strong>sgeschehen.<br />
Eine Case-Study-basierte interdisziplinäre Erk<strong>und</strong>ung<br />
auf Basis des Verständnisses der Taufe als Wortgeschehen <strong>und</strong><br />
der Erforschung von verkörperten Taufpraktiken mittels teilnehmender<br />
Beobachtung <strong>und</strong> dichter Beschreibung die<br />
These, dass die Taufe eine multimediales <strong>Verkörperung</strong>sgeschehen<br />
(Wort, Wasser, Licht, Kerze, Taufurk<strong>und</strong>e) sei, das<br />
dem Verständnis des Menschen als homo articulans et medialis<br />
entspricht. Die leibbezogenen Praktiken des Taufvollzugs<br />
sind nicht auf ihre semantische Bedeutung reduzierbar, weswegen<br />
der Stimmigkeit der Sequenzen im Taufvollzug besondere<br />
Bedeutung zukommt. Gleichwohl ist das Heilsmedium<br />
Taufe ein flüchtiges Ereignis. Der Beitrag schließt daher mit<br />
Erwägungen dazu, wie Supplementierungen durch Taufkerze<br />
oder Tauferinnerungen zur Anverwandlung des Sakraments<br />
beitragen können, ohne dass das Supplement an die<br />
Stelle des supplementierten Rituals tritt.<br />
3. Ertrag <strong>und</strong> Ausblick<br />
In aller Vorläufigkeit sei ein systematisierender Ertrag <strong>und</strong><br />
ein Ausblick auf weitere Desiderate im Forschungsfeld von<br />
<strong>Körper</strong> <strong>und</strong> <strong>Kirche</strong> angedeutet: Hinsichtlich der theoretischen<br />
Gr<strong>und</strong>legung erweisen sich Konzeptionen von <strong>Verkörperung</strong><br />
39
Einleitung<br />
als aussichtsreich, die eine Dimension geteilter geistiger Bedeutung<br />
stets begleitet denken von Phänomenen physischer,<br />
sozialer <strong>und</strong> medialer <strong>Verkörperung</strong> <strong>und</strong> umgekehrt, ohne<br />
dieses Wechselverhältnis auf einen der beiden Pole zu reduzieren.<br />
Eine Vorrangstellung der leibkörperlichen Dimension<br />
zu behaupten wäre ebenso vereinseitigend wie die ausschließliche<br />
Verortung des Christlich-Religiösen in Bewusstseinsprozessen.<br />
Ihre ekklesiologische Konkretisierung findet diese Einsicht<br />
darin, dass sichtbare <strong>und</strong> verborgene (oder, mit Zwingli:<br />
unsichtbare) <strong>Kirche</strong> 32 strikt aufeinander bezogen zu denken<br />
sind. Die stets mitgeführte Seite einer verborgenen Gemeinschaft<br />
dispensiert nicht etwa von den vielfältigen konfessionellen<br />
Gestalten des Christlichen, sondern bringt diese gerade<br />
zum Leuchten. Denn nur in dem je konfessionell gefärbten<br />
Bestand von Symbolen, Ritualen <strong>und</strong> anderen Formen<br />
der Glaubenspraxis, mithin im Zusammenspiel physischer,<br />
sozialer <strong>und</strong> medialer Formen der <strong>Verkörperung</strong>, tritt jene <strong>–</strong><br />
für <strong>protestantische</strong> <strong>Ekklesiologie</strong>n zentrale <strong>–</strong> Unterscheidung<br />
der <strong>Kirche</strong> von sich selbst zutage, in der sie ihre Identität<br />
nicht aus sich gewinnt, sondern dem gnädigen Urteil Gottes<br />
anheimstellt <strong>und</strong> auf die die Begriffsdifferenzierung zwischen<br />
»sichtbar« <strong>und</strong> »verborgen« zielt. 33<br />
Diese Selbstunterscheidung der <strong>Kirche</strong> gibt nun Anlass zu<br />
einer kritischen Weitung im Blick auf das Wechselverhältnis<br />
32 Ausführlich zu dieser Begriffsdifferenzierung bei den Reformatoren s.<br />
Ulrich Barth, Sichtbare <strong>und</strong> unsichtbare <strong>Kirche</strong>. Die Tragweite von<br />
Luthers ekklesiologischem Ansatz, in: Christian Danz/Jan-Heiner<br />
Tück (Hrsg.), Martin Luther im Widerstreit der Konfessionen. Historische<br />
<strong>und</strong> theologische Perspektiven, Freiburg/Basel/Wien 2017, 288<strong>–</strong>351, hier:<br />
298<strong>–</strong>317.<br />
33 Vgl. Moxter, Das Unsichtbare der Gemeinschaft (s. Anm. 19), 129 f.<br />
40
Einleitung<br />
von <strong>Körper</strong> <strong>und</strong> <strong>Kirche</strong>. Die <strong>protestantische</strong> Einsicht in die<br />
Vorläufigkeit je konkreter Verwirklichungsformen des Christlichen<br />
legt in der Tat nahe, in der »Aneignung <strong>und</strong> Weiterbildung<br />
der unterschiedlichen Facetten seiner vielfältigen<br />
Überlieferungsgeschichte« 34 eine Bewegung nicht nur der<br />
Pluralisierung, sondern auch der Entgrenzung zu sehen, die<br />
auch mit einem Christentum außerhalb der <strong>Kirche</strong> rechnet. 35<br />
Gerade im Blick auf die Vielfalt der Formen physischer, sozialer<br />
<strong>und</strong> medialer <strong>Verkörperung</strong> christlicher Religion nicht<br />
nur in Texten, sondern auch Bauten, Bildwerken, Musik, körperbezogenen<br />
Praktiken <strong>und</strong> Vergemeinschaftungsformen<br />
wäre es aber unterkomplex, eine solche »Kulturhermeneutik<br />
neuzeitlichen Christentums« 36 ausschließlich im Rahmen<br />
einer Christentumstheorie zu betreiben. 37 Die Wechselwirkungen<br />
zwischen spezifischen <strong>Verkörperung</strong>sformen je partikular<br />
verfasster Konfessionen <strong>und</strong> Religionen einerseits<br />
<strong>und</strong> ihrer gesellschaftlichen Reichweite über die Grenzen der<br />
eigenen Gemeinschaft hinaus andererseits zu erk<strong>und</strong>en, ist<br />
gewiss eine der reizvolleren Anschlussfragen, die die Integration<br />
des <strong>Verkörperung</strong>sparadigmas in das Nachdenken über<br />
die <strong>Kirche</strong> aufwirft.<br />
34 Barth, Sichtbare <strong>und</strong> unsichtbare <strong>Kirche</strong> (s. Anm. 32), 339.<br />
35 Trutz Rendtorff, Christentum außerhalb der <strong>Kirche</strong>. Konkretionen<br />
der Aufklärung, Hamburg 1969.<br />
36 Barth, Sichtbare <strong>und</strong> unsichtbare <strong>Kirche</strong> (s. Anm. 32), 336.<br />
37 Trutz Rendtorff, Theorie des Christentums. Historisch-theologische<br />
Studien zu seiner neuzeitlichen Verfassung, Gütersloh 1972. Das gilt auch<br />
<strong>und</strong> gerade auf die von Ulrich Barth im Anschluss an Rendtorff zu Recht<br />
herausgestellte »gesamtkulturelle Reichweite des Christentums« (Barth,<br />
Sichtbare <strong>und</strong> unsichtbare <strong>Kirche</strong> [s. Anm. 32], 335), ist diese doch abkünftig<br />
von je partikularen Formen der Vergemeinschaftung <strong>und</strong> <strong>Verkörperung</strong>.<br />
41
Anton Friedrich Koch<br />
Subjekt <strong>und</strong> <strong>Verkörperung</strong><br />
Begonnen sei mit einem Zitat aus einer Dissertation, die 2017<br />
von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität<br />
Münster angenommen wurde <strong>und</strong> Anfang dieses Jahres in<br />
Tübingen erschienen ist. Der Autor, Matthias Schleiff, bezieht<br />
sich in der Einleitung auf eine Entdeckung, die auch das<br />
Erstaunen von Physikern <strong>und</strong> Kosmologen geweckt hat:<br />
»Wir leben in einem Universum, in dem f<strong>und</strong>amentale kosmische<br />
Parameter außergewöhnlich präzise auf die Entwicklung von be -<br />
wusstseinsfähigen Wesen wie uns zugeschnitten zu sein scheinen.<br />
Hätten einige Naturkonstanten <strong>und</strong> die kosmischen Anfangsbedingungen<br />
nur geringfügig andere Werte angenommen, hätte dies die<br />
biologische Entwicklung von Leben unmöglich gemacht.« 1<br />
Leitend für Schleiffs anschließende Überlegungen ist die Idee,<br />
dass sich aus dieser Beobachtung, die in ihren Gr<strong>und</strong>zügen<br />
wissenschaftlich unstrittig ist, ein teleologisches Argument<br />
gewinnen lässt.<br />
Sofern mit dem teleologischen Argument eines für die<br />
Existenz Gottes gemeint ist, müsste man mit Kant zu beden-<br />
1 Matthias Schleiff, Schöpfung, Zufall oder viele Universen? Ein teleologisches<br />
Argument aus der Feinabstimmung der Naturkonstanten, Tübingen<br />
2019, 4.<br />
43
Anton Friedrich Koch<br />
ken geben, dass die »physische Teleologie« anders als die »moralische«<br />
allenfalls auf das »Dasein einer verständigen Weltursache«<br />
zu schließen erlaubt. 2 Als solche käme auch der<br />
Fürst dieser Welt oder eine Schar von Engeln <strong>und</strong> Dämonen<br />
oder eine andere mächtige <strong>und</strong> intelligente Instanz in Frage.<br />
Doch dies sei geschenkt, denn die physische Teleologie ist<br />
ganz gr<strong>und</strong>sätzlich zum Scheitern verurteilt, gleichviel wer<br />
oder was mit ihr bewiesen werden soll.<br />
Das Scheitern ist bereits an der unvollständigen Alternative<br />
abzulesen, die Matthias Schleiff als Buchtitel gewählt hat:<br />
»Schöpfung, Zufall oder viele Universen?« Die Notwendigkeit<br />
fehlt. Zwar lässt sich dazu eine Gegenrede denken: Der Punkt,<br />
auf den Schleiff abhebe, sei es doch gerade, dass die kosmischen<br />
Parameter ganz andere hätten sein können als die faktischen;<br />
sie seien mithin physikalisch zufällig. Könne die Philosophie<br />
denn mit Aussicht auf Erfolg der Physik ihrer Zeit<br />
widersprechen? Mit Aussicht auf Erfolg gewiss nicht; aber das<br />
braucht sie im vorliegenden Fall auch nicht. Denn es gibt andere<br />
Modalitäten neben den nomologischen oder physikalischen,<br />
so etwa mathematische, logische im engen formallogischen<br />
<strong>und</strong> logische im weiten philosophischen Sinn, ganz<br />
zu schweigen von den moralischen bzw. deontischen Modalitäten.<br />
Denken wir beispielsweise an die mathematisch notwendigen<br />
Wahrheiten. Viele von ihnen, namentlich die der<br />
Analysis, werden in den physikalischen Gr<strong>und</strong>gleichungen<br />
angewendet; andere aber, aus der höheren <strong>und</strong> reinen Mathematik,<br />
liegen brach in der Physik. Sie bekräftigt sie nicht <strong>und</strong><br />
widerspricht ihnen nicht, sondern verhält sich nicht eigens<br />
2 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Berlin 2 1793, § 87, 418 f. Schleiff<br />
reflektiert diese Problematik, Schleiff, Schöpfung (s. Anm. 1), 137 f. (Ab -<br />
schnitt 6.1.3).<br />
44
Subjekt <strong>und</strong> <strong>Verkörperung</strong><br />
zu ihnen. Die Äquivalenz des Auswahlaxioms, des Wohlordnungssatzes<br />
<strong>und</strong> des Zornschen Lemmas auf der Basis der üblichen<br />
mengentheoretischen Axiome könnte so ein Fall sein;<br />
wenn nicht, lassen andere sich finden.<br />
Falls nun die Philosophie zeigen kann, dass nur diejenigen<br />
Einstellungen der kosmischen Gr<strong>und</strong>parameter logisch<br />
möglich sind <strong>–</strong> immer noch unendlich viele verschiedene <strong>–</strong>,<br />
die nach Naturgesetzen intelligentes Leben hervorbringen, so<br />
wird damit keiner physikalischen Wahrheit widersprochen,<br />
sondern nur eine logische Modalität mobilisiert, die in der<br />
Physik brachliegt. Es wird ein logischer Filter für mögliche<br />
kosmische Gr<strong>und</strong>parameter vorgeschaltet, der nur die lebensfre<strong>und</strong>lichen<br />
passieren lässt. Da die Physik sich für diesen<br />
Filter nicht interessiert (anders als für den probabilistischen<br />
Filter, der den quantentheoretischen Zufall einhegt),<br />
lässt sich in ihr die Notwendigkeit intelligenten Lebens so<br />
wenig erkennen wie die Äquivalenz des Auswahlaxioms <strong>und</strong><br />
des Wohlordnungssatzes. Dass es sich tatsächlich so verhält <strong>–</strong><br />
dass verkörperte intelligente Subjektivität mit logischer Notwendigkeit<br />
irgendwann <strong>und</strong> irgendwo im Universum auftreten<br />
muss, soll im Folgenden gezeigt werden.<br />
Bestünde diese Notwendigkeit nicht, so hätte Schleiffs teleologisches<br />
Argument, das in seinen Gr<strong>und</strong>zügen natürlich<br />
schon früher vorkommt, 3 vielleicht etwas für sich. Entweder<br />
herrschte dann unbeschränkter Zufall bei der Auswahl der<br />
Gr<strong>und</strong>parameter <strong>und</strong> die Wahrscheinlichkeit für ein Universum<br />
mit intelligentem Leben ginge gegen null, womit der<br />
unbeschränkte Zufall als solcher schon ausschiede. Auf seinem<br />
Boden erhöben sich dann die beiden anderen Möglich-<br />
3 Vgl. etwa Friedrich Hermanni, Metaphysik. Versuche über letzte Fragen,<br />
Tübingen 2011, 67<strong>–</strong>89.<br />
45
Anton Friedrich Koch<br />
keiten: planvolle Schöpfung oder viele Universen. Gäbe es<br />
viele Universen, so würden einige mit passenden Gr<strong>und</strong>parametern<br />
dabei sein, zum Beispiel unseres; wie es jede Woche<br />
einige Lottogewinner gibt. Doch wenn unser Universum das<br />
einzige ist, müsste eine verständige Weltursache Einfluss auf<br />
die Einstellung der kosmischen Gr<strong>und</strong>parameter genommen<br />
haben, weil die Wahrscheinlichkeit, dass allein der Zufall die<br />
passenden hätte hervorbringen können, wie gesagt, gegen<br />
null geht. Sofern man daher die Viele-Welten-Annahme ausschalten<br />
kann, darf <strong>und</strong> muss man auf eine verständige Weltursache<br />
schließen, angesichts des Ausmaßes des natürlichen<br />
Übels <strong>und</strong> des moralischen Bösen in der Welt aber vielleicht<br />
eher auf den Teufel als auf den gütigen Gott.<br />
Was hat dieses teleologische Argument <strong>und</strong> was hat sein<br />
Scheitern mit dem Thema zu tun <strong>–</strong> dem Thema der Tagung:<br />
»<strong>Körper</strong> <strong>und</strong> <strong>Kirche</strong>«, <strong>und</strong> dem des Vortrags: »Subjekt <strong>und</strong> <strong>Verkörperung</strong>«?<br />
Nun, in diesem Vortrag soll eine Subjektivitätsthese<br />
doppelten Inhaltes bewiesen werden, die erstens besagt:<br />
Notwendigerweise tritt im Universum körperliche Subjektivität<br />
auf. Ein Universum, in dem nicht irgendwann <strong>und</strong> irgendwo<br />
intelligentes Leben entstünde, wäre logisch unmöglich.<br />
Etwas Notwendiges aber kann man weder beschließen<br />
noch verhindern (allenfalls etwas moralisch Notwendiges).<br />
Wir können weder beschließen noch verhindern, dass 2+2=4.<br />
So konnte auch nichts <strong>und</strong> niemand beschließen oder verhindern,<br />
dass die kosmischen Gr<strong>und</strong>parameter lebensfre<strong>und</strong>lich<br />
sind. Sie mussten mit Notwendigkeit lebensfre<strong>und</strong>lich ausfallen,<br />
die lebensfeindlichen konnten den vorgeschalteten logischen<br />
Filter nicht passieren, weil ein Universum mit Notwendigkeit<br />
leibliche Subjekte enthalten muss. Subjektivität,<br />
genauer gesagt: leibliche <strong>und</strong> innerweltliche Subjektivität, ist<br />
notwendig für die Welt.<br />
46
Subjekt <strong>und</strong> <strong>Verkörperung</strong><br />
Zweitens aber besagt die Subjektivitätsthese auch umgekehrt:<br />
Subjektivität ist notwendig leiblich. Es kann keine<br />
immaterielle oder außerweltliche Subjektivität geben. Diese<br />
zweite Teilbehauptung ist ein Stein des Anstoßes für den<br />
Theismus wie die erste für den philosophischen Naturalismus.<br />
»Die Welt muss Menschen enthalten« <strong>–</strong> da schüttelt der<br />
Naturalist den Kopf. »Alle denkenden Wesen sind Menschen« <strong>–</strong><br />
da ist es am Theisten, den Kopf zu schütteln.<br />
Menschen im relevanten Sinn müssten nicht Angehörige<br />
der biologischen Spezies homo sapien sein, es könnte leibliche<br />
Subjekte auch anderswo im Universum geben. Menschen<br />
im relevanten Sinn sind Angehörige der philosophischen Spezies<br />
ζῷον λόγον ἔχον, gleichviel, ob sie genetisch nah oder<br />
weitläufig oder gar nicht mit uns verwandt sind. Unmöglich<br />
aber können sie Artefakte sein: Rechenmaschinen, Roboter,<br />
künstliche Intelligenzen. »Künstliche Intelligenz« ist eine<br />
Me tapher, die zu Werbezwecken großgeredet wird, weil es<br />
wie stets in der Geschichte der Klassenkämpfe um Geld <strong>und</strong><br />
Macht geht, um vermarktbare Möglichkeiten neuer Bedürfnisbefriedigung<br />
<strong>und</strong> um innovative Möglichkeiten der Herrschaft<br />
von Menschen über Menschen.<br />
Die Phantasie, es könne dereinst künstliche Intelligenz<br />
im Wortsinn geben, passt zum cartesianischen Dualismus als<br />
der Großideologie der Neuzeit. Rechenprogramme, die auf einer<br />
physikalischen <strong>Verkörperung</strong> als res extensa laufen, beerben<br />
dabei die res cogitans. Wirkliche Intelligenz, lebendige<br />
Subjektivität lässt sich hingegen nicht dualistisch verstehen;<br />
sie ist nicht bloß physikalisch verkörpert, sondern körperlich<br />
<strong>–</strong> oder besser leiblich: lebendig <strong>–</strong> durch <strong>und</strong> durch. Ein Subjekt<br />
hat keinen <strong>Körper</strong>, sondern ist ein Leib, wäre eine prägnante<br />
Formel dafür. Ein Subjekt denkt auch nicht mit seinem<br />
Gehirn wie mit einem Denkwerkzeug, sondern es selber<br />
47
Anton Friedrich Koch<br />
denkt, mit Leib <strong>und</strong> Seele, wobei Leib <strong>und</strong> Seele ein <strong>und</strong> dasselbe<br />
sind. Das ist der Antinaturalismus der Subjektivitätsthese,<br />
<strong>und</strong> alles wäre gut, wenn es dabei sein Bewenden hätte.<br />
Leider hat es dabei sein Bewenden nicht. Die Welt ist ein<br />
Jammertal, voller Natur- <strong>und</strong> Moralkatastrophen. Für erstere<br />
stand früher emblematisch das Erdbeben von Lissabon, aber<br />
man könnte auch die Nahrungsaufnahme der Raubtiere einschließlich<br />
des Raubtiers Mensch nennen. Für letztere, die<br />
Moralkatastrophen, steht emblematisch Auschwitz. Machen<br />
wir uns bitte nichts vor: Ohne den Glauben an eine göttliche<br />
Gerechtigkeit ist der Skandal des Unrechts, das den in Auschwitz<br />
ermordeten Menschen angetan ward, unerträglich.<br />
Wir brauchen Gott als den Erretter aus den Katastrophen<br />
der Natur <strong>und</strong> den Katastrophen der Moral, aus dem Übel<br />
<strong>und</strong> aus dem Bösen. Alles Schöne <strong>und</strong> alles Gute in Natur <strong>und</strong><br />
Kultur, alles gelingende Miteinander von Menschen ist tröstlich<br />
nur als Vorschein einer ausstehenden Verwandlung aller<br />
irdischen Verhältnisse, durch die im Nachhinein auch noch<br />
den Gequälten <strong>und</strong> Ermordeten ihr Recht <strong>und</strong> Glück gegen<br />
alle menschliche Wahrscheinlichkeit zuteilwerden kann.<br />
Wäre diese Hoffnung nicht unterschwellig in uns lebendig,<br />
so hätte nach Auschwitz tatsächlich kein Gedicht mehr geschrieben<br />
werden können.<br />
Doch die Subjektivitätsthese, die nun bewiesen werden<br />
soll, steht dieser Hoffnung schroff entgegen. Ihre Problematik<br />
ist folgende. Wenn sich ihre erste Teilthese beweisen lässt,<br />
gehört innerweltliche, verkörperte Subjektivität mit logischer<br />
Notwendigkeit zum Universum, was dem teleologischen<br />
Argument <strong>und</strong> dem Buch Matthias Schleiffs die argumentative<br />
Gr<strong>und</strong>lage entzieht. Denn eine notwendige<br />
Subjektivität kann niemand beschließen <strong>und</strong> niemand verhindern.<br />
Doch das ist vergleichsweise <strong>und</strong>ramatisch, weil<br />
48
Subjekt <strong>und</strong> <strong>Verkörperung</strong><br />
Theologie <strong>und</strong> <strong>Kirche</strong> gut ohne Gottesbeweise auskommen<br />
<strong>und</strong> weil die üblichen Gotteswiderlegungen aus der Ecke des<br />
Szientismus <strong>und</strong> Naturalismus einfältig <strong>und</strong> unerheblich<br />
sind, Gr<strong>und</strong> zum Schmunzeln eher als zum Fürchten. Der<br />
szientistische Naturalismus als solcher ist einfältig <strong>und</strong> als<br />
Theorie nicht satisfaktionsfähig.<br />
Überdies lässt die Subjektivitätsthese in ihrem ersten Teil<br />
Raum für folgende Sichtweise: Da es de facto das Universum<br />
gibt, muss es auch leibliche Subjekte enthalten; daran hätte<br />
Gott nichts ändern können. Aber dass es überhaupt ein Universum<br />
gibt, ist nicht notwendig, sondern geht auf Gottes<br />
freien Rat zurück. Wenn er eine Welt schaffen wollte, musste<br />
er Menschen schaffen; aber er hätte die Welt nicht schaffen<br />
müssen, sondern für sich bleiben können.<br />
Anders steht es indes mit der zweiten Teilthese, der zufolge<br />
alle Subjektivität notwendig leiblich <strong>und</strong> innerweltlich<br />
ist. Diese Behauptung ist prima facie atheistisch <strong>–</strong> atheistisch<br />
auf den ersten <strong>und</strong> wohl auch noch auf den zweiten Blick.<br />
Wenn es eine göttliche Subjektivität gäbe, so müsste sie leiblich<br />
<strong>und</strong> innerweltlich sein. Das trifft nach christlicher Lehre<br />
auf den Sohn zu, sofern er Mensch wurde, aber nicht auf den<br />
Vater <strong>und</strong> den Heiligen Geist. Vor allem bleibt kein Raum für<br />
einen außerweltlichen Schöpfer der Welt, wenn alle Subjektivität<br />
notwendig innerweltlich <strong>und</strong> körperlich ist. Wenn sich<br />
also die Subjektivitätsthese beweisen lässt, müsste man das<br />
Tagungsthema modifizieren zu »<strong>Körper</strong> versus <strong>Kirche</strong>«. Denn<br />
wenn alle Subjekte endliche <strong>Körper</strong> sind, ist der <strong>Kirche</strong> die<br />
Gr<strong>und</strong>lage ihres Glaubens entzogen. Nicht der philosophische<br />
Naturalismus bedroht den Glauben <strong>–</strong> der ist nur ein zahnloser<br />
Papiertiger <strong>–</strong>, sondern die antinaturalistische, apriorische<br />
<strong>und</strong> hermeneutische Philosophie, zu deren Repertoire<br />
die Subjektivitätsthese gehört.<br />
49
Anton Friedrich Koch<br />
Ihr Beweis geht so. Wir beginnen logisch, mit der Natur<br />
des Denkens. Wir könnten auch ontologisch, mit der Natur<br />
von Raum <strong>und</strong> Zeit beginnen, aber das logische Argument<br />
wird uns von selbst dorthin führen. Denken ist an seiner einfachen<br />
Basis Prädikation: einem Einzelding wird ein allgemeiner<br />
Zug zugesprochen: »Dieser Stein ist glatt«, »Dieser<br />
Baum blüht« usw. Die Dualität von Einzelnem <strong>und</strong> Allgemeinem<br />
ist definitorisch fürs Denken <strong>und</strong> für die Dinge; sie<br />
ist gr<strong>und</strong>legend sowohl epistemisch als auch ontisch. Es stellen<br />
sich also die beiden Fragen, erstens, wie die Dinge ontisch<br />
individuiert sind, was sie zu den Einzelnen macht, die sie<br />
sind, <strong>und</strong> zweitens die Frage, wie wir sie epistemisch individuieren,<br />
wie wir im Denken eindeutig je ein bestimmtes Einzelnes<br />
aus allen Einzeldingen des Universums herausgreifen,<br />
um etwas Allgemeines von ihm zu prädizieren. Betrachten wir<br />
zunächst diese zweite Frage, also die epistemische oder logische.<br />
Wir sehen sogleich, dass ein Denken in Allgemeinbegriffen<br />
für die epistemische Individuation nicht hinreicht. Denn<br />
eine Beschreibung in Allgemeinbegriffen kann prinzipiell auf<br />
viele Dinge oder eines oder keines zutreffen. Wie viele rot angestrichene<br />
Eisenkugeln von einem Meter Durchmesser mag<br />
es im Universum geben? Vermutlich gar keine; aber sicher behaupten<br />
können wir das nicht, schon weil wir nicht feststellen<br />
können, was in fernen Galaxien vor sich gehen mag.<br />
Die andere, die ontologische Frage, 4 wodurch die Dinge<br />
ontisch individuiert sind, erfordert eine analoge Antwort:<br />
4 Nach heutigem, besonders nordamerikanischem Sprachgebrauch wäre sie<br />
besser eine metaphysische Frage zu nennen, weil unter der Ontologie<br />
nicht mehr die Lehre von der kategorialen Verfassung des (Der-Fall-)Seienden,<br />
sondern in allzu verengter Weise eine Theorie verstanden wird, die<br />
klären soll, was existiert <strong>und</strong> was nicht. Hier wird der bewährte Sprachgebrauch<br />
gepflegt.<br />
50
Subjekt <strong>und</strong> <strong>Verkörperung</strong><br />
Nicht durch ihre allgemeinen Züge <strong>und</strong> Relationen. Das folgt<br />
aus dem Begriff der Allgemeinheit; das Allgemeine ist eben<br />
das, was von vielen geteilt werden kann. Viele Dinge können<br />
rot sein, viele auf einem Tisch liegen, viele an etwas Weißes<br />
grenzen usw. Was die Dinge ontisch individuiert, sind, so sagt<br />
man daher nicht zu Unrecht, ihre positionalen Eigenschaften,<br />
das heißt ihre jeweiligen Stellen in Raum <strong>und</strong> Zeit. Selbst<br />
wenn das Universum als Ganzes symmetrisch wäre oder aus<br />
immer wiederkehrenden gleichen Mustern bestünde, wäre<br />
doch jedes Ding von seinen dann existierenden Duplikaten<br />
durch seine Stelle in Raum <strong>und</strong> Zeit unterschieden <strong>und</strong> individuiert.<br />
Doch hier muss man achtgeben, dass man nicht im<br />
Zirkel geht: Die Raum-Zeit-Stellen sollen die Dinge individuieren.<br />
Was aber individuiert die Raum-Zeit-Stellen? Die<br />
Dinge, die sich an ihnen befinden? Das wäre der fehlerhafte<br />
Individuationszirkel, den wir vermeiden müssen.<br />
Man kann die Sachlage anhand von Leibniz’ <strong>und</strong> Newtons<br />
Raum-Zeit-Theorien erklären. Leibniz vertrat eine relationale<br />
Theorie; das heißt, er lehrte, dass die Raum-Zeit-Stellen<br />
durch die Dinge individuiert werden, die sich an ihnen befinden.<br />
Folglich mussten die Dinge durch ihre allgemeinen<br />
Züge individuiert werden, was aber unmöglich ist. Leibniz<br />
postulierte also, um den Zirkel der Individuation zu vermeiden,<br />
das Unmögliche. Es gibt das schwache, logische Prinzip<br />
der identitas indiscernibilium, das besagt, dass dann, wenn<br />
von a nichts gilt, was nicht auch von b gilt, a <strong>und</strong> b nicht nur<br />
vollkommen gleich, sondern numerisch identisch, ein <strong>und</strong><br />
dieselbe Sache sind. Dieses schwache Prinzip ist unstrittig,<br />
eine Wahrheit der Prädikatenlogik zweiter Stufe. Aber Leibniz<br />
machte daraus ein starkes, metaphysisches Prinzip, das besagt:<br />
Wenn a <strong>und</strong> b alle allgemeinen Züge teilen, sind sie<br />
eines, nicht zwei. Aber die allgemeinen Züge individuieren<br />
51
Anton Friedrich Koch<br />
nicht. Das Leibnizsche Prinzip ist also zu stark, falsch; es widerstreitet<br />
der Natur der Allgemeinheit. Wenn a <strong>und</strong> b zwei<br />
Dinge sind, nicht eines, muss von a etwas gelten, was nicht<br />
von b gilt; aber diese Differenz braucht nicht <strong>und</strong> kann auch<br />
letztlich nicht darin bestehen, dass a einen allgemeinen Zug<br />
hat, der b fehlt.<br />
Newton andererseits vertrat eine Theorie des absoluten<br />
Raumes <strong>und</strong> der absoluten Zeit <strong>und</strong> lehrte, dass die Stellen in<br />
Raum <strong>und</strong> Zeit unabhängig von allem, was sich an ihnen befinden<br />
mag, individuiert seien. Wenn a <strong>und</strong> b zwei Dinge<br />
sind, dann, weil sie verschiedene Positionen in Raum <strong>und</strong> Zeit<br />
haben. Doch obwohl letzteres stimmt, verstößt diese Konzeption<br />
gegen das schwache, rein logische Prinzip der identitas<br />
indiscernibilium. Wenn man eine Raum-Zeit-Position für<br />
sich betrachtet, lässt sich von ihr nichts sagen, was sich nicht<br />
ebenso von jeder anderen sagen ließe. Also müssten alle<br />
Raum-Zeit-Stellen numerisch identisch sein, was sie nach<br />
Voraussetzung nicht sind <strong>und</strong> nach ihrer individuierenden<br />
Rolle nicht sein können. Wir brauchen also etwas Drittes, eine<br />
Theorie, die irgendwie die Mitte hält zwischen Leibniz <strong>und</strong><br />
Newton.<br />
Kant hat eine solche Theorie vorgetragen, blieb dabei aber<br />
zu unbestimmt für unsere Zwecke. Versuchen wir es also auf<br />
eigene Faust. Weil Allgemeinheiten nicht individuieren, sind<br />
Raum <strong>und</strong> Zeit notwendig für die Individuation, notwendig<br />
qua Sphären ursprünglicher Mannigfaltigkeit, einer Mannigfaltigkeit,<br />
die unabhängig von allgemeinen Zügen <strong>und</strong><br />
allgemeinen Relationen besteht. Wir sahen aber auch, dass<br />
Raum <strong>und</strong> Zeit nur notwendig sind für die Individuation der<br />
Dinge, nicht jedoch, wie Newton annahm, hinreichend.<br />
Newton ließ es so aussehen, als individuierten Raum <strong>und</strong> Zeit<br />
die Dinge auf magische Weise, was natürlich zurückzuweisen<br />
52
Subjekt <strong>und</strong> <strong>Verkörperung</strong><br />
ist. So bleibt die Frage der ontischen Individuation einstweilen<br />
offen.<br />
Versuchen wir uns daher zunächst an der Frage der epistemischen<br />
Individuation, <strong>und</strong> da werden wir sogleich fündig.<br />
Epistemisch individuieren wir die Dinge mühelos anhand<br />
ihrer Positionen in Raum <strong>und</strong> Zeit, indem wir von<br />
indexikalischen Denkinhalten bzw. indexikalischen Ausdrucksweisen<br />
Gebrauch machen. Dazu gehören Demonstrativa,<br />
Personalpronomina, Orts- <strong>und</strong> Zeitadverbien sowie das<br />
Tempus verbi. Dieses System der Indikatoren bildet für jedes<br />
Subjekt ein informelles egozentrisches Koordinatensystem,<br />
mit dem sich auf Beliebiges an beliebigen Raum-Zeit-Stellen<br />
des Universums eindeutig Bezug nehmen lässt. Ich weiß zwar<br />
nicht, was vor zwei Milliarden Jahren zehn Lichtjahre über<br />
meinem Scheitel geschah, aber mit eben diesem indexikalisch<br />
imprägnierten Gedankeninhalt kann ich mich eindeutig darauf<br />
beziehen, was immer es gewesen sein mag.<br />
Unsere egozentrischen indexikalischen Koordinatensysteme<br />
sind je persönlich, aber nicht logisch privat, sondern<br />
öffentlich <strong>und</strong> objektiv <strong>und</strong> können daher mühelos aufeinander<br />
bezogen <strong>und</strong> zur Einführung unpersönlicher Koordinatensysteme<br />
verwendet werden, etwa der Längen- <strong>und</strong><br />
Breitengrade zur Kartierung der Erdoberfläche oder streng<br />
mathematischer Koordinatensysteme für die Bedürfnisse der<br />
theoretischen Physik. Doch gr<strong>und</strong>legend für alle Bezugnahmen<br />
auf Einzelnes bleiben unsere informellen, egozentrischen<br />
<strong>und</strong> indexikalischen Koordinatensysteme.<br />
Betrachten wir der Einfachheit halber nur deren räumlichen<br />
Anteil. 5 Für ihn benötigen wir einen Ursprung, drei<br />
Achsen mit sechs Richtungen <strong>und</strong> ein Maß für Entfernungs-<br />
5 Eine entfaltete Theorie, die auch den zeitlichen Anteil einschließt, wurde<br />
53
Anton Friedrich Koch<br />
angaben. All dies finden wir am je eigenen <strong>Körper</strong> vor. Als Ursprung<br />
könnte etwa der Punkt hinter der Stirn dienen, an<br />
dem eintreffende Lichtstrahlen nach den Gesetzen der Strahlenoptik<br />
konvergieren würden, oder bei Bedarf auch einmal<br />
die Spitze eines Zeigefingers. Die Achsen <strong>und</strong> ihre Richtungen<br />
lassen sich an den leiblichen Asymmetrien definieren, die<br />
Entfernungsmaße ebenfalls an leiblichen Gegebenheiten wie<br />
Spanne, Elle, Fuß oder Schritt. Der je eigene Leib dient uns<br />
also als realer Bezugsrahmen, an dem das gedankliche, egozentrische<br />
System der Indikatoren definiert <strong>und</strong> festgemacht<br />
wird. So entspricht es den Anforderungen an ein Koordinatensystem,<br />
denn sein Bezugsrahmen muss zu derselben Mannigfaltigkeit<br />
gehören, auf deren Details mittels des Koordinatensystems<br />
Bezug genommen wird.<br />
Bevor wir zum Problem der ontischen Individuation zurückkehren,<br />
ist noch eine wichtige Frage zu klären: Wie nehmen<br />
wir ursprünglich Bezug auf den Bezugsrahmen unseres<br />
egozentrischen räumlichen Koordinatensystems, also den je<br />
eigenen Leib? Allgemeinbegriffe individuieren nicht, <strong>und</strong><br />
die Indikatoren werden anhand des eigenen Leibes erst erklärt.<br />
Wenn dies geschehen ist, kann ich sagen: »Mein Leib ist<br />
der <strong>Körper</strong> hier.« Wie aber greife ich meinen Leib ursprünglich<br />
aus der Menge aller Dinge heraus? Offenk<strong>und</strong>ig bedarf es<br />
dazu eines Wissens, das weder allein in Allgemeinbegriffen<br />
noch in Indikatoren konzipiert werden kann, also eines Wissens<br />
a priori, kraft dessen ich mich ursprünglich selbst individuiere<br />
<strong>und</strong> ipso facto in Raum <strong>und</strong> Zeit lokalisiere <strong>und</strong> orientiere.<br />
Am Anfang aller epistemischen Individuation liegt<br />
vom Vf. vorgetragen in: Anton Friedrich Koch, Versuch über Wahrheit<br />
<strong>und</strong> Zeit, Paderborn 2006, §§ 14<strong>–</strong>17, §§ 43<strong>–</strong>45, §§ 73<strong>–</strong>81.<br />
54
Subjekt <strong>und</strong> <strong>Verkörperung</strong><br />
also je meine apriorische Selbstindividuation als eines asymmetrischen<br />
Leibes in Raum <strong>und</strong> Zeit.<br />
Descartes hätte daher, sobald er sich im »Cogito, sum« seiner<br />
Existenz vergewissert hatte, unmittelbar übergehen<br />
müssen zu »corpus sum«: Ich bin ein Leib. Dass wir leiblich<br />
sind, wissen wir alle a priori vor jeglichem Philosophieren.<br />
Die Philosophie macht dieses apriorische Selbstwissen durch<br />
geeignete Theoriebildung nur explizit. Descartes aber hat es<br />
durch ungeeignete Theoriebildung verdeckt <strong>und</strong> damit dem<br />
Dualismus von Denken <strong>und</strong> <strong>Körper</strong> Tür <strong>und</strong> Tor geöffnet, der<br />
sich im heutigen Materialismus zur Standardideologie in der<br />
Philosophie des Geistes verhärtet hat. Die res cogitans ist dieser<br />
Ideologie zufolge eine Art Rechenprogramm, das auf einem<br />
<strong>Körper</strong> oder spezifischer einem Gehirn als einem Biorechner<br />
läuft.<br />
Für die ontische Individuation ergeben sich daraus überraschende<br />
<strong>und</strong> weitreichende Konsequenzen. Sie schien von<br />
einem Rätsel umgeben, das sich sogar in die Form einer Antinomie<br />
bringen lässt, eines Widerspruches zwischen zwei<br />
logischen Prinzipien. Das eine besagt: Allgemeine Züge individuieren<br />
nicht; auf a können dieselben intrinsischen <strong>und</strong> relationalen<br />
Allgemeinbegriffe zutreffen wie auf b, <strong>und</strong> dennoch<br />
können a <strong>und</strong> b zwei Dinge sein. Das andere ist die logische<br />
Version der identitas indiscernibilium: Wenn a <strong>und</strong> b<br />
zwei Dinge sind, trifft auf a etwas zu, was nicht auf b zutrifft.<br />
Wir sehen nun, was den Anschein des Widerspruchs löst:<br />
Wenn a <strong>und</strong> b Duplikate sind, kann auf a zum Beispiel zutreffen,<br />
dass es hier in meiner Nähe ist, <strong>und</strong> auf b nicht. Die<br />
epistemische Individuation mittels Indikatoren löst so die<br />
drohende Antinomie der ontischen Individuation.<br />
Die Dinge sind also ontisch individuiert, weil einige unter<br />
ihnen, die leiblichen Subjekte, sich a priori jeweils selbst<br />
55
Anton Friedrich Koch<br />
epistemisch <strong>und</strong> damit zugleich ontisch individuieren, <strong>und</strong><br />
weil dann relativ zu ihnen auch alle anderen Dinge im Universum<br />
ontisch individuiert sind, nämlich durch bestimmte<br />
indexikalische Züge, die sie in Beziehung auf ein jeweiliges<br />
Subjekt haben. Wenn zum Beispiel im Universum seit ewigen<br />
<strong>und</strong> in ewige Zeiten alle h<strong>und</strong>ert Milliarden Jahre ein neuer<br />
Urknall stattfände <strong>und</strong> alles sich exakt so wiederholte wie das<br />
letzte Mal, so wären die Duplikate der Stadt Marburg dadurch<br />
individuiert, dass das vorige Duplikat vor 100 Milliarden Jahren,<br />
das nächste in 100 Milliarden Jahren, das vorvorige vor<br />
200 Milliarden Jahren <strong>und</strong> so weiter existierte, immer ausgehend<br />
von mir hier jetzt. Aber für einen sonst allwissenden,<br />
nur außerweltlichen Betrachter wären die Duplikate objektiv<br />
ununterscheidbar, so gut wie ein einziges oder 17 oder 243 von<br />
ihnen. Der außerweltliche Betrachter könnte sich auf keines<br />
von ihnen beziehen. Er könnte sich überhaupt auf kein Einzelding<br />
beziehen, also auch nichts von einem Einzelding prädizieren,<br />
also nicht denken; er wäre mithin gar keine denkende,<br />
intelligente Person.<br />
Das ist die Schwierigkeit, die vorgeführt werden sollte.<br />
Denken als solches individuiert sich a priori als leiblich, endlich,<br />
innerweltlich <strong>und</strong> kann so für die epistemische <strong>und</strong> zugleich<br />
ontische Individuation aller Dinge sorgen. Für Gott als<br />
Schöpfer der Welt bleibt dann kein Raum. Er könnte das<br />
Raum-Zeit-System <strong>und</strong> Individuen in ihm nicht schaffen,<br />
weil er sie nicht einmal denken könnte. Es sei denn, er wäre<br />
als Schöpfer der Welt <strong>und</strong> ens realissimum zugleich auch<br />
Mensch <strong>und</strong> würde sich von Anfang an in seine eigene Schöpfung<br />
selbst hineingeschaffen oder vielmehr, da er kein Geschöpf<br />
sein kann, hineingezeugt haben, sich als seinen Sohn.<br />
Die Peinlichkeit, die das Christentum unter den drei abrahamitischen<br />
Großreligionen aus jüdischer <strong>und</strong> muslimi-<br />
56
Subjekt <strong>und</strong> <strong>Verkörperung</strong><br />
scher Sicht umgibt, die Lehre von drei göttlichen Personen<br />
<strong>und</strong> der Inkarnation des Sohnes, würde so wider menschliches<br />
Erwarten vom Makel zu einem positiven Alleinstellungsmerkmal,<br />
kraft dessen der Schöpfungsmonotheismus<br />
doch noch logisch akzeptabel werden könnte. Auch in diesem<br />
Sinn wäre dann der Stein, den die Bauleute verworfen haben,<br />
zum Eckstein geworden. Freilich bedarf es, bevor ein solch erfreuliches<br />
Resultat verkündet werden kann, noch vieler theoretischer<br />
Arbeit. Beispielsweise hätte der Sohn, wenn man ihn<br />
in Jesus von Nazareth erblicken will, vor 2000 Jahren gelebt,<br />
die Schöpfung jedoch wäre mindestens 13,7 Milliarden Jahre<br />
alt. Denken <strong>und</strong> schaffen aber konnte Gott nur durch den<br />
Sohn als inkarnierten. Es scheint, dass Mittel <strong>und</strong> Wege gef<strong>und</strong>en<br />
werden müssten, um den Pfeil der Zeit schöpfungstheoretisch<br />
außer Kraft zu setzen. Und das ist nur eine von<br />
zahllosen theoretischen Schwierigkeiten, die es zu bewältigen<br />
gälte. Aber um zu verstehen, wie den Verfolgten <strong>und</strong> Ermordeten<br />
Gerechtigkeit geschehen könnte, lohnt sich der<br />
Versuch. Ihn zu unternehmen, gebietet die moralische Teleologie<br />
<strong>–</strong> auf dass nicht alles in Zynismus ende.<br />
57
Jörg Dierken<br />
Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong><br />
die <strong>Verkörperung</strong><br />
1. Im falschen Film?<br />
Hegel <strong>und</strong> Schleiermacher gelten als Denker des Geistes. Wie<br />
kaum andere scheinen sie für einen Primat des Allgemeinen<br />
über das Besondere zu stehen, dem ein solcher des Vernünftigen<br />
über das Natürliche entspricht. Das dürfte auf den ersten<br />
Blick einen garstig breiten Graben gegenüber dem aktuellen<br />
Paradigma der <strong>Verkörperung</strong> markieren. 1 Es zeigt schon<br />
sprachlich einen Vorrang des <strong>Körper</strong>lichen, <strong>und</strong> <strong>Körper</strong> gibt<br />
es nur als jeweilig diese, mithin einzelne, unter weiteren,<br />
ebenfalls einzelnen. Das lässt fragen, ob nicht eher ein Gestus<br />
überlegener Verabschiedung antiquierten Denkens ange-<br />
1 Vgl. dazu Jörg Fingerhut/Rebekka Hufendiek/Markus Wild<br />
(Hrsg.), Philosophie der <strong>Verkörperung</strong>. Gr<strong>und</strong>lagentexte zu einer aktuellen<br />
Debatte, Frankfurt a. M., 2013, darin insbesondere die Einleitung der<br />
Hrsg., 9<strong>–</strong>102; Gregor Etzelmüller/Annette Weissenrieder (Hrsg.),<br />
<strong>Verkörperung</strong> als Paradigma theologischer Anthropologie, Berlin/Boston<br />
2016, darin insb. die Einführung der Hrsg., (1<strong>–</strong>27) <strong>und</strong> den Beitrag von<br />
Thiemo Breyer, Philosophie der <strong>Verkörperung</strong>. Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> Konzepte,<br />
29<strong>–</strong>49. Philipp Stoellger macht in seinem Beitrag in diesem Band<br />
(Vom dreifaltigen Sinn der <strong>Verkörperung</strong>, a. a. O., 298<strong>–</strong>316) darauf aufmerksam,<br />
dass die Pointe des Diskurses in hohem Maße von den (fiktiven) Kontexten<br />
bzw. Oppositionen abhängt.<br />
59
Jörg Dierken<br />
zeigt wäre, 2 wenn von hier aus Hegel <strong>und</strong> Schleiermacher thematisch<br />
werden sollen. Vielleicht ist der Graben auch von anderer<br />
Seite aus auszuloten, etwa im Gefälle materialistischer<br />
Umkehrungen jener sog. idealistischen Denker. Das wirft<br />
allerdings die Frage auf, ob die Umkehrung nicht bereits beansprucht,<br />
was umgekehrt wird, zumindest in kategorialer<br />
Hinsicht. So funktioniert das Marxsche Bonmot, dass Hegels<br />
Dialektik vom Kopf auf die Füße zu stülpen sei, ohne Kopf<br />
schon organisch schlecht. 3 Wie auch immer hier zu urteilen<br />
ist: Wenn <strong>–</strong> wie es die Veranstalter mir aufgetragen haben <strong>–</strong><br />
die Konstellation von »<strong>Verkörperung</strong>« <strong>und</strong> jenen Großdenkern<br />
aus dem sog. Deutschen Idealismus thematisch werden<br />
soll, erhebt sich die Frage, ob man nicht im falschen Film gelandet<br />
ist.<br />
Sprachlich ist der Ausdruck »<strong>Verkörperung</strong>« wohl etwas<br />
ungeschickt. Zumindest im Deutschen verdeckt er manche<br />
Gr<strong>und</strong>intuition dieses v. a. kognitionswissenschaftlichen Paradigmas.<br />
Denn im Umkehrschluss legt er die Frage nach<br />
dem status quo ante dessen nahe, was nun »ver-körpert« ist.<br />
Es müsste sozusagen außer-, vor- oder überkörperlich gewe-<br />
2 Davon sind auch die o. g. Einführungstexte nicht ganz frei <strong>–</strong> ohne sich von<br />
der Motivik des Gegners wirklich irritieren zu lassen. Vgl. Fingerhut/<br />
Hufendiek/Wild, Philosophie der <strong>Verkörperung</strong> (s. Anm. 1), 18 u. ö;<br />
Etzelmüller/Weissenrieder, <strong>Verkörperung</strong> als Paradigma (s. Anm. 1),<br />
13 u. ö. <strong>–</strong> Dem <strong>Verkörperung</strong>stopos kann auch deshalb Aufmerksamkeit in<br />
der Theologie zuteilwerden, weil »er insbesondere geeignet ist, das vorherrschende<br />
Selbstbewusstseinsparadigma zu attackieren« (Gesche Linde,<br />
<strong>Verkörperung</strong>, Handlung, Repräsentation, in: a. a. O., 243<strong>–</strong>288; hier: 250).<br />
Auf »Attacke« als Aktionsmodus muss offenbar rekurriert werden, wenn<br />
einem »gegenständliche[n] Denken« in der Theologie wieder Plausibilität<br />
verliehen werden soll, ohne den kritischen Einwänden gegenüber solchem<br />
Denken im Bereich supranaturaler Begriffe nachzugehen (a. a. O., 252).<br />
3 Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, in: MEW 23, 27.<br />
60
Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong><br />
sen sein, um nach dem Bewegungsschema der »Ver-körperung«<br />
körperlich werden zu können. Damit wäre man ziemlich<br />
nahe an vulgäridealistischen Konzepten von Geist, Vernunft<br />
oder Ideen, was die Pointe dieses Paradigmas grob verzeichnete.<br />
4 Embodiment oder besser in der Verlaufsform embodied<br />
cognition stellen vielmehr darauf ab, dass Kognition<br />
sich immer schon in Organismen vollzieht, die mit ihrer Umwelt<br />
interagieren <strong>und</strong> darin <strong>–</strong> <strong>und</strong> zwar nur darin <strong>–</strong> organisch<br />
f<strong>und</strong>ierte mentale Formen ausbilden, die evolutiv komplexer<br />
werden <strong>und</strong> sich situativ auf jeweilige Gehalte hin modifizieren.<br />
Alles Mentale ist danach natural vermittelt <strong>–</strong> allerdings<br />
gegenüber naturalistischen Reduktionismen verschiedenster<br />
Art nicht so, dass es lediglich dessen Epiphänomen<br />
wäre. 5 Es kann, unbeschadet seiner realen Basis im Naturhaft-Organischen,<br />
welches mit dem <strong>Körper</strong> auch das<br />
Gehirn umfasst, durchaus als eigene Sphäre symbolischer<br />
Artikulationen, die ihrerseits in intersubjektiver Kommunikation<br />
entstehen <strong>und</strong> eigene kulturelle Figuren bilden, verstanden<br />
werden. 6 Zu ihnen gehören auch symbolische Formen<br />
7 wie Kunst, Religion <strong>und</strong> Philosophie. Wenn eine Pointe<br />
des <strong>Verkörperung</strong>s-Paradigmas darin liegt, über den Aufweis<br />
der realen Basis kultureller Phänomene deren naturale Ver-<br />
4 So auch Stoellger, Vom dreifaltigen Sinn (s. Anm. 1), 291 ff.<br />
5 Vgl. nur Etzelmüller/Weissenrieder, <strong>Verkörperung</strong> als Paradigma (s.<br />
Anm. 1), 7.9 u. ö.<br />
6 Dies ist insbesondere der Ansatz von Matthias Jung. Vgl. Matthias Jung,<br />
<strong>Symbolische</strong> <strong>Verkörperung</strong>. Die Lebendigkeit des Sinns, Tübingen 2017;<br />
Ders., Verkörperte Intentionalität <strong>–</strong> Zur Anthropologie des Handelns, in:<br />
Bettina Hollstein/Ders./Wolfgang Knöbl (Hrsg.), Handlung <strong>und</strong><br />
Erfahrung. Das Erbe von Historismus <strong>und</strong> Pragmatismus <strong>und</strong> die Zukunft<br />
der Sozialtheorie, Frankfurt a. M. 2011, 25<strong>–</strong>50.<br />
7 Dieser Begriff geht bekanntlich auf Ernst Cassirer zurück, ist hier allerdings<br />
unspezifischer gebraucht.<br />
61
Jörg Dierken<br />
mitteltheit zu erhellen <strong>und</strong> damit Dualismen wie die von<br />
<strong>Körper</strong> <strong>und</strong> Geist, Natur <strong>und</strong> Kultur zurückzuweisen, 8 kann<br />
dies nicht um den Preis eines reduktionistischen Monismus<br />
des Naturalen erfolgen. Das gilt mehr noch, wenn das Naturale<br />
primär im Kausalschema gedacht wird. Es kommt<br />
schon beim Verständnis des Organisch-Lebendigen, dessen<br />
Selbstorganisation interne Rückbezüglichkeit mit externen<br />
Bezügen auf Umweltlich-Anderes verbindet, an seine<br />
Grenze, 9 <strong>und</strong> von ihm allein aus lässt sich auch das für das<br />
<strong>Verkörperung</strong>s-Paradigma zentrale Phänomenfeld des Handelns<br />
nicht erschließen. Handeln in weitestem Sinn, das<br />
eine Drift vom Umgang mit Objekten hin zur Kommunikation<br />
im Intersubjektiven aufweist, hat eine irgendwie an<br />
Zielen orientierte Struktur, mag die Teleologie auch schwacher<br />
Art sein <strong>und</strong> sich in den Kontexten interaktiver Handlungsvollzüge<br />
laufend verändern. Der gleichsam »schwache«<br />
Charakter der Teleologie resultiert daraus, dass Handeln wie<br />
Intentionalität überhaupt in den angeeigneten Automatismen<br />
des <strong>Körper</strong>schemas, wonach der <strong>Körper</strong> gerade nicht im<br />
8 Vgl. Etzelmüller/Weissenrieder, <strong>Verkörperung</strong> als Paradigma (s.<br />
Anm. 1), 9; Etzelmüller (a. a. O., 221 ff.), sieht die cartesianische Unterscheidung<br />
von res cogitans <strong>und</strong> res extensa als Urgestalt überwindungspflichtiger<br />
Dualisierungen. Er schließt damit an die anticartesianische<br />
Figur vom »ausgedehnten Geist« aus dem <strong>Verkörperung</strong>s-Diskurs an (vgl.<br />
Andy Clark/<strong>David</strong> Chalmers, Der ausgedehnte Geist, in: Fingerhut/Hufendiek/Wild,<br />
Philosophie der <strong>Verkörperung</strong> [s. Anm. 1], 205<strong>–</strong><br />
223). Nicht wirklich gewürdigt wird dabei die vollzugslogische Pointe des<br />
cogitare, das letztlich in einem substantiellen Sinn verstanden wird. Das<br />
aber führt zum gegenläufigen Monismus der einen Substanz, bei der Denken<br />
<strong>und</strong> Ausdehnung zu Attributen werden, wie Spinoza gezeigt hat. Er<br />
spielt in dem Diskurs kaum eine Rolle.<br />
9 Vgl. hierzu immer noch Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen<br />
<strong>und</strong> der Mensch (1928), Berlin 1975.<br />
62
Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong><br />
Kegel der Aufmerksamkeit steht, eine Zielorientierung im<br />
Modus des »Als-ob« für die Akteure mit sich bringen. Mit den<br />
Stichworten des sog. 4E-Cognition-Konzepts 10 des <strong>Verkörperung</strong>sdiskurses<br />
<strong>–</strong> embodied, embedded, extended <strong>und</strong> enactive<br />
<strong>–</strong> schiebt sich ein faktischer Primat des Praktischen<br />
über das Theoretische. Dabei kann die Pragmatik intersubjektiv<br />
geteilter <strong>und</strong> befolgter Muster für die Beteiligten den<br />
Eindruck von gemeinsamen Zielen erwecken <strong>und</strong> darüber<br />
Kooperation im Sicht- <strong>und</strong> Handlungsfeld stiften. 11<br />
Schaut man von hier aus auf Hegel <strong>und</strong> Schleiermacher<br />
<strong>und</strong> vermeidet dabei gern gebrauchte, aber eben auch simplifizierende<br />
Klischees, so scheint der garstig breite Graben zumindest<br />
nicht unüberbrückbar <strong>–</strong> wenn auch mit gewissem<br />
konstruktivem Aufwand. Für Hegels Begriff des Geistes gilt<br />
generell, dass er nicht ohne seine geschichtliche Evolution zu<br />
denken ist. Die Philosophie des Geistes schließt an die der Natur<br />
an, wobei diese in jener aufgehoben, d. h. ebenso negiert<br />
wie bewahrt wird. 12 In diesem Sinn gilt die Sphäre des Gesell-<br />
10 Vgl. Breyer, Philosophie der <strong>Verkörperung</strong> (s. Anm. 1), 40 ff.; Fingerhut/<br />
Hufendiek/Wild, Philosophie der <strong>Verkörperung</strong> (s. Anm. 1), 64 ff.<br />
11 Für den klaren Primat des Praktischen steht insbesondere Shaun Gallagher.<br />
Vgl. Ders., Kognitionswissenschaften <strong>–</strong> Leiblichkeit <strong>und</strong> Embodiment,<br />
in: Emmanuel Alloa/Thomas Bedorf/Christian Grüny/Tobias<br />
Nikolaus Klass, Leiblichkeit. Begriff, Geschichte <strong>und</strong> Aktualität eines<br />
Konzepts, Tübingen 2012, 320<strong>–</strong>333; vgl. dazu auch Matthias Jung, Verkörperte<br />
Intentionalität (s. Anm. 6), 29 ff. <strong>–</strong> Man kann von hier aus Linien<br />
zu dem Beispiel koordinierter Blicke aus der evolutionären Anthropologie<br />
von Michael Tomasello ziehen.<br />
12 Das erhellt schon aus der Anordnung des zweiten <strong>und</strong> dritten Teils der<br />
gr<strong>und</strong>legenden Systemarchitektur. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich<br />
Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Gr<strong>und</strong>risse<br />
[2. Aufl. 1830], zit. nach Theorie-Werkausgabe (=ThWA), hrsg. v. Eva Moldenhauer/Karl<br />
Markus Michel, Frankfurt a. M. 1969<strong>–</strong>71, Bd. 8<strong>–</strong>10 §<br />
381 (im Folgenden zit. als Enz).<br />
63
Jörg Dierken<br />
schaftlich-Sozialen als »zweite Natur«, 13 die mit der »ersten«<br />
stets verb<strong>und</strong>en bleibt, etwa durch Arbeit <strong>und</strong> Interaktion.<br />
Das Mentale ist ohne organische Prozesse <strong>und</strong> Zustände nicht<br />
zu verstehen, wie schon die »Psychologie« im »subjektiven<br />
Geist« zeigt. 14 Und die symbolischen Formen der Kultur in<br />
engerem Sinn, also Kunst, Religion <strong>und</strong> Philosophie, integrieren<br />
nicht nur die leibbezogenen Vermögen des subjektiven<br />
<strong>und</strong> die gesellschaftlich-kommunikativen Dimensionen<br />
des objektiven Geistes, sondern bilden selbst eine von den<br />
subjektiven Vermögen des Anschauens, Vorstellens <strong>und</strong> Denkens<br />
geleitete Dynamik, die das Ganze auf dreifache Weise resümiert,<br />
einschließlich seiner naturalen Ausgänge. 15 Selbst<br />
das Denken wird in seiner Apriorität über eine sich über Negationsdifferenzen<br />
aufstufende Dialektik gewonnen, an deren<br />
Ausgangspunkt die Spannung von seinem ebenso kontingenten<br />
wie unhintergehbaren, mithin realen Vollzug <strong>und</strong><br />
der darin immer schon beanspruchten Gehaltlichkeitsstruktur<br />
steht. Die Pointe eines solchen Apriorismus, nämlich dass<br />
die kategorialen Beschreibungsformen nur um den Preis eines<br />
Zirkels dem Beschriebenen als solchem entnommen werden<br />
können, bewährt sich denn auch erst in der Anwendung<br />
am Material. Einen Mangel an Dynamik wird man Hegel von<br />
Seiten des <strong>Verkörperung</strong>s-Paradigmas nicht vorhalten können,<br />
ebenso wenig wie einen simplen Dualismus oder Monismus.<br />
Offen ist allerdings der Punkt, dass der Richtungssinn<br />
jener dialektischen Dynamik unumkehrbar von der Natur<br />
13 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gr<strong>und</strong>linien der Philosophie<br />
des Rechts [1821], hrsg. v. Johannes Hoffmeister, Hamburg 5 1995 § 4<br />
(im Folgenden zit. als R).<br />
14 Vgl. Enz. §§ 440<strong>–</strong>481.<br />
15 Gemeint sind natürlich die Formative des »absoluten Geistes«, vgl. Enz<br />
§§ 553<strong>–</strong>577.<br />
64
Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong><br />
zum Geist hin zu weisen scheint. Demgegenüber mag von<br />
Hegel aus im Blick auf manche Variante jenes aktuellen Paradigmas<br />
gefragt werden, ob dessen Antidualismus unterschwellig<br />
einem Monismus des Natural-Objektiven Vorschub<br />
leistet, welcher die Dimension des Subjekthaften einverleibt.<br />
Hieran hängt die Spontaneität, ohne die Handeln zu<br />
einem Glied in einer Kette des Notwendigen herabgestuft<br />
wird.<br />
Mehr noch als Hegel kennt Schleiermacher einen bleibenden<br />
Bezug auf das Organische. Auf der Makroebene der Systemarchitektur<br />
ist es Teil der <strong>–</strong> faktisch nie ausgearbeiteten <strong>–</strong><br />
Physik, die der Ethik als Ort von Geschichte <strong>und</strong> Gesellschaft<br />
gegenübersteht. 16 Physik wird nicht in Ethik aufgehoben,<br />
ebenso wenig Natur in ihr Gegenüber, die Vernunft <strong>–</strong> so sehr<br />
auch Schleiermacher als nachaufklärerischer Denker das Motiv<br />
einer zunehmenden Durchdringung der Natur durch Vernunft<br />
<strong>und</strong> Aneignung durch sie kennt. Das geschichtsphilosophische<br />
Fortschrittsmotiv ist auch bei ihm verankert. 17 Auf<br />
der Theorieebene bleibt es jedoch bei der Polarität von Natur<br />
<strong>und</strong> Vernunft, welche beide immer schon ihr Pendant in sich<br />
haben. Wohl gibt es Minima <strong>und</strong> Maxima, auch zeigen sich<br />
virtuose Limitationsfiguren zwischen den Polen. 18 Doch Na-<br />
16 Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Ethik [1812/13], mit<br />
späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre <strong>und</strong> Pflichtenlehre, auf<br />
der Gr<strong>und</strong>lage der Ausg. v. Otto Braun, hrsg. v. Hans-Joachim Birkner,<br />
Hamburg 1981 [zit. im Folgenden als E]; zur Systemarchitektur vgl. vom<br />
Vf., Das Absolute <strong>und</strong> die Wissenschaften. Zur Architektonik des Wissens<br />
bei Hegel <strong>und</strong> Schleiermacher, in: PhJ 99 (1992), 307<strong>–</strong>328.<br />
17 Vgl. dazu vom Vf., Fortschritte in der Geschichte der Religion? Aneignung<br />
einer Denkfigur der Aufklärung, Leipzig 2012, 72<strong>–</strong>89.<br />
18 Vgl. dazu Michael Moxter. Güterbegriff <strong>und</strong> Handlungstheorie. Eine<br />
Studie zur Ethik Friedrich Schleiermachers, Kampen 1992, bes.198 ff.<br />
65
Jörg Dierken<br />
tur wie Vernunft als solche sind unzugänglich <strong>und</strong> leer, sie leben<br />
geradezu von dynamischen Spannungseinheiten mit ihrem<br />
Anderen. Auf der Meso- <strong>und</strong> Mikroebene hat das zur<br />
Folge, dass Geschichte <strong>und</strong> Gesellschaft mit Prozessen der<br />
Naturbildung <strong>und</strong> -aneignung verb<strong>und</strong>en, dass alles<br />
menschliche Handeln organisch geprägt ist, dass jede Kommunikation<br />
Sinn nur in sinnlichen Medien zwischen Bildern<br />
<strong>und</strong> Klängen, Gestischem <strong>und</strong> Lautlichem generieren kann<br />
<strong>und</strong> dass selbst das begrifflich reinste Denken an gesprochene<br />
Sprache geb<strong>und</strong>en bleibt. Auch darin zeigt sich, dass Schleiermacher<br />
ein Denker des Individuellen ist <strong>–</strong> das freilich virtuell<br />
mit dem, was es als Dieses nicht ist, verwoben bleibt. Wenn<br />
Schleiermacher mit gr<strong>und</strong>legenden Polaritäten arbeitet <strong>–</strong><br />
Natur <strong>und</strong> Vernunft sowie Individuelles <strong>und</strong> Allgemeines<br />
sind die basalsten im sog. »Viererschema« <strong>–</strong>, dann sind sie Beschreibungsmuster<br />
für tendenziell unendliche <strong>und</strong> unerschöpfliche<br />
Wechseldynamiken. Mit simplen Dualismen hat<br />
das nichts zu tun. Das erhellt schon daraus, dass diese Polaritäten<br />
einander mehrfach kreuzen, dabei komplexere Verlaufsmuster<br />
zeigen <strong>und</strong> darüber eigenständige soziale<br />
Sphären mit mannigfaltigen Interferenzen bilden. In der<br />
Fluchtlinie dieser Logik werden systemtheoretische Figuren<br />
erkennbar. Organisieren <strong>und</strong> Symbolisieren sind die gr<strong>und</strong>legenden<br />
Verlaufsmuster <strong>–</strong> Organisieren ist Eingehen von<br />
Natur in Vernunft, Symbolisieren Darstellen von Vernunft in<br />
Natur <strong>–</strong>, <strong>und</strong> die sozialen Sphären betreffen ökonomischen<br />
Austausch <strong>und</strong> rechtsförmige Staatlichkeit sowie reproduzierbares<br />
Wissen <strong>und</strong> ästhetische bzw. religiöse Symbolkommunikation.<br />
Das lässt sich bis in ein filigranes Geflecht von<br />
Institutionen hinein verfolgen, die stets auch überinstitutionelle<br />
Dimensionen haben, wie etwa die »freie Geselligkeit«<br />
zeigt. Eine Pointe dieses Denkens liegt darin, tendenziell un-<br />
66
Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong><br />
endliche Prozesse des Austauschs <strong>und</strong> der Kommunikation<br />
im Endlichen aus ihren Vollzügen heraus zu beschreiben.<br />
Dazu bedarf es allerdings eines konstruktiven begrifflichen<br />
Überschusses, wie er durch jene mehrfachen Polaritäten markiert<br />
wird. Auch die Realität des Endlichen vermisst sich<br />
durch begriffliche Konstruktionen, in deren Fluchtlinien ein<br />
Ganzes von Relationen liegt. Es ist <strong>und</strong> bleibt freilich ein<br />
Grenzbegriff, ihre Einheit haben die über konstruktive Polarität<br />
gebildeten Relationen in einem strikt Transzendenten,<br />
das in seiner Negativität mit allen Operationen mitläuft. 19<br />
Das scheint weit weg vom <strong>Verkörperung</strong>s-Diskurs zu liegen.<br />
Begriffliche Konstruktivität <strong>und</strong> eine nur über Unterscheidungen<br />
fassbare, negative Einheit scheinen eher das Gegenteil<br />
von dessen Gr<strong>und</strong>intuitionen zu sein. Das lässt fragen,<br />
ob sich die Logik dieser Figuren <strong>–</strong> ähnlich wie im Blick<br />
auf die Negationsdialektik bei Hegel <strong>–</strong> dennoch im Lichte<br />
manch realistisch-geerdeter Einsicht von Schleiermacher<br />
plausibel machen lässt. Genannt seien der Realismus eines<br />
Immer-schon-Eingesetzt-Seins in den Vollzug des subjektiven<br />
wie sozialen Lebens <strong>und</strong> ein Primat des Praktischen.<br />
Schleiermacher kennt dies wie auch Hegel. Anders als bei<br />
Schleiermacher bildet allerdings eine kontemplative Figur<br />
der sich denkenden <strong>und</strong> darin anschauenden Vernunft den<br />
Gipfel von Hegels Denken. Gegen Schleiermacher wiederum<br />
könnte eingewendet werden, dass die Bedingungen der Dynamik<br />
im endlichen Leben, nämlich ihre immanenten Spannungen,<br />
letztlich in einer nur noch als unfassbar gefassten<br />
19 Vgl. den Argumentationsgang des »Transzendentalen Teils« von Schleiermachers<br />
Dialektik (Friedrich Schleiermacher, Dialektik [1814/15 [{=<br />
D}], Einleitung zur Dialektik [1833], hrsg. v. Andreas Arndt, Hamburg<br />
1988, 15<strong>–</strong>85).<br />
67
Jörg Dierken<br />
transzendenten Einheit verb<strong>und</strong>en sind, die als leere, negative,<br />
mithin auch unkörperliche Folie für alle realen Differenzen<br />
fungiert. Wenn demgegenüber Differenz <strong>und</strong> Negativität<br />
wie bei Hegel sowohl in die Erst- wie Letztbegriffe zwischen<br />
Sein, Nichts <strong>und</strong> Werden <strong>und</strong> dem Absoluten als Geist gesetzt<br />
werden <strong>und</strong> sich damit gleichsam das innere Verlaufsprinzip<br />
der Dynamiken des Lebens zeigt, erhebt sich im Blick auf das<br />
<strong>Verkörperung</strong>s-Denken die Frage, ob <strong>und</strong> wie es das Negative<br />
verstehen kann.<br />
Doch zunächst soll <strong>–</strong> gemäß dem Tagungsthema <strong>–</strong> der<br />
Blick auf die <strong>Ekklesiologie</strong> fallen.<br />
2. <strong>Körper</strong> <strong>und</strong> <strong>Kirche</strong><br />
Wenn man unterstellt, dass die Fluchtlinien des <strong>Verkörperung</strong>s-Diskurses<br />
nicht dazu führen, Religion als »Verirrung«<br />
des menschlichen Geisteslebens zu dekonstruieren, 20 zeigen<br />
sich Bezüge zu verschiedenen Themen der Theologie. Sie können<br />
nicht allein auf der Gegenstandsseite verortet werden,<br />
wenn nicht vorkritisch Symbole verdinglicht werden sollen.<br />
So hat es die Schöpfungsanthropologie mit Phänomenen<br />
wie der Verdanktheit <strong>und</strong> Kontextualität des physischen wie<br />
mentalen Lebens zu tun, dem seine eigene unbedingte Spontaneität<br />
in bleibender Spannung gegenübersteht. Beides<br />
macht seine Endlichkeit aus <strong>und</strong> lässt gegenbildlich nach<br />
einem Unendlichen fragen, in dem beide Motive zusammenkommen.<br />
Unter dem Titel »Sünde« werden Formen von ver-<br />
20 Um eine Formulierung Schleiermachers aufzugreifen, vgl. Ders., Kurze<br />
Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen,<br />
hrsg. v. Heinrich Scholz, Hildesheim 4 1977, § 22.<br />
68
Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong><br />
fehlender Entzweiung thematisch, bei denen ein Verlust von<br />
Selbst-Integration in den Dimensionen des Somatischen <strong>und</strong><br />
Mentalen zumeist mit missglückter sozialer Interaktion einhergeht.<br />
Stichwort wie Gnade <strong>und</strong> Heil sind die entsprechenden<br />
Gegenbegriffe. Bei ihnen wird mitkommuniziert, dass sie<br />
einerseits ohne ein immer auch verneinendes Bewusstsein<br />
von der Sünde nicht zu haben sind, andererseits aber durch<br />
die damit verb<strong>und</strong>ene Umkehrung nicht produziert werden<br />
können, da das gnadenhafte Aufkommen von Zuständen erlebten<br />
Heils kontingent ist. Wie sich der Gegensatz von Sünde<br />
<strong>und</strong> Gnade mit dem Endlichkeits- <strong>und</strong> Unendlichkeitsthema<br />
verbindet, zeigt der Zusammenhang, der am ehesten auf die<br />
Gr<strong>und</strong>intuitionen des <strong>Verkörperung</strong>s-Diskurses zu führen<br />
scheint: die Menschwerdung Gottes, konzentriert in Inkarnation<br />
<strong>und</strong> Tod. 21 Freilich bleibt auch der Fleischgewordene der<br />
Logos, <strong>und</strong> ebenso erscheint der um des Heils willen Auferstandene<br />
als der um der Sünde willen Gekreuzigte. Die Gemeinde<br />
oder <strong>Kirche</strong> wird sodann zum Ort, an dem diese christologischen<br />
Dimensionen des Geistigen <strong>und</strong> Leiblichen mitsamt<br />
ihren mehrfachen Negationen zusammenkommen <strong>–</strong><br />
<strong>und</strong> zwar mitsamt dem Spiegel eines mit der Sünde verlustig<br />
gegangenen Normativen. Die christologisch-ekklesiologische<br />
Metapher vom »Leib Christi« lässt davon etwas anklingen.<br />
Dessen Ganzheit wird konstituiert wie ermöglicht durch<br />
eine tendenziell unendliche Vielfalt von Kommunikationsvollzügen,<br />
in denen die Gestalt Jesu Christi im Lichte je eige-<br />
21 Das ist natürlich ein klassischer Topos, der im theologischen Segment des<br />
<strong>Verkörperung</strong>s-Diskurses gern aufgenommen wird (vgl. Etzelmüller/<br />
Weissenrieder, <strong>Verkörperung</strong> als Paradigma (s. Anm. 1), 221 ff.; Stoellger,<br />
Vom dreifaltigen Sinn [s. Anm. 1], 303 ff.). Ob er in nichttheologischen<br />
Segmenten eine ähnliche Bedeutung haben kann, mag gefragt werden.<br />
69
Jörg Dierken<br />
ner, biographisch <strong>und</strong> sozial vermittelter »<strong>Verkörperung</strong>« angeeignet<br />
<strong>und</strong> solchermaßen individualisiert dargestellt wird.<br />
Das schließt Widerspruch <strong>und</strong> Abweichen als Momente des<br />
Kommunikationsgeschehens ein <strong>–</strong> sofern es nicht, so der<br />
Grenzbegriff, zu Selbstausschlüssen kommt. Auch das wäre<br />
freilich noch ein Anschluss durch Negation, allerdings würde<br />
die Deutung des Ausschlusses als Anschluss sich an der<br />
Selbstauskunft vergehen. Selbsttätigkeit <strong>und</strong> Freiheit sind<br />
bei der Aneignung der Christusgestalt im Glauben immer<br />
schon beansprucht. Damit korrespondiert, dass die Ganzheit<br />
der kirchlichen Kommunikation mitsamt der letzten Stellung<br />
der Einzelnen verborgen bleibt <strong>und</strong> nur Gott offenbar<br />
ist. Die unsichtbare <strong>Kirche</strong> ist darum aber nicht irreal. Die<br />
empirische Sichtbarkeit der kirchlichen Kommunikation ist<br />
im Handeln ihrer unterschiedlichen Teilnehmer gegeben,<br />
wobei immer auch Regeln <strong>und</strong> Grenzen beansprucht werden.<br />
Aus <strong>protestantische</strong>r Perspektive seien zwei Grenzen der<br />
Regelbildung exemplarisch genannt, die auch zentrale As -<br />
pekte des <strong>Verkörperung</strong>s-Diskurses berühren. Eine davon<br />
wird durch den gleichsam höheren Realismus der römischkatholischen<br />
<strong>Ekklesiologie</strong> markiert. Die <strong>Kirche</strong> wird hierin<br />
nicht primär von der Gemeinde <strong>und</strong> ihren Kommunikationsvollzügen<br />
her verstanden. Vielmehr ist das Motiv einer Fortschreibung<br />
der Inkarnation maßgeblich. Die <strong>Kirche</strong> setzt als<br />
Ganzheit die <strong>–</strong> cum grano salis <strong>–</strong> inkarnationstheologische<br />
<strong>Verkörperung</strong> Gottes fort, mit ihrem Oberhaupt als symbolisch-stellvertretender<br />
Repräsentanz <strong>und</strong> symbolischer Nachfolge<br />
ihres ersten apostolischen Gesandten an der Spitze. Er<br />
besitzt gleichsam zwei <strong>Körper</strong>, deren leiblicher sich ganz dem<br />
geistlich-symbolischen anverwandeln soll, bis hin zu seinem<br />
tendenziell öffentlichen Sterben in jenen hinein. Man mag<br />
nur an die Bilder vom Ende des Papstes Johannes Paul II. den-<br />
70
Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong><br />
ken. Geschieht solches Sterben nicht, wie beim Amtsverzicht<br />
des letzten Papstes, sind Irritationen unausweichlich. Aus<br />
<strong>protestantische</strong>r Perspektive ist nun nicht der mit einer solchen<br />
inkarnationstheologischen <strong>Ekklesiologie</strong> verb<strong>und</strong>ene<br />
Realismus als solcher kritikbedürftig. Daher sei katholischen<br />
Stimmen gern zugestimmt, die die <strong>Kirche</strong> als »große Gottesidee«<br />
verstehen, die ohne reale Wirklichkeit im Vollsinn eben<br />
eine bloße subjektivistische »Idee« bliebe. 22 Für solchen Realismus<br />
soll die römisch-katholische <strong>Kirche</strong> stehen, wenn sie<br />
das Göttliche im Irdischen verkörpert <strong>–</strong> einschließlich aller<br />
damit verb<strong>und</strong>enen Härten, die sich mit kaum oder allzu heiligen<br />
Erscheinungen verbinden. Fraglich ist vielmehr, ob im<br />
Hintergr<strong>und</strong> nicht doch ein vulgärplatonisches Schema<br />
steht, wonach die »Idee« sozusagen als solche in der Sphäre<br />
Gottes bereits in sich vollendet ist <strong>und</strong> dann sek<strong>und</strong>är auch<br />
Realität wird, während die Kontingenz kommunikativer Anschlüsse<br />
bei der Aneignung des im Menschgewordenen offenbaren<br />
Gottes in historisch mannigfaltigen Formen überblendet<br />
wird. Das hat zur Folge, dass die historische Bildung<br />
»Rom« nicht in ihrer Kontingenz wahrgenommen, sondern<br />
als in ihrer <strong>Verkörperung</strong> aufgehende »Gottesidee« konstruiert<br />
wird. Die Kontingenz des Historischen nicht zu überblenden<br />
<strong>und</strong> ein Gemeinsames durch all ihre Besonderheit<br />
durch Regeln zur kommunikativen Vergemeinschaftung zu<br />
finden, ist demgegenüber ein Merkmal <strong>protestantische</strong>r <strong>Kirche</strong>nbegriffe.<br />
Ohne solche Kontingenz <strong>und</strong> sodann: weitere<br />
22 So der nachmalige Papst Josef Kardinal Ratzinger in den Debatten um das<br />
<strong>Kirche</strong>nverständnis im Umfeld der Erklärung Dominus Iesus, die die ökumenischen<br />
Visionen im Nachgang zu der Gemeinsamen Erklärung zur<br />
Rechtfertigungslehre dämpfte. Vgl. dazu vom Vf., Differenzhermeneutische<br />
Kontroverstheologie, in: Ders., Selbstbewußtsein individueller Freiheit,<br />
Tübingen 2005, 379 ff. (mit weiteren Nachweisen).<br />
71
Jörg Dierken<br />
kontingente An- <strong>und</strong> Ausschlüsse, ist auch <strong>Verkörperung</strong><br />
nicht zu haben.<br />
Die andere Grenze protestantisch-ekklesiologischer Regelbildung<br />
zeigt sich an spiritualistischen <strong>und</strong> pentecostalen<br />
<strong>Kirche</strong>nkonzepten. Sie gehen nicht primär von Konstrukten<br />
einer Materialität der Inkarnation aus, im Zentrum stehen<br />
vielmehr eher flüchtige Wirkungen des Geistes. In spiritualistischen<br />
Mustern macht er sich im Inneren des Herzens, der<br />
Seele oder des Bewusstseins geltend, unter tendenzieller Absehung<br />
von intersubjektiver Kommunikation <strong>und</strong> von der<br />
Materialität des Medialen. Auch hier wird das Jenseits der<br />
Grenze für <strong>protestantische</strong> <strong>Ekklesiologie</strong> nicht gleichgültig.<br />
Wenn sie auf Regeln zur Kommunikation abstellt, muss sie<br />
eingedenk bleiben, dass Kommunikation keinen Automatismus<br />
der Anschlüsse impliziert, die Freiheit zum Ausstieg<br />
oder zu anderen, neuen Anschlüssen will gewahrt sein. Auch<br />
Medialität ist mit der Möglichkeit von Wechseln verb<strong>und</strong>en,<br />
bis hin zum tendenziellen Verzicht auf ihre sinnliche Äußerlichkeit<br />
zugunsten eines sinnhaft erlebten Inneren <strong>–</strong> in dem<br />
andere mediale Formen, etwa die des Selbstgesprächs in<br />
Sprach- <strong>und</strong> Bildfragmenten beansprucht werden. In pentecostalen<br />
Formen von Geistchristentum wird dagegen der<br />
Geist selbst verkörpert, etwa in Flammen, Zungenreden oder<br />
Ekstase, <strong>und</strong> an die Stelle von intersubjektiv sich aufbauendem<br />
Verstehen treten autoritativ vom charismatischen Kult<strong>und</strong><br />
Gemeindeleiter vorgegebene Deutungsmuster für solche,<br />
auch somatisch sichtbare Zustände von Geistergriffenheit<br />
<strong>und</strong> -entrücktheit. Aus dem eigenen Dabeisein wird ein<br />
bloßes Instrument des Geistes eines anderen. Aber auch bei<br />
dieser Abgrenzung gilt, dass auch für <strong>protestantische</strong> <strong>Ekklesiologie</strong><br />
der Geist verkörpert sein will <strong>–</strong> allerdings symbolisch,<br />
nicht somatisch. Sonst wird er zum Gespenst.<br />
72
Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong><br />
Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> sei nun nach den <strong>Ekklesiologie</strong>n<br />
von Hegel <strong>und</strong> Schleiermacher gefragt, bevor abschließend<br />
der Diskurs mit dem <strong>Verkörperung</strong>s-Diskurs wieder aufgenommen<br />
wird.<br />
3. Hegel <strong>und</strong> Schleiermacher über Gott, Geist<br />
<strong>und</strong> Gemeinde<br />
Hegels wie Schleiermachers Religionstheorien zeigen ein<br />
starkes sozialphilosophisches Gepräge. Theologie wird in Soziologie<br />
übersetzbar, das Gottesverhältnis erscheint ebenso<br />
als Sozialverhältnis <strong>und</strong> fungiert als dessen Ausdruck. Bei Hegel<br />
macht sich dies in einem gleichsam kultursoziologischen<br />
Zugriff auf die Religionsthematik geltend. Danach kommt in<br />
der Religion symbolisch verschlüsselt zum Ausdruck, was ein<br />
Volk »für das Wahre hält«. 23 Damit ist weniger theoretisches<br />
Wissen gemeint, im Mittelpunkt stehen die Formative des sozialen<br />
Lebens mit ihrer impliziten Normativität. So werde das<br />
»Individuum« als solches sozial erst dann anerkannt, wenn<br />
Individualität <strong>–</strong> wie in der Trinität <strong>–</strong> »im göttlichen Wesen«<br />
ihren Ort hat <strong>und</strong> der »Einzelne« in der »Idee der Menschwerdung«<br />
»positiv angeschaut wird«. 24 Ihre Realität hat diese Idee<br />
im kontingenten »Ist« des einen Menschen, 25 der als bloße<br />
Realität für den Begriff, als der Einzige für Alle steht. Das<br />
führt dazu, dass die aus dem Jüngerkreis hervorgehende Ge-<br />
23 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie<br />
der Geschichte (ThWa Bd. 12), 70.<br />
24 Ebd.<br />
25 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie<br />
der Religion, Teile 1<strong>–</strong>3, hrsg. v. Walter Jaeschke (Hrsg.), Hamburg 1983<strong>–</strong><br />
1985 (= VorlRel), 5, 47.<br />
73
Jörg Dierken<br />
meinde nach dem Entzug seiner sinnlichen Präsenz den<br />
»Übergang vom bloßen Menschen zum Gottmenschen macht«,<br />
in dem sie ihn in die Gewissheit inneren Glaubens überführt.<br />
26 Dieser Übergang dürfte ein Grenzwert für das <strong>Verkörperung</strong>smotiv<br />
sein. Doch er ist gewissermaßen paradigmatisch<br />
für ein zentrales Moment von Intersubjektivität: den<br />
Übergang von Selbstsein zu Anderssein. Während beides<br />
idealerweise in Symmetrie zueinander steht <strong>und</strong> damit die<br />
Gr<strong>und</strong>struktur von Anerkennung ausmacht <strong>–</strong> wobei das Verhältnis<br />
zum Anderen dem Selbstverhältnis eingeschrieben ist<br />
wie vice versa <strong>–</strong> läuft dieses Ideal in realen <strong>und</strong> zeitlichen Vollzügen<br />
nur als implizites Sollensmoment in Asymmetrien<br />
mit Übergängen vom Einen zu den anderen, vom Selbst zum<br />
Anderssein mit. Genau ein solcher Übergang ist auch charakteristisch<br />
für das Verhältnis von Gott, Geist <strong>und</strong> Gemeinde.<br />
Geist ist bei Hegel keine numinose Größe, sondern Inbegriff<br />
einer Struktur, in der Selbst- <strong>und</strong> Anderssein im jeweiligen<br />
Selbstverhältnis durch ihr Verhältnis zum Anderen bestimmt<br />
sind <strong>und</strong> dieses in intersubjektiver Anerkennung<br />
vollziehen. Der Geist ist bei Hegel ein Letztbegriff, dessen tendenziell<br />
unendlicher Monismus alle Endlichkeit bis zum Einzelnen<br />
konstituierende Duale umfasst <strong>und</strong> von ihnen ebenso<br />
geöffnet wird. Solcher Duomonismus des Geistes gilt daher<br />
als das Absolute. Ebendarum kann aber der Geist nicht Gott<br />
als solcher sein. Vielmehr will die ideelle Absolutgeltung des<br />
Geistes im subjektiven Bewusstsein vollzogen <strong>und</strong> zugleich<br />
intersubjektiv kommuniziert werden. Das ist die Pointe von<br />
Hegels religionsphilosophischer Spitzenformel, wonach Gott<br />
nur Geist ist, wenn er als Gemeinde existiert. 27 Umgekehrt<br />
26 VorlRel, 3, 250. Vgl. dazu ausführlicher vom Vf., Glaube <strong>und</strong> Lehre im<br />
modernen Protestantismus, Tübingen 1996, 267 ff.<br />
74
Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong><br />
sind es die intersubjektiven Kommunikationsvollzüge der<br />
Gemeinde, in denen nicht nur der »Übergang« zum Gottmenschen<br />
nach dem Tod Jesu, sondern auch die weiteren<br />
Symbole des Christentums artikuliert werden, einschließlich<br />
der Trinität als Symbol für den christlichen Gott. 28 Dass es auf<br />
sinnliche Verhältnisse wie Vater, Sohn, Zeugen usw. rekurriert,<br />
allerdings auf eine nicht einfach sinnlich vermittelbare<br />
Weise, macht seinen symbolischen Sinn aus. Er will allerdings<br />
hermeneutisch verstanden werden <strong>und</strong> gibt dabei über seine<br />
inneren Negationsmomente immer auch zu denken. Dieses<br />
Verhältnis von Sinnlichkeit <strong>und</strong> Sinn kennzeichnet die<br />
Medialität symbolischer Kommunikation des Christlichen.<br />
Exemplarisch lässt sich dies am Abendmahl zeigen, bei dem<br />
die äußere Vernichtung der medialen Zeichen durch innere<br />
Einverleibung den Sinn der glaubenden Aneignung Gottes in<br />
Christus darstellt.<br />
Hegels Christentumsdeutung weist <strong>–</strong> wie auch die anderer<br />
Religionen <strong>–</strong> ein klares Gefälle hin zu den Elementen »Kultus«<br />
<strong>und</strong> »Gemeinde« auf. Deren Konstitution ist mit der Explikation<br />
der gleichsam höchsten Begriffe verwoben <strong>und</strong> geht<br />
mit der medialen Artikulation von deren Kommunikationssymbolen<br />
einher. Mediale Kommunikation wird bei Hegel <strong>–</strong><br />
stärker als bei Schleiermacher <strong>–</strong> im Gefälle einer Dialektik, die<br />
primär in der Seite ihrer Gehaltlichkeit verankert ist <strong>und</strong> von<br />
da aus auf die Seite subjektiver Zustände hinübergeht, gedacht.<br />
Wie Schleiermacher entwickelt auch Hegel einen starken<br />
Sinn für Institutionen. Wie an der <strong>Ekklesiologie</strong> deutlich<br />
wird, können Institutionen freilich auch die anarchische<br />
Lebendigkeit symbolischer Kommunikation hemmen. Das<br />
27 Vgl. VorlRel, 1, 33; 3, 250.<br />
28 Vgl. VorlRel, 3, 251.<br />
75
Jörg Dierken<br />
zeigt sich bei Hegel insbesondere darin, dass die institutionalisierte<br />
<strong>Kirche</strong> nach ihrem Entstehen als Gemeinde es am<br />
Ende nur noch mit der geisthaften, aber auch gleichförmigen<br />
Sozialisation von Einzelnen zu tun hat, während ihre soziokulturelle<br />
Spitze im Verlauf ihrer Geschichte tendenziell<br />
transformiert <strong>und</strong> in andere Gestalten des Geistes »aufgehoben«<br />
wird. 29 Gemeint sind die sich entwickelnde autonome<br />
Sittlichkeit von Familie, Wirtschaftsgesellschaft <strong>und</strong> insbesondere<br />
Staat auf der einen Seite <strong>und</strong> die Philosophie mit ihrem<br />
reinbegrifflichen Denken auf der anderen Seite. Hegel<br />
lässt keinen Zweifel daran, dass er die Sittlichkeit im Praktischen<br />
<strong>und</strong> die Philosophie im Theoretischen als die besseren<br />
Realisierungsgestalten des Geistes der Gemeinde erachtet.<br />
Die Rationalität beider Aufhebungsfiguren lässt sich plausibilisieren:<br />
die Aufhebung in Sittlichkeit aufgr<strong>und</strong> der mit<br />
dem subjektiven Glauben verb<strong>und</strong>enen Partikularität des religiösen<br />
Gemeindegeistes, <strong>und</strong> die Aufhebung in Philosophie<br />
aufgr<strong>und</strong> der Reflexivität, die die Übergänge in negationsvermittelter<br />
symbolischer Kommunikation ermöglicht <strong>und</strong><br />
darüber hinaus auf einen sie selbst einholenden Abschluss<br />
drängt. Hierfür steht das sich denkende Denken <strong>–</strong> obwohl es<br />
in der kontemplativen Theoria zur intellektuellen Anschauung<br />
gelangen soll. Das lässt die gr<strong>und</strong>legende Frage aufkommen,<br />
ob nicht gegenläufig zu jenen Aufhebungsfiguren der<br />
als solcher faktisch leer werdende Systemabschluss eine<br />
Pointe darin haben kann, die Verweisstruktur symbolischer<br />
Kommunikation zu vergegenwärtigen, die sich aber gerade in<br />
deren Vollzügen selbst bewähren muss. Das würde auf eine<br />
Lesart Hegels hinauslaufen, die eine gegenläufig-komplementäre<br />
Aufhebung der Philosophie in die Gestalten von Re-<br />
29 Vgl. VorlRel, 3, 163 ff.; 167 ff.; 256 ff; 262 ff.<br />
76
Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong><br />
ligion <strong>und</strong> Kunst kennt. Für das Verhältnis von Absolutem<br />
zur Sittlichkeit des objektiven Geistes dürfte Ähnliches gelten,<br />
mit Konkretionen im Gang von der Allgemeinheit des<br />
Staats hin zu Zivil- <strong>und</strong> Wirtschaftsgesellschaft <strong>und</strong> den Sozialformen<br />
von Geschlechter- <strong>und</strong> Generationenverhältnissen.<br />
Diese Lesart liegt nicht ganz fern von <strong>Verkörperung</strong>s-<br />
Motiven.<br />
Auch für Schleiermacher ist Religion primär ein Phänomen<br />
des geschichtlich-sozialen Lebens. Nach seinem ethischen<br />
Quadrupel ist sie individuelles Symbolisieren, worin<br />
sich das Vernünftige in einer unendlichen Fülle von naturhaft<br />
Endlichem darstellt <strong>und</strong> in jeweils innerliche subjektive<br />
Zustände eingeht. Danach ist Religion sowohl zuständliche<br />
Frömmigkeit mit ihrem Akzent auf Individuellem <strong>und</strong> Innerlichem,<br />
aber sie ist ebenso »Communikation« <strong>und</strong> »Zirkulation«.<br />
30 Individuum <strong>und</strong> Gemeinschaft lassen sich nicht<br />
gegeneinanderstellen, ebenso wenig wie das Subjektive <strong>und</strong><br />
das Soziale. Das zeigt schon die Einleitung von Schleiermachers<br />
Glaubenslehre, insofern sie »Lehnsätze aus der Ethik«<br />
präsentiert, welche der subjekt- <strong>und</strong> sozialtheoretischen »Basis<br />
[…] kirchlicher Gemeinschaften« nachgehen. 31 Nicht erst<br />
die Kommunikation, sondern bereits Frömmigkeit als solche<br />
30 Friedrich Schleiermacher, Die christliche Sitte, nach den Gr<strong>und</strong>sätzen<br />
der evangelischen <strong>Kirche</strong> im Zusammenhange dargestellt (= CS), aus<br />
Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse <strong>und</strong> nachgeschriebenen<br />
Vorlesungen, hrsg. v. Ludwig Jonas, Berlin 2 1884, 510; Ders., Die praktische<br />
Theologie, nach den Gr<strong>und</strong>sätzen der evangelischen <strong>Kirche</strong> im Zu -<br />
sammenhange dargestellt (= PT), aus Schleiermachers handschriftlichem<br />
Nachlasse <strong>und</strong> nachgeschriebenen Vorlesungen, hrsg. v. Jacob Frerichs,<br />
Berlin 1850, 65.<br />
31 Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube, nach den Gr<strong>und</strong>sätzen<br />
der evangelischen <strong>Kirche</strong> im Zusammenhange dargestellt (= CG),<br />
hrsg. v. Martin Redeker, Berlin 1960, § 3.<br />
77
Jörg Dierken<br />
ist mehr als etwas bloß Innerliches oder gar Privates. Frömmigkeit<br />
steht als Gefühl oder »unmittelbares Selbstbewusstsein«<br />
im Übergang von Wissen <strong>und</strong> Tun, die auf je entgegengesetzte<br />
Weise das Subjekt mit der Welt des Anderen zwischen<br />
Aufnehmen <strong>und</strong> Einwirken verwickeln. Das Subjekt lebt in<br />
Wechselzusammenhängen mit tendenziell allem, darin immer<br />
schon eingeb<strong>und</strong>en zu sein wird ihm als Frömmigkeit<br />
gegenwärtig. 32 Diesen holistischen Zug teilt Schleiermacher<br />
mit Hegel <strong>–</strong> wie auch das Motiv einer Freiheit des Subjekts.<br />
Denn im »Gesamtselbstbewusstsein« der Welt, genauer ihrer<br />
Ganzheit in Korrespondenz zur »Einheit unseres Selbstbewusstseins«,<br />
33 ist dieses als Teilmoment der Ganzheit immer<br />
auch über sie in seinem Für-sich-Sein hinaus, könnte es anderenfalls<br />
sie nicht in eigener Einheit haben. Diese Doppelstellung<br />
von Subjekt <strong>und</strong> Totalität schlägt sich in einer Doppelgestalt<br />
von entsprechenden Ideen nieder: der der Vielheit<br />
umfassenden Welt <strong>und</strong> der der korrelativen Einheit Gottes.<br />
Zugleich schattet sich durch diese Doppelstellung im Gefühl<br />
die transzendentale Voraussetzung der aufeinander bezogenen<br />
Gr<strong>und</strong>polaritäten von Schleiermachers System ab: Das in<br />
der Dialektik als transzendenter Gr<strong>und</strong> erschlossene, aber<br />
niemals als solches erreichbare Absolute, die Einheit von Denken<br />
<strong>und</strong> Sein, die hinter der von Natur <strong>und</strong> Vernunft steht<br />
<strong>und</strong> deren Bezogenheit in allen Differenzen des Endlichen<br />
ermöglicht. 34 Während die dialektische Theorie, die hinter<br />
32 Vgl. CG §§ 3 u. 4. Vgl. dazu ausführlicher vom Vf., Glaube <strong>und</strong> Lehre (s.<br />
Anm. 26), 357 ff.<br />
33 CG §§ 4.2; 8.2.<br />
34 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Dialektik (1814/15 [= D]), Einleitung<br />
zur Dialektik (1833), hrsg. v. Andreas Arndt, Hamburg 1988, §§ 212 ff.<br />
Vgl. dazu Ulrich Barth, Der Letztbegründungsgang der »Dialektik«, in:<br />
Ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 353 ff.<br />
78
Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong><br />
aller Theoriebildung steht, diese Einheit in einem begrifflich-reduktiven<br />
Verfahren im Ausgang von polaren Differenzen<br />
erschließt, wird sie dem Subjekt als Frömmigkeit in mental-emotiven<br />
Zuständen gewärtig, <strong>und</strong> zwar zusammen<br />
damit, dass sich das Subjekt in diesen selbstvollzogenen Zu -<br />
ständen immer schon vorfindet. Von diesem Sinn der Beschreibung<br />
von Frömmigkeit als Abhängigkeit lassen sich<br />
Linien zu <strong>Verkörperung</strong>sfiguren ziehen.<br />
Schleiermachers <strong>Ekklesiologie</strong> schließt an die interaktive<br />
<strong>und</strong> kommunikative Gr<strong>und</strong>struktur von Frömmigkeit an.<br />
Der Erlöser ist das Urbild von Frömmigkeit, insofern in ihm<br />
mögliche Konflikte von Gottes- <strong>und</strong> Weltbewusstsein, von<br />
Schleiermacher im Spiegel der niederen Vermögen von Lust<br />
<strong>und</strong> Unlust verfolgt, überw<strong>und</strong>en sind. Idealtypisch ist er als<br />
Person naturgewordene Vernunft <strong>und</strong> damit das individuelle<br />
Allgemeine. Solch vollkommene Mittlerschaft ist erst durch<br />
sein Erlösungsgeschäft in der Einbeziehung aller vollendet.<br />
Es ist ihm daher um die Stiftung eines neuen »Gesamtlebens«<br />
zu tun, <strong>und</strong> in die »Lebensgemeinschaft mit Christo« werden<br />
tendenziell alle durch Mitteilung seiner Seligkeit aufgenommen.<br />
35 Dies geschieht so, dass die Einzelnen durch ein in der<br />
»Ordnung des Freien« erfolgendes wechselseitiges »Mit- <strong>und</strong><br />
Aufeinander-Wirken« in den sie beseligenden »Gemeingeist«<br />
einbezogen werden, der der »Vereinigung des göttlichen Wesens<br />
[…] mit der menschlichen Natur« entspricht. 36 Entscheidend<br />
ist in diesem Zusammenhang, dass diese mit der Christologie<br />
parallelisierte pneumatologische Aufnahme in den<br />
Gemeingeist nicht die »personenbildende« Eigenart der Einzelnen<br />
zugunsten eines reinen »Gemeinbewusstseins«, das<br />
35 Vgl. CG §§ 91 ff.<br />
36 CG § 123.<br />
79
Jörg Dierken<br />
sich der Vollständigkeit »seines Seins in diesem Ganzen bewusst<br />
ist«, verdrängt. 37 Dann wären Christen <strong>und</strong> Christus<br />
ununterscheidbar <strong>–</strong> <strong>und</strong> zwar bar jeder Individualität. Dass in<br />
solch holistischer Vergemeinschaftung nicht alle dasselbe<br />
werden, haftet neben der empirischen Differenz in Raum <strong>und</strong><br />
Zeit an dem »vor der Wiedergeburt verflossenen Teil [des] Lebens«,<br />
mithin den Nachwirkungen der vergebenen Sünde im<br />
Erlösungsbewusstsein. 38 Diese starke, in der Gemeinde freilich<br />
schon eingehegte Differenz eröffnet die innere Dynamik<br />
ihrer tendenziell auf Dauer gestellten Kommunikation. Sie<br />
tilgt die Sterilität, die den mit dem über allen Widerstreit von<br />
Fleisch <strong>und</strong> Geist erhabenen Erlöser <strong>und</strong> die mit ihm parallelisierten<br />
Erlösten anderenfalls kennzeichnete. 39 Über diese<br />
Differenz ist ein weiterer Anker bei Schleiermacher für das<br />
<strong>Verkörperung</strong>s-Motiv zu finden. Denn diese Differenz ist<br />
nicht in Schleiermachers religiösem Gott oder seinem philosophischen<br />
Absoluten gehalten, die eben nur Einheit sind. Sie<br />
steht ihm in ihrer Realität gegenüber. Die aus den Nachwirkungen<br />
der vergebenen Sünde erwachsenden Differenzen ermöglichen<br />
es, dass in der realen Kommunikation Missverste-<br />
37 CG § 123.3.<br />
38 Ebd.<br />
39 In den beiden ekklesiologischen Individuationsmotiven, also der raumzeitlichen<br />
Differenz endlicher Subjekte unter anderen <strong>und</strong> der hamartiologischen<br />
Figur von »Nachwirkungen« der Sünde, liegt eine Spannung.<br />
Schleiermacher sucht sie faktisch über den geschichtsphilosophischen Ge -<br />
danken einer zunehmenden Durchdringung der ›Welt‹ durch das Christentum<br />
aufzuheben. Man kann sie <strong>–</strong> mit <strong>und</strong> gegen Schleiermacher <strong>–</strong> aber<br />
auch akzentuieren <strong>und</strong> in ihrem Zeichen die faktischen <strong>und</strong> kontingenten<br />
Vollzüge der Kommunikation zwischen endlichen Subjekten in deren<br />
Lebenssphäre hervorheben <strong>–</strong> was auf eine differenztheoretische Fassung<br />
des Verhältnisses von unendlichem <strong>und</strong> Endlichem hinausläuft. Davon<br />
wird im Folgenden Gebrauch gemacht.<br />
80
Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong><br />
hen, Abweichen <strong>und</strong> Widerstreit entstehen kann. Das ist für<br />
Schleiermacher legitim. Die Artikulationsformen des Christlichen<br />
sind vielfältig <strong>und</strong> geschichtlich wandelbar. Daher bedarf<br />
es sich ständig nachjustierender Regulative solcher Kommunikation.<br />
Eben dafür stehen die Medien des Wortes <strong>und</strong><br />
der Sakramente, gefolgt von den Vollzügen des Gebets im Namen<br />
Jesu <strong>und</strong> des Schlüsselamtes. Die Regeln zur Nachjustierung<br />
dieser Regulative in historisch unterschiedlichen Kontexten<br />
können freilich strittig werden. Das zeigen konfessionelle<br />
Dissense. Sie sind darum nicht nach dem Schema von<br />
Wahrheit <strong>und</strong> Abfall zu verstehen, sondern ein gr<strong>und</strong>sätzlich<br />
legitimer Ausdruck für die Pluralität des Christlichen. Der<br />
Modus des Gemeinsamen dabei ist »Streit«. 40 Dass er nicht<br />
zum Impuls zur Vernichtung wird, sondern auch im Gebiet<br />
des Religiösen möglich bleibt, hängt daran, dass mit den Differenzen<br />
zwischen den Konfessionen die Spannung von sichtbarer<br />
<strong>und</strong> unsichtbarer <strong>Kirche</strong> offen gehalten wird. Das ist<br />
eine Grenze von <strong>Verkörperung</strong>. Sie kann wiederum verkörpert<br />
werden in einer Pluralität von <strong>Kirche</strong>n <strong>–</strong> wie schon der<br />
Christen als einzelnen. Solche <strong>Verkörperung</strong> kann freilich<br />
nicht exklusiv sein. Das zeigt sich im Optimalfall in einer<br />
Darstellung oder Artikulation, die den Streit kultiviert.<br />
4. Abspann<br />
Man ist offenbar nicht einfach im falschen Film, wenn es um<br />
Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong> geht, aber es<br />
handelt sich auch nicht um eine Serie zur simplen Erwartungsbestätigung.<br />
Beides sei im Abspann knapp festgehalten.<br />
40 CG 151.1.<br />
81
Jörg Dierken<br />
Gegenüber Modellen von Kognition, die diese als eine auf<br />
beliebiger Hardware spielbare algorithmische Software versteht,<br />
geht es wie im <strong>Verkörperung</strong>sdiskurs auch bei jenen<br />
Denkern um eine Geistigkeit, die nicht von allem Materiellen<br />
abgelöst wird <strong>und</strong> kontextfrei für sich steht. Symbolisieren<br />
wird bei Schleiermacher ohne sein Pendant, das Vernunft <strong>und</strong><br />
Natur verbindende Organisieren, leer; ebenso Hegels absoluter<br />
Geist, wenn er nicht an das gesellschaftliche <strong>und</strong> kulturelle<br />
Leben des objektiven als »zweite« Natur <strong>und</strong> des eben<br />
auch nur darin tätigen subjektiven Geistes als Durchdringung<br />
von »erster« Natur <strong>und</strong> Intelligenz zurückgeb<strong>und</strong>en<br />
bleibt. Auch das die <strong>Verkörperung</strong>sdiskurse kennzeichnende<br />
Motiv der Kontextualität fehlt bei ihnen nicht. Im Gegenteil,<br />
der Zusammenhang von tendenziell allem ist für beide Denker<br />
einer Rationalität des Relationalen charakteristisch, bis<br />
hin zu Grenzfiguren von Ganzheit oder eher theologisch: All-<br />
Einheit. Dass sie monotheistisch durch den Einen allein symbolisiert<br />
werden kann, legt sich angesichts des Für-sich-Moments<br />
des stets auf Anderes in stufenförmigen Weiterungen<br />
bezogenen Geistes nahe. Freilich entstammen die Begriffe des<br />
Ganzen, Universalen <strong>und</strong> Allgemeinen der Kreativität des Bewusstseins:<br />
Empirisch sind sie uneinholbar. Aber sie sind<br />
darum keine bloß wolkigen Gebilde, wie schon ihre grenzbegriffliche<br />
Orientierungskraft zeigt. So operiert Schleiermacher<br />
im Diesseits der Grenze mit plural gekreuzten Polaritäten,<br />
um Eigenart <strong>und</strong> Dynamik intersubjektiver Lebensvollzüge<br />
im Hier <strong>und</strong> Jetzt zu beschreiben; <strong>und</strong> Hegel fokussiert<br />
mit seiner Dialektik des Negativen gerade Differenzen im<br />
Monismus des Ganzen zur Bestimmung des Besonderen gegenüber<br />
dem Allgemeinen <strong>und</strong> deren Einheit im Einzelnen.<br />
Dass dies bei Hegel dazu führt, auch den Letztbegriff des Absoluten<br />
als in sich endlich, weil differenzgesättigt zu denken,<br />
82
Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong><br />
während bei Schleiermacher das Absolute eine negative Einheit<br />
im Jenseits bleibt, in dessen Diesseits die in jener Einheit<br />
nicht mehr gehaltenen Differenzen der beschreibenden Polaritäten<br />
unerklärt in Anspruch genommen werden, markiert<br />
den Gipfel der Debatten zwischen jenen klassischen Meisterdenkern.<br />
Ob die Teilnehmer am <strong>Verkörperung</strong>sdiskurs überhaupt<br />
Interesse an einer Expedition zu solchen Gipfellagen<br />
haben, mag dahingestellt bleiben.<br />
Im Blick auf die Mühen der Ebene lässt sich von hier aus<br />
an den aufsteigenden Richtungssinn, mit dem jene Denker<br />
die Übergänge von Natur <strong>und</strong> Vernunft, Leib <strong>und</strong> Geist, Gesellschaft<br />
<strong>und</strong> Kultur beschreiben, die Rückfrage stellen, ob<br />
nicht ebenso ein Abstieg angezeigt wäre, um die Pointe ihres<br />
Ineinanders <strong>–</strong> Schleiermacher <strong>–</strong> oder ihrer Vermittlung <strong>–</strong> Hegel<br />
<strong>–</strong> darzustellen. Deren Sinn muss sich auch im Sinnlichen<br />
medial symbolisieren, freilich unter Wahrung des Negationsmoments<br />
von Symbolisierung. Nur es erlaubt es, Zeichen <strong>und</strong><br />
Bedeutung, Medium <strong>und</strong> Message auseinanderzuhalten. Das<br />
ist Religions- <strong>und</strong> <strong>Kirche</strong>ntheorien, für die das Absolute gerade<br />
im Nichtabsoluten erscheint, nicht ganz fremd. Sie müssen<br />
allerdings aufpassen, das Absolute nicht kurzschlüssig<br />
nur in einem, stets partikularen, Nichtabsoluten, etwa dieser<br />
<strong>Kirche</strong> oder gar ihren Adiaphora allein, zu identifizieren. Der<br />
damit gesetzten Tendenz zur Fragmentierung der Symbolisierung<br />
in unendliche Partikularerscheinungen können die<br />
pragmatischen Intuitionen des <strong>Verkörperung</strong>s-Diskurses<br />
entgegenwirken: nämlich dadurch, dass Symbolisierung mit<br />
Kommunikation in einem intersubjektiven Gespräch verb<strong>und</strong>en<br />
wird. Darin liegt etwas Gemeinsames, sogar noch im<br />
Streit. Sein Ort sind die Lebensvollzüge selbst <strong>und</strong> nicht deren<br />
Jenseits. Man mag im Blick auf das <strong>Verkörperung</strong>s-Denken<br />
fragen, ob »Kognition« wirklich sein gemeinsamer Nenner<br />
83
Jörg Dierken<br />
sein kann oder nicht eher »Handeln« in weitestem, mithin<br />
auch kommunikativem Sinn.<br />
Allerdings lebt ein solches Gespräch von einer Voraussetzung,<br />
die es nicht erbringen kann: nämlich dass seine Akteure<br />
sich selbst in es verwickeln lassen wollen. Für eigenes Wollen<br />
ist in irgendeiner Weise ihr Selbstverhältnis, das Rückbezüglichkeit<br />
mit Spontaneität verbindet, gefragt. Es setzt das Vermögen<br />
eigener Unterscheidung <strong>und</strong> Positionierung voraus<br />
<strong>und</strong> kann darum nicht nur kontextabhängig sein. Spontaneität<br />
mit Reflexivität zu verbinden <strong>und</strong> zwar im Horizont verschieblicher<br />
Kontexte bzw. Welten ist ein Gr<strong>und</strong>merkmal von<br />
Subjektivität. An ihm haftet nicht nur Wollen, sondern auch<br />
das an einem Gemeinsamen orientierte Wollen, kurz: Normativität<br />
überhaupt. Ihre Geltung impliziert immer auch<br />
Unterbrechungen bis zu kontrafaktischen Unterstellungen <strong>–</strong><br />
etwa Unterbrechungen des Determiniertseins von Kommunikation<br />
durch Kontextualität <strong>und</strong> kontrafaktische Unterstellung<br />
von je eigenem orientiertem Wollen <strong>–</strong>, <strong>und</strong> sie kennt<br />
gegenläufig dazu auch die Dimensionen des Gemeinsamen<br />
bis hin zum Allmeinen <strong>und</strong> Ganzen. Wie das Ganze bildet<br />
auch das Kontrafaktische einen Gr<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Grenzbegriff<br />
symbolisch-medialer Kommunikation. In deren Gefälle zum<br />
Praktischen hin wird auch das sichtbar, was nicht unbedingt<br />
im Fokus des <strong>Verkörperung</strong>s-Diskurses steht: Nämlich das<br />
Normative, dessen Realitätsmodus Geltung ist.<br />
Das zeigt sich, wenn man vom <strong>Verkörperung</strong>s-Diskurs<br />
auf Hegel <strong>und</strong> Schleiermacher <strong>und</strong> wieder zurück blickt.<br />
84
Matthias Jung<br />
Artikulation, Bewusstsein<br />
<strong>und</strong> Religion<br />
Die Zukunft einer Illusion, so betitelte Sigm<strong>und</strong> Freud einen<br />
Text, der heute zu den großen Klassikern der Religionskritik<br />
zählt. 1 1927 erschienen, nutzt er das Vokabular der Freudschen<br />
Psychologie <strong>und</strong> Psychoanalyse, um jede Form religiösen<br />
Glaubens unterschiedslos als illusionär, ja geradezu als<br />
kollektive Zwangsneurose zu charakterisieren. Freud schickte<br />
ein Exemplar dieses Buchs an den französischen Schriftsteller<br />
<strong>und</strong> Literaturnobelpreisträger Romain Rolland, <strong>und</strong> dieser<br />
reagierte mit einem Brief, den Freud wiederum, teils als Zitat,<br />
teils in Paraphrase, an den Beginn seiner Schrift über Das Unbehagen<br />
in der Kultur von 1930 stellte. Rollands Antwort <strong>und</strong><br />
Freuds Reaktion darauf führen mitten in die Frage hinein,<br />
wie sich leibgeb<strong>und</strong>enes Erleben <strong>und</strong> symbolische Artikulation<br />
in religiösen Dingen zueinander verhalten.<br />
Rolland, so führt Freud aus, sei mit seinem, Freuds, Urteil<br />
über die Religion ganz einverstanden, bedauere aber, dass er<br />
»die eigentliche Quelle der Religion nicht gewürdigt hätte«.<br />
Diese Quelle bestehe nun in einem besonderen Gefühl, das<br />
ihn, Rolland »nie zu verlassen pflege, das er von vielen anderen<br />
bestätigt gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> bei Millionen Menschen voraus-<br />
1 Sigm<strong>und</strong> Freud, Die Zukunft einer Illusion, in: Ders., Kulturtheoretische<br />
Schriften, Studienausgabe Bd. IX, Frankfurt a. M. 1974.<br />
85
Matthias Jung<br />
setzen dürfe. Ein Gefühl, dass er die Empfindung der ›Ewigkeit‹<br />
nennen möchte, ein Gefühl wie von etwas Unbegrenztem,<br />
Schrankenlosem, gleichsam ›Ozeanischem‹ […] Nur auf Gr<strong>und</strong><br />
dieses ozeanischen Gefühls dürfe man sich religiös heißen,<br />
auch wenn man jeden Glauben <strong>und</strong> jede Illusion ablehne.« 2<br />
Es wird niemanden überraschen, dass Freud nicht beeindruckt<br />
war. Er reagiert kühlt <strong>und</strong> konstatiert; nicht nur könne er<br />
dieses Gefühl in sich selbst nicht entdecken, überhaupt sei es<br />
»nicht bequem, Gefühle wissenschaftlich zu bearbeiten«. 3 Man<br />
spürt beim Lesen des Textes förmlich, wie sich der Rationalist<br />
Freud angesichts der in seinen Augen peinlichen Gefühlsduseleien<br />
windet, mit denen Rolland vielleicht nicht die positiven<br />
Religionen, aber doch das Religiöse retten möchte.<br />
Sein Haupteinwand gilt der epistemischen Rolle von Gefühlen:<br />
»Die Idee«, so schreibt Freud, »daß der Mensch durch<br />
ein unmittelbares, von Anfang an hierauf gerichtetes Gefühl<br />
K<strong>und</strong>e von seinem Zusammenhang mit der Umwelt erhalten<br />
sollte, klingt so fremdartig, fügt sich so übel in das Gewebe<br />
unserer Psychologie, daß eine psychoanalytische, d. h. genetische<br />
Ableitung eines solchen Gefühls versucht werden darf«. 4<br />
Auf diese Ableitung, die mit der Unterscheidung von Lust<strong>und</strong><br />
Realitätsprinzip arbeitet, kann ich hier nicht näher eingehen.<br />
Der entscheidende Punkt ist ein anderer, nämlich<br />
der, dass Freud hier die Existenz eines Phänomens abstreitet,<br />
das in Phänomenologie <strong>und</strong> embodied cognition-Forschung<br />
mittlerweile fest etabliert ist <strong>und</strong> breit diskutiert wird. Gemeint<br />
sind die sog. »existential feelings« oder »feelings of<br />
2 Sigm<strong>und</strong> Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: Ders., Kulturtheoretische<br />
Schriften, Studienausgabe Bd. IX, Frankfurt a. M. 1974, 197.<br />
3 A. a. O., 198.<br />
4 Ebd.<br />
86
Artikulation, Bewusstsein <strong>und</strong> Religion<br />
being alive«, wie sie zuerst Matthew Ratcliffe im Detail beschrieben<br />
<strong>und</strong> im Blick auf ihre psychopathologische Bedeutung<br />
analysiert hat. 5 Existentielle Gefühle sind mehr oder<br />
minder dauerhafte, oft eher im Hintergr<strong>und</strong> bleibende <strong>und</strong><br />
in unser Leibgefühl eingebettete affektive Zustände, in denen<br />
uns unser Verhältnis zum Ganzen unserer Existenz gewahr<br />
wird. In psychiatrischen Krankheiten zeigt sich dies besonders<br />
eindringlich, weil dann die Einbettung des Selbst in eine<br />
selbstverständliche Lebenswelt schwindet <strong>und</strong> die Wirklichkeit<br />
als fremd, unzugänglich <strong>und</strong> unverständlich wahrgenommen<br />
wird. Auf die existentiellen Gefühle wird noch zurück<br />
zu kommen sein. Wichtig ist hier zunächst, dass sie etwas<br />
exemplifizieren, das außerhalb des kognitiven Horizonts<br />
des Begründers der Psychoanalyse lag: ein erlebtes, leiblichpräreflexives<br />
Verhältnis zur Realität im Ganzen <strong>und</strong> ihrer Bedeutungshaftigkeit.<br />
Hat also Rolland gegen Freud recht behalten? Ja <strong>und</strong> nein.<br />
Ja, insofern das von ihm evozierte ozeanische Gefühl ganz<br />
nüchtern phänomenologisch beschrieben werden kann, eben<br />
als Spielart jener existential feelings, auf die uns Ratcliffe, <strong>und</strong><br />
vor ihm ansatzweise etwa Dilthey 6 <strong>und</strong> Heidegger 7 hingewiesen<br />
haben. Zwischen existentiellen Gefühlen <strong>und</strong> religiösen<br />
Gr<strong>und</strong>haltungen gibt es in der Tat einen Zusammenhang,<br />
auf den ich noch eingehen werde. Nein, insofern Rolland<br />
sein Konto deutlich überzieht: Was uns im Erleben als<br />
5 Matthew Ratcliffe, The Phenomenology of Existential Feeling, in:<br />
Joerg Fingerhut/Sabine Marienberg (Hrsg.), Feelings of Being Alive,<br />
Berlin/Boston 2012.<br />
6 Vgl. Wilhelm Dilthey, Weltanschauungslehre, Abhandlungen zur Philosophie<br />
der Philosophie. Gesammelte Schriften Bd. VIII, Stuttgart/Göttingen<br />
1960.<br />
7 Vgl. Martin Heidegger, Sein <strong>und</strong> Zeit, Tübingen 1979, § 29.<br />
87
Matthias Jung<br />
die Bedeutsamkeit unseres Lebens im Ganzen gewahr wird,<br />
ist nicht schon selbst religiös <strong>und</strong> schon gar nicht Religion.<br />
Erst durch kontingente, pfadabhängige, soziokulturelle Artikulationsleistungen,<br />
die dann ihrerseits auf erlebte Qualitäten<br />
zurückwirken, kann Bedeutsamkeit in konkrete Bedeutung<br />
überführt, können rituelle Vollzüge etabliert <strong>und</strong> Institutionen<br />
gestiftet werden. Es braucht also den Schritt vom<br />
individuellen Erleben zum geteilten Bewusstsein 8 <strong>und</strong> damit<br />
vom Okkasionellen zur auf Dauer gestellten <strong>und</strong> kulturell<br />
tradierten Sinnfigur. Selbst ein derart vager <strong>und</strong> metaphorischer<br />
Begriff wie »ozeanisch« stellt schließlich eine kulturelle<br />
Interpretationsleistung dar <strong>und</strong> nichts, was an Lebensqualitäten<br />
unmittelbar abzulesen wäre. Auch der alte Rationalist<br />
Freud hatte also recht: mit der bloßen Evokation von Erlebnisquellen<br />
ist religionstheoretisch kein Staat zu machen.<br />
Existenzielle Gefühle sind leibliche Reaktionen des Organismus;<br />
sie manifestieren psychosomatisch, wie es um unser<br />
In-der-Welt-Sein im Ganzen steht. Metaphorisch <strong>und</strong> mit<br />
einem Seitenblick auf Hartmut Rosas Resonanztheorie 9 gesprochen:<br />
Leib <strong>und</strong> Welt teilen sich einen Resonanzraum, der<br />
zum Schwingen gebracht werden, aber auch verstummen<br />
kann. Doch nur mit den Mitteln einer symbolischen Sprache,<br />
die das leibliche Erleben ebenso sehr voraussetzt wie transzendiert,<br />
können aus affektiven Schwingungen Haltungen<br />
<strong>und</strong> Überzeugungen werden. Die reflexive Artikulation des<br />
gelebten Lebens <strong>und</strong> ihr Rückgang in die Unmittelbarkeit des<br />
leiblichen Vollzugs machen zusammen den Gr<strong>und</strong>rhythmus<br />
8 Michael Tomasello, Becoming Human. A Theory of Ontogeny, Cambridge/London<br />
2019.<br />
9 Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin<br />
2016.<br />
88
Artikulation, Bewusstsein <strong>und</strong> Religion<br />
unserer Existenz aus, die dynamische Bewegung der symbolischen<br />
<strong>Verkörperung</strong>. Damit lasse ich die von Rosa doch stark<br />
strapazierte Schwingungsmetapher hinter mir <strong>und</strong> wende<br />
mich der begrifflichen Struktur symbolischer <strong>Verkörperung</strong><br />
zu. In einem ersten Teil werde ich die Dreischrittigkeit des basalen<br />
Artikulationsverhältnisses zwischen leiblichem Erleben<br />
<strong>und</strong> symbolischem Sinn erläutern. Teil zwei erläutert<br />
meine anthropologische Gr<strong>und</strong>annahme, Menschen seien<br />
verkörperte Symbolverwender. Der abschließende, dritte Teil<br />
trägt den von Thomas Nagel geborgten Titel Was bedeutet<br />
das alles? 10 In ihm behandle ich Weltanschauungen <strong>und</strong> Religionen<br />
als optionale, symbolisch-praktische Deutungsversuche<br />
unseres Weltverhältnisses im Ganzen, die bei aller Elaboriertheit<br />
immer auf individuelle <strong>und</strong> kollektive Erfahrungen<br />
bezogen bleiben.<br />
1. Das triadische Schema der Artikulation<br />
Mit Charles Taylor können wir den Menschen als »language<br />
animal« 11 verstehen, als ein Wesen, dessen Lebensform als<br />
Ganze durch die Fähigkeit zum Sprechen einer Symbolsprache<br />
geprägt ist. Die bis heute dominierende analytische<br />
Sprachphilosophie hat sich jedoch häufig auf geistige Bedeutungen<br />
konzentriert, die dann zwar auch eines physischen<br />
Trägermaterials bedürfen, dessen Beziehung zur Bedeutung<br />
jedoch als kontingent gedacht wird. Die »Bedeutung von Be-<br />
10 Thomas Nagel, Was bedeutet das alles? Eine ganz kurze Einführung in<br />
die Philosophie, Stuttgart 2012.<br />
11 Charles Taylor, The Language Animal. The Full Shape of the Human Linguistic<br />
Capacity, Cambridge/London 2016.<br />
89
Matthias Jung<br />
deutung« 12 erscheint so als rein geistige Bezugnahme auf etwas,<br />
ohne dass dabei der Wechselbeziehung zwischen der<br />
physischen <strong>und</strong> der ideellen Seite der Sprache ernstlich Beachtung<br />
geschenkt würde. Gegen diesen referenzfixierten<br />
Mainstream des westlichen Sprachdenkens richten sich von<br />
Wilhelm von Humboldt bis Taylor alternative Auffassungen<br />
der Sprache, die diese als artikulierend <strong>und</strong> intrinsisch verkörpert<br />
betrachten. Beide Aspekte sind intern verb<strong>und</strong>en: Wir<br />
artikulieren dasjenige, was sich im leiblichen Erleben <strong>und</strong><br />
in organischen Interaktionserfahrungen als bedeutungsvoll<br />
zeigt, <strong>und</strong> wir vermögen dies nur, indem wir dabei auf physische<br />
Gliederungsmuster zurückgreifen. Wilhelm von Humboldt<br />
bringt das unnachahmlich zum Ausdruck, wenn er die<br />
Sprache als das »bildende Organ des Gedanken[s]« 13 bezeichnet.<br />
Die menschliche Stimme ist das sinnfälligste Beispiel für<br />
diese stützende <strong>und</strong> gliedernde Funktion des Leibs, aber auch<br />
andere leibliche Strukturen spielen eine zentrale Rolle. So haben<br />
etwa Lakoffs <strong>und</strong> Johnsons Untersuchungen gezeigt, dass<br />
Position <strong>und</strong> Bewegungsdynamik unseres Leibs im Raum die<br />
wichtigste Basis für Metaphern bilden. 14 »Sich aufrichten« ist<br />
beispielsweise nie nur eine muskuläre Aktivität, es verkörpert<br />
<strong>und</strong> exemplifiziert, wenn wir etwa davon sprechen, »aufrecht<br />
durchs Leben zu gehen«, unser Weltverhältnis im Ganzen.<br />
Verkörpert sind Sprache <strong>und</strong> Geist darüber hinaus durch den<br />
Gebrauch, den sie von physischen Strukturen in der Umgebung<br />
des Organismus machen. Autoren der embedded cogni-<br />
12 Hilary Putnam, Die Bedeutung von »Bedeutung«, Frankfurt a. M. 1990.<br />
13 Wilhelm von Humboldt/Donatello Di Cesare (Hrsg.), Über die<br />
Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus <strong>und</strong> ihren Einfluß auf die<br />
geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, Paderborn u. a. 1998, 181.<br />
14 George Lakoff/Mark Johnson, Metaphors We Live By, Chicago/London<br />
2003.<br />
90
Artikulation, Bewusstsein <strong>und</strong> Religion<br />
tion sprechen hier von cognitive outsourcing, <strong>und</strong> gemeint<br />
ist, dass physische Umgebungsmerkmale kognitive Funktionen<br />
übernehmen, so wenn etwa Kiesel zum Rechnen benutzt<br />
werden. Ein weiterer, entscheidender <strong>Verkörperung</strong>sschritt<br />
liegt dann in der systematischen Verfertigung von Artefakten<br />
aller Art, deren Bedeutung für den menschlichen Geist in der<br />
material engagement-Theorie von Lambros Malafouris 15 herausgearbeitet<br />
wird. Artefakte lassen sich ihm zufolge nicht<br />
hylemorphistisch verstehen, d. h. sie entstehen nicht durch<br />
bloße Einprägung einer geistigen Vorlage in ein passives Material,<br />
sondern gehen aktiv in die durch sie ermöglichten kognitiven<br />
Prozesse ein.<br />
Die Idee der <strong>Verkörperung</strong> steht hierbei gleichermaßen in<br />
Distanz zu idealistischen wie zu materialistischen Positionen.<br />
Wären wir rein physische Wesen, wäre die Rede von <strong>Verkörperung</strong><br />
nämlich sinnlos. Sie darf aber selbstverständlich<br />
auch umgekehrt nicht so verstanden werden, als ob wir über<br />
einen vom <strong>Körper</strong> unabhängigen <strong>und</strong> vorgängigen Geist verfügten,<br />
der sich dann ex post angemessene <strong>Verkörperung</strong>en<br />
suchte. Die Gr<strong>und</strong>idee besagt vielmehr, wenigstens in der von<br />
mir vertretenen Lesart, dass geistiger Sinn <strong>und</strong> seine physischen<br />
Substrate streng komplementär sind, allerdings so,<br />
dass mit der Entstehung symbolischer Kommunikation Bedeutungen<br />
möglich werden, die nur noch indirekt an physische<br />
Erfahrung geb<strong>und</strong>en sind. Was damit genauer gemeint<br />
ist, soll nun mithilfe der Triade der Artikulation verdeutlicht<br />
werden. Dabei wird unter »Artikulation« ganz allgemein die<br />
sachlogisch gliedernde Herausarbeitung von semantischen<br />
Bedeutungen mithilfe physischer Mittel verstanden.<br />
15 Lambros Malafouris, How Things Shape the Mind. A Theory of Material<br />
Engagement, Cambridge 2013.<br />
91
Matthias Jung<br />
Den Ausgangspunkt aller Artikulationsprozesse bilden in<br />
der pragmatistischen Konzeption, die ich hier vertrete, immer<br />
Situationsqualitäten. Unsere primäre Wirklichkeitserfahrung<br />
ist qualitativ, sie besteht darin, dass sich die Situationen,<br />
die wir durchleben, auf eine bestimmte, ihnen Einheit<br />
verleihende Weise anfühlen, weil sie jeweils spezifische<br />
Qualitäten des Interaktionszusammenhangs zwischen unserem<br />
Organismus <strong>und</strong> seiner Umgebung präsent machen<br />
(nicht etwa: repräsentieren). Bewusst wird uns das immer nur<br />
dann, wenn diese Interaktionseinheit als problematisch <strong>und</strong><br />
bestimmungsbedürftig erscheint. In Situationsqualitäten<br />
sind die komplexen biographischen Erfahrungen von Individuen<br />
<strong>und</strong> die jeweils neu hinzukommenden Aspekte zu einer<br />
gestalthaften Einheit verschmolzen. In dem Moment, in dem<br />
wir beginnen, Ähnlichkeiten zwischen Situationen zu erkennen,<br />
gebrauchen wir bereits ikonische Zeichen, die erste Stufe<br />
von Artikulationsprozessen. Ikonische Qualitäten verkörpern<br />
Möglichkeiten weiterer Bestimmung, sie können aber auch<br />
in entfalteten Zeichensystemen konventionalisiert auftreten,<br />
etwa in Form von Logos oder Emojis.<br />
Soziale <strong>und</strong> physische Interaktionserfahrungen bilden die<br />
zweite Stufe der Artikulationsdynamik, der als Zeichentypus<br />
der Index entspricht. In solchen Erfahrungen manifestiert<br />
sich die Eigenständigkeit der uns begegnenden Realität gegenüber<br />
unseren Annahmen von ihr. Charles S. Peirce spricht<br />
in diesem Zusammenhang von einem »direct consciousness<br />
of hitting and of getting hit«, das in jede Kognition eingeht<br />
»and serves to make it mean something real« 16 . Wenn ich beispielsweise<br />
den Gesichtsausdruck einer anderen Person iko-<br />
16 Charles Sanders Peirce, An American Plato. Review of Royce’s Religious<br />
Aspect of Philosophy, in: Nathan Houser/Christian Kloesel<br />
92
Artikulation, Bewusstsein <strong>und</strong> Religion<br />
nisch als Lächeln interpretiere <strong>und</strong> mich ihr dann fre<strong>und</strong>lich<br />
nähere, werden erst ihre Reaktionen mich darüber belehren,<br />
ob meine ikonische Zeichenwahrnehmung auch realitätshaltig<br />
war. Aus regelmäßig eintretenden Reaktionen wie einer<br />
zum Gruß ausgestreckten Hand werden dann soziale Indexzeichen,<br />
aus kausalen Zusammenhängen wie dem berühmten<br />
Windsack an Autobahnbrücken solche, die sich auf Naturphänomene<br />
beziehen. Während der elementare <strong>Verkörperung</strong>smodus<br />
ikonischer Zeichen leiblich erlebte Qualitäten<br />
sind, sind Indexzeichen auf der Ebene physischer Interaktionserfahrungen<br />
angesiedelt. In beiden Fällen aber, <strong>und</strong> das<br />
ist hier der springende Punkt, handelt es sich um Formen<br />
eines direkten Realitätskontakts. Ikonische <strong>und</strong> indexikalische<br />
Zeichen setzten die leibliche Kopräsenz der am Zeichenprozess<br />
Beteiligten in einem geteilten Wahrnehmungsraum<br />
voraus.<br />
Die Ablösung von dieser physischen Einheit des Hier<strong>und</strong>-Jetzt<br />
gelingt nur über symbolische Zeichen, die ihre Bedeutung<br />
nicht einer direkten Bezugnahme auf Qualitäten<br />
oder physische Interaktionen verdanken, sondern einer gewissermaßen<br />
›horizontalen‹ Vernetzung der Symbolzeichen<br />
untereinander. Was z. B. das Symbolzeichen »Mutter« bedeutet,<br />
bestimmt sich, wie Robert Brandom gezeigt hat, durch<br />
seinen logischen Ort in einem System von innersprachlichen<br />
Bezügen; 17 es wird dadurch vom lokalen Kontext seiner Verwendung<br />
unabhängig. Es ist diese Eigenschaft symbolischer<br />
Sprachen, die es uns möglich macht, uns auf alles Mögliche<br />
(Hrsg.), The Essential Peirce. Selected Philosophical Writings. Volume I<br />
(1867<strong>–</strong>1893), Bloomington/Indianapolis 1992, 233.<br />
17 Robert Brandom, Begründen <strong>und</strong> Begreifen. Eine Einführung in den<br />
Inferentialismus, Frankfurt a. M. 2001.<br />
93
Matthias Jung<br />
<strong>und</strong> auf die Wirklichkeit im Ganzen zu beziehen. Ohne sie<br />
gäbe es keine Religion. Nun erlauben es uns symbolische Zeichen<br />
zwar, von persönlicher <strong>und</strong> sozialer Erfahrung zu abstrahieren,<br />
sie bleiben aber in doppelter Weise verkörpert.<br />
Zum einen durch ihre materiellen Substrate in Form von moduliertem<br />
Schall, Schmierspuren von Graphit oder Kreide etc.,<br />
zum andern aber durch ihren inneren Bezug auf ikonische<br />
<strong>und</strong> indexikalische Zeichen.<br />
Dieser Bezug hat wiederum zwei Aspekte. Erstens einen<br />
ontogenetischen: Spracherwerb beginnt ikonisch <strong>und</strong> indexikalisch<br />
<strong>und</strong> wird erst beim Überschreiten einer bestimmten,<br />
entwicklungsgeschichtlich zentralen Schwelle symbolisch.<br />
Auch das lässt sich an dem Symbolzeichen »Mutter« erläutern.<br />
Es wird zunächst als ikonische Präsenz der eigenen Mutter<br />
in verschiedenen Gestaltqualitäten wie Geruch, Klang der<br />
Stimme, Wärme etc. verstanden, bevor dann Interaktionserfahrungen,<br />
etwa in den präverbalen Protokonversationen<br />
zwischen Mutter <strong>und</strong> Kind, in den Vordergr<strong>und</strong> treten. Irgendwann<br />
wird die symbolische Schwelle überschritten <strong>und</strong><br />
das Kind lernt den Gebrauch des Worts als Symbolzeichen,<br />
das unabhängig von seinem Bezug auf eine konkrete Person<br />
gebraucht werden kann. Die unmittelbar leibgeb<strong>und</strong>enen<br />
Zeichenbedeutungen werden jedoch durch diesen Schritt<br />
nicht aufgelöst; sie interpretieren das <strong>Symbolische</strong>, indem sie<br />
es auf direkte Erfahrung beziehen. Deshalb, <strong>und</strong> dies ist der<br />
zweite Aspekt, müssen wir den gerade geschilderten ontogenetischen<br />
Dreischritt immer dann, nur eben in umgekehrter<br />
Form, wieder vollziehen, wenn wir uns symbolische Bedeutungen<br />
persönlich aneignen, verständlich machen <strong>und</strong> ihren<br />
Realitätsbezug überprüfen wollen. Eine reine Symbolsprache,<br />
die ohne ikonische <strong>und</strong> indexikalische Zeichen auskommen<br />
wollte, hätte überhaupt keinen Wahrheitswert, wie<br />
94
Artikulation, Bewusstsein <strong>und</strong> Religion<br />
Peirce nicht müde wird zu betonen. Denn nur über die ersten<br />
beiden, direkten Formen des Zeichengebrauchs ist Sprache<br />
mit Erfahrung verb<strong>und</strong>en. Allein die Tatsache, dass ein theoretisch<br />
postuliertes Teilchen, wie etwa das berühmte Higgs-<br />
Boson, über komplexe Zeichenketten indexikalisch mit bestimmten<br />
direkt beobachtbaren Ereignissen, etwa Spuren in<br />
einer Nebelkammer, verb<strong>und</strong>en ist, unterscheidet es von einer<br />
bloßen metaphysischen Spekulation. Und nur dadurch,<br />
dass religiöse Symbole durch ikonische <strong>und</strong> indexikalische<br />
Zeichenprozesse interpretiert werden, können sie überhaupt<br />
einen Erfahrungsbezug gewinnen. Wenn beispielsweise jemand<br />
ein Vaterunser betet, dann wird die Bedeutung dieses<br />
Gebets neben der symbolisch eröffneten metaphorischen<br />
Übertragung des Vaterbegriffs auf Gott auch von den individuellen,<br />
in direkten Zeichenbeziehung verkörperten Erfahrungen<br />
abhängen, die die jeweilige Person mit ihrem Vater<br />
gemacht oder aber entbehrt hat.<br />
Propositionalität, Reflexivität, logische Explizitheit, Allgemeinheit<br />
<strong>–</strong> all das sind symbolgestützte Eigenschaften von<br />
Zeichensystemen, die überhaupt erst kritisches Denken <strong>und</strong><br />
damit auch ein religiöses Bewusstsein von der Transzendenz<br />
des Bezeichneten über sein Zeichen möglich machen. Ohne<br />
Erfahrungsbezug jedoch haben sie keinerlei Bedeutung. Man<br />
kann sich diesen Punkt auch an der berühmten pragmatischen<br />
Maxime von Peirce klarmachen. 18 Sie formuliert ein<br />
Sinnkriterium für Sätze, das darin besteht, sich zu fragen,<br />
18 Es gibt mehrere Versionen, die bekannteste findet sich in dem Aufsatz How<br />
to make our ideas clear (Charles Sanders Peirce, How to Make Our<br />
Ideas Clear, in: Houser/Kloesel [Hrsg.], The Essential Peirce [s. Anm. 16],<br />
132): »Consider what effect, which might conceivably have practical bear -<br />
ings, we conceive the object of our conception to have. Then, our conception<br />
of these effects is the whole of our conception of the object.«<br />
95
Matthias Jung<br />
welche denkbaren praktischen Konsequenzen ihr Fürwahrhalten<br />
hätte. Praktische Konsequenzen können aber nur, <strong>und</strong><br />
das ist der springende Punkt, durch direkte Erfahrungen auftreten,<br />
die wir im Vollzug unseres Handelns machen. Der<br />
Dreischritt der Artikulation ist demnach keine Einbahnstraße,<br />
die vom leiblichen Erleben hin zu symbolischen<br />
Sinnfiguren führt, er gleicht viel eher dem wiederholten<br />
Durchlaufen dynamischer Feedbackschleifen. Diese Schleifen<br />
vermitteln zwischen einer Bedeutungsbildung, die das Hier<strong>und</strong>-Jetzt<br />
des organisch gelebten Lebens symbolisch transzendiert,<br />
<strong>und</strong> der jeweils lokalen Interpretation der so entstandenen<br />
Ausdrucksgestalten durch konkrete Individuen<br />
<strong>und</strong> soziale Gemeinschaften. Wem der kognitionswissenschaftliche<br />
Jargon an dieser Stelle nicht zusagt, der kann die<br />
Rede von Feedbackschleifen leicht durch diejenige vom hermeneutischen<br />
Zirkel ersetzen: Das Teil interpretiert das<br />
Ganze <strong>und</strong> umgekehrt.<br />
2. Das Bewusstsein verkörperter Symbolverwender<br />
Wenn man ernst nimmt, was eben über den Situationsbezug<br />
des Organismus <strong>und</strong> dessen Verhältnis zu Artikulationsprozessen<br />
gesagt wurde, ergeben sich einschneidende Konsequenzen<br />
für das Verständnis des menschlichen Bewusstseins.<br />
Bewusstsein wird in der Philosophie traditionell dualistisch<br />
gedacht, als geistiger Gegenspieler zu materiellen Prozessen.<br />
Selbst dort, wo man sich naturalistisch versteht, wie etwa im<br />
aktuellen Neurokonstruktivismus, bleibt es bei dieser Dualität:<br />
ein physisches Gehirn produziert dann ein illusionsartiges<br />
phänomenales Bewusstsein, das ohne die Möglichkeit<br />
kausaler Einwirkung auf die wirkliche Welt in seine eigenen<br />
96
Artikulation, Bewusstsein <strong>und</strong> Religion<br />
Konstrukte eingeschlossen bleibt. Besonders klar lässt sich<br />
das an Thomas Metzingers Konzept des Ego-Tunnels zeigen.<br />
Metzinger identifiziert das Selbst eines Menschen mit seinem<br />
vom Gehirn erzeugten Bewusstsein, <strong>und</strong> weil letzteres dualistisch<br />
von der Wirklichkeit abgekoppelt wird, ergibt sich eine<br />
ziemlich unangenehme Konsequenz, die Metzinger folgendermaßen<br />
formuliert: »Ganz im Gegensatz zu dem, was die<br />
meisten Menschen glauben, war oder hatte niemand je ein<br />
Selbst.« 19 Unangenehm ist das nicht zuletzt deshalb, weil sich<br />
damit schließlich sowohl das Selbst des Autors als auch dasjenige<br />
potentieller Leser verflüchtigt.<br />
Es sollte bereits klar geworden sein, warum sich das pragmatistisch-verkörperungstheoretische<br />
Verständnis von Bewusstsein<br />
<strong>und</strong> Geist von solchen Positionen radikal unterscheidet.<br />
Das bewusste Selbst ist für die Pragmatisten zwar<br />
keine immaterielle Seelensubstanz mehr, sondern eine konstitutive<br />
Komponente der dynamischen Interaktionseinheit<br />
von Organismus <strong>und</strong> Welt, als solche aber eben höchst real.<br />
Und während z. B. in der analytischen Qualia-Diskussion erlebte<br />
Qualitäten als letzte Bastion gegen die Naturalisierung<br />
des Geistes behandelt werden, sind die unified pervasive qualities,<br />
die es uns nach John Dewey erlauben, Situationen zu erfassen<br />
<strong>und</strong> zu artikulieren, gänzlich anderer Art. Sie situieren<br />
das Bewusstsein nicht als das Andere der natürlichen Welt,<br />
schon gar nicht als eine illusionäre Konstruktion des Gehirns,<br />
sondern als deren integralen Bestandteil. 20 Wenn ein erleben-<br />
19 Thomas Metzinger, Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst.<br />
Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik, Berlin 2010, 13.<br />
20 Vgl. John Dewey, Qualitatives Denken, in: Ders., Philosophie <strong>und</strong> Zivilisation,<br />
Frankfurt a. M. 2003, 94<strong>–</strong>116 <strong>und</strong> die luziden Erläuterungen dazu in<br />
Mark Johnson, Embodied Mind, Meaning, and Reason. How Our Bodies<br />
Give Rise to Understanding, Chicago/London 2017, 45 ff.<br />
97
Matthias Jung<br />
des, bewusstes Selbst ästhetische oder moralische Werterfahrungen<br />
macht, dann ist das so Erfahrene nicht weniger ein<br />
Teil der Wirklichkeit als die Spur eines Elementarteilchens in<br />
der Nebelkammer.<br />
Drei Einsichten des Pragmatismus sind hier von besonderem<br />
Interesse: Erstens werden bewusste Subjekte sozial über<br />
Artikulationsprozesse konstituiert, zweitens ist ihre Existenz<br />
an die Handlungsperspektive lebender Organismen geb<strong>und</strong>en<br />
<strong>und</strong> drittens hat Bewusstsein keinen Substanz-, sondern<br />
Prozesscharakter: Es besteht nicht permanent, sondern emergiert<br />
immer dort, wo Konflikte <strong>und</strong> Schwierigkeiten auftreten.<br />
Für den ersten Punkt ist George Herbert Mead der entscheidende<br />
Theoretiker. 21 Seine Theorie der sozialen Konstitution<br />
des Selbst hat gezeigt, dass wir nur durch die Internalisierung<br />
der Reaktionen anderer auf unser Verhalten<br />
sowie die Ausbildung einer eigenen Einstellung diesen gegenüber<br />
so etwas wie ein Selbst entwickeln. Neuere entwicklungspsychologische<br />
Studien zur primären Intersubjektivität<br />
zeigen, wie entscheidend hierbei zwischenleibliche Dynamiken<br />
sind 22 <strong>und</strong> wie früh Säuglinge als aktive Partner<br />
auftreten, so dass es bereits präverbal zu einer subtilen Verschränkung<br />
der <strong>Körper</strong>schemata kommt, die dann allen<br />
komplexeren Handlungsfolgen zugr<strong>und</strong>e liegt. Intersubjektivität<br />
ist essentiell verkörpert, <strong>und</strong> <strong>Verkörperung</strong> ist essentiell<br />
intersubjektiv. Hier findet sich auch der anthropologische<br />
Sitz im Leben von Ritualen. Rituale stellen kollektiv verbindlich<br />
gemachte, auf Dauer <strong>und</strong> Wiederholung gestellte<br />
21 Vgl. George Herbert Mead, Mind, Self & Society. The Definitive Edition,<br />
Chicago/London 2015.<br />
22 Vgl. Shaun Gallagher, How the Body Shapes the Mind, Oxford/New<br />
York 2005, 225 ff.<br />
98
Artikulation, Bewusstsein <strong>und</strong> Religion<br />
Interaktionserfahrungen dar, sind ihrer semiotischen Struktur<br />
nach also indexikalisch, wie der große Ritualtheoretiker<br />
Roy Rappaport 23 gezeigt hat. Als identitätsstiftende Formen<br />
kollektiver Erfahrung bleiben sie an die Einheit von Raum<br />
<strong>und</strong> Zeit geb<strong>und</strong>en, sind jedoch in ihrer Wirksamkeit nach<br />
»unten« <strong>und</strong> »oben« offen <strong>und</strong> ergänzungsbedürftig. Ein Ritual,<br />
das in den teilnehmenden Personen keine qualitative,<br />
erlebte Resonanz findet, wird ebenso hohl <strong>und</strong> sinnentleert<br />
wie eines, das nicht durch entsprechende Artikulationsprozesse<br />
mit symbolischer Allgemeinheit verb<strong>und</strong>en ist.<br />
Den zweiten <strong>und</strong> dritten Punkt fasse ich als den Handlungsbezug<br />
des Bewusstseins zusammen. In der Tradition<br />
des cartesianischen Dualismus ist Bewusstsein stets als dauerhaft<br />
<strong>und</strong> substanzartig gedacht worden. Innerhalb einer<br />
verkörperungstheoretischen Auffassung liefert jedoch der<br />
Organismus das Substrat der Lebendigkeit, <strong>und</strong> Bewusstsein<br />
emergiert nur dann, wenn in Handlungszusammenhängen<br />
Widerstände oder Probleme auftreten <strong>und</strong> die Situation daher<br />
einer Rekonstruktion bedarf, damit das Handeln fortgesetzt<br />
werden kann. Objektbewusstsein <strong>und</strong> Selbstbewusstsein<br />
sind die beiden Aspekte, die dann, aber eben auch nur dann,<br />
auseinandertreten, wenn die Interaktionseinheit problematisch<br />
wird. Das allerdings geschieht in einer widerständigen<br />
Realität permanent, <strong>und</strong> die pluralistischen Gesellschaften<br />
der Moderne haben diese anthropologische Konstante noch<br />
um eine auf Dauer gestellte Konfrontation mit kultureller,<br />
sozialer <strong>und</strong> religiöser Vielfalt ergänzt. Kurz: Das bewusste<br />
Selbst ist in handlungstheoretischer Perspektive Teil einer<br />
dauernden, dynamischen <strong>und</strong> von Widerständen geprägten<br />
23 Vgl. Roy Rappaport, Ritual and Religion in the Making of Humanity,<br />
Cambridge u. a. 1999, 54 ff.<br />
99
Matthias Jung<br />
Austauschbeziehung zwischen dem sozialen Organismus<br />
Mensch <strong>und</strong> der ihn umgebenden Wirklichkeit.<br />
Diese Austauschbeziehung ist die Gr<strong>und</strong>form allen Lebens<br />
<strong>und</strong> keineswegs auf den Menschen beschränkt. Doch das<br />
menschliche Bewusstsein, <strong>und</strong> nach allem was wir wissen<br />
nur dieses, ist als Ganzes von der Verfügung über eine symbolische<br />
Sprache bestimmt. 24 Die evolutionäre Kontinuität<br />
der menschlichen Lebensform mit allem Lebendigen ist die<br />
eine Seite einer Medaille, deren andere unser symbolisch entgrenztes<br />
Bewusstsein ist. Damit ist gemeint, dass wir unseren<br />
Geist vom Hier-<strong>und</strong>-Jetzt unserer physischen Existenz jederzeit<br />
lösen <strong>und</strong> ihn mithilfe der indirekten Referenz des <strong>Symbolische</strong>n<br />
auf alles Beliebige, mit Blick auf Religionen <strong>und</strong><br />
Weltanschauungen aber vor allem auf unser Leben im Ganzen<br />
richten können. Im vorangegangenen Abschnitt über Artikulation<br />
wollte ich zeigen, dass diese Möglichkeit, unser organisches<br />
Leben zu transzendieren, auf die Verbindung mit<br />
direkter Erfahrung um ihrer Realitätshaltigkeit willen angewiesen<br />
bleibt. Die Spannung, die sich hier zwischen unserem<br />
symbolisch expandierten Bewusstsein <strong>und</strong> der bleibenden<br />
Angewiesenheit auf direkte Erfahrung auftut, ist anthropologisch<br />
unhintergehbar. Sie durchdringt unser bewusstes Leben<br />
<strong>und</strong> manifestiert sich nicht nur kognitiv, sondern vor allem<br />
auch emotional.<br />
Menschen sind eine sehr besondere Art von Lebewesen,<br />
nämlich die einzigen, zu deren Lebensform es gehört, sich<br />
zum Ganzen ihres eigenen Lebens verhalten zu müssen <strong>und</strong><br />
gleichzeitig im Hier-<strong>und</strong>-Jetzt situiert zu sein. Die vorreflexive<br />
Gr<strong>und</strong>form dieses Verhaltens sind die eingangs schon erwähnten<br />
existential feelings, in denen wir die Qualität un-<br />
24 Vgl. Tomasello, Becoming Human (s. Anm. 8).<br />
100
Artikulation, Bewusstsein <strong>und</strong> Religion<br />
seres Weltverhältnisses spüren. Wir sind Wesen, deren Bewusstsein<br />
sich über die lokale Umwelt hinaus für das Ganze<br />
öffnen kann <strong>und</strong> gleichzeitig Organismen, für die es sich auf<br />
eine bestimmte Weise anfühlt, welche Qualität für ihr Wohl<br />
<strong>und</strong> Wehe ihre Beziehungen zur Realität haben. Hypothetische<br />
reine Geistwesen, beispielsweise Engel, hätten wohl eine<br />
geistige Beziehung zum Ganzen, würden sie aber nicht fühlen,<br />
wohingegen umgekehrt nach allem, was wir bisher wissen,<br />
auch die komplexesten nichtmenschlichen Organismen<br />
zwar über ein höchst differenziertes Gefühlsleben, aber eben<br />
nicht über existenzielle Gefühle verfügen.<br />
Solche Gefühle treten in vielfältigen Variationen einer<br />
gr<strong>und</strong>legenden Polarität zwischen Beheimatung in der Welt<br />
<strong>und</strong> ihrem Gegenteil, also Entfremdung <strong>und</strong> Distanz auf. In<br />
ihnen verhält sich ein lebendiges Subjekt zum Ganzen seines<br />
Lebens <strong>und</strong> der ihn umgebenen Wirklichkeit. Und in derselben<br />
Weise, in der lokale Situationsqualitäten uns ein Gefühl<br />
für Handlungs- <strong>und</strong> Artikulationsmöglichkeiten vermitteln,<br />
erschließen <strong>und</strong> verschließen uns existenzielle Gefühle Weisen<br />
des In-der-Welt-Seins. Das ozeanische Gefühl, um das es<br />
bei der Auseinandersetzung Freud-Rolland ging, lässt sich<br />
hier zwanglos einordnen. Auch der Bezug zum Inbegriff aller<br />
Situationen, dem Weltverhältnis als solchen, wird von uns<br />
erst gespürt, bevor er artikuliert werden kann. Ich behaupte<br />
daher, dass existentielle Gefühle einen wichtigen, wenn auch<br />
nicht den einzigen Ausgangspunkt religiöser Symbolbildungen<br />
darstellen. William James hat diesen Punkt unnachahmlich<br />
zum Ausdruck gebracht, weshalb ich ihm hier ausführlich<br />
das Wort gebe:<br />
»Was immer Religion sein mag, jedenfalls ist sie die Gesamtreaktion<br />
eines Menschen auf das Leben. […] Gesamtreaktionen sind etwas an -<br />
deres als gelegentliche Reaktionen, <strong>und</strong> Gesamthaltungen sind etwas<br />
101
Matthias Jung<br />
anderes als alltägliche oder berufliche Haltungen. Um zu ihnen zu<br />
gelangen, muß man den Vordergr<strong>und</strong> der Existenz durchstoßen <strong>und</strong><br />
hinabreichen bis zu jenem merkwürdigen Sinn für den ganzen übrigen<br />
Kosmos als einer andauernden Gegenwart <strong>–</strong> vertraut oder fremd,<br />
schrecklich oder ergötzlich, liebens- oder hassenswert <strong>–</strong>, den in irgendeinem<br />
Maße jedermann besitzt. Dieser Sinn für die Gegenwart der<br />
Welt wirkt sich auf unser besonderes individuelles Temperament aus<br />
<strong>und</strong> macht uns entweder tatkräftig oder nachlässig, demütig oder<br />
gotteslästernd, gedämpft oder jubelnd im Blick auf das Leben im großen;<br />
<strong>und</strong> in ihrer unwillkürlichen <strong>und</strong> unartikulierten <strong>und</strong> oft halb<br />
unbewussten Art ist unsere Reaktion die erschöpfendste unter all<br />
unseren Antworten auf die Frage: Welchen Charakter hat das Universum,<br />
in dem wir hausen?« 25<br />
James neigt allerdings wie Rolland dazu, die Gr<strong>und</strong>erfahrung<br />
einer gefühlten Beziehung zum Ganzen des Lebens schon für<br />
die Sache selbst zu halten <strong>und</strong> übersieht dabei, dass es eben<br />
erst sprachgeb<strong>und</strong>ene, intersubjektive Artikulationsleistungen<br />
sind, durch die aus einer gelebten <strong>und</strong> erlebten Leiberfahrung<br />
explizite Deutungen des Wirklichkeitsbezugs entstehen.<br />
Bereits die Beschreibung, die er so wortmächtig entwickelt,<br />
verdankt sich ja einer sprachlichen Deutung <strong>und</strong> ist<br />
nicht etwa am Phänomen einfach abgelesen. Dem Bewusstsein<br />
des verkörperten Symbolverwenders Mensch ist ein Verhältnis<br />
zu seinem eigenen Weltverhältnis eingeschrieben,<br />
wie schon Kierkegaard wusste. 26 Dieses Verhältnis wird primär<br />
qualitativ gespürt, kann aber Ausgangspunkt von Artikulationsprozessen<br />
werden <strong>und</strong> dann eine weltbildprägende<br />
Kraft entfalten. Hier darf ich nochmals an den dritten Aspekt<br />
des pragmatistischen Verständnisses bewussten Lebens er-<br />
25 William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die<br />
menschliche Natur, Olten/Freiburg i. Br. 1979, 45.<br />
26 Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Gütersloh 1978, 9.<br />
102
Artikulation, Bewusstsein <strong>und</strong> Religion<br />
innern: Qualitäten werden bewusst <strong>und</strong> Bewusstsein entsteht<br />
immer dann, aber auch nur dann, wenn sich Fragen,<br />
Schwierigkeiten oder Probleme in der Bewältigung des Lebens<br />
ergeben. Für ein organisches Wesen, das ein Verhältnis<br />
zum Ganzen seiner Existenz unterhält, lassen sich solche<br />
Keime der Bedeutungsbildung mit Stichworten wie Geburtlichkeit,<br />
Sterblichkeit, Verantwortlichkeit <strong>und</strong> Sinnbedürftigkeit<br />
andeuten.<br />
3. Was bedeutet das alles? Weltanschauungen<br />
<strong>und</strong> Religionen als Artikulationen des Bezugs<br />
zum Ganzen<br />
<strong>Symbolische</strong> <strong>Verkörperung</strong>, so wollte ich zeigen, ist stets dreidimensional:<br />
Symbolzeichen im engeren Sinn sind notwendig<br />
als Laute oder materielle Inskriptionen verkörpert <strong>und</strong><br />
vor allem zu ihrer Interpretation auf Zeichen angewiesen, die<br />
als Ikone <strong>und</strong> Indizes direkte Erfahrung verkörpern. Indexikalische<br />
Zeichen beruhen auf physischem Kontakt, entweder<br />
im Sinne eines Kausalverhältnisses oder einer sozialen Interaktion.<br />
Ikonische Zeichen basieren auf einer gefühlten Ähnlichkeit<br />
zwischen leiblich gespürten Qualitäten. Entscheidend<br />
ist, dass unser symbolisch verkörpertes Weltverhältnis<br />
auf einer funktionalen Verschränkung dieser drei Zeichenformen<br />
beruht <strong>und</strong> dementsprechend auch Artikulationsprozesse<br />
stets eine irreduzible Dreidimensionalität aufweisen.<br />
Analog dazu lassen sich Religionen <strong>und</strong> Weltanschauungen<br />
als Artikulationsgestalten deuten, die drei Dimensionen des<br />
In-der-Welt-Seins in ein stimmiges Verhältnis setzen: eine<br />
kognitive Deutung unserer Weltbeziehung, eine Vision des<br />
guten <strong>und</strong> richtigen Lebens, die den Willensregungen Rich-<br />
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