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David | Erne |Krüger |Wabel: Körper und Kirche – Symbolische Verkörperung und protestantische Ekklesiologie (Leseprobe)

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Philipp <strong>David</strong> | Thomas <strong>Erne</strong><br />

Malte Dominik Krüger | Thomas Wabel (Hrsg.)<br />

<strong>Körper</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Kirche</strong><br />

<strong>Symbolische</strong> <strong>Verkörperung</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>protestantische</strong> <strong>Ekklesiologie</strong><br />

Hermeneutik <strong>und</strong> Ästhetik


Vorwort<br />

Die in diesem Buch versammelten Beiträge ergründen Verknüpfungsmöglichkeiten<br />

des kognitionswissenschaftlichen<br />

Paradigmas der <strong>Verkörperung</strong> mit ekklesiologischen Theoriebildungen.<br />

Die vorangegangene Tagung »<strong>Körper</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Kirche</strong>. <strong>Symbolische</strong> <strong>Verkörperung</strong> <strong>und</strong> <strong>protestantische</strong> <strong>Ekklesiologie</strong>«<br />

fand vom 17. bis 19. Mai 2019 an der Philipps-Universität<br />

Marburg statt. Veranstalter waren das Rudolf-Bultmann-Institut<br />

für Hermeneutik <strong>und</strong> das EKD-Institut für<br />

<strong>Kirche</strong>nbau <strong>und</strong> kirchliche Kunst der Gegenwart an der Philipps-Universität<br />

Marburg in Kooperation mit dem Institut<br />

für Evangelische Theologie am Fachbereich Geschichts- <strong>und</strong><br />

Kulturwissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen<br />

<strong>und</strong> der Dietrich-Bonhoeffer-Forschungsstelle für Öffentliche<br />

Theologie am Institut für Evangelische Theologie der<br />

Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Den öffentlichen Abendvortrag<br />

hielt Matthias Jung (Koblenz-Landau) zum Thema<br />

Artikulation, Bewusstsein, Religion. Einen ästhetischen Höhepunkt<br />

der Tagung bildete die Performance »<strong>Körper</strong> in der<br />

Kunst« der Marburger Künstlerin Bettina Hannsz. Dafür sei<br />

ihr an dieser Stelle auch noch einmal sehr herzlich gedankt.<br />

Für eine finanzielle Unterstützung der Tagung <strong>und</strong> der Publikation<br />

danken wir der Evangelischen <strong>Kirche</strong> in Hessen <strong>und</strong><br />

Nassau sehr.<br />

Die Vorträge der Tagung bilden die Gr<strong>und</strong>lage des Bandes.<br />

Für die Veröffentlichung sind diese ergänzt worden um<br />

eine Reihe von weiteren Beiträgen, die teils aus den angereg-<br />

5


ten Diskussionen sowie aus der Postersession von Nachwuchswissenschaftlerinnen<br />

<strong>und</strong> -wissenschaftlern auf der<br />

Tagung hervorgegangen <strong>und</strong> teils im Nachhinein angefragt<br />

worden sind.<br />

Für allfällige Korrekturvorgänge danken wir Eva-Maria<br />

Böss, Julia Hufnagel <strong>und</strong> Theresa Winkler aus Bamberg. Für<br />

die intensive Endredaktion der Beiträge, die Vorbereitung der<br />

Druckfahne <strong>und</strong> die Erstellung von Sach- <strong>und</strong> Personenregistern<br />

danken wir Martin Jockel aus Gießen. Schließlich<br />

danken wir dem Verlag <strong>und</strong> Frau Dr. Annette Weidhas für die<br />

ausgezeichnete Zusammenarbeit <strong>und</strong> für die Aufnahme der<br />

Reihe »Hermeneutik <strong>und</strong> Ästhetik« in das Verlagsprogramm,<br />

mit der ein Forum für die Gegenwartsdeutung des Christentums<br />

geboten wird. Das geschieht in interdisziplinärer Auseinandersetzung<br />

mit aktuellen Diskursen, die sich mit dem<br />

Wahrnehmen <strong>und</strong> Verstehen von religionskulturellen Transformationsprozessen<br />

in der Moderne befassen. In dieser Reihe<br />

erscheinen aktuelle Beiträge, wissenschaftliche Studien <strong>und</strong><br />

akademische Qualifikationsarbeiten zu allen Bereichen evangelischer<br />

Theologie.<br />

Im Frühsommer 2021<br />

Die Herausgeber<br />

6


Inhalt<br />

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />

I (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong> Religion<br />

Subjekt <strong>und</strong> <strong>Verkörperung</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43<br />

Anton Friedrich Koch<br />

Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59<br />

Jörg Dierken<br />

Artikulation, Bewusstsein <strong>und</strong> Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85<br />

Matthias Jung<br />

Die <strong>Verkörperung</strong> des Absoluten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109<br />

Religion als Medium der Sakralisierung, Ritualisierung <strong>und</strong><br />

Liminalisierung menschlicher Praxis-Raumzeitlichkeit<br />

Magnus Schlette<br />

Tod, Trauma <strong>und</strong> Behinderung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133<br />

Anfragen an eine Theologie der Unversehrten<br />

Maike Schult<br />

II (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong> Gemeinschaft<br />

<strong>Körper</strong>ekklesiologie <strong>und</strong> <strong>Körper</strong>ethik bei Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . 155<br />

Der Christusleib bei Paulus in 1Kor 12 als Leitmetapher<br />

Ruben Zimmermann<br />

Wessen Leib ist die <strong>Kirche</strong>? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193<br />

Das <strong>Verkörperung</strong>sparadigma als Klärungshilfe für die <strong>protestantische</strong><br />

<strong>Ekklesiologie</strong> <strong>–</strong> eine Spurensuche bei Wolfhart Pannenberg<br />

<strong>und</strong> Jürgen Moltmann<br />

Johannes Weth<br />

7


Inhalt<br />

<strong>Kirche</strong> als <strong>Verkörperung</strong> Christi? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221<br />

Die leibbezogene Evangeliumskommunikation im Gottesdienst<br />

<strong>und</strong> ihre ekklesiologischen Implikationen<br />

Isolde Karle<br />

Der <strong>Körper</strong> als Ausdruck Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241<br />

Ekklesiologische Implikationen einer spinozanischen<br />

Denkfigur<br />

André Flimm<br />

Klugheit kommunikativer <strong>Körper</strong>? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271<br />

<strong>Verkörperung</strong> in den Werken von Jürgen Habermas<br />

<strong>und</strong> Eilert Herms<br />

André Munzinger<br />

III (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong> Raum<br />

»Wann werde ich hineingehen <strong>und</strong> Gottes Angesicht sehen?«<br />

(Ps 42,3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291<br />

Alttestamentliche Raumkonzeptionen im Horizont<br />

der aktuellen <strong>Verkörperung</strong>sdiskussion<br />

Alexandra Gr<strong>und</strong>-Wittenberg<br />

Raum <strong>und</strong> Richtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323<br />

Wechselwirkungen von <strong>Kirche</strong> <strong>und</strong> <strong>Körper</strong> in der Erfahrung<br />

des <strong>Kirche</strong>nraums <strong>und</strong> bei Martin Luther<br />

Thomas Wabel<br />

Der aufgeklärte <strong>Kirche</strong>nraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367<br />

Pastoraltheologische <strong>und</strong> architektonische Impulse<br />

der Aufklärungszeit<br />

Malte van Spankeren<br />

<strong>Kirche</strong>nbau der Moderne als <strong>Verkörperung</strong> von <strong>Kirche</strong> . . . . . . . . . 385<br />

Thomas <strong>Erne</strong><br />

<strong>Kirche</strong> als corpus permixtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403<br />

Ikonische <strong>Verkörperung</strong>en einer negationsdialektischen<br />

Denkfigur<br />

Philipp <strong>David</strong><br />

8


IV (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong> Praxis<br />

Inhalt<br />

Von <strong>Verkörperung</strong> zu <strong>Verkörperung</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465<br />

Zur ethischen Dimension körperlicher Vollzüge in<br />

religiösem Kontext<br />

Katharina Eberlein-Braun<br />

Re- <strong>und</strong> Deterritorialisierung von sozialen Praktiken<br />

durch <strong>Körper</strong> <strong>und</strong> in <strong>Körper</strong>n . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495<br />

Marcus Held<br />

Taufe als <strong>Verkörperung</strong>sgeschehen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545<br />

Eine Case-Study-basierte interdisziplinäre Erk<strong>und</strong>ung<br />

Maximilian Bühler, Kristina Fiedler, Simon Jungnickel,<br />

Torben Stamer, Jonathan Weider<br />

Autorinnen <strong>und</strong> Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605<br />

Personen- <strong>und</strong> Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607<br />

9


Einleitung<br />

1. <strong>Symbolische</strong> <strong>Verkörperung</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>protestantische</strong> <strong>Ekklesiologie</strong><br />

Das Projekt »<strong>Körper</strong> <strong>und</strong> <strong>Kirche</strong>« ergründet Verknüpfungsmöglichkeiten<br />

des Paradigmas der »<strong>Verkörperung</strong>« mit der<br />

<strong>protestantische</strong>n <strong>Ekklesiologie</strong>. Mit den Begriffen »<strong>Körper</strong>«<br />

<strong>und</strong> »<strong>Verkörperung</strong>« ist eine perspektivische Neuausrichtung<br />

in der Forschung angesprochen, die von den Kognitionswissenschaften<br />

aus Eingang in die Sozial- <strong>und</strong> Geisteswissenschaften<br />

gef<strong>und</strong>en hat. Neben dem interdisziplinär »neu<br />

erwachten Interesse am <strong>Körper</strong>« 1 (Body Turn) steht die Beob-<br />

1 Robert Gugutzer, Soziologie des <strong>Körper</strong>s, Bielefeld (2004) 5 2015, 33. Den<br />

menschlichen <strong>Körper</strong> aus soziologischer <strong>und</strong> literatur-, kunst- <strong>und</strong> kulturwissenschaftlicher<br />

Perspektive in den Blick zu nehmen, beruht allerdings<br />

nicht erst auf Einsichten des späten 20. <strong>und</strong> frühen 21. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />

wenngleich es so etwas gibt wie eine Zunahme (geistes-) wissenschaftlicher<br />

Beschäftigung mit dem menschlichen <strong>Körper</strong> (vgl. Josette Baer/<br />

Wolfgang Rother [Hrsg.], <strong>Körper</strong>. Aspekte der <strong>Körper</strong>lichkeit in Medizin<br />

<strong>und</strong> Kulturwissenschaften, Basel 2012. Von einem »Somatic Turn«<br />

spricht Markus Schroer in seiner Einführung [7<strong>–</strong>47, 10] für den Sammelband<br />

Markus Schroer [Hrsg.], Soziologie des <strong>Körper</strong>s, Frankfurt a. M.<br />

2005; selten findet sich in der Forschung dagegen der Begriff »Corporeal<br />

Turn«). Man denke auch an die Studien aus der Phänomenologie von Maurice<br />

Merleau-Ponty, Hermann Schmitz (vgl. seinen Systementwurf [1964<strong>–</strong><br />

1980] einer Gefühlstheorie im Rahmen einer »Neuen Phänomenologie«<br />

[1980], mit der »These, dass Gefühle räumlich ergossene, leiblich ergreifende<br />

Atmosphären sind«, die »mit einer Revolution der Anthropologie«, der<br />

Überwindung des Dualismus von Seele bzw. Geist <strong>und</strong> <strong>Körper</strong>, »steht <strong>und</strong><br />

11


Einleitung<br />

achtung, dass menschliches Denken <strong>und</strong> Verstehen wesentlich<br />

an körperliche Vollzüge geb<strong>und</strong>en sind. Diese Wende zu<br />

einem »verkörperten« Verständnis kognitiver Prozesse in den<br />

modernen Kognitionswissenschaften markiert einen neuen<br />

Anfang, von der <strong>Verkörperung</strong> des Geistigen (embodied oder<br />

fällt« [Hermann Schmitz, Entseelung der Gefühle, in: Gefühle als Atmosphären.<br />

Neue Philosophie <strong>und</strong> philosophische Emotionstheorie. Hrsg. v.<br />

Kerstin Andermann <strong>und</strong> Undine Eberlein, Berlin 2012, 21<strong>–</strong>33, hier:<br />

21]) <strong>und</strong> an ihn anschließend Gernot Böhme sowie Bernhard Waldenfels,<br />

Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes,<br />

Frankfurt a. M. (2000) 8 2021; aber u. a. auch an Norbert Elias, Michel Foucault<br />

(vgl. z. B. Michel Foucault, Überwachen <strong>und</strong> Strafen. Die Geburt<br />

des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1976) oder Judith Butler (vgl. Judith<br />

Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991; Dies.,<br />

Bodies that Matter. On the Discursive Limits of »Sex«, New York u. a. 1993),<br />

die zwar den <strong>Körper</strong> stark macht, aber kein <strong>Verkörperung</strong>skonzept vorlegt;<br />

aber auch an die »Disability Studies« (vgl. Markus Dederich, <strong>Körper</strong>,<br />

Kultur <strong>und</strong> Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies, Bielefeld<br />

2007), »Gender Studies«, »Body Studies« mit ihrem zentralen Konzept<br />

des <strong>Körper</strong>gedächtnisses oder »Masculinity Studies«, in denen sich weitere<br />

kultur- <strong>und</strong> geisteswissenschaftliche Forschungsbereiche aufgetan haben.<br />

Die Disziplinen übergreift der <strong>Körper</strong> <strong>und</strong> Geist, (Un-)Bewusstes <strong>und</strong> Seele<br />

umfassende Trauma-Diskurs (vgl. dazu Maike Schult, Verw<strong>und</strong>barkeit<br />

<strong>und</strong> Verletzungsmacht: Dynamiken des Traumas, in: Hildeg<strong>und</strong> Keul/<br />

Thomas Müller [Hrsg.], Verw<strong>und</strong>bar. Theologische <strong>und</strong> humanwissenschaftliche<br />

Perspektiven zur menschlichen Vulnerabilität, Würzburg 2020,<br />

13<strong>–</strong>20; Dies., Nichts wird mehr, wie es war: Das Konstrukt Traumaheilung<br />

aus transgenerationaler Perspektive, in: Yvonne Drosihn/Ingeborg<br />

Jandl/Eva Kowollik [Hrsg.], Trauma <strong>–</strong> Generationen <strong>–</strong> Erzählen. Transgenerationale<br />

Narrative in der Gegenwartsliteratur zum ost-, ostmittel<strong>und</strong><br />

südosteuropäischen Raum, Berlin 2020, 37<strong>–</strong>50; vgl. darin die Unterscheidung<br />

von Trauma als »Diagnosebegriff« <strong>und</strong> »kulturelles Deutungsmuster«).<br />

Anders als die englische Sprache unterscheidet die deutsche<br />

zwischen <strong>Körper</strong> <strong>und</strong> Leib. Vgl. daher zum Leiblichkeitsdiskurs auch Em -<br />

manuel Alloa u. a. (Hrsg.), Leiblichkeit. Geschichte <strong>und</strong> Aktualität eines<br />

Konzepts, Tübingen 2012.<br />

12


Einleitung<br />

embedded cognition) zu sprechen. 2 Fruchtbar erscheint insbesondere<br />

der Brückenschlag zu »hermeneutischen <strong>und</strong>/oder<br />

phänomenologischen Einsichten«, um aufzuzeigen, »dass<br />

geistige Phänomene nur im Zusammenhang mit dem Organismus<br />

<strong>und</strong> seinem Umweltbezug verständlich gemacht<br />

werden können.« 3 Ein in diesem Sinne verkörpertes Verständ-<br />

2 Die verbreitete Vorstellung eines seit der Antike den abendländischen Diskurs<br />

bestimmenden Dualismus von <strong>Körper</strong> <strong>und</strong> Geist lässt sich freilich bei<br />

Platon <strong>und</strong> Aristoteles nicht belegen (vgl. zum <strong>Körper</strong>-Geist-Dualismus<br />

den einführenden Überblick bei Godehard Brüntrup, Das Leib-Seele-<br />

Problem. Eine Einführung, Stuttgart 2016; ferner: Jörg Dierken/Malte<br />

Dominik Krüger [Hrsg.], Leibbezogene Seele? Interdisziplinäre Erk<strong>und</strong>ungen<br />

eines kaum noch fassbaren Begriffs, Tübingen 2015). So ließe sich<br />

zeigen, dass bei Platon nicht von einem strengen Chorismos die Rede ist, so<br />

dass man nicht von einem Dualismus ausgehen kann, sondern von einem<br />

Wirklichkeitsbereich mit verschiedenen Stufungen, die über den Bildbegriff<br />

verb<strong>und</strong>en werden, wie Plotin zu Recht herausstellt. Es ließe sich so<br />

auch zeigen, dass zumindest Aristoteles’ De anima präfiguriert, was der<br />

Begriff Embodiment einzuholen sucht. Unter diesem Gesichtspunkt<br />

scheint die Annahme begründet zu sein, dass der viel beschworene Dualismus<br />

von <strong>Körper</strong> <strong>und</strong> Geist im neuzeitlichen Rationalismus <strong>und</strong> dessen<br />

Wirkungsgeschichte beheimatet ist. Schließlich ließe sich auch aufzeigen,<br />

dass die gegenwärtige Wende zum <strong>Körper</strong> im Gr<strong>und</strong>e eine noch aufzuarbeitende<br />

Rückbesinnung, insofern ein Re-Turn, auf die Gr<strong>und</strong>konstellationen<br />

der (platonisch-) aristotelischen Philosophie ist. Vgl. hier nur<br />

Christoph Poetsch, Platons Philosophie des Bildes. Systematische<br />

Untersuchungen zur platonischen Metaphysik, Frankfurt a. M. 2019, bes.<br />

25<strong>–</strong>123; 199<strong>–</strong>347 (zu Platon); Arbogast Schmitt, Gibt es ein Wissen von<br />

Gott? Plädoyer für einen rationalen Gottesbegriff, Heidelberg 2019, 25<strong>–</strong><br />

165 (zu Aristoteles); Malte Dominik Krüger/Andreas Lindemann/<br />

Arbogast Schmitt, Erkenntnis des Göttlichen im Bild? Perspektiven<br />

hermeneutischer Theologie <strong>und</strong> antiker Philosophie, Leipzig 2021, 92<strong>–</strong>125<br />

(zu Platon, Aristoteles <strong>und</strong> zur evangelischen Theologie).<br />

3 Matthias Jung, Hermeneutik zur Einführung, Hamburg (2001) 5 2018,<br />

167 f.; ferner Thomas Fuchs, Das Gehirn <strong>–</strong> Ein Beziehungsorgan. Eine<br />

phänomenologisch-ökologische Konzeption, Stuttgart (2008) 62021 <strong>und</strong><br />

13


Einleitung<br />

nis kognitiver Prozesse vermag nicht zuletzt auch für die<br />

»Zukunft der Hermeneutik« 4 <strong>und</strong> Ästhetik 5 vielversprechend<br />

zu sein, wenn sich der wissenschaftssprachliche Begriff Embodiment<br />

als eine wissenschaftliche Gr<strong>und</strong>einstellung interdisziplinär<br />

etabliert.<br />

Das mit diesem Band dokumentierte Gespräch des evangelischen<br />

Verständnisses von <strong>Kirche</strong> mit dem vielgestaltigen<br />

<strong>Verkörperung</strong>skonzept leistet dazu einen Beitrag. Mit<br />

dem <strong>Verkörperung</strong>skonzept ist die Einsicht verb<strong>und</strong>en, dass<br />

Geistiges wesentlich verkörpert ist <strong>und</strong> <strong>Körper</strong>liches <strong>und</strong><br />

Geistiges miteinander in stetiger Wechselwirkung stehen. 6<br />

Menschliches Denken ist physisch, medial <strong>und</strong> soziokulturell<br />

eingebettet. Überträgt man dies nun, wie es hier geschieht,<br />

auf die christliche <strong>Kirche</strong>, die in konfessionell je unterschiedlicher<br />

Weise als religiöse Wirklichkeit geglaubt, als soziale<br />

Größe erfahren <strong>und</strong> als Institution gestaltet wird, so ist die<br />

<strong>Kirche</strong> nicht lediglich Ausdruck religiösen Selbst-, Raumoder<br />

Gemeinschaftserlebens, sondern prägt in ihrer <strong>Verkörperung</strong><br />

ihrerseits diese Erlebensformen. 7 Daher lassen sich<br />

Ders., Die Verteidigung des Menschen. Gr<strong>und</strong>fragen einer verkörperten<br />

Anthropologie, Berlin 2020.<br />

4 So jedenfalls die Prognose von Jung, Hermeneutik (s. Anm. 3), 8.<br />

5 Vgl. z. B. Cornelia Logemann/Miriam Oesterreich/Julia Rüthemann<br />

(Hrsg.), <strong>Körper</strong>-Ästhetiken. Allegorische <strong>Verkörperung</strong>en als ästhetisches<br />

Prinzip, Bielefeld 2013; Maren Bienert/Monika E. Fuchs<br />

(Hrsg.), Ästhetik <strong>–</strong> <strong>Körper</strong> <strong>–</strong> Leiblichkeit. Aktuelle Debatten in bildungsbezogener<br />

Absicht, Stuttgart 2018; Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur<br />

neuen Ästhetik, Berlin (1995) 7 2013; Ders., Leib. Die Natur, die wir selbst<br />

sind, Berlin 2019.<br />

6 Vgl. Thiemo Breyer, Philosophie der <strong>Verkörperung</strong>. Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong><br />

Konzepte, in: Gregor Etzelmüller/Annette Weissenrieder (Hrsg.),<br />

<strong>Verkörperung</strong> als Paradigma theologischer Anthropologie, Berlin/Boston<br />

2016, 29<strong>–</strong>50.<br />

14


Einleitung<br />

religiöse Erfahrung <strong>und</strong> Praxis nicht dualistisch nach dem<br />

Modus »innerlich« oder »äußerlich« denken. Zudem kann die<br />

Beteiligung religiöser Gemeinschaften an gesellschaftlicher<br />

Selbstverständigung nicht auf den Austausch von Argumenten<br />

reduziert werden, sondern ihre Wirkung innerhalb <strong>und</strong><br />

außerhalb ihrer Anhängerschaft schließt vielfältige körperbezogene<br />

Vollzüge <strong>und</strong> Praktiken ein. Dass <strong>Kirche</strong> als konkreter<br />

Ort der <strong>Verkörperung</strong> religiöser Praxis zahlreiche Wechselprozesse<br />

zwischen Sinn <strong>und</strong> Sinnlichkeit in Gang zu setzen<br />

vermag, illustrieren etwa die Fragen: Was verändert sich in<br />

der eigenen Wahrnehmung, wenn jemand einen <strong>Kirche</strong>nraum<br />

betritt? Wie wird bei der Feier des Abendmahls erfahrbar,<br />

dass diese Gemeinschaft sich als Leib Christi versteht? In<br />

diesen Fluchtlinien wird plausibel, dass die <strong>protestantische</strong><br />

<strong>Ekklesiologie</strong> nicht ohne den Horizont ihrer sozialen, personalen,<br />

symbolischen, medialen <strong>und</strong> kultischen <strong>Verkörperung</strong><br />

adäquat gedacht ist. Auf diese Weise trägt sich auch die Theologie<br />

mit ihrer Reflexion zum konkreten Ort »<strong>Kirche</strong>« in den<br />

vielstimmigen <strong>Verkörperung</strong>sdiskurs ein.<br />

1.1 Grenzdialektik: Verschränkung von Binnen<strong>und</strong><br />

Fremdperspektive<br />

Der Beitrag von Religionen zur gesellschaftlichen Willensbildung<br />

wird im Anschluss an Jürgen Habermas’ kommunikationstheoretisches<br />

Paradigma <strong>und</strong> John Rawls’ Proviso gern<br />

im Rahmen von Gründen thematisiert, die unabhängig von<br />

7 Wie dieses Wechselverhältnis von Ausdruck <strong>und</strong> Prägung konfessionell<br />

jeweils Gestalt gewinnt, wäre eine lohnende weiterführende Frage. In den<br />

Beiträgen dieses Bandes, die aus der Perspektive evangelischer <strong>Ekklesiologie</strong><br />

argumentieren, bleibt sie jedoch außer Betracht.<br />

15


Einleitung<br />

ihrer Genese <strong>und</strong> ihrem religiösen Gebrauch möglichst allgemein<br />

zugänglich sein sollen. 8 So leistungsfähig dieser Zugang<br />

ist, so ist er doch auch von gewissen Einschränkungen<br />

im Verständnis religiöser Vollzüge gekennzeichnet. Die öffentliche<br />

Relevanz religiöser Gemeinschaften wird dann<br />

nämlich insbesondere daran festgemacht, in welchem Maße<br />

sie ihre Inhalte in säkulare Kontexte vermitteln können. Dies<br />

entspricht aber häufig nicht dem Selbstverständnis dieser Gemeinschaften<br />

<strong>und</strong> auch nicht deren tatsächlicher Wahrnehmung<br />

von außen. Infolgedessen droht bei der angestrebten<br />

größeren Reichweite der Argumentation eine abstrakte Abkopplung<br />

vom Entstehungskontext religiöser Überzeugungen.<br />

Umgekehrt kann jedoch auch die theologische Durchdringung<br />

religiöser Praktiken nicht nur bei der Nachzeichnung<br />

der Binnenperspektive <strong>und</strong> deren über die jeweilige<br />

Gemeinschaft hinausgreifenden Ansprüchen von Normativität<br />

in Deutungsvollzügen <strong>und</strong> Lebensformen stehen bleiben.<br />

Denn damit unterläuft man nicht nur faktisch diese ausgreifenden<br />

Ansprüche von Normativität, sondern verschließt<br />

sich auch zum eigenen Schaden gegenüber kritischen Anfragen<br />

von außen. Schließlich können diese Anfragen von außen<br />

dazu führen, die eigene Position immer präziser <strong>und</strong> intrikater<br />

zu fassen, so dass die Verständigung zwischen der Binnen<strong>und</strong><br />

Fremdperspektive zunehmend komplexer <strong>und</strong> interessanter<br />

wird.<br />

Noch gr<strong>und</strong>sätzlicher kann man fragen, ob die Binnen<strong>und</strong><br />

Fremdperspektive nicht ohnehin immer schon ver-<br />

8 Vgl. Jürgen Habermas, Religion in der Öffentlichkeit. Kognitive Voraussetzungen<br />

für den »öffentlichen Vernunftgebrauch« religiöser <strong>und</strong> säkularer<br />

Bürger, in: Ders., Zwischen Naturalismus <strong>und</strong> Religion. Philosophische<br />

Aufsätze, Frankfurt a. M. 2005, 119<strong>–</strong>154.<br />

16


Einleitung<br />

schränkt sind. Denn zum einen lässt sich eine solche prinzipielle<br />

Abgrenzung in unserem konkreten kulturellen Kontext<br />

historisch kaum aufrechterhalten, weil Kultur <strong>und</strong> Religion<br />

genetisch eng miteinander verflochten sind. Und zum<br />

anderen verweist systematisch die Rede von der Binnenperspektive<br />

indirekt auf eine andere Perspektive als sie selbst, so<br />

wie jeder Rede von einer Perspektive kategorial eine sie relativierende<br />

Alterität eingeschrieben ist. Mit anderen Worten:<br />

Es scheint religionstheoretisch sinnvoll, eine Grenzdialektik<br />

von Binnen- <strong>und</strong> Fremdperspektive in Rechnung zu stellen,<br />

die wiederum nicht im Allgemeinen verbleiben darf, sondern<br />

sich ihrerseits an einem konkreten Ort bewähren <strong>und</strong> gegebenenfalls<br />

auch weiterentwickeln lassen muss. Genau dies<br />

will das Projekt »<strong>Körper</strong> <strong>und</strong> <strong>Kirche</strong>« realisieren, indem es die<br />

<strong>Kirche</strong> als konkreten Ort in den Blick nimmt, der von dem<br />

nicht-religiösen Konzept der »<strong>Verkörperung</strong>« ebenso (neu) erschlossen<br />

werden kann, wie dieses Paradigma wiederum umgekehrt<br />

aufgr<strong>und</strong> der zu erwartenden Einsichten der <strong>Ekklesiologie</strong><br />

gegebenenfalls neu akzentuiert <strong>und</strong> begriffen zu<br />

werden vermag. So verbindet das Projekt den Begriff der »<strong>Verkörperung</strong>«<br />

mit der <strong>protestantische</strong>n <strong>Ekklesiologie</strong>, um die<br />

spezifische Codierung christlich-religiöser Vollzüge sowie<br />

deren religiösen Eigensinn mit dem Anspruch auf transpartikulare<br />

Geltung zu vermitteln.<br />

1.2 Embodiment: Zum Konzept der »<strong>Verkörperung</strong>«<br />

Kognitionswissenschaftliche Konzepte der <strong>Verkörperung</strong> zielten<br />

darauf, das Geistige als essentiell verkörpert zu verstehen.<br />

Die Dimensionen des <strong>Körper</strong>lichen <strong>und</strong> des Geistigen<br />

menschlicher Existenz stehen demnach in steter Wechselwirkung<br />

miteinander. Von diesem Ursprung her haben diverse<br />

17


Einleitung<br />

Spielarten von <strong>Verkörperung</strong>sbegriffen in unterschiedliche<br />

Disziplinen Eingang gef<strong>und</strong>en. Nicht nur in Kognitionswissenschaften<br />

<strong>und</strong> Philosophie, auch in Soziologie, 9 Geistes<strong>und</strong><br />

Kulturwissenschaften 10 werden seit einigen Jahren die<br />

Stichworte »<strong>Verkörperung</strong>« (Embodiment), »Einbettung« bzw.<br />

»eingebettetes Bewusstsein« (embedded cognition), »Enaktivismus«<br />

(enactivism) oder »ausgedehnter Geist« (extended<br />

mind) verwendet. 11 Dahinter, so heißt es, verbergen sich »aufregende<br />

<strong>und</strong> weitreichende Thesen über das Wesen des Geistes<br />

<strong>und</strong> der Kognition, von denen behauptet wird, dass sie<br />

unser Verständnis psychischer Prozesse <strong>und</strong> mentaler Zustände<br />

gr<strong>und</strong>legend verändern können.« 12<br />

9 Vgl. Robert Gugutzer, <strong>Verkörperung</strong> des Sozialen. Neophänomenologische<br />

Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> soziologische Analysen, Bielefeld 2012; Roslyn M.<br />

Frank u. a. (Hrsg.), Body, Language and Mind. Volume 2: Sociocultural<br />

Situatedness, Berlin, New York 2008; Christoph Durt/Thomas Fuchs/<br />

Christian Tewes (Hrsg.), Embodiment, Enaction, and Culture, Cambridg<br />

(MA)/London 2017; Natalie Boero/Katherine A. Mason (Hrsg.),<br />

The Oxford Handbook of the Sociology of Body and Embodiment, New<br />

York 2021.<br />

10 Jordan Zlatev/Roslyn M. Frank/Tom Ziemke (Hrsg.), Body, Language<br />

and Mind. Vol. 1: Embodiment, Berlin/New York 2007; Emmanuel<br />

Alloa/Miriam Fischer (Hrsg.), Leib <strong>und</strong> Sprache, Weilerswist 2013;<br />

Gregor Etzelmüller/Christian Tewes (Hrsg.), Embodiment in Evolution<br />

and Culture, Tübingen 2016.<br />

11 Eine erste interdisziplinäre Auseinandersetzung mit diesem Paradigma<br />

von Seiten der theologischen Anthropologie findet sich in einem interdisziplinären<br />

Heidelberger Forschungsprojekt. Vgl. Etzelmüller/Weissenrieder<br />

(Hrsg.), <strong>Verkörperung</strong> als Paradigma (s. Anm. 6); ferner:<br />

Gregor Etzelmüller/Thomas Fuchs/Christian Tewes (Hrsg.),<br />

<strong>Verkörperung</strong> <strong>–</strong> Eine neue interdisziplinäre Anthropologie, Berlin/Boston<br />

2017; jetzt erschienen ist: Gregor Etzelmüller, Gottes verkörpertes<br />

Ebenbild. Eine theologische Anthropologie, Tübingen 2021.<br />

12 Joerg Fingerhut/Rebekka Hufendiek/Markus Wild, Einleitung,<br />

18


Einleitung<br />

Die gr<strong>und</strong>legende Dimension, die das Konzept der »<strong>Verkörperung</strong>«<br />

des Geistigen anspricht, erschließt sich, wenn<br />

man <strong>Verkörperung</strong> als Gr<strong>und</strong>struktur menschlicher Artikulation<br />

begreift, die vom <strong>Körper</strong> des Einzelnen bis zur Sozialformation<br />

von Institutionen reicht. Menschliches Verstehen<br />

<strong>und</strong> Artikulieren sind dabei basal an körperliche Vollzüge geb<strong>und</strong>en.<br />

Der Mensch lebt in einem »Kontinuum von der leiblichen<br />

<strong>Verkörperung</strong> [...] bis zu sozialen Institutionen.« 13 Die<br />

körperlichen Vollzüge der Artikulation führen aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />

symbolischen Verfasstheit einen Zug zur Entgrenzung<br />

<strong>und</strong> sprachlichen, metaphorischen Übertragung auf größere<br />

Sozialformationen mit sich. So wird beispielsweise in Thomas<br />

Hobbes’ Leviathan der Staat als <strong>Körper</strong> begriffen, der aus<br />

Menschen besteht, die in den Gesellschaftsvertrag eingewilligt<br />

haben. Solche Traditionen <strong>und</strong> Motive schlagen sich offenbar<br />

auch im juristischen Sprachgebrauch nieder, wenn<br />

Religionsgemeinschaften als »<strong>Körper</strong>schaft des öffentlichen<br />

Rechts« 14 bezeichnet werden.<br />

1.3 <strong>Kirche</strong> als <strong>Körper</strong>? Neuperspektivierungen<br />

des kirchentheoretischen Diskurses<br />

Das Konzept der <strong>Verkörperung</strong> hat in der evangelischen <strong>Kirche</strong>ntheorie<br />

<strong>und</strong> <strong>Ekklesiologie</strong> bislang kaum Resonanz gef<strong>und</strong>en.<br />

15 Theologische Selbstbeschreibungen von <strong>Kirche</strong> als<br />

in: Dies., Philosophie der <strong>Verkörperung</strong>. Gr<strong>und</strong>lagentexte zur aktuellen<br />

Debatte, Berlin 2013, 9.<br />

13 Matthias Jung, Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation,<br />

Berlin/New York 2009, 272.<br />

14 Vgl. zum Begriff Hendrik Munsonius, <strong>Kirche</strong> <strong>und</strong> Recht (Kompendien<br />

Praktische Theologie 2), Stuttgart o. J. [2019], 67<strong>–</strong>69.<br />

15 Während die <strong>Kirche</strong> in der <strong>Ekklesiologie</strong> ihrem Wesen nach als communio<br />

19


Einleitung<br />

Geschöpf des Wortes Gottes (creatura verbi Divini), als Gemeinschaft<br />

der Heiligen (sanctorum communio), Versammlung<br />

der Gläubigen (congregatio sanctorum), als manifeste<br />

<strong>und</strong> latente Geistgemeinschaft oder als sichtbare <strong>und</strong> verborgene<br />

<strong>Kirche</strong> (ecclesia visibilis et abscondita) werden zumeist<br />

diesseits des Leiblichkeits- bzw. <strong>Körper</strong>diskurses reflektiert.<br />

Zwar gehört zum reformatorischen <strong>Kirche</strong>nverständnis gr<strong>und</strong>legend<br />

die Unterscheidung zwischen der verborgenen <strong>Kirche</strong><br />

sanctorum <strong>und</strong> ihrem Zustandekommen nach als creatura verbi bzw. evangelii<br />

ausgehend vom Heilshandeln Christi dogmatisch in den Blick ge -<br />

nommen wird <strong>und</strong> christologische, pneumatologische <strong>und</strong> die Heilsmittel<br />

(media salutis) betreffende Lehraussagen in die Reflexion miteinbezieht,<br />

geht es der soziologisch orientierten <strong>Kirche</strong>ntheorie als »Verbindungsstück<br />

zwischen Systematischer <strong>und</strong> Praktischer Theologie« (Reiner Preul, <strong>Kirche</strong>ntheorie.<br />

Wesen, Gestalt <strong>und</strong> Funktionen der Evangelischen <strong>Kirche</strong>,<br />

Berlin/New York 1997, 4) um die Verschränkung der <strong>Ekklesiologie</strong> mit<br />

sozialphänomenologischen <strong>und</strong> -theoretischen, kirchen- <strong>und</strong> religionssoziologischen<br />

<strong>und</strong> praktisch-theologischen Beschreibungsperspektiven.<br />

Wegbereiter der theologischen Theorie der <strong>Kirche</strong> ist Friedrich Schleiermacher.<br />

Als erstes Buch unter dem Titel »<strong>Kirche</strong>ntheorie« erschienen ist 1997<br />

die o. g. <strong>Kirche</strong>ntheorie des Kieler Praktischen Theologen Reiner Preul, die<br />

Wesen, Gestalt <strong>und</strong> Funktionen der Evangelischen <strong>Kirche</strong> in den Blick<br />

nimmt <strong>und</strong> einen handlungstheoretischen Zugriff verfolgt, der kommunikatives<br />

<strong>und</strong> disponierendes kirchliches Handeln verbindet (vgl. a. a. O.,<br />

6) <strong>und</strong> <strong>Kirche</strong> als »soziale Gestalt des Glaubens« versteht (vgl. Reiner<br />

Preul, Die soziale Gestalt des Glaubens. Aufsätze zur <strong>Kirche</strong>ntheorie,<br />

Leipzig 2008). Als »leibhaftes Sozialgebilde in der Gesellschaft« (Eilert<br />

Herms, <strong>Kirche</strong> in der Gesellschaft, Tübingen 2011, IX) versteht Eilert<br />

Herms die <strong>Kirche</strong>. Vgl. dazu auch seine weiteren Bände zur <strong>Kirche</strong>n- <strong>und</strong><br />

Gesellschaftstheorie: Erfahrbare <strong>Kirche</strong>. Beiträge zur <strong>Ekklesiologie</strong> (Tübingen<br />

1990); <strong>Kirche</strong> für die Welt. Lage <strong>und</strong> Aufgabe der evangelischen <strong>Kirche</strong><br />

im vereinigten Deutschland (Tübingen 1995); <strong>Kirche</strong> <strong>–</strong> Geschöpf <strong>und</strong> Werkzeug<br />

des Evangeliums (Tübingen 2010) sowie jetzt: Eilert Herms, Systematische<br />

Theologie. Das Wesen des Christentums: In Wahrheit <strong>und</strong> aus<br />

Gnade leben. Band 1<strong>–</strong>3 (Tübingen 2017), bes. § 40 <strong>und</strong> §§ 87 f. Zur Kritik <strong>und</strong><br />

Weiterentwicklung des Ansatzes von Herms vgl. Thomas Wabel, Die<br />

20


Einleitung<br />

als der Versammlung der »Heiligen«, also der Glaubenden<br />

(CA VII), <strong>und</strong> der sichtbaren <strong>Kirche</strong>, die man daran erkennen<br />

soll, dass in ihr das Evangelium rein gepredigt wird <strong>und</strong> die<br />

Sakramente recht gebraucht werden (CA VII). Luther versteht<br />

das Verhältnis dieser beiden Dimensionen des <strong>Kirche</strong>nbegriffs<br />

zudem ausdrücklich in Analogie zur Zusammengehörigkeit<br />

von Seele <strong>und</strong> Leib beim Menschen. 16 Die Verborgenheit<br />

der <strong>Kirche</strong> bezeichnet also keine civitas platonica, die von<br />

allen irdischen Formen losgelöst wäre. Vielmehr kommt die<br />

verborgene <strong>Kirche</strong> bei Luther als etwas in den Blick, das die<br />

sichtbare <strong>Kirche</strong> begleitet <strong>und</strong> übersteigt, jedoch auf die<br />

Sichtbarkeit stets dialektisch bezogen bleibt. Trotzdem spielen<br />

der Begriff des <strong>Körper</strong>s bzw. das Konzept der <strong>Verkörperung</strong><br />

für deren Verständnis bislang keine tragende Rolle,<br />

obwohl sie als dialektische »Gegenbegriffe« Erweiterungen,<br />

Ergänzungen <strong>und</strong> gegebenenfalls Neuausrichtungen zu<br />

einer Theorie des Geistes versprechen. <strong>Kirche</strong> wird zudem<br />

religionshermeneutisch als »ausgezeichneter Ort religiöser<br />

Deutungskultur in der Gesellschaft« 17 oder (religions-)so-<br />

nahe ferne <strong>Kirche</strong>. Studien zu einer <strong>protestantische</strong>n <strong>Ekklesiologie</strong> in kulturhermeneutischer<br />

Perspektive, Tübingen 2010, 324<strong>–</strong>342. Gleichzeitig auf<br />

die empirische Vielgestaltigkeit religiöser Praxis <strong>und</strong> die Erweiterung<br />

kirchlicher Handlungsräume achten will Martina Kumlehn, <strong>Kirche</strong> im<br />

Zeitalter der Pluralisierung von Religion. Ein Beitrag zur praktisch-theologischen<br />

<strong>Kirche</strong>ntheorie, Gütersloh 2000. Eng an das Paradigma der »Kommunikation<br />

des Evangeliums« (Ernst Lange) angeschlossen sind die kybernetischen<br />

Entwürfe von Jan Hermelink, Kirchliche Organisation <strong>und</strong><br />

das Jenseits des Glaubens. Eine praktisch-theologische Theorie der evangelischen<br />

<strong>Kirche</strong>, Gütersloh 2011 <strong>und</strong> Christian Grethlein, <strong>Kirche</strong>ntheorie.<br />

Kommunikation des Evangeliums im Kontext, Berlin/Boston 2018.<br />

16 WA 6; 297,3<strong>–</strong>9 (Von dem Papsttum zu Rom wider den hochberühmten<br />

Romanisten zu Leipzig [1520]).<br />

17 Wilhelm Gräb, <strong>Kirche</strong> als Ort religiöser Deutungskultur, in: Ders.,<br />

21


Einleitung<br />

ziologisch als Ort von Religion in der Spätmoderne <strong>und</strong> als<br />

soziales System bedacht. 18 Sie kommt dann insbesondere<br />

als Vergemeinschaftungsform, Institution, Volkskirche, Gemeinde,<br />

Versammlung, Organisation oder gar als Unternehmen<br />

in den Blick. Dies ist zwar nicht einfach von der Hand zu<br />

weisen, ruft aber Fragen hervor, wenn theologische <strong>und</strong> soziologische<br />

Deutungskategorien mitunter tendenziell unverb<strong>und</strong>en<br />

nebeneinanderstehen. Hier kann das Konzept der<br />

<strong>Verkörperung</strong> Einseitigkeiten der Systemtheorie korrigieren<br />

<strong>und</strong> zu einer symboltheoretischen F<strong>und</strong>ierung beitragen, sofern<br />

die symbolische Entgrenzung des <strong>Körper</strong>lichen, die auf<br />

die Einbettung in das Soziale verweist, die partikulare Dimension<br />

des Leiblichen mit den universalen Geltungsansprüchen<br />

einer sozial <strong>und</strong> institutionell verkörperten <strong>Kirche</strong><br />

vermittelt. Das gilt nicht zuletzt im Blick auf Bild- <strong>und</strong> Baukunst,<br />

die zu den sinnenfälligen medialen <strong>Verkörperung</strong>en<br />

christlicher Gemeinschaften gehören <strong>und</strong> ihre öffentliche<br />

Wahrnehmung mitprägen. In je unterschiedlicher Gestaltung<br />

bringen sie die Unterscheidung der <strong>Kirche</strong> von ihrem<br />

Gr<strong>und</strong> zum Ausdruck <strong>und</strong> können so als Bilder verstanden<br />

werden, die eine Gemeinschaft von sich entwirft, »für die es<br />

konstitutiv ist, um ihre eigene Unverfügbarkeit zu wissen<br />

<strong>und</strong> dieses Wissen in ihrem Symbolsystem auch zur Darstellung<br />

zu bringen«. 19<br />

Lebensgeschichten <strong>–</strong> Lebensentwürfe <strong>–</strong> Sinndeutungen. Eine Praktische<br />

Theologie gelebter Religion, Gütersloh (1998) 2 2000, 79<strong>–</strong>99, 79.<br />

18 Vgl. Eberhard Hauschildt/Uta Pohl-Patalong, <strong>Kirche</strong> (Lehrbuch<br />

Praktische Theologie 4), Gütersloh 2013, 55<strong>–</strong>115; 129<strong>–</strong>219.<br />

19 Michael Moxter, Das Unsichtbare der Gemeinschaft <strong>und</strong> die Verborgenheit<br />

der <strong>Kirche</strong>, in: Elisabeth Gräb-Schmidt/Ferdinando G. Menga<br />

(Hrsg.), Grenzgänge der Gemeinschaft. Eine interdisziplinäre Be gegnung<br />

zwischen sozial-politischer <strong>und</strong> theologisch-religiöser Perspektive, Tübin-<br />

22


Einleitung<br />

Dass menschliche Artikulation auf dreifache Weise verkörpert<br />

ist <strong>–</strong> physisch, medial <strong>und</strong> soziokulturell 20 <strong>–</strong> kann somit<br />

dazu verhelfen, auch die <strong>Kirche</strong> in dieser dreifachen Perspektivierung<br />

von <strong>Verkörperung</strong>sleistungen in den Blick zu<br />

nehmen. Einige Andeutungen müssen hier genügen:<br />

Im Sinne physischer <strong>Verkörperung</strong> kann in der <strong>protestantische</strong>n<br />

Theologie der Gegenwart in verschiedener Weise die<br />

Kategorie des Raumes im Kontext des Spatial Turn in den<br />

Vordergr<strong>und</strong> rücken, 21 wenn <strong>Kirche</strong>n im physischen Sinne<br />

als Bauten <strong>und</strong> Räume verstanden werden 22 <strong>und</strong> z. B. als<br />

»Segensräume«, 23 »heilige Orte«, 24 »heilige Räume«, 25 »Orte<br />

gen 2016, 127<strong>–</strong>148, 148. Dass eine damit verb<strong>und</strong>ene »Selbstzurücknahme«<br />

<strong>protestantische</strong>r Kirchlichkeit Formen der <strong>Verkörperung</strong> in Ritus, Bild<br />

<strong>und</strong> Schrift nicht überflüssig macht, sondern im Gegenteil da zu auffordert,<br />

eine Dimension »äußerer Bildlichkeit« wahr- <strong>und</strong> ernst zu nehmen,<br />

zeigt Malte Dominik Krüger, Das andere Bild Christi. Spätmoderner<br />

Protestantismus als kritische Bildreligion, Tübingen 2017, 530<strong>–</strong>537.<br />

20 Vgl. Jung, Der bewusste Ausdruck (s. Anm. 13), 272.<br />

21 Vgl. z. B. Elisabeth Jauss, Raum. Eine theologische Interpretation, Gü -<br />

tersloh 2006; Thomas <strong>Erne</strong>/Peter Schüz (Hrsg.), Die Religion des Raumes<br />

<strong>und</strong> die Räumlichkeit der Religion, Göttingen 2010; Bärbel Beinhauer-Köhler/Mirko<br />

Roth <strong>und</strong> Bernadette Schwarz-Boenneke<br />

(Hrsg.), Viele Religionen <strong>–</strong> ein Raum?! Analysen, Diskussionen <strong>und</strong> Konzepte,<br />

Berlin 2015 sowie den Überblick über den Forschungsdiskurs in:<br />

Anne Koch/Henning Theissen (Hrsg.), Raum <strong>–</strong> Der spatial turn in<br />

Theologie <strong>und</strong> Religionswissenschaft (Verkündigung <strong>und</strong> Forschung 62.<br />

Jg./Heft 1), Gütersloh 2017.<br />

22 Vgl. auch Klaus Raschzok, Ausgewählte <strong>Kirche</strong>nraumdiskurse 2005<strong>–</strong><br />

2017, in: Verkündigung <strong>und</strong> Forschung 62/1 (2017), 63<strong>–</strong>71.<br />

23 Vgl. Ulrike Wagner-Rau, Segensraum. Kasualpraxis in der modernen<br />

Gesellschaft, Stuttgart (2000) 2 2008.<br />

24 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong, <strong>Kirche</strong> (s. Anm. 18), 121<strong>–</strong>124.<br />

25 Helmut Umbach, Heilige Räume <strong>–</strong> Pforten des Himmels. Vom Umgang<br />

der Protestanten mit ihren <strong>Kirche</strong>n, Göttingen 2005.<br />

23


Einleitung<br />

der Begegnung <strong>und</strong> Vergewisserung« 26 oder »Hybridräume<br />

der Transzendenz« 27 in den Blick geraten, denen ein Eigenwert<br />

gegenüber »bloß« subjektiven Deutungsvollzügen eignet.<br />

Das gilt auch für Raum im übertragenen Sinne, wenn <strong>Kirche</strong><br />

etwa als »Raum öffentlicher Kommunikation« 28 verstanden<br />

wird. Denn auch das Verständnis eines öffentlichen Diskursraumes<br />

ist abkünftig von Vorstellungen physisch geteilten<br />

Raums 29 <strong>und</strong> weist damit eine eigentümliche Nähe zum Konzept<br />

der <strong>Verkörperung</strong> auf. 30 Mit Hilfe des Konzepts der Ver-<br />

26 Vgl. Wolfgang Huber, <strong>Kirche</strong> in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher<br />

Wandel <strong>und</strong> die <strong>Erne</strong>uerung der <strong>Kirche</strong>, Gütersloh (1998) 3 1999, 283<strong>–</strong>293.<br />

27 Vgl. Thomas <strong>Erne</strong>, Hybride Räume der Transzendenz. Wozu wir heute<br />

noch <strong>Kirche</strong>n brauchen. Studien zu einer postsäkularen Theorie des <strong>Kirche</strong>nbaus,<br />

Leipzig 2017, 18<strong>–</strong>32, 119 ff.<br />

28 Vgl. Huber, <strong>Kirche</strong> in der Zeitenwende (s. Anm. 26). Hierzu auch Wabel,<br />

Die nahe ferne <strong>Kirche</strong> (s. Anm. 15), 428<strong>–</strong>479. Aus der gegenwärtigen Debatte<br />

um eine »Public Theology« bzw. »öffentliche Theologie«, eine »öffent -<br />

liche <strong>Kirche</strong>« bzw. einem »öffentlichen Protestantismus« vgl. Christian<br />

Albrecht/Reiner Anselm, Öffentlicher Protestantismus. Zur aktuellen<br />

Debatte um gesellschaftliche Präsenz <strong>und</strong> aktuelle Aufgaben des evangelischen<br />

Christentums, Zürich 2017 <strong>und</strong> jetzt auch die Beiträge in: Konzepte<br />

<strong>und</strong> Räume Öffentlicher Theologie: Wissenschaft <strong>–</strong> <strong>Kirche</strong> <strong>–</strong> Diakonie.<br />

Hrsg. v. Ulrich H. J. Körtner/Reiner Anselm/Christian Albrecht,<br />

Leipzig 2020.<br />

29 So versteht Jürgen Habermas Öffentlichkeit in Analogie zu »architektonischen<br />

Metaphern des umbauten Raumes« (Jürgen Habermas, Faktizität<br />

<strong>und</strong> Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts <strong>und</strong> des demokratischen<br />

Rechtsstaats, Frankfurt a. M. [1992] 5 1997, 437). Volker Gerhardt<br />

bevorzugt für die Öffentlichkeit eine »Metaphorik offener Räume […], wie<br />

Städtebau <strong>und</strong> großflächige Siedlungsformen« (Volker Gerhardt, Öf -<br />

fentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins, München 2012, 248).<br />

Zum Zusammenhang vgl. Thomas Wabel, Öffentliche Theologien sozialer<br />

Räume. Eine programmatische Skizze, in: Körtner/Anselm/Albrecht<br />

(Hrsg.), Konzepte <strong>und</strong> Räume Öffentlicher Theologie (s. Anm. 28),<br />

211<strong>–</strong>231, hier: 219<strong>–</strong>226.<br />

24


Einleitung<br />

körperung lässt sich analysieren, wie (materialer, äußerer)<br />

<strong>Körper</strong>(raum) <strong>und</strong> (innere, geistige) Mentalität zusammenwirken.<br />

Was die Perspektive sozialer <strong>Verkörperung</strong> betrifft, so ist<br />

auch die <strong>protestantische</strong> <strong>Ekklesiologie</strong> nicht denkbar ohne<br />

den Horizont gemeinsamer kulturell tradierter Ausdrucksformen<br />

der Raum <strong>und</strong> Zeit übergreifenden Gemeinschaft.<br />

Vollzugsformen von Religion sind stets auf einen intersubjektiven<br />

Kontext angelegt. Das betrifft nicht nur die Mitglieder<br />

einer religiösen Gemeinschaft, sondern auch die Einbettung<br />

religiöser Praxis in andere Formen menschlicher Selbst<strong>und</strong><br />

Weltdeutung, die potentiell für alle zugänglich sind.<br />

Hinsichtlich der Perspektive medialer <strong>Verkörperung</strong><br />

schließlich ist zu betonen, dass die Beteiligung religiöser<br />

Gemeinschaften an gesellschaftlicher Selbstverständigung<br />

nicht auf den Austausch von Argumenten im Diskurs reduziert<br />

werden kann, sondern ihre Wirkung innerhalb <strong>und</strong><br />

außerhalb ihrer Anhängerschaft vielfältige körperbezogene<br />

Vollzüge (Versammlung, Rituale, nonverbale Interaktionsformen,<br />

Kanalisierung <strong>und</strong> Bearbeitung von Emotionen) einschließt.<br />

31 Um das je Eigene religiöser Traditionen zu wahren<br />

30 In phänomenologischer Perspektive erk<strong>und</strong>et die Zusammengehörigkeit<br />

von physischem Raum <strong>und</strong> menschlichem <strong>Körper</strong> Thomas Fuchs, Leib,<br />

Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Stuttgart<br />

(2000) 2 2018. Die konstitutive Verbindung zwischen Raum <strong>und</strong> <strong>Körper</strong><br />

benennt auch Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt a. M. (2001)<br />

92017, 153<strong>–</strong>157, ohne dies aber anthropologisch auf ein Ineinandergreifen<br />

körperlicher <strong>und</strong> geistiger Sphäre zu beziehen.<br />

31 Vgl. Thomas Wabel/Florian Höhne/Torben Stamer (Hrsg.), Öffentliche<br />

Theologie zwischen Klang <strong>und</strong> Sprache, Leipzig 2017; Thomas<br />

Wa bel, Torben Stamer u. Jonathan Weider, Zwischen Diskurs <strong>und</strong><br />

Affekt. Zur Rolle von Gefühlen <strong>und</strong> deren theologischer Kultivierung in<br />

gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, in: Thomas Wabel/Torben<br />

25


Einleitung<br />

<strong>und</strong> zugleich intersubjektiv zugänglich zu machen, wird danach<br />

zu fragen sein, welchen Beitrag zur intersubjektiven<br />

Verständigung nichtdiskursive Gestaltungsformen von <strong>protestantische</strong>r<br />

Religion in Gestalt sozialer, personaler, medialer<br />

<strong>und</strong> kultischer <strong>Verkörperung</strong> leisten können. Wenn es ferner<br />

theologisch häufig heißt, in einer bestimmten Gestaltungsform<br />

würde sich die <strong>Kirche</strong> Jesu Christi zeigen bzw.<br />

verkörpern, so sind damit auch medien-, symbol- oder kulturtheoretisch<br />

beschreibbare Kategorien angesprochen. Deren<br />

theologische Bearbeitung unter Leitbegriffen wie »Leib<br />

Christi«, »Gottesvolk« oder »Gemeinschaft der Glaubenden«<br />

erfolgt allerdings davon abgekoppelt häufig unverb<strong>und</strong>en im<br />

Binnenbereich theologischer Begriffssprache. Wird dagegen <strong>–</strong><br />

wie hier vorgeschlagen <strong>–</strong> die mit dem Begriff der <strong>Verkörperung</strong><br />

implizierte Rückwirkung dieser Kategorien auf leiblich<br />

vermitteltes (Selbst-, Raum- oder Gemeinschafts-)Erleben<br />

einbezogen, so könnte die christologische Vermittlung der<br />

<strong>Ekklesiologie</strong> über die Figur der Inkarnation auch Relevanz<br />

für die religiöse Erfahrung gewinnen.<br />

Ein gr<strong>und</strong>legendes Ziel des Projektes ist es daher, die Rede<br />

von der <strong>Kirche</strong> als »Leib Christi« auf verkörperungstheoretische<br />

Diskurse der Gegenwart zu beziehen. In welchem Maß<br />

dies rechenschaftsfähig gelingen könnte, soll dieser Band zu<br />

klären <strong>und</strong> sondieren helfen. Im konstruktivsten Fall könnte<br />

dies zu einer Neuperspektivierung der <strong>Ekklesiologie</strong> führen.<br />

Dann würde nach dem oben Skizzierten das Verständnis der<br />

»<strong>Kirche</strong> als <strong>Körper</strong>« naheliegen. Die <strong>Kirche</strong> würde als symbolische<br />

<strong>Verkörperung</strong> von Geist <strong>und</strong> der menschliche <strong>Körper</strong><br />

wiederum als religiös sensibles <strong>und</strong> kirchentheoretisch un-<br />

Stamer/Jonathan Weider (Hrsg.), Zwischen Diskurs <strong>und</strong> Affekt. Politische<br />

Urteilsbildung in theologischer Perspektive, Leipzig 2018, 9<strong>–</strong>39.<br />

26


Einleitung<br />

umgängliches Sensorium erscheinen. Umgekehrt könnte<br />

diese religionstheoretische <strong>und</strong> kirchentheoretische Zuspitzung<br />

dazu führen, Aspekte des <strong>Verkörperung</strong>skonzeptes auszuleuchten<br />

oder gegebenenfalls sogar zu entdecken, die bisher<br />

noch nicht oder so noch nicht wahrgenommen worden<br />

sind. Ob <strong>und</strong>, wenn ja, wie das erste Früchte getragen hat, vermag<br />

ein Überblick über die Anliegen <strong>und</strong> das Vorgehen der<br />

einzelnen Beiträge zu zeigen.<br />

2. Überblick über Anliegen <strong>und</strong> Vorgehen<br />

der Beiträge<br />

In unterschiedlichen disziplinären Perspektiven aus Philosophie,<br />

alttestamentlicher <strong>und</strong> neutestamentlicher Exegese,<br />

<strong>Kirche</strong>ngeschichte, Systematischer <strong>und</strong> Praktischer Theologie<br />

beziehen die Beiträge das kognitionswissenschaftliche Paradigma<br />

der <strong>Verkörperung</strong> auf Fragestellungen <strong>protestantische</strong>r<br />

<strong>Ekklesiologie</strong>. Leitende Voraussetzung ist dabei der Gedanke,<br />

dass <strong>Kirche</strong> als institutionell sichtbare Größe wie als<br />

religiöse Wirklichkeit nicht ohne den Horizont ihrer sozialen,<br />

personalen, medialen <strong>und</strong> kultischen <strong>Verkörperung</strong> adäquat<br />

zu denken ist. In diesen <strong>Verkörperung</strong>sformen ist sie nicht<br />

lediglich Ausdruck religiösen Selbst-, Raum- oder Gemeinschaftserlebens,<br />

sondern prägt diese Dimensionen religiöser<br />

Erfahrung. Der erste Teil (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong> Religion beschäftigt<br />

sich mit Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> Grenzen des <strong>Verkörperung</strong>skonzeptes,<br />

der zweite Teil widmet sich dem Aspekt<br />

von (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong> Gemeinschaft, der dritte Teil<br />

fragt nach dem Verhältnis von (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong> Raum,<br />

nimmt also Aspekte der gesteigerten Aufmerksamkeit für die<br />

räumliche Seite der geschichtlichen Welt auf (Spatial Turn)<br />

27


Einleitung<br />

<strong>und</strong> verbindet sie mit dem Embodiment-Konzept, der vierte<br />

Teil schließlich thematisiert (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong> Praxis. So<br />

beginnt der verkörperungstheoretische Blick auf die <strong>protestantische</strong><br />

<strong>Ekklesiologie</strong> bei der Außenperspektive, wird dann<br />

intern reflektiert <strong>und</strong> schließlich an die Genese <strong>und</strong> Praxis<br />

evangelischer Religion zurückgeb<strong>und</strong>en.<br />

Den ersten Teil (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong> Religion eröffnet<br />

Anton Friedrich Koch mit seinem Beitrag Subjekt <strong>und</strong> <strong>Verkörperung</strong>,<br />

in dem er eine Subjektivitätsthese doppelten Inhalts<br />

beweisen will. Der zufolge gehöre innerweltliche, verkörperte<br />

Subjektivität mit logischer Notwendigkeit zum Universum,<br />

was sich als anstößig für den philosophischen Naturalismus<br />

zeigt, <strong>und</strong> Subjektivität sei notwendig leiblich, was dem Theismus<br />

fragwürdig erscheint. Überraschende Schlusspointe Kochs<br />

ist, freilich unter der Prämisse einer noch auszuarbeitenden<br />

Lehre von den drei göttlichen Personen <strong>und</strong> der Inkarnation<br />

des Sohnes, dass der Schöpfungsmonotheismus, der dann<br />

nicht mehr zeittheoretisch verstanden werden dürfe, logisch<br />

akzeptabel werden könnte <strong>und</strong> notwendig inkarnatorisch gedacht<br />

werden müsste, sofern die Leiblichkeit als Schöpfungs-<br />

Parameter zwingend zu diesem Gottesbegriff gehören würde.<br />

Schließlich gebiete eine moralische Teleologie, den Verfolgten<br />

<strong>und</strong> Ermordeten durch Annahme eines Gottesbegriffs<br />

eschatologisch Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wenn<br />

nicht alles in Zynismus enden soll.<br />

Jörg Dierken steigt in seinem Beitrag Hegel, Schleiermacher<br />

<strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong> mit einer Kritik am kognitionswissenschaftlichen<br />

Konzept der <strong>Verkörperung</strong> ein, das nun<br />

seinerseits im Verdacht stehe, die Verhältnisse einfach umzukehren,<br />

wenn es bereits vom Begriff her den Vorrang des <strong>Körper</strong>lichen<br />

<strong>und</strong> des <strong>Körper</strong>s gegenüber dem Geistigen <strong>und</strong> Vernünftigen<br />

betone <strong>und</strong> einen faktischen Primat des Prakti-<br />

28


Einleitung<br />

schen über das Theoretische postuliere. Es stelle sich die<br />

gr<strong>und</strong>legende Frage, ob <strong>und</strong> wie dem <strong>Verkörperung</strong>s-Diskurs<br />

eine Negationsdialektik inhärent sei, um nicht etwas Partikulares,<br />

Nichtabsolutes wie die <strong>Kirche</strong> oder ihre Adiaphora<br />

mit dem Ganzen, Absoluten zu identifizieren. Protestantischekklesiologische<br />

Regelbildung grenzt Dierken ab gegenüber<br />

einem »gleichsam höheren Realismus« der <strong>Kirche</strong> als inkarnationstheologische<br />

<strong>Verkörperung</strong> Gottes in römisch-katholischer<br />

<strong>Ekklesiologie</strong> <strong>und</strong> andererseits zum flüchtigen Wirken<br />

des Geistes, wie er für spiritualistische <strong>und</strong> pentecostale<br />

<strong>Kirche</strong>nkonzepte zentral ist. Damit sei pointiert, dass auch<br />

für die <strong>protestantische</strong> <strong>Ekklesiologie</strong> der Geist verkörpert sein<br />

will, aber eben symbolisch <strong>und</strong> nicht somatisch, sonst werde<br />

der Geist zum Gespenst. Diese Grenzziehungen bilden den<br />

Hintergr<strong>und</strong> für die Rekonstruktion der <strong>Ekklesiologie</strong>n von<br />

Hegel <strong>und</strong> Schleiermacher (Gott, Geist <strong>und</strong> Gemeinde), um<br />

festzustellen, dass auch für sie eine nicht vom Materiellen abgelöste<br />

Geistigkeit <strong>und</strong> das Motiv der Kontextualität essentiell<br />

sind, <strong>und</strong> beiden Ansätzen, anders als dem <strong>Verkörperung</strong>s-Diskurs,<br />

gesteigerte Reflexionsfähigkeit eignet, um<br />

grenzbegriffliche Orientierungskraft für Normativität zur<br />

Verfügung zu stellen.<br />

Mit Hilfe eines verkörperungs- <strong>und</strong> artikulationstheoretischen<br />

Modells, das sich an den philosophischen Zugängen<br />

insbesondere von John Dewey <strong>und</strong> Charles Sanders Peirce orientiert,<br />

entwickelt Matthias Jung in seinem Beitrag Artikulation,<br />

Bewusstsein <strong>und</strong> Religion ein Verständnis von Religionen<br />

<strong>und</strong> Weltanschauungen als Artikulationsgestalten, die<br />

eine kognitive Deutung des eigenen Weltverhältnisses, eine<br />

volitionale Vorstellung des guten Lebens <strong>und</strong> eine affektive<br />

Gr<strong>und</strong>stimmung zueinander ins Verhältnis setzen. Entscheidend<br />

ist hier, dass Religionen keineswegs vornehmlich von<br />

29


Einleitung<br />

ihren kognitiven Gehalten her zu verstehen sind, sondern<br />

diese stets die Rückbindung an leiblich gespürte Qualitäten<br />

<strong>und</strong> soziale Interaktionserfahrungen beinhalten. Daraus ergibt<br />

sich der stets partikulare Charakter von Religionen <strong>und</strong><br />

eo ipso die Pluralität von Religionen <strong>und</strong> Weltanschauungen.<br />

Die Suche nach Übereinstimmung zwischen unterschiedlichen<br />

Traditionen, so spitzt Jung seine Überlegungen zu, kann<br />

in dem Maße gelingen, in dem diese jeweils für verkörperte Erfahrungen<br />

anderer Lebensdeutungen anschlussfähig werden.<br />

Magnus Schlette sucht mit seinem religionstheoretischen<br />

Beitrag Die <strong>Verkörperung</strong> des Absoluten. Religion als<br />

Medium der Sakralisierung, Ritualisierung <strong>und</strong> Liminalisierung<br />

menschlicher Praxis-Raumzeitlichkeit Elemente der<br />

Rede von der <strong>Kirche</strong> als »Leib Christi« auf verkörperungstheoretische<br />

Diskurse der Gegenwart zu beziehen. Auf anthropologischen<br />

<strong>und</strong> biologischen Gr<strong>und</strong>lagen entwickelt er sein<br />

Modell zum Verständnis von Transzendenz. Stufenlogisch<br />

lassen sich ihm zufolge die Begriffe somatischer, semiotischer<br />

<strong>und</strong> absoluter Transzendenz voneinander unterscheiden.<br />

Während erstere das bezeichnet, was sich jenseits der Merk<strong>und</strong><br />

Wirkwelt eines Organismus befindet <strong>und</strong> damit die Tierwelt<br />

ausdrücklich einschließt, ist semiotische Transzendenz<br />

Kennzeichen des Menschen als eines symbolverwendenden<br />

Lebewesens. Dieser Begriff schließt die Relationalität von<br />

Transzendenz ebenso ein wie ein Bewusstsein von der eigenen<br />

Transzendenzbezogenheit <strong>und</strong> die Ambivalenz von Beschränkungserfahrung<br />

<strong>und</strong> Übersteigung. Absolute Transzendenz<br />

schließlich ist ein Phänomen der Metareflexion. Sie<br />

richtet sich auf ein ganz Anderes <strong>und</strong> provoziert eine philosophisch<br />

beschreibbare oder religiös codierte Haltung des<br />

detachment, des renouncement oder der theoria. Über Prozesse<br />

kultureller <strong>Verkörperung</strong> unter den Aspekten der Sakralisie-<br />

30


Einleitung<br />

rung, der Ritualisierung <strong>und</strong> der Liminalisierung lässt sich<br />

dieser Transzendenzbezug in den kollektiv geteilten Erfahrungshorizont<br />

(z. B. religiöser Gemeinschaften) überführen.<br />

Für Maike Schult bietet das Konzept der <strong>Verkörperung</strong><br />

die Chance, den <strong>Körper</strong> als Entstehungsort von Theologie zu<br />

würdigen, Verbindungslinien zwischen Entwurf <strong>und</strong> Erfahrung<br />

aufzuzeigen <strong>und</strong> der Frage nachzugehen, wie sich die<br />

›verkörperten Theologien‹ Einzelner zur Gemeinschaft im<br />

Ganzen verhalten. Dieser Frage geht sie in ihrem Beitrag Tod,<br />

Trauma <strong>und</strong> Behinderung: Anfragen an eine Theologie der<br />

Unversehrten nach <strong>und</strong> vernetzt den <strong>Verkörperung</strong>sdiskurs<br />

mit drei Phänomenbereichen, die auf je eigene Weise das Herausfallen<br />

des <strong>Körper</strong>s aus der Gemeinschaft thematisieren<br />

<strong>und</strong> ihn ihr doch zur Aufgabe machen: Erstens fragt sie nach<br />

dem Umgang der Lebenden mit dem toten <strong>Körper</strong>, zweitens<br />

nach dem Umgang mit dem traumatisierten, versehrten <strong>Körper</strong><br />

<strong>und</strong> zeigt drittens am Beispiel von Nancy Eiesland, wie<br />

Menschen mit Behinderung ihre Behinderung zum Ausgangspunkt<br />

ihres theologischen Denkens gemacht <strong>und</strong> damit<br />

kritische Anfragen an die Mehrheitstheologie gestellt haben.<br />

Alle drei Bereiche machen den <strong>Körper</strong> zum konkreten Bezugspunkt,<br />

lösen ihn aus der Tabuzone heraus <strong>und</strong> muten es<br />

der theologischen Gemeinschaft zu, sich mit ihm zu befassen.<br />

Sie stellen damit auch Anfragen an die Art, wie theologisches<br />

Denken zustande kommt, welche Denkfiguren sich durchsetzen<br />

<strong>und</strong> welche nicht.<br />

Zu Anfang des zweiten Teils (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong> Gemeinschaft<br />

erk<strong>und</strong>et in kritischer Abgrenzung von der These<br />

der Leibfeindlichkeit paulinischer Theologie Ruben Zimmermann<br />

in seinem Beitrag <strong>Körper</strong>ekklesiologie <strong>und</strong> <strong>Körper</strong>ethik<br />

bei Paulus. Der Christusleib bei Paulus in 1Kor 12 als Leitmetapher<br />

die Leib-Metapher als gr<strong>und</strong>legendes Konzept bei Pau-<br />

31


Einleitung<br />

lus, das Mensch, Menschheit, Christus, Gemeinde <strong>und</strong> Kosmos<br />

umgreift. Indem Paulus die Metapher mit einer radikalen<br />

Inkarnationschristologie verbindet, gelangt er zu einer<br />

<strong>Körper</strong>ekklesiologie, deren Konsequenzen sich auf die Bereiche<br />

sozialer Gleichwertigkeit <strong>und</strong> des Verhältnisses von Individuum<br />

<strong>und</strong> Kollektiv ebenso erstrecken wie auf die Lebensführung<br />

des Einzelnen <strong>und</strong> die sich in Riten der »Einverleibung«<br />

erneuert.<br />

Johannes Weth verortet eine Gr<strong>und</strong>frage <strong>protestantische</strong>r<br />

<strong>Ekklesiologie</strong> im Horizont einer Theorie sozialer <strong>und</strong> kultureller<br />

<strong>Verkörperung</strong> <strong>und</strong> fragt: Wessen Leib ist die <strong>Kirche</strong>?<br />

Das <strong>Verkörperung</strong>sparadigma als Klärungshilfe für die <strong>protestantische</strong><br />

<strong>Ekklesiologie</strong> <strong>–</strong> eine Spurensuche bei Wolfhart<br />

Pannenberg <strong>und</strong> Jürgen Moltmann. Er versteht die christlichen<br />

<strong>Kirche</strong>n in ihrer Vielfalt konfessioneller <strong>und</strong> kultureller<br />

Profile als <strong>Verkörperung</strong>en je unterschiedlichen kulturellen<br />

Bewusstseins <strong>und</strong> fragt danach, wie sich ekklesiologisch fassbare<br />

»<strong>Verkörperung</strong>en gemeinsam erfahrenen Sinnes« auf<br />

den Leib Christi beziehen lassen, der die <strong>Kirche</strong> zu sein beansprucht.<br />

Im Durchgang durch die ekklesiologischen <strong>und</strong><br />

pneumatologischen Konzeptionen Wolfhart Pannenbergs <strong>und</strong><br />

Jürgen Moltmanns zielen Weths Überlegungen auf die Frage,<br />

»welches Bewusstsein in [der <strong>Kirche</strong>] in besonderer Weise<br />

zur <strong>Verkörperung</strong> kommt, zugespitzt, wessen Leib sie ist«.<br />

Ausgehend von der gegenläufigen Beobachtung, dass in<br />

soziologischer Beschreibung mit der Moderne sowohl <strong>Körper</strong>verdrängung<br />

als auch <strong>Körper</strong>aufwertung verb<strong>und</strong>en worden<br />

sind, stellt Isolde Karle fest, dass seit der ästhetischen<br />

Wende in der Praktische Theologie die körperliche Dimension<br />

religiöser Vollzüge auch im auf das Wort fixierten Protestantismus<br />

entdeckt wurde, was auch mit dem Selbstverständnis<br />

der <strong>Kirche</strong> als interaktiver Sozial- <strong>und</strong> Kommunika-<br />

32


Einleitung<br />

tionsgestalt zu tun habe. Karles Beitrag <strong>Kirche</strong> als <strong>Verkörperung</strong><br />

Christi? Die leibbezogene Evangeliumskommunikation<br />

im Gottesdienst <strong>und</strong> ihre ekklesiologischen Implikationen<br />

stellt die besondere Qualität der leiblichen Kommunikation<br />

unter konkret anwesenden Menschen heraus. Die digitale<br />

Vermittlung von Leibhaftigkeit ist zwar eingeschränkt für<br />

die Predigt möglich, die auch über den R<strong>und</strong>funk oder andere<br />

Formate vermittelt werden könne, nicht aber für die Seelsorge<br />

<strong>und</strong> schon gar nicht für die Feier des Abendmahls. Realpräsenz<br />

sei hier unabdingbar. So sei der »Leib Christi«, mit<br />

Dietrich Bonhoeffer, kein Ideal, sondern eine konkrete Gemeinschaft<br />

von konkret Anwesenden. Eine körperlose Zusammenkunft<br />

der Gemeinde sei schon aufgr<strong>und</strong> des Eingangs<br />

Christi in das natürliche Leben nicht möglich. Das<br />

werde durch ein Spektrum liturgisch-leiblicher Formen, die<br />

die auf Kognition <strong>und</strong> Bewusstsein ausgerichtete Predigt<br />

sinnlich <strong>und</strong> durch leibliches Beteiligtsein ergänzen, ausgedrückt.<br />

Im Blick auf Salbungsgottesdienste warnt Karle vor<br />

falschen Erwartungen an sogenannte »Heilungsgottesdienste«<br />

<strong>und</strong> sieht in der körperbasierten Kommunikation des Salbungsrituals<br />

eine tiefe Adressierung, die von vielen Menschen<br />

durchaus als heilsam empf<strong>und</strong>en werde. Mit einem Plädoyer<br />

für eine Ausweitung der Leiblichkeit der Evangeliumskommunikation<br />

<strong>und</strong> der leibbezogenen Praxis, die den Neid der<br />

leiblosen Engel auf sich ziehe, <strong>und</strong> einer Spitze gegen eine reduktionistische<br />

neu<strong>protestantische</strong> Innerlichkeitsreligiosität<br />

schließen ihre Ausführungen.<br />

Die beiden den zweiten Teil beschließenden Beiträge erweitern<br />

die Perspektive <strong>und</strong> ziehen produktive Kontrastfolien<br />

durch philosophische <strong>und</strong> sozialphilosophische Theoriemodelle<br />

ein. André Flimm nutzt in seinem Beitrag Der<br />

<strong>Körper</strong> als Ausdruck Gottes. Ekklesiologische Implikationen<br />

33


Einleitung<br />

einer spinozanischen Denkfigur das große Anregungspotential<br />

des jüdischen Philosophen Baruch de Spinoza für eine Änderung<br />

der Blickrichtung von der <strong>Kirche</strong> als <strong>Körper</strong> hin zu<br />

den <strong>Körper</strong>n in der <strong>Kirche</strong>, vom <strong>Körper</strong> als Kriterium von Differenz<br />

zum <strong>Körper</strong> als Sinnbild von Verb<strong>und</strong>enheit. Mit Spinozas<br />

Einsichten <strong>–</strong> Gott als Gr<strong>und</strong> von Mensch <strong>und</strong> Welt zu<br />

denken, Gott nicht in menschlichen Ausdrucksformen aufgehen<br />

zu lassen <strong>und</strong> jeden Menschen als <strong>Körper</strong> als einen<br />

Ausdruck Gottes zu verstehen <strong>–</strong> ist für ein Flimm ein befreiendes<br />

Potential verb<strong>und</strong>en, das bei aller Kontingenz, Begrenzung<br />

<strong>und</strong> Einschränkung des je eigenen Lebens die Gottesunmittelbarkeit<br />

eines jeden einzelnen Menschen durch sein<br />

Sein als <strong>Körper</strong> unterstreichen <strong>und</strong> zugleich kirchliche Ideal<strong>und</strong><br />

Normalitätsvorstellungen gr<strong>und</strong>sätzlich zurückweisen<br />

kann.<br />

André Munzinger lenkt unter der Leitfrage Klugheit kommunikativer<br />

<strong>Körper</strong>? den Blick auf das Paradigma der <strong>Verkörperung</strong><br />

in den Werken von Jürgen Habermas <strong>und</strong> Eilert Herms<br />

<strong>und</strong> stellt im Gespräch mit Einsichten aus ihren Sozialphilosophien<br />

<strong>und</strong> ihren unterschiedlichen Akzentsetzungen <strong>–</strong> kommunikative<br />

Vernunft <strong>und</strong> Bewegkraft religiöser Bildungsprozesse<br />

<strong>–</strong> heraus, dass die Klugheit des <strong>Körper</strong>s wahrzunehmen<br />

heißt, Lernprozesse in ihrer <strong>Verkörperung</strong> zu verorten. In Konzentration<br />

auf die Fragen, wie der Diskurs der <strong>Verkörperung</strong><br />

auf eine normative Sozialphilosophie zu übertragen sei, wie der<br />

Übergang zwischen Geist <strong>und</strong> <strong>Körper</strong>, Kultur <strong>und</strong> Natur aussieht<br />

<strong>und</strong> für welche Funktion die <strong>Kirche</strong> jenseits einer Dienstleistungsfunktion<br />

für ethische Bildung steht, wenn die Gesellschaft<br />

als <strong>Körper</strong> betrachtet wird, sieht Munzinger nur dann<br />

den Anfang einer neuen Sensibilität für die <strong>Körper</strong>lichkeit<br />

von Kommunikations- <strong>und</strong> Bildungsprozessen in der <strong>Kirche</strong>,<br />

wenn sie das Symbol des Leibes Christi als substantialen <strong>und</strong><br />

34


Einleitung<br />

funktionalen Raum für die kommunikative Reflexivität des<br />

<strong>Körper</strong>s versteht. Wenn der <strong>Körper</strong> mitlernt, ist auch Religiosität<br />

leiblich bestimmt, ja die gesamten kulturellen Leistungen<br />

sind im Zusammenhang mit dem Naturgefüge zu<br />

beachten. Und das seien nur erste Schritte zu einem neuen,<br />

integrativen Verständnis des Menschen in der Welt.<br />

Den Auftakt zum dritten Teil (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong><br />

Raum bildet Alexandra Gr<strong>und</strong>-Wittenberg, die in ihrem Beitrag<br />

»Wann werde ich hineingehen <strong>und</strong> Gottes Angesicht<br />

sehen?« (Ps 42,3). Alttestamentliche Raumkonzeptionen im<br />

Horizont der aktuellen <strong>Verkörperung</strong>sdiskussion Einblicke in<br />

erste Rezeptionen des Spatial Turn in der alttestamentlichen<br />

Forschungslandschaft gibt. Themenschwerpunkten sind die<br />

Symbolik des Zentrums, die Vorstellung von der Welt als Lebens-<br />

<strong>und</strong> Segensraum <strong>und</strong> die existentielle Sehnsucht nach<br />

einem besonderen Ort der Gotteserfahrung. Der Blick auf die<br />

Diskussion um das Menschenbild ruft in Erinnerung, dass<br />

die alttestamentliche Anthropologie der Embodiment-Debatte<br />

weit voraus war. Mit Hans Walter Wolffs Anthropologie<br />

des Alten Testaments (1973) wurde bereits vor fast einem<br />

halben Jahrh<strong>und</strong>ert die Debatte zur Überwindung der Dichotomie<br />

von <strong>Körper</strong> <strong>und</strong> Geist bzw. der Trichotomie von<br />

<strong>Körper</strong>, Geist <strong>und</strong> Seele angestoßen <strong>und</strong> mit dem Konzept<br />

vom »ganzen Menschen« ein spezifischer Beitrag in den gegenwärtigen<br />

Diskurs eingespeist. Mit einer exemplarischen<br />

Auslegung von Psalm 42<strong>–</strong>43 als komplexes Selbstgespräch illustriert<br />

Gr<strong>und</strong>-Wittenberg abschließend die Raum-Bezogenheit<br />

der erhofften Gotteserfahrung.<br />

Im Rückgriff auf verkörperungstheoretische, leibphänomenologische<br />

<strong>und</strong> architekturphilosophische Ansätze fragt<br />

Thomas Wabel in seinem Beitrag Raum <strong>und</strong> Richtung. Wechselwirkungen<br />

von <strong>Kirche</strong> <strong>und</strong> <strong>Körper</strong> in der Erfahrung des Kir-<br />

35


Einleitung<br />

chenraums <strong>und</strong> bei Martin Luther nach dem Zusammenwirken<br />

räumlicher, leiblicher <strong>und</strong> geistlicher Ausrichtung in der<br />

Erfahrung von <strong>Kirche</strong>nräumen. Anhand leibbezogener Metaphern<br />

des »sich Ausrichtens« in Predigten <strong>und</strong> einem der frühen<br />

Sermone Martin Luthers zeichnet er nach, wie im Weg<br />

durch das <strong>Kirche</strong>ngebäude, in der eschatologischen Perspektivierung<br />

entlang der Gebäudeachsen <strong>und</strong> in der Ausrichtung<br />

des Blicks leibliche Ausrichtung <strong>und</strong> geistliche Orientierung<br />

korrespondieren können <strong>und</strong> so ein Überschreiten des Raumes<br />

erfahrbar machen.<br />

Anhand zweier Schriften von Johann Joachim Spalding<br />

<strong>und</strong> Johann August Nösselt erörtert Malte van Spankeren in<br />

Der aufgeklärte <strong>Kirche</strong>nraum. Pastoraltheologische <strong>und</strong> architektonische<br />

Impulse der Aufklärungszeit zentrale Aspekte<br />

von Pfarrerbild, Verständnis des Gottesdienstes <strong>und</strong> Funktion<br />

des <strong>Kirche</strong>nbaus in der Aufklärungstheologie. Während<br />

die gesellschaftliche Rolle des Pfarrers als die eines Ratgebers<br />

<strong>und</strong> Volksaufklärers erscheint, hat die Liturgie vor allem die<br />

Aufgabe, den unterweisenden Charakters des Gottesdienstes<br />

in der Anregung von Empfindung <strong>und</strong> Verstand zu unterstützen.<br />

Beidem entspricht die Gestaltung neu erbauter <strong>Kirche</strong>n,<br />

die als einladende, helle Saalbauten dem Wortursprung<br />

des Begriffs »Aufklärung« Ausdruck verleihen.<br />

Ausgehend von der These, dass der menschliche <strong>Körper</strong><br />

im <strong>protestantische</strong>n <strong>Kirche</strong>nbau operativ zentral, aber thematisch<br />

unauffällig ist, entfaltet Thomas <strong>Erne</strong> in seinem Beitrag<br />

<strong>Kirche</strong>nbau der Moderne als <strong>Verkörperung</strong> von <strong>Kirche</strong><br />

die Konsequenzen der Diskretheit verkörperter Subjekte in<br />

der modernen Sakralarchitektur, wozu er Antwortmöglichkeiten<br />

auf die offenen Fragen des liturgischen Formalismus<br />

Cornelius Gurlitts mittels eines relationalen Raumbegriffs<br />

(Spacing <strong>und</strong> deutende Synthese) im Anschluss an Martina<br />

36


Einleitung<br />

Löw durchspielt. Die Kontrastierung mit der handlungstheoretischen<br />

Raumtheorie, die den <strong>Körper</strong> <strong>–</strong> als Gattung wird<br />

ihm eine materiell-symbolische Doppelnatur eingeschrieben<br />

<strong>–</strong> als operativ zentral <strong>und</strong> thematisch auffällig versteht,<br />

erweise sich auch theologisch als fruchtbar, wenn das anthropologische<br />

Defizit in Löws Theorie ausgeräumt wird. Auf<br />

diese Weise wäre der <strong>Kirche</strong>nbau ein ausgezeichneter Ort<br />

menschlicher <strong>Verkörperung</strong>en, der Anlass <strong>und</strong> Anhalt böte,<br />

sich als verkörpertes Subjekt räumlich zu positionieren. Welche<br />

Rolle dabei Atmosphären <strong>und</strong> Stimmungen leibphänomenologisch<br />

(Hermann Schmitz) spielen, zeigt <strong>Erne</strong> im Anschluss<br />

an John Dewey <strong>und</strong> Le Corbusier, wenn <strong>Kirche</strong>n als<br />

verkörperte Gefühle verstanden werden.<br />

Der Beitrag <strong>Kirche</strong> als corpus permixtum. Ikonische <strong>Verkörperung</strong>en<br />

einer negationsdialektischen Denkfigur von<br />

Philipp <strong>David</strong> nimmt die gr<strong>und</strong>sätzliche phänomenale Vermischtheit<br />

der leiblichen Versammlung <strong>Kirche</strong> in <strong>und</strong> als<br />

Teil der Gesellschaft zum Anlass (Mt 5,45), nach Kunstwerken<br />

im Raum <strong>und</strong> Vorraum von <strong>Kirche</strong>ngebäuden zu fahnden,<br />

die Ambivalenz, Fragilität <strong>und</strong> Verw<strong>und</strong>barkeit menschlicher<br />

Ordnungsgefüge in der Welt vor Augen führen, die die<br />

Glaubenden als simul iustus et peccator <strong>und</strong> die Glaubensgemeinschaft<br />

als vermischten Leib unter irdischen Bedingungen<br />

bleibend herausfordern. Mit den Kunstwerken von Bertel<br />

Thorvaldsens Kristus-Statue im Altarraum der Kopenhagener<br />

Vor Frue Kirke, mit Ernst Barlachs Plastik Geistkämpfer<br />

(ursprünglich) vor der Kieler Heiligengeistkirche <strong>und</strong> mit<br />

Sigmar Polkes Menschensohn-Fenster im Zürcher Großmünster<br />

werden anthropologische wie ekklesiologische negationsdialektische<br />

Gr<strong>und</strong>spannungen, in denen sich die<br />

Eigentümlichkeit <strong>und</strong> (Selbst-)Gefährdungen der <strong>Kirche</strong> zeigen,<br />

visualisiert: Die <strong>Kirche</strong> ist zugleich sichtbar <strong>und</strong> un sicht-<br />

37


Einleitung<br />

bar, heilig <strong>und</strong> weltlich, einig <strong>und</strong> vielgestaltig, dauerhaft<br />

<strong>und</strong> werdend, voll des göttlichen Geistes <strong>und</strong> unter dem Gericht<br />

<strong>und</strong> beständig <strong>–</strong> vorläufig <strong>und</strong> zeichenhaft <strong>–</strong> Geschöpf<br />

des Wortes <strong>und</strong> geistgewirkte Geselligkeit, auf Jesus Christus<br />

<strong>und</strong> das Reich Gottes verwiesen. Damit bewegt sich der Beitrag<br />

auf der Grenze der Sektionen von (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong><br />

Gemeinschaft <strong>und</strong> (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong> Raum <strong>und</strong> leitet<br />

über zum letzten Teil.<br />

Der vierte <strong>und</strong> abschließende Teil (Ver-)<strong>Körper</strong>(ung) <strong>und</strong><br />

Praxis stellt praxeologische Aspekte des <strong>Verkörperung</strong>sparadigmas<br />

in den Mittelpunkt der Analysen. Katharina Eberlein-Braun<br />

entwickelt in Von <strong>Verkörperung</strong> zu <strong>Verkörperung</strong>.<br />

Zur ethischen Dimension körperlicher Vollzüge in religiösem<br />

Kontext einen Ansatz, um körperbezogene Haltungen <strong>und</strong><br />

Gestaltungspraktiken als ethisch relevant wahrzunehmen.<br />

In Anlehnung an Charles Taylors Überlegungen zur Transformation<br />

starker Wertungen versteht sie Religion als einen<br />

Prozess, in dem es zu »Verwandlungen von <strong>Verkörperung</strong>en«<br />

kommen kann, d. h. der Umwertung von <strong>Körper</strong>haltungen<br />

<strong>und</strong> Gesten, wie sie für die Ausübung von Religionen kennzeichnend,<br />

aber nicht allein spezifisch sind, etwa Knien oder<br />

Stehen. Auch karitative Praktiken erscheinen in einem solchen<br />

Zugang nicht einfach als Ableitungen aus religiösen Gehalten,<br />

sondern aus der Wahrnehmung eines <strong>Körper</strong>s als verwandlungsbedürftig.<br />

Für Marcus Held eröffnet das Denken von Gilles Deleuze<br />

<strong>und</strong> Felix Guattari eine Möglichkeit, den Topos der »<strong>Verkörperung</strong>«<br />

mit Denkansätzen aus der Theoriefamilie der Praxeologie<br />

zu verbinden. In seinem Beitrag Re- <strong>und</strong> Deterritorialisierung<br />

von sozialen Praktiken durch <strong>Körper</strong> <strong>und</strong> in <strong>Körper</strong>n<br />

zeigt er auf, dass die Rede von der Re- <strong>und</strong> Deterritorialisierung<br />

in praxistheoretischer Perspektive auf das Verkörpe-<br />

38


Einleitung<br />

rungsparadigma angewendet werden kann. So eröffne sich<br />

ein neues Feld der Beschreibung einer sozialontologischen<br />

Lesart von »<strong>Verkörperung</strong>«, die für ekklesiologische Überlegungen<br />

Anwendung finden <strong>und</strong> die alte Dichotomie von<br />

sichtbarer <strong>und</strong> nicht-sichtbarer <strong>Kirche</strong> ablösen könne.<br />

Das Autorenkollektiv Maximilian Bühler, Kristina Fiedler,<br />

Simon Jungnickel, Torben Stamer <strong>und</strong> Jonathan Weider<br />

entfaltet in seinem Beitrag Taufe als <strong>Verkörperung</strong>sgeschehen.<br />

Eine Case-Study-basierte interdisziplinäre Erk<strong>und</strong>ung<br />

auf Basis des Verständnisses der Taufe als Wortgeschehen <strong>und</strong><br />

der Erforschung von verkörperten Taufpraktiken mittels teilnehmender<br />

Beobachtung <strong>und</strong> dichter Beschreibung die<br />

These, dass die Taufe eine multimediales <strong>Verkörperung</strong>sgeschehen<br />

(Wort, Wasser, Licht, Kerze, Taufurk<strong>und</strong>e) sei, das<br />

dem Verständnis des Menschen als homo articulans et medialis<br />

entspricht. Die leibbezogenen Praktiken des Taufvollzugs<br />

sind nicht auf ihre semantische Bedeutung reduzierbar, weswegen<br />

der Stimmigkeit der Sequenzen im Taufvollzug besondere<br />

Bedeutung zukommt. Gleichwohl ist das Heilsmedium<br />

Taufe ein flüchtiges Ereignis. Der Beitrag schließt daher mit<br />

Erwägungen dazu, wie Supplementierungen durch Taufkerze<br />

oder Tauferinnerungen zur Anverwandlung des Sakraments<br />

beitragen können, ohne dass das Supplement an die<br />

Stelle des supplementierten Rituals tritt.<br />

3. Ertrag <strong>und</strong> Ausblick<br />

In aller Vorläufigkeit sei ein systematisierender Ertrag <strong>und</strong><br />

ein Ausblick auf weitere Desiderate im Forschungsfeld von<br />

<strong>Körper</strong> <strong>und</strong> <strong>Kirche</strong> angedeutet: Hinsichtlich der theoretischen<br />

Gr<strong>und</strong>legung erweisen sich Konzeptionen von <strong>Verkörperung</strong><br />

39


Einleitung<br />

als aussichtsreich, die eine Dimension geteilter geistiger Bedeutung<br />

stets begleitet denken von Phänomenen physischer,<br />

sozialer <strong>und</strong> medialer <strong>Verkörperung</strong> <strong>und</strong> umgekehrt, ohne<br />

dieses Wechselverhältnis auf einen der beiden Pole zu reduzieren.<br />

Eine Vorrangstellung der leibkörperlichen Dimension<br />

zu behaupten wäre ebenso vereinseitigend wie die ausschließliche<br />

Verortung des Christlich-Religiösen in Bewusstseinsprozessen.<br />

Ihre ekklesiologische Konkretisierung findet diese Einsicht<br />

darin, dass sichtbare <strong>und</strong> verborgene (oder, mit Zwingli:<br />

unsichtbare) <strong>Kirche</strong> 32 strikt aufeinander bezogen zu denken<br />

sind. Die stets mitgeführte Seite einer verborgenen Gemeinschaft<br />

dispensiert nicht etwa von den vielfältigen konfessionellen<br />

Gestalten des Christlichen, sondern bringt diese gerade<br />

zum Leuchten. Denn nur in dem je konfessionell gefärbten<br />

Bestand von Symbolen, Ritualen <strong>und</strong> anderen Formen<br />

der Glaubenspraxis, mithin im Zusammenspiel physischer,<br />

sozialer <strong>und</strong> medialer Formen der <strong>Verkörperung</strong>, tritt jene <strong>–</strong><br />

für <strong>protestantische</strong> <strong>Ekklesiologie</strong>n zentrale <strong>–</strong> Unterscheidung<br />

der <strong>Kirche</strong> von sich selbst zutage, in der sie ihre Identität<br />

nicht aus sich gewinnt, sondern dem gnädigen Urteil Gottes<br />

anheimstellt <strong>und</strong> auf die die Begriffsdifferenzierung zwischen<br />

»sichtbar« <strong>und</strong> »verborgen« zielt. 33<br />

Diese Selbstunterscheidung der <strong>Kirche</strong> gibt nun Anlass zu<br />

einer kritischen Weitung im Blick auf das Wechselverhältnis<br />

32 Ausführlich zu dieser Begriffsdifferenzierung bei den Reformatoren s.<br />

Ulrich Barth, Sichtbare <strong>und</strong> unsichtbare <strong>Kirche</strong>. Die Tragweite von<br />

Luthers ekklesiologischem Ansatz, in: Christian Danz/Jan-Heiner<br />

Tück (Hrsg.), Martin Luther im Widerstreit der Konfessionen. Historische<br />

<strong>und</strong> theologische Perspektiven, Freiburg/Basel/Wien 2017, 288<strong>–</strong>351, hier:<br />

298<strong>–</strong>317.<br />

33 Vgl. Moxter, Das Unsichtbare der Gemeinschaft (s. Anm. 19), 129 f.<br />

40


Einleitung<br />

von <strong>Körper</strong> <strong>und</strong> <strong>Kirche</strong>. Die <strong>protestantische</strong> Einsicht in die<br />

Vorläufigkeit je konkreter Verwirklichungsformen des Christlichen<br />

legt in der Tat nahe, in der »Aneignung <strong>und</strong> Weiterbildung<br />

der unterschiedlichen Facetten seiner vielfältigen<br />

Überlieferungsgeschichte« 34 eine Bewegung nicht nur der<br />

Pluralisierung, sondern auch der Entgrenzung zu sehen, die<br />

auch mit einem Christentum außerhalb der <strong>Kirche</strong> rechnet. 35<br />

Gerade im Blick auf die Vielfalt der Formen physischer, sozialer<br />

<strong>und</strong> medialer <strong>Verkörperung</strong> christlicher Religion nicht<br />

nur in Texten, sondern auch Bauten, Bildwerken, Musik, körperbezogenen<br />

Praktiken <strong>und</strong> Vergemeinschaftungsformen<br />

wäre es aber unterkomplex, eine solche »Kulturhermeneutik<br />

neuzeitlichen Christentums« 36 ausschließlich im Rahmen<br />

einer Christentumstheorie zu betreiben. 37 Die Wechselwirkungen<br />

zwischen spezifischen <strong>Verkörperung</strong>sformen je partikular<br />

verfasster Konfessionen <strong>und</strong> Religionen einerseits<br />

<strong>und</strong> ihrer gesellschaftlichen Reichweite über die Grenzen der<br />

eigenen Gemeinschaft hinaus andererseits zu erk<strong>und</strong>en, ist<br />

gewiss eine der reizvolleren Anschlussfragen, die die Integration<br />

des <strong>Verkörperung</strong>sparadigmas in das Nachdenken über<br />

die <strong>Kirche</strong> aufwirft.<br />

34 Barth, Sichtbare <strong>und</strong> unsichtbare <strong>Kirche</strong> (s. Anm. 32), 339.<br />

35 Trutz Rendtorff, Christentum außerhalb der <strong>Kirche</strong>. Konkretionen<br />

der Aufklärung, Hamburg 1969.<br />

36 Barth, Sichtbare <strong>und</strong> unsichtbare <strong>Kirche</strong> (s. Anm. 32), 336.<br />

37 Trutz Rendtorff, Theorie des Christentums. Historisch-theologische<br />

Studien zu seiner neuzeitlichen Verfassung, Gütersloh 1972. Das gilt auch<br />

<strong>und</strong> gerade auf die von Ulrich Barth im Anschluss an Rendtorff zu Recht<br />

herausgestellte »gesamtkulturelle Reichweite des Christentums« (Barth,<br />

Sichtbare <strong>und</strong> unsichtbare <strong>Kirche</strong> [s. Anm. 32], 335), ist diese doch abkünftig<br />

von je partikularen Formen der Vergemeinschaftung <strong>und</strong> <strong>Verkörperung</strong>.<br />

41


Anton Friedrich Koch<br />

Subjekt <strong>und</strong> <strong>Verkörperung</strong><br />

Begonnen sei mit einem Zitat aus einer Dissertation, die 2017<br />

von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität<br />

Münster angenommen wurde <strong>und</strong> Anfang dieses Jahres in<br />

Tübingen erschienen ist. Der Autor, Matthias Schleiff, bezieht<br />

sich in der Einleitung auf eine Entdeckung, die auch das<br />

Erstaunen von Physikern <strong>und</strong> Kosmologen geweckt hat:<br />

»Wir leben in einem Universum, in dem f<strong>und</strong>amentale kosmische<br />

Parameter außergewöhnlich präzise auf die Entwicklung von be -<br />

wusstseinsfähigen Wesen wie uns zugeschnitten zu sein scheinen.<br />

Hätten einige Naturkonstanten <strong>und</strong> die kosmischen Anfangsbedingungen<br />

nur geringfügig andere Werte angenommen, hätte dies die<br />

biologische Entwicklung von Leben unmöglich gemacht.« 1<br />

Leitend für Schleiffs anschließende Überlegungen ist die Idee,<br />

dass sich aus dieser Beobachtung, die in ihren Gr<strong>und</strong>zügen<br />

wissenschaftlich unstrittig ist, ein teleologisches Argument<br />

gewinnen lässt.<br />

Sofern mit dem teleologischen Argument eines für die<br />

Existenz Gottes gemeint ist, müsste man mit Kant zu beden-<br />

1 Matthias Schleiff, Schöpfung, Zufall oder viele Universen? Ein teleologisches<br />

Argument aus der Feinabstimmung der Naturkonstanten, Tübingen<br />

2019, 4.<br />

43


Anton Friedrich Koch<br />

ken geben, dass die »physische Teleologie« anders als die »moralische«<br />

allenfalls auf das »Dasein einer verständigen Weltursache«<br />

zu schließen erlaubt. 2 Als solche käme auch der<br />

Fürst dieser Welt oder eine Schar von Engeln <strong>und</strong> Dämonen<br />

oder eine andere mächtige <strong>und</strong> intelligente Instanz in Frage.<br />

Doch dies sei geschenkt, denn die physische Teleologie ist<br />

ganz gr<strong>und</strong>sätzlich zum Scheitern verurteilt, gleichviel wer<br />

oder was mit ihr bewiesen werden soll.<br />

Das Scheitern ist bereits an der unvollständigen Alternative<br />

abzulesen, die Matthias Schleiff als Buchtitel gewählt hat:<br />

»Schöpfung, Zufall oder viele Universen?« Die Notwendigkeit<br />

fehlt. Zwar lässt sich dazu eine Gegenrede denken: Der Punkt,<br />

auf den Schleiff abhebe, sei es doch gerade, dass die kosmischen<br />

Parameter ganz andere hätten sein können als die faktischen;<br />

sie seien mithin physikalisch zufällig. Könne die Philosophie<br />

denn mit Aussicht auf Erfolg der Physik ihrer Zeit<br />

widersprechen? Mit Aussicht auf Erfolg gewiss nicht; aber das<br />

braucht sie im vorliegenden Fall auch nicht. Denn es gibt andere<br />

Modalitäten neben den nomologischen oder physikalischen,<br />

so etwa mathematische, logische im engen formallogischen<br />

<strong>und</strong> logische im weiten philosophischen Sinn, ganz<br />

zu schweigen von den moralischen bzw. deontischen Modalitäten.<br />

Denken wir beispielsweise an die mathematisch notwendigen<br />

Wahrheiten. Viele von ihnen, namentlich die der<br />

Analysis, werden in den physikalischen Gr<strong>und</strong>gleichungen<br />

angewendet; andere aber, aus der höheren <strong>und</strong> reinen Mathematik,<br />

liegen brach in der Physik. Sie bekräftigt sie nicht <strong>und</strong><br />

widerspricht ihnen nicht, sondern verhält sich nicht eigens<br />

2 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Berlin 2 1793, § 87, 418 f. Schleiff<br />

reflektiert diese Problematik, Schleiff, Schöpfung (s. Anm. 1), 137 f. (Ab -<br />

schnitt 6.1.3).<br />

44


Subjekt <strong>und</strong> <strong>Verkörperung</strong><br />

zu ihnen. Die Äquivalenz des Auswahlaxioms, des Wohlordnungssatzes<br />

<strong>und</strong> des Zornschen Lemmas auf der Basis der üblichen<br />

mengentheoretischen Axiome könnte so ein Fall sein;<br />

wenn nicht, lassen andere sich finden.<br />

Falls nun die Philosophie zeigen kann, dass nur diejenigen<br />

Einstellungen der kosmischen Gr<strong>und</strong>parameter logisch<br />

möglich sind <strong>–</strong> immer noch unendlich viele verschiedene <strong>–</strong>,<br />

die nach Naturgesetzen intelligentes Leben hervorbringen, so<br />

wird damit keiner physikalischen Wahrheit widersprochen,<br />

sondern nur eine logische Modalität mobilisiert, die in der<br />

Physik brachliegt. Es wird ein logischer Filter für mögliche<br />

kosmische Gr<strong>und</strong>parameter vorgeschaltet, der nur die lebensfre<strong>und</strong>lichen<br />

passieren lässt. Da die Physik sich für diesen<br />

Filter nicht interessiert (anders als für den probabilistischen<br />

Filter, der den quantentheoretischen Zufall einhegt),<br />

lässt sich in ihr die Notwendigkeit intelligenten Lebens so<br />

wenig erkennen wie die Äquivalenz des Auswahlaxioms <strong>und</strong><br />

des Wohlordnungssatzes. Dass es sich tatsächlich so verhält <strong>–</strong><br />

dass verkörperte intelligente Subjektivität mit logischer Notwendigkeit<br />

irgendwann <strong>und</strong> irgendwo im Universum auftreten<br />

muss, soll im Folgenden gezeigt werden.<br />

Bestünde diese Notwendigkeit nicht, so hätte Schleiffs teleologisches<br />

Argument, das in seinen Gr<strong>und</strong>zügen natürlich<br />

schon früher vorkommt, 3 vielleicht etwas für sich. Entweder<br />

herrschte dann unbeschränkter Zufall bei der Auswahl der<br />

Gr<strong>und</strong>parameter <strong>und</strong> die Wahrscheinlichkeit für ein Universum<br />

mit intelligentem Leben ginge gegen null, womit der<br />

unbeschränkte Zufall als solcher schon ausschiede. Auf seinem<br />

Boden erhöben sich dann die beiden anderen Möglich-<br />

3 Vgl. etwa Friedrich Hermanni, Metaphysik. Versuche über letzte Fragen,<br />

Tübingen 2011, 67<strong>–</strong>89.<br />

45


Anton Friedrich Koch<br />

keiten: planvolle Schöpfung oder viele Universen. Gäbe es<br />

viele Universen, so würden einige mit passenden Gr<strong>und</strong>parametern<br />

dabei sein, zum Beispiel unseres; wie es jede Woche<br />

einige Lottogewinner gibt. Doch wenn unser Universum das<br />

einzige ist, müsste eine verständige Weltursache Einfluss auf<br />

die Einstellung der kosmischen Gr<strong>und</strong>parameter genommen<br />

haben, weil die Wahrscheinlichkeit, dass allein der Zufall die<br />

passenden hätte hervorbringen können, wie gesagt, gegen<br />

null geht. Sofern man daher die Viele-Welten-Annahme ausschalten<br />

kann, darf <strong>und</strong> muss man auf eine verständige Weltursache<br />

schließen, angesichts des Ausmaßes des natürlichen<br />

Übels <strong>und</strong> des moralischen Bösen in der Welt aber vielleicht<br />

eher auf den Teufel als auf den gütigen Gott.<br />

Was hat dieses teleologische Argument <strong>und</strong> was hat sein<br />

Scheitern mit dem Thema zu tun <strong>–</strong> dem Thema der Tagung:<br />

»<strong>Körper</strong> <strong>und</strong> <strong>Kirche</strong>«, <strong>und</strong> dem des Vortrags: »Subjekt <strong>und</strong> <strong>Verkörperung</strong>«?<br />

Nun, in diesem Vortrag soll eine Subjektivitätsthese<br />

doppelten Inhaltes bewiesen werden, die erstens besagt:<br />

Notwendigerweise tritt im Universum körperliche Subjektivität<br />

auf. Ein Universum, in dem nicht irgendwann <strong>und</strong> irgendwo<br />

intelligentes Leben entstünde, wäre logisch unmöglich.<br />

Etwas Notwendiges aber kann man weder beschließen<br />

noch verhindern (allenfalls etwas moralisch Notwendiges).<br />

Wir können weder beschließen noch verhindern, dass 2+2=4.<br />

So konnte auch nichts <strong>und</strong> niemand beschließen oder verhindern,<br />

dass die kosmischen Gr<strong>und</strong>parameter lebensfre<strong>und</strong>lich<br />

sind. Sie mussten mit Notwendigkeit lebensfre<strong>und</strong>lich ausfallen,<br />

die lebensfeindlichen konnten den vorgeschalteten logischen<br />

Filter nicht passieren, weil ein Universum mit Notwendigkeit<br />

leibliche Subjekte enthalten muss. Subjektivität,<br />

genauer gesagt: leibliche <strong>und</strong> innerweltliche Subjektivität, ist<br />

notwendig für die Welt.<br />

46


Subjekt <strong>und</strong> <strong>Verkörperung</strong><br />

Zweitens aber besagt die Subjektivitätsthese auch umgekehrt:<br />

Subjektivität ist notwendig leiblich. Es kann keine<br />

immaterielle oder außerweltliche Subjektivität geben. Diese<br />

zweite Teilbehauptung ist ein Stein des Anstoßes für den<br />

Theismus wie die erste für den philosophischen Naturalismus.<br />

»Die Welt muss Menschen enthalten« <strong>–</strong> da schüttelt der<br />

Naturalist den Kopf. »Alle denkenden Wesen sind Menschen« <strong>–</strong><br />

da ist es am Theisten, den Kopf zu schütteln.<br />

Menschen im relevanten Sinn müssten nicht Angehörige<br />

der biologischen Spezies homo sapien sein, es könnte leibliche<br />

Subjekte auch anderswo im Universum geben. Menschen<br />

im relevanten Sinn sind Angehörige der philosophischen Spezies<br />

ζῷον λόγον ἔχον, gleichviel, ob sie genetisch nah oder<br />

weitläufig oder gar nicht mit uns verwandt sind. Unmöglich<br />

aber können sie Artefakte sein: Rechenmaschinen, Roboter,<br />

künstliche Intelligenzen. »Künstliche Intelligenz« ist eine<br />

Me tapher, die zu Werbezwecken großgeredet wird, weil es<br />

wie stets in der Geschichte der Klassenkämpfe um Geld <strong>und</strong><br />

Macht geht, um vermarktbare Möglichkeiten neuer Bedürfnisbefriedigung<br />

<strong>und</strong> um innovative Möglichkeiten der Herrschaft<br />

von Menschen über Menschen.<br />

Die Phantasie, es könne dereinst künstliche Intelligenz<br />

im Wortsinn geben, passt zum cartesianischen Dualismus als<br />

der Großideologie der Neuzeit. Rechenprogramme, die auf einer<br />

physikalischen <strong>Verkörperung</strong> als res extensa laufen, beerben<br />

dabei die res cogitans. Wirkliche Intelligenz, lebendige<br />

Subjektivität lässt sich hingegen nicht dualistisch verstehen;<br />

sie ist nicht bloß physikalisch verkörpert, sondern körperlich<br />

<strong>–</strong> oder besser leiblich: lebendig <strong>–</strong> durch <strong>und</strong> durch. Ein Subjekt<br />

hat keinen <strong>Körper</strong>, sondern ist ein Leib, wäre eine prägnante<br />

Formel dafür. Ein Subjekt denkt auch nicht mit seinem<br />

Gehirn wie mit einem Denkwerkzeug, sondern es selber<br />

47


Anton Friedrich Koch<br />

denkt, mit Leib <strong>und</strong> Seele, wobei Leib <strong>und</strong> Seele ein <strong>und</strong> dasselbe<br />

sind. Das ist der Antinaturalismus der Subjektivitätsthese,<br />

<strong>und</strong> alles wäre gut, wenn es dabei sein Bewenden hätte.<br />

Leider hat es dabei sein Bewenden nicht. Die Welt ist ein<br />

Jammertal, voller Natur- <strong>und</strong> Moralkatastrophen. Für erstere<br />

stand früher emblematisch das Erdbeben von Lissabon, aber<br />

man könnte auch die Nahrungsaufnahme der Raubtiere einschließlich<br />

des Raubtiers Mensch nennen. Für letztere, die<br />

Moralkatastrophen, steht emblematisch Auschwitz. Machen<br />

wir uns bitte nichts vor: Ohne den Glauben an eine göttliche<br />

Gerechtigkeit ist der Skandal des Unrechts, das den in Auschwitz<br />

ermordeten Menschen angetan ward, unerträglich.<br />

Wir brauchen Gott als den Erretter aus den Katastrophen<br />

der Natur <strong>und</strong> den Katastrophen der Moral, aus dem Übel<br />

<strong>und</strong> aus dem Bösen. Alles Schöne <strong>und</strong> alles Gute in Natur <strong>und</strong><br />

Kultur, alles gelingende Miteinander von Menschen ist tröstlich<br />

nur als Vorschein einer ausstehenden Verwandlung aller<br />

irdischen Verhältnisse, durch die im Nachhinein auch noch<br />

den Gequälten <strong>und</strong> Ermordeten ihr Recht <strong>und</strong> Glück gegen<br />

alle menschliche Wahrscheinlichkeit zuteilwerden kann.<br />

Wäre diese Hoffnung nicht unterschwellig in uns lebendig,<br />

so hätte nach Auschwitz tatsächlich kein Gedicht mehr geschrieben<br />

werden können.<br />

Doch die Subjektivitätsthese, die nun bewiesen werden<br />

soll, steht dieser Hoffnung schroff entgegen. Ihre Problematik<br />

ist folgende. Wenn sich ihre erste Teilthese beweisen lässt,<br />

gehört innerweltliche, verkörperte Subjektivität mit logischer<br />

Notwendigkeit zum Universum, was dem teleologischen<br />

Argument <strong>und</strong> dem Buch Matthias Schleiffs die argumentative<br />

Gr<strong>und</strong>lage entzieht. Denn eine notwendige<br />

Subjektivität kann niemand beschließen <strong>und</strong> niemand verhindern.<br />

Doch das ist vergleichsweise <strong>und</strong>ramatisch, weil<br />

48


Subjekt <strong>und</strong> <strong>Verkörperung</strong><br />

Theologie <strong>und</strong> <strong>Kirche</strong> gut ohne Gottesbeweise auskommen<br />

<strong>und</strong> weil die üblichen Gotteswiderlegungen aus der Ecke des<br />

Szientismus <strong>und</strong> Naturalismus einfältig <strong>und</strong> unerheblich<br />

sind, Gr<strong>und</strong> zum Schmunzeln eher als zum Fürchten. Der<br />

szientistische Naturalismus als solcher ist einfältig <strong>und</strong> als<br />

Theorie nicht satisfaktionsfähig.<br />

Überdies lässt die Subjektivitätsthese in ihrem ersten Teil<br />

Raum für folgende Sichtweise: Da es de facto das Universum<br />

gibt, muss es auch leibliche Subjekte enthalten; daran hätte<br />

Gott nichts ändern können. Aber dass es überhaupt ein Universum<br />

gibt, ist nicht notwendig, sondern geht auf Gottes<br />

freien Rat zurück. Wenn er eine Welt schaffen wollte, musste<br />

er Menschen schaffen; aber er hätte die Welt nicht schaffen<br />

müssen, sondern für sich bleiben können.<br />

Anders steht es indes mit der zweiten Teilthese, der zufolge<br />

alle Subjektivität notwendig leiblich <strong>und</strong> innerweltlich<br />

ist. Diese Behauptung ist prima facie atheistisch <strong>–</strong> atheistisch<br />

auf den ersten <strong>und</strong> wohl auch noch auf den zweiten Blick.<br />

Wenn es eine göttliche Subjektivität gäbe, so müsste sie leiblich<br />

<strong>und</strong> innerweltlich sein. Das trifft nach christlicher Lehre<br />

auf den Sohn zu, sofern er Mensch wurde, aber nicht auf den<br />

Vater <strong>und</strong> den Heiligen Geist. Vor allem bleibt kein Raum für<br />

einen außerweltlichen Schöpfer der Welt, wenn alle Subjektivität<br />

notwendig innerweltlich <strong>und</strong> körperlich ist. Wenn sich<br />

also die Subjektivitätsthese beweisen lässt, müsste man das<br />

Tagungsthema modifizieren zu »<strong>Körper</strong> versus <strong>Kirche</strong>«. Denn<br />

wenn alle Subjekte endliche <strong>Körper</strong> sind, ist der <strong>Kirche</strong> die<br />

Gr<strong>und</strong>lage ihres Glaubens entzogen. Nicht der philosophische<br />

Naturalismus bedroht den Glauben <strong>–</strong> der ist nur ein zahnloser<br />

Papiertiger <strong>–</strong>, sondern die antinaturalistische, apriorische<br />

<strong>und</strong> hermeneutische Philosophie, zu deren Repertoire<br />

die Subjektivitätsthese gehört.<br />

49


Anton Friedrich Koch<br />

Ihr Beweis geht so. Wir beginnen logisch, mit der Natur<br />

des Denkens. Wir könnten auch ontologisch, mit der Natur<br />

von Raum <strong>und</strong> Zeit beginnen, aber das logische Argument<br />

wird uns von selbst dorthin führen. Denken ist an seiner einfachen<br />

Basis Prädikation: einem Einzelding wird ein allgemeiner<br />

Zug zugesprochen: »Dieser Stein ist glatt«, »Dieser<br />

Baum blüht« usw. Die Dualität von Einzelnem <strong>und</strong> Allgemeinem<br />

ist definitorisch fürs Denken <strong>und</strong> für die Dinge; sie<br />

ist gr<strong>und</strong>legend sowohl epistemisch als auch ontisch. Es stellen<br />

sich also die beiden Fragen, erstens, wie die Dinge ontisch<br />

individuiert sind, was sie zu den Einzelnen macht, die sie<br />

sind, <strong>und</strong> zweitens die Frage, wie wir sie epistemisch individuieren,<br />

wie wir im Denken eindeutig je ein bestimmtes Einzelnes<br />

aus allen Einzeldingen des Universums herausgreifen,<br />

um etwas Allgemeines von ihm zu prädizieren. Betrachten wir<br />

zunächst diese zweite Frage, also die epistemische oder logische.<br />

Wir sehen sogleich, dass ein Denken in Allgemeinbegriffen<br />

für die epistemische Individuation nicht hinreicht. Denn<br />

eine Beschreibung in Allgemeinbegriffen kann prinzipiell auf<br />

viele Dinge oder eines oder keines zutreffen. Wie viele rot angestrichene<br />

Eisenkugeln von einem Meter Durchmesser mag<br />

es im Universum geben? Vermutlich gar keine; aber sicher behaupten<br />

können wir das nicht, schon weil wir nicht feststellen<br />

können, was in fernen Galaxien vor sich gehen mag.<br />

Die andere, die ontologische Frage, 4 wodurch die Dinge<br />

ontisch individuiert sind, erfordert eine analoge Antwort:<br />

4 Nach heutigem, besonders nordamerikanischem Sprachgebrauch wäre sie<br />

besser eine metaphysische Frage zu nennen, weil unter der Ontologie<br />

nicht mehr die Lehre von der kategorialen Verfassung des (Der-Fall-)Seienden,<br />

sondern in allzu verengter Weise eine Theorie verstanden wird, die<br />

klären soll, was existiert <strong>und</strong> was nicht. Hier wird der bewährte Sprachgebrauch<br />

gepflegt.<br />

50


Subjekt <strong>und</strong> <strong>Verkörperung</strong><br />

Nicht durch ihre allgemeinen Züge <strong>und</strong> Relationen. Das folgt<br />

aus dem Begriff der Allgemeinheit; das Allgemeine ist eben<br />

das, was von vielen geteilt werden kann. Viele Dinge können<br />

rot sein, viele auf einem Tisch liegen, viele an etwas Weißes<br />

grenzen usw. Was die Dinge ontisch individuiert, sind, so sagt<br />

man daher nicht zu Unrecht, ihre positionalen Eigenschaften,<br />

das heißt ihre jeweiligen Stellen in Raum <strong>und</strong> Zeit. Selbst<br />

wenn das Universum als Ganzes symmetrisch wäre oder aus<br />

immer wiederkehrenden gleichen Mustern bestünde, wäre<br />

doch jedes Ding von seinen dann existierenden Duplikaten<br />

durch seine Stelle in Raum <strong>und</strong> Zeit unterschieden <strong>und</strong> individuiert.<br />

Doch hier muss man achtgeben, dass man nicht im<br />

Zirkel geht: Die Raum-Zeit-Stellen sollen die Dinge individuieren.<br />

Was aber individuiert die Raum-Zeit-Stellen? Die<br />

Dinge, die sich an ihnen befinden? Das wäre der fehlerhafte<br />

Individuationszirkel, den wir vermeiden müssen.<br />

Man kann die Sachlage anhand von Leibniz’ <strong>und</strong> Newtons<br />

Raum-Zeit-Theorien erklären. Leibniz vertrat eine relationale<br />

Theorie; das heißt, er lehrte, dass die Raum-Zeit-Stellen<br />

durch die Dinge individuiert werden, die sich an ihnen befinden.<br />

Folglich mussten die Dinge durch ihre allgemeinen<br />

Züge individuiert werden, was aber unmöglich ist. Leibniz<br />

postulierte also, um den Zirkel der Individuation zu vermeiden,<br />

das Unmögliche. Es gibt das schwache, logische Prinzip<br />

der identitas indiscernibilium, das besagt, dass dann, wenn<br />

von a nichts gilt, was nicht auch von b gilt, a <strong>und</strong> b nicht nur<br />

vollkommen gleich, sondern numerisch identisch, ein <strong>und</strong><br />

dieselbe Sache sind. Dieses schwache Prinzip ist unstrittig,<br />

eine Wahrheit der Prädikatenlogik zweiter Stufe. Aber Leibniz<br />

machte daraus ein starkes, metaphysisches Prinzip, das besagt:<br />

Wenn a <strong>und</strong> b alle allgemeinen Züge teilen, sind sie<br />

eines, nicht zwei. Aber die allgemeinen Züge individuieren<br />

51


Anton Friedrich Koch<br />

nicht. Das Leibnizsche Prinzip ist also zu stark, falsch; es widerstreitet<br />

der Natur der Allgemeinheit. Wenn a <strong>und</strong> b zwei<br />

Dinge sind, nicht eines, muss von a etwas gelten, was nicht<br />

von b gilt; aber diese Differenz braucht nicht <strong>und</strong> kann auch<br />

letztlich nicht darin bestehen, dass a einen allgemeinen Zug<br />

hat, der b fehlt.<br />

Newton andererseits vertrat eine Theorie des absoluten<br />

Raumes <strong>und</strong> der absoluten Zeit <strong>und</strong> lehrte, dass die Stellen in<br />

Raum <strong>und</strong> Zeit unabhängig von allem, was sich an ihnen befinden<br />

mag, individuiert seien. Wenn a <strong>und</strong> b zwei Dinge<br />

sind, dann, weil sie verschiedene Positionen in Raum <strong>und</strong> Zeit<br />

haben. Doch obwohl letzteres stimmt, verstößt diese Konzeption<br />

gegen das schwache, rein logische Prinzip der identitas<br />

indiscernibilium. Wenn man eine Raum-Zeit-Position für<br />

sich betrachtet, lässt sich von ihr nichts sagen, was sich nicht<br />

ebenso von jeder anderen sagen ließe. Also müssten alle<br />

Raum-Zeit-Stellen numerisch identisch sein, was sie nach<br />

Voraussetzung nicht sind <strong>und</strong> nach ihrer individuierenden<br />

Rolle nicht sein können. Wir brauchen also etwas Drittes, eine<br />

Theorie, die irgendwie die Mitte hält zwischen Leibniz <strong>und</strong><br />

Newton.<br />

Kant hat eine solche Theorie vorgetragen, blieb dabei aber<br />

zu unbestimmt für unsere Zwecke. Versuchen wir es also auf<br />

eigene Faust. Weil Allgemeinheiten nicht individuieren, sind<br />

Raum <strong>und</strong> Zeit notwendig für die Individuation, notwendig<br />

qua Sphären ursprünglicher Mannigfaltigkeit, einer Mannigfaltigkeit,<br />

die unabhängig von allgemeinen Zügen <strong>und</strong><br />

allgemeinen Relationen besteht. Wir sahen aber auch, dass<br />

Raum <strong>und</strong> Zeit nur notwendig sind für die Individuation der<br />

Dinge, nicht jedoch, wie Newton annahm, hinreichend.<br />

Newton ließ es so aussehen, als individuierten Raum <strong>und</strong> Zeit<br />

die Dinge auf magische Weise, was natürlich zurückzuweisen<br />

52


Subjekt <strong>und</strong> <strong>Verkörperung</strong><br />

ist. So bleibt die Frage der ontischen Individuation einstweilen<br />

offen.<br />

Versuchen wir uns daher zunächst an der Frage der epistemischen<br />

Individuation, <strong>und</strong> da werden wir sogleich fündig.<br />

Epistemisch individuieren wir die Dinge mühelos anhand<br />

ihrer Positionen in Raum <strong>und</strong> Zeit, indem wir von<br />

indexikalischen Denkinhalten bzw. indexikalischen Ausdrucksweisen<br />

Gebrauch machen. Dazu gehören Demonstrativa,<br />

Personalpronomina, Orts- <strong>und</strong> Zeitadverbien sowie das<br />

Tempus verbi. Dieses System der Indikatoren bildet für jedes<br />

Subjekt ein informelles egozentrisches Koordinatensystem,<br />

mit dem sich auf Beliebiges an beliebigen Raum-Zeit-Stellen<br />

des Universums eindeutig Bezug nehmen lässt. Ich weiß zwar<br />

nicht, was vor zwei Milliarden Jahren zehn Lichtjahre über<br />

meinem Scheitel geschah, aber mit eben diesem indexikalisch<br />

imprägnierten Gedankeninhalt kann ich mich eindeutig darauf<br />

beziehen, was immer es gewesen sein mag.<br />

Unsere egozentrischen indexikalischen Koordinatensysteme<br />

sind je persönlich, aber nicht logisch privat, sondern<br />

öffentlich <strong>und</strong> objektiv <strong>und</strong> können daher mühelos aufeinander<br />

bezogen <strong>und</strong> zur Einführung unpersönlicher Koordinatensysteme<br />

verwendet werden, etwa der Längen- <strong>und</strong><br />

Breitengrade zur Kartierung der Erdoberfläche oder streng<br />

mathematischer Koordinatensysteme für die Bedürfnisse der<br />

theoretischen Physik. Doch gr<strong>und</strong>legend für alle Bezugnahmen<br />

auf Einzelnes bleiben unsere informellen, egozentrischen<br />

<strong>und</strong> indexikalischen Koordinatensysteme.<br />

Betrachten wir der Einfachheit halber nur deren räumlichen<br />

Anteil. 5 Für ihn benötigen wir einen Ursprung, drei<br />

Achsen mit sechs Richtungen <strong>und</strong> ein Maß für Entfernungs-<br />

5 Eine entfaltete Theorie, die auch den zeitlichen Anteil einschließt, wurde<br />

53


Anton Friedrich Koch<br />

angaben. All dies finden wir am je eigenen <strong>Körper</strong> vor. Als Ursprung<br />

könnte etwa der Punkt hinter der Stirn dienen, an<br />

dem eintreffende Lichtstrahlen nach den Gesetzen der Strahlenoptik<br />

konvergieren würden, oder bei Bedarf auch einmal<br />

die Spitze eines Zeigefingers. Die Achsen <strong>und</strong> ihre Richtungen<br />

lassen sich an den leiblichen Asymmetrien definieren, die<br />

Entfernungsmaße ebenfalls an leiblichen Gegebenheiten wie<br />

Spanne, Elle, Fuß oder Schritt. Der je eigene Leib dient uns<br />

also als realer Bezugsrahmen, an dem das gedankliche, egozentrische<br />

System der Indikatoren definiert <strong>und</strong> festgemacht<br />

wird. So entspricht es den Anforderungen an ein Koordinatensystem,<br />

denn sein Bezugsrahmen muss zu derselben Mannigfaltigkeit<br />

gehören, auf deren Details mittels des Koordinatensystems<br />

Bezug genommen wird.<br />

Bevor wir zum Problem der ontischen Individuation zurückkehren,<br />

ist noch eine wichtige Frage zu klären: Wie nehmen<br />

wir ursprünglich Bezug auf den Bezugsrahmen unseres<br />

egozentrischen räumlichen Koordinatensystems, also den je<br />

eigenen Leib? Allgemeinbegriffe individuieren nicht, <strong>und</strong><br />

die Indikatoren werden anhand des eigenen Leibes erst erklärt.<br />

Wenn dies geschehen ist, kann ich sagen: »Mein Leib ist<br />

der <strong>Körper</strong> hier.« Wie aber greife ich meinen Leib ursprünglich<br />

aus der Menge aller Dinge heraus? Offenk<strong>und</strong>ig bedarf es<br />

dazu eines Wissens, das weder allein in Allgemeinbegriffen<br />

noch in Indikatoren konzipiert werden kann, also eines Wissens<br />

a priori, kraft dessen ich mich ursprünglich selbst individuiere<br />

<strong>und</strong> ipso facto in Raum <strong>und</strong> Zeit lokalisiere <strong>und</strong> orientiere.<br />

Am Anfang aller epistemischen Individuation liegt<br />

vom Vf. vorgetragen in: Anton Friedrich Koch, Versuch über Wahrheit<br />

<strong>und</strong> Zeit, Paderborn 2006, §§ 14<strong>–</strong>17, §§ 43<strong>–</strong>45, §§ 73<strong>–</strong>81.<br />

54


Subjekt <strong>und</strong> <strong>Verkörperung</strong><br />

also je meine apriorische Selbstindividuation als eines asymmetrischen<br />

Leibes in Raum <strong>und</strong> Zeit.<br />

Descartes hätte daher, sobald er sich im »Cogito, sum« seiner<br />

Existenz vergewissert hatte, unmittelbar übergehen<br />

müssen zu »corpus sum«: Ich bin ein Leib. Dass wir leiblich<br />

sind, wissen wir alle a priori vor jeglichem Philosophieren.<br />

Die Philosophie macht dieses apriorische Selbstwissen durch<br />

geeignete Theoriebildung nur explizit. Descartes aber hat es<br />

durch ungeeignete Theoriebildung verdeckt <strong>und</strong> damit dem<br />

Dualismus von Denken <strong>und</strong> <strong>Körper</strong> Tür <strong>und</strong> Tor geöffnet, der<br />

sich im heutigen Materialismus zur Standardideologie in der<br />

Philosophie des Geistes verhärtet hat. Die res cogitans ist dieser<br />

Ideologie zufolge eine Art Rechenprogramm, das auf einem<br />

<strong>Körper</strong> oder spezifischer einem Gehirn als einem Biorechner<br />

läuft.<br />

Für die ontische Individuation ergeben sich daraus überraschende<br />

<strong>und</strong> weitreichende Konsequenzen. Sie schien von<br />

einem Rätsel umgeben, das sich sogar in die Form einer Antinomie<br />

bringen lässt, eines Widerspruches zwischen zwei<br />

logischen Prinzipien. Das eine besagt: Allgemeine Züge individuieren<br />

nicht; auf a können dieselben intrinsischen <strong>und</strong> relationalen<br />

Allgemeinbegriffe zutreffen wie auf b, <strong>und</strong> dennoch<br />

können a <strong>und</strong> b zwei Dinge sein. Das andere ist die logische<br />

Version der identitas indiscernibilium: Wenn a <strong>und</strong> b<br />

zwei Dinge sind, trifft auf a etwas zu, was nicht auf b zutrifft.<br />

Wir sehen nun, was den Anschein des Widerspruchs löst:<br />

Wenn a <strong>und</strong> b Duplikate sind, kann auf a zum Beispiel zutreffen,<br />

dass es hier in meiner Nähe ist, <strong>und</strong> auf b nicht. Die<br />

epistemische Individuation mittels Indikatoren löst so die<br />

drohende Antinomie der ontischen Individuation.<br />

Die Dinge sind also ontisch individuiert, weil einige unter<br />

ihnen, die leiblichen Subjekte, sich a priori jeweils selbst<br />

55


Anton Friedrich Koch<br />

epistemisch <strong>und</strong> damit zugleich ontisch individuieren, <strong>und</strong><br />

weil dann relativ zu ihnen auch alle anderen Dinge im Universum<br />

ontisch individuiert sind, nämlich durch bestimmte<br />

indexikalische Züge, die sie in Beziehung auf ein jeweiliges<br />

Subjekt haben. Wenn zum Beispiel im Universum seit ewigen<br />

<strong>und</strong> in ewige Zeiten alle h<strong>und</strong>ert Milliarden Jahre ein neuer<br />

Urknall stattfände <strong>und</strong> alles sich exakt so wiederholte wie das<br />

letzte Mal, so wären die Duplikate der Stadt Marburg dadurch<br />

individuiert, dass das vorige Duplikat vor 100 Milliarden Jahren,<br />

das nächste in 100 Milliarden Jahren, das vorvorige vor<br />

200 Milliarden Jahren <strong>und</strong> so weiter existierte, immer ausgehend<br />

von mir hier jetzt. Aber für einen sonst allwissenden,<br />

nur außerweltlichen Betrachter wären die Duplikate objektiv<br />

ununterscheidbar, so gut wie ein einziges oder 17 oder 243 von<br />

ihnen. Der außerweltliche Betrachter könnte sich auf keines<br />

von ihnen beziehen. Er könnte sich überhaupt auf kein Einzelding<br />

beziehen, also auch nichts von einem Einzelding prädizieren,<br />

also nicht denken; er wäre mithin gar keine denkende,<br />

intelligente Person.<br />

Das ist die Schwierigkeit, die vorgeführt werden sollte.<br />

Denken als solches individuiert sich a priori als leiblich, endlich,<br />

innerweltlich <strong>und</strong> kann so für die epistemische <strong>und</strong> zugleich<br />

ontische Individuation aller Dinge sorgen. Für Gott als<br />

Schöpfer der Welt bleibt dann kein Raum. Er könnte das<br />

Raum-Zeit-System <strong>und</strong> Individuen in ihm nicht schaffen,<br />

weil er sie nicht einmal denken könnte. Es sei denn, er wäre<br />

als Schöpfer der Welt <strong>und</strong> ens realissimum zugleich auch<br />

Mensch <strong>und</strong> würde sich von Anfang an in seine eigene Schöpfung<br />

selbst hineingeschaffen oder vielmehr, da er kein Geschöpf<br />

sein kann, hineingezeugt haben, sich als seinen Sohn.<br />

Die Peinlichkeit, die das Christentum unter den drei abrahamitischen<br />

Großreligionen aus jüdischer <strong>und</strong> muslimi-<br />

56


Subjekt <strong>und</strong> <strong>Verkörperung</strong><br />

scher Sicht umgibt, die Lehre von drei göttlichen Personen<br />

<strong>und</strong> der Inkarnation des Sohnes, würde so wider menschliches<br />

Erwarten vom Makel zu einem positiven Alleinstellungsmerkmal,<br />

kraft dessen der Schöpfungsmonotheismus<br />

doch noch logisch akzeptabel werden könnte. Auch in diesem<br />

Sinn wäre dann der Stein, den die Bauleute verworfen haben,<br />

zum Eckstein geworden. Freilich bedarf es, bevor ein solch erfreuliches<br />

Resultat verkündet werden kann, noch vieler theoretischer<br />

Arbeit. Beispielsweise hätte der Sohn, wenn man ihn<br />

in Jesus von Nazareth erblicken will, vor 2000 Jahren gelebt,<br />

die Schöpfung jedoch wäre mindestens 13,7 Milliarden Jahre<br />

alt. Denken <strong>und</strong> schaffen aber konnte Gott nur durch den<br />

Sohn als inkarnierten. Es scheint, dass Mittel <strong>und</strong> Wege gef<strong>und</strong>en<br />

werden müssten, um den Pfeil der Zeit schöpfungstheoretisch<br />

außer Kraft zu setzen. Und das ist nur eine von<br />

zahllosen theoretischen Schwierigkeiten, die es zu bewältigen<br />

gälte. Aber um zu verstehen, wie den Verfolgten <strong>und</strong> Ermordeten<br />

Gerechtigkeit geschehen könnte, lohnt sich der<br />

Versuch. Ihn zu unternehmen, gebietet die moralische Teleologie<br />

<strong>–</strong> auf dass nicht alles in Zynismus ende.<br />

57


Jörg Dierken<br />

Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong><br />

die <strong>Verkörperung</strong><br />

1. Im falschen Film?<br />

Hegel <strong>und</strong> Schleiermacher gelten als Denker des Geistes. Wie<br />

kaum andere scheinen sie für einen Primat des Allgemeinen<br />

über das Besondere zu stehen, dem ein solcher des Vernünftigen<br />

über das Natürliche entspricht. Das dürfte auf den ersten<br />

Blick einen garstig breiten Graben gegenüber dem aktuellen<br />

Paradigma der <strong>Verkörperung</strong> markieren. 1 Es zeigt schon<br />

sprachlich einen Vorrang des <strong>Körper</strong>lichen, <strong>und</strong> <strong>Körper</strong> gibt<br />

es nur als jeweilig diese, mithin einzelne, unter weiteren,<br />

ebenfalls einzelnen. Das lässt fragen, ob nicht eher ein Gestus<br />

überlegener Verabschiedung antiquierten Denkens ange-<br />

1 Vgl. dazu Jörg Fingerhut/Rebekka Hufendiek/Markus Wild<br />

(Hrsg.), Philosophie der <strong>Verkörperung</strong>. Gr<strong>und</strong>lagentexte zu einer aktuellen<br />

Debatte, Frankfurt a. M., 2013, darin insbesondere die Einleitung der<br />

Hrsg., 9<strong>–</strong>102; Gregor Etzelmüller/Annette Weissenrieder (Hrsg.),<br />

<strong>Verkörperung</strong> als Paradigma theologischer Anthropologie, Berlin/Boston<br />

2016, darin insb. die Einführung der Hrsg., (1<strong>–</strong>27) <strong>und</strong> den Beitrag von<br />

Thiemo Breyer, Philosophie der <strong>Verkörperung</strong>. Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> Konzepte,<br />

29<strong>–</strong>49. Philipp Stoellger macht in seinem Beitrag in diesem Band<br />

(Vom dreifaltigen Sinn der <strong>Verkörperung</strong>, a. a. O., 298<strong>–</strong>316) darauf aufmerksam,<br />

dass die Pointe des Diskurses in hohem Maße von den (fiktiven) Kontexten<br />

bzw. Oppositionen abhängt.<br />

59


Jörg Dierken<br />

zeigt wäre, 2 wenn von hier aus Hegel <strong>und</strong> Schleiermacher thematisch<br />

werden sollen. Vielleicht ist der Graben auch von anderer<br />

Seite aus auszuloten, etwa im Gefälle materialistischer<br />

Umkehrungen jener sog. idealistischen Denker. Das wirft<br />

allerdings die Frage auf, ob die Umkehrung nicht bereits beansprucht,<br />

was umgekehrt wird, zumindest in kategorialer<br />

Hinsicht. So funktioniert das Marxsche Bonmot, dass Hegels<br />

Dialektik vom Kopf auf die Füße zu stülpen sei, ohne Kopf<br />

schon organisch schlecht. 3 Wie auch immer hier zu urteilen<br />

ist: Wenn <strong>–</strong> wie es die Veranstalter mir aufgetragen haben <strong>–</strong><br />

die Konstellation von »<strong>Verkörperung</strong>« <strong>und</strong> jenen Großdenkern<br />

aus dem sog. Deutschen Idealismus thematisch werden<br />

soll, erhebt sich die Frage, ob man nicht im falschen Film gelandet<br />

ist.<br />

Sprachlich ist der Ausdruck »<strong>Verkörperung</strong>« wohl etwas<br />

ungeschickt. Zumindest im Deutschen verdeckt er manche<br />

Gr<strong>und</strong>intuition dieses v. a. kognitionswissenschaftlichen Paradigmas.<br />

Denn im Umkehrschluss legt er die Frage nach<br />

dem status quo ante dessen nahe, was nun »ver-körpert« ist.<br />

Es müsste sozusagen außer-, vor- oder überkörperlich gewe-<br />

2 Davon sind auch die o. g. Einführungstexte nicht ganz frei <strong>–</strong> ohne sich von<br />

der Motivik des Gegners wirklich irritieren zu lassen. Vgl. Fingerhut/<br />

Hufendiek/Wild, Philosophie der <strong>Verkörperung</strong> (s. Anm. 1), 18 u. ö;<br />

Etzelmüller/Weissenrieder, <strong>Verkörperung</strong> als Paradigma (s. Anm. 1),<br />

13 u. ö. <strong>–</strong> Dem <strong>Verkörperung</strong>stopos kann auch deshalb Aufmerksamkeit in<br />

der Theologie zuteilwerden, weil »er insbesondere geeignet ist, das vorherrschende<br />

Selbstbewusstseinsparadigma zu attackieren« (Gesche Linde,<br />

<strong>Verkörperung</strong>, Handlung, Repräsentation, in: a. a. O., 243<strong>–</strong>288; hier: 250).<br />

Auf »Attacke« als Aktionsmodus muss offenbar rekurriert werden, wenn<br />

einem »gegenständliche[n] Denken« in der Theologie wieder Plausibilität<br />

verliehen werden soll, ohne den kritischen Einwänden gegenüber solchem<br />

Denken im Bereich supranaturaler Begriffe nachzugehen (a. a. O., 252).<br />

3 Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, in: MEW 23, 27.<br />

60


Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong><br />

sen sein, um nach dem Bewegungsschema der »Ver-körperung«<br />

körperlich werden zu können. Damit wäre man ziemlich<br />

nahe an vulgäridealistischen Konzepten von Geist, Vernunft<br />

oder Ideen, was die Pointe dieses Paradigmas grob verzeichnete.<br />

4 Embodiment oder besser in der Verlaufsform embodied<br />

cognition stellen vielmehr darauf ab, dass Kognition<br />

sich immer schon in Organismen vollzieht, die mit ihrer Umwelt<br />

interagieren <strong>und</strong> darin <strong>–</strong> <strong>und</strong> zwar nur darin <strong>–</strong> organisch<br />

f<strong>und</strong>ierte mentale Formen ausbilden, die evolutiv komplexer<br />

werden <strong>und</strong> sich situativ auf jeweilige Gehalte hin modifizieren.<br />

Alles Mentale ist danach natural vermittelt <strong>–</strong> allerdings<br />

gegenüber naturalistischen Reduktionismen verschiedenster<br />

Art nicht so, dass es lediglich dessen Epiphänomen<br />

wäre. 5 Es kann, unbeschadet seiner realen Basis im Naturhaft-Organischen,<br />

welches mit dem <strong>Körper</strong> auch das<br />

Gehirn umfasst, durchaus als eigene Sphäre symbolischer<br />

Artikulationen, die ihrerseits in intersubjektiver Kommunikation<br />

entstehen <strong>und</strong> eigene kulturelle Figuren bilden, verstanden<br />

werden. 6 Zu ihnen gehören auch symbolische Formen<br />

7 wie Kunst, Religion <strong>und</strong> Philosophie. Wenn eine Pointe<br />

des <strong>Verkörperung</strong>s-Paradigmas darin liegt, über den Aufweis<br />

der realen Basis kultureller Phänomene deren naturale Ver-<br />

4 So auch Stoellger, Vom dreifaltigen Sinn (s. Anm. 1), 291 ff.<br />

5 Vgl. nur Etzelmüller/Weissenrieder, <strong>Verkörperung</strong> als Paradigma (s.<br />

Anm. 1), 7.9 u. ö.<br />

6 Dies ist insbesondere der Ansatz von Matthias Jung. Vgl. Matthias Jung,<br />

<strong>Symbolische</strong> <strong>Verkörperung</strong>. Die Lebendigkeit des Sinns, Tübingen 2017;<br />

Ders., Verkörperte Intentionalität <strong>–</strong> Zur Anthropologie des Handelns, in:<br />

Bettina Hollstein/Ders./Wolfgang Knöbl (Hrsg.), Handlung <strong>und</strong><br />

Erfahrung. Das Erbe von Historismus <strong>und</strong> Pragmatismus <strong>und</strong> die Zukunft<br />

der Sozialtheorie, Frankfurt a. M. 2011, 25<strong>–</strong>50.<br />

7 Dieser Begriff geht bekanntlich auf Ernst Cassirer zurück, ist hier allerdings<br />

unspezifischer gebraucht.<br />

61


Jörg Dierken<br />

mitteltheit zu erhellen <strong>und</strong> damit Dualismen wie die von<br />

<strong>Körper</strong> <strong>und</strong> Geist, Natur <strong>und</strong> Kultur zurückzuweisen, 8 kann<br />

dies nicht um den Preis eines reduktionistischen Monismus<br />

des Naturalen erfolgen. Das gilt mehr noch, wenn das Naturale<br />

primär im Kausalschema gedacht wird. Es kommt<br />

schon beim Verständnis des Organisch-Lebendigen, dessen<br />

Selbstorganisation interne Rückbezüglichkeit mit externen<br />

Bezügen auf Umweltlich-Anderes verbindet, an seine<br />

Grenze, 9 <strong>und</strong> von ihm allein aus lässt sich auch das für das<br />

<strong>Verkörperung</strong>s-Paradigma zentrale Phänomenfeld des Handelns<br />

nicht erschließen. Handeln in weitestem Sinn, das<br />

eine Drift vom Umgang mit Objekten hin zur Kommunikation<br />

im Intersubjektiven aufweist, hat eine irgendwie an<br />

Zielen orientierte Struktur, mag die Teleologie auch schwacher<br />

Art sein <strong>und</strong> sich in den Kontexten interaktiver Handlungsvollzüge<br />

laufend verändern. Der gleichsam »schwache«<br />

Charakter der Teleologie resultiert daraus, dass Handeln wie<br />

Intentionalität überhaupt in den angeeigneten Automatismen<br />

des <strong>Körper</strong>schemas, wonach der <strong>Körper</strong> gerade nicht im<br />

8 Vgl. Etzelmüller/Weissenrieder, <strong>Verkörperung</strong> als Paradigma (s.<br />

Anm. 1), 9; Etzelmüller (a. a. O., 221 ff.), sieht die cartesianische Unterscheidung<br />

von res cogitans <strong>und</strong> res extensa als Urgestalt überwindungspflichtiger<br />

Dualisierungen. Er schließt damit an die anticartesianische<br />

Figur vom »ausgedehnten Geist« aus dem <strong>Verkörperung</strong>s-Diskurs an (vgl.<br />

Andy Clark/<strong>David</strong> Chalmers, Der ausgedehnte Geist, in: Fingerhut/Hufendiek/Wild,<br />

Philosophie der <strong>Verkörperung</strong> [s. Anm. 1], 205<strong>–</strong><br />

223). Nicht wirklich gewürdigt wird dabei die vollzugslogische Pointe des<br />

cogitare, das letztlich in einem substantiellen Sinn verstanden wird. Das<br />

aber führt zum gegenläufigen Monismus der einen Substanz, bei der Denken<br />

<strong>und</strong> Ausdehnung zu Attributen werden, wie Spinoza gezeigt hat. Er<br />

spielt in dem Diskurs kaum eine Rolle.<br />

9 Vgl. hierzu immer noch Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen<br />

<strong>und</strong> der Mensch (1928), Berlin 1975.<br />

62


Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong><br />

Kegel der Aufmerksamkeit steht, eine Zielorientierung im<br />

Modus des »Als-ob« für die Akteure mit sich bringen. Mit den<br />

Stichworten des sog. 4E-Cognition-Konzepts 10 des <strong>Verkörperung</strong>sdiskurses<br />

<strong>–</strong> embodied, embedded, extended <strong>und</strong> enactive<br />

<strong>–</strong> schiebt sich ein faktischer Primat des Praktischen<br />

über das Theoretische. Dabei kann die Pragmatik intersubjektiv<br />

geteilter <strong>und</strong> befolgter Muster für die Beteiligten den<br />

Eindruck von gemeinsamen Zielen erwecken <strong>und</strong> darüber<br />

Kooperation im Sicht- <strong>und</strong> Handlungsfeld stiften. 11<br />

Schaut man von hier aus auf Hegel <strong>und</strong> Schleiermacher<br />

<strong>und</strong> vermeidet dabei gern gebrauchte, aber eben auch simplifizierende<br />

Klischees, so scheint der garstig breite Graben zumindest<br />

nicht unüberbrückbar <strong>–</strong> wenn auch mit gewissem<br />

konstruktivem Aufwand. Für Hegels Begriff des Geistes gilt<br />

generell, dass er nicht ohne seine geschichtliche Evolution zu<br />

denken ist. Die Philosophie des Geistes schließt an die der Natur<br />

an, wobei diese in jener aufgehoben, d. h. ebenso negiert<br />

wie bewahrt wird. 12 In diesem Sinn gilt die Sphäre des Gesell-<br />

10 Vgl. Breyer, Philosophie der <strong>Verkörperung</strong> (s. Anm. 1), 40 ff.; Fingerhut/<br />

Hufendiek/Wild, Philosophie der <strong>Verkörperung</strong> (s. Anm. 1), 64 ff.<br />

11 Für den klaren Primat des Praktischen steht insbesondere Shaun Gallagher.<br />

Vgl. Ders., Kognitionswissenschaften <strong>–</strong> Leiblichkeit <strong>und</strong> Embodiment,<br />

in: Emmanuel Alloa/Thomas Bedorf/Christian Grüny/Tobias<br />

Nikolaus Klass, Leiblichkeit. Begriff, Geschichte <strong>und</strong> Aktualität eines<br />

Konzepts, Tübingen 2012, 320<strong>–</strong>333; vgl. dazu auch Matthias Jung, Verkörperte<br />

Intentionalität (s. Anm. 6), 29 ff. <strong>–</strong> Man kann von hier aus Linien<br />

zu dem Beispiel koordinierter Blicke aus der evolutionären Anthropologie<br />

von Michael Tomasello ziehen.<br />

12 Das erhellt schon aus der Anordnung des zweiten <strong>und</strong> dritten Teils der<br />

gr<strong>und</strong>legenden Systemarchitektur. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich<br />

Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Gr<strong>und</strong>risse<br />

[2. Aufl. 1830], zit. nach Theorie-Werkausgabe (=ThWA), hrsg. v. Eva Moldenhauer/Karl<br />

Markus Michel, Frankfurt a. M. 1969<strong>–</strong>71, Bd. 8<strong>–</strong>10 §<br />

381 (im Folgenden zit. als Enz).<br />

63


Jörg Dierken<br />

schaftlich-Sozialen als »zweite Natur«, 13 die mit der »ersten«<br />

stets verb<strong>und</strong>en bleibt, etwa durch Arbeit <strong>und</strong> Interaktion.<br />

Das Mentale ist ohne organische Prozesse <strong>und</strong> Zustände nicht<br />

zu verstehen, wie schon die »Psychologie« im »subjektiven<br />

Geist« zeigt. 14 Und die symbolischen Formen der Kultur in<br />

engerem Sinn, also Kunst, Religion <strong>und</strong> Philosophie, integrieren<br />

nicht nur die leibbezogenen Vermögen des subjektiven<br />

<strong>und</strong> die gesellschaftlich-kommunikativen Dimensionen<br />

des objektiven Geistes, sondern bilden selbst eine von den<br />

subjektiven Vermögen des Anschauens, Vorstellens <strong>und</strong> Denkens<br />

geleitete Dynamik, die das Ganze auf dreifache Weise resümiert,<br />

einschließlich seiner naturalen Ausgänge. 15 Selbst<br />

das Denken wird in seiner Apriorität über eine sich über Negationsdifferenzen<br />

aufstufende Dialektik gewonnen, an deren<br />

Ausgangspunkt die Spannung von seinem ebenso kontingenten<br />

wie unhintergehbaren, mithin realen Vollzug <strong>und</strong><br />

der darin immer schon beanspruchten Gehaltlichkeitsstruktur<br />

steht. Die Pointe eines solchen Apriorismus, nämlich dass<br />

die kategorialen Beschreibungsformen nur um den Preis eines<br />

Zirkels dem Beschriebenen als solchem entnommen werden<br />

können, bewährt sich denn auch erst in der Anwendung<br />

am Material. Einen Mangel an Dynamik wird man Hegel von<br />

Seiten des <strong>Verkörperung</strong>s-Paradigmas nicht vorhalten können,<br />

ebenso wenig wie einen simplen Dualismus oder Monismus.<br />

Offen ist allerdings der Punkt, dass der Richtungssinn<br />

jener dialektischen Dynamik unumkehrbar von der Natur<br />

13 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gr<strong>und</strong>linien der Philosophie<br />

des Rechts [1821], hrsg. v. Johannes Hoffmeister, Hamburg 5 1995 § 4<br />

(im Folgenden zit. als R).<br />

14 Vgl. Enz. §§ 440<strong>–</strong>481.<br />

15 Gemeint sind natürlich die Formative des »absoluten Geistes«, vgl. Enz<br />

§§ 553<strong>–</strong>577.<br />

64


Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong><br />

zum Geist hin zu weisen scheint. Demgegenüber mag von<br />

Hegel aus im Blick auf manche Variante jenes aktuellen Paradigmas<br />

gefragt werden, ob dessen Antidualismus unterschwellig<br />

einem Monismus des Natural-Objektiven Vorschub<br />

leistet, welcher die Dimension des Subjekthaften einverleibt.<br />

Hieran hängt die Spontaneität, ohne die Handeln zu<br />

einem Glied in einer Kette des Notwendigen herabgestuft<br />

wird.<br />

Mehr noch als Hegel kennt Schleiermacher einen bleibenden<br />

Bezug auf das Organische. Auf der Makroebene der Systemarchitektur<br />

ist es Teil der <strong>–</strong> faktisch nie ausgearbeiteten <strong>–</strong><br />

Physik, die der Ethik als Ort von Geschichte <strong>und</strong> Gesellschaft<br />

gegenübersteht. 16 Physik wird nicht in Ethik aufgehoben,<br />

ebenso wenig Natur in ihr Gegenüber, die Vernunft <strong>–</strong> so sehr<br />

auch Schleiermacher als nachaufklärerischer Denker das Motiv<br />

einer zunehmenden Durchdringung der Natur durch Vernunft<br />

<strong>und</strong> Aneignung durch sie kennt. Das geschichtsphilosophische<br />

Fortschrittsmotiv ist auch bei ihm verankert. 17 Auf<br />

der Theorieebene bleibt es jedoch bei der Polarität von Natur<br />

<strong>und</strong> Vernunft, welche beide immer schon ihr Pendant in sich<br />

haben. Wohl gibt es Minima <strong>und</strong> Maxima, auch zeigen sich<br />

virtuose Limitationsfiguren zwischen den Polen. 18 Doch Na-<br />

16 Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Ethik [1812/13], mit<br />

späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre <strong>und</strong> Pflichtenlehre, auf<br />

der Gr<strong>und</strong>lage der Ausg. v. Otto Braun, hrsg. v. Hans-Joachim Birkner,<br />

Hamburg 1981 [zit. im Folgenden als E]; zur Systemarchitektur vgl. vom<br />

Vf., Das Absolute <strong>und</strong> die Wissenschaften. Zur Architektonik des Wissens<br />

bei Hegel <strong>und</strong> Schleiermacher, in: PhJ 99 (1992), 307<strong>–</strong>328.<br />

17 Vgl. dazu vom Vf., Fortschritte in der Geschichte der Religion? Aneignung<br />

einer Denkfigur der Aufklärung, Leipzig 2012, 72<strong>–</strong>89.<br />

18 Vgl. dazu Michael Moxter. Güterbegriff <strong>und</strong> Handlungstheorie. Eine<br />

Studie zur Ethik Friedrich Schleiermachers, Kampen 1992, bes.198 ff.<br />

65


Jörg Dierken<br />

tur wie Vernunft als solche sind unzugänglich <strong>und</strong> leer, sie leben<br />

geradezu von dynamischen Spannungseinheiten mit ihrem<br />

Anderen. Auf der Meso- <strong>und</strong> Mikroebene hat das zur<br />

Folge, dass Geschichte <strong>und</strong> Gesellschaft mit Prozessen der<br />

Naturbildung <strong>und</strong> -aneignung verb<strong>und</strong>en, dass alles<br />

menschliche Handeln organisch geprägt ist, dass jede Kommunikation<br />

Sinn nur in sinnlichen Medien zwischen Bildern<br />

<strong>und</strong> Klängen, Gestischem <strong>und</strong> Lautlichem generieren kann<br />

<strong>und</strong> dass selbst das begrifflich reinste Denken an gesprochene<br />

Sprache geb<strong>und</strong>en bleibt. Auch darin zeigt sich, dass Schleiermacher<br />

ein Denker des Individuellen ist <strong>–</strong> das freilich virtuell<br />

mit dem, was es als Dieses nicht ist, verwoben bleibt. Wenn<br />

Schleiermacher mit gr<strong>und</strong>legenden Polaritäten arbeitet <strong>–</strong><br />

Natur <strong>und</strong> Vernunft sowie Individuelles <strong>und</strong> Allgemeines<br />

sind die basalsten im sog. »Viererschema« <strong>–</strong>, dann sind sie Beschreibungsmuster<br />

für tendenziell unendliche <strong>und</strong> unerschöpfliche<br />

Wechseldynamiken. Mit simplen Dualismen hat<br />

das nichts zu tun. Das erhellt schon daraus, dass diese Polaritäten<br />

einander mehrfach kreuzen, dabei komplexere Verlaufsmuster<br />

zeigen <strong>und</strong> darüber eigenständige soziale<br />

Sphären mit mannigfaltigen Interferenzen bilden. In der<br />

Fluchtlinie dieser Logik werden systemtheoretische Figuren<br />

erkennbar. Organisieren <strong>und</strong> Symbolisieren sind die gr<strong>und</strong>legenden<br />

Verlaufsmuster <strong>–</strong> Organisieren ist Eingehen von<br />

Natur in Vernunft, Symbolisieren Darstellen von Vernunft in<br />

Natur <strong>–</strong>, <strong>und</strong> die sozialen Sphären betreffen ökonomischen<br />

Austausch <strong>und</strong> rechtsförmige Staatlichkeit sowie reproduzierbares<br />

Wissen <strong>und</strong> ästhetische bzw. religiöse Symbolkommunikation.<br />

Das lässt sich bis in ein filigranes Geflecht von<br />

Institutionen hinein verfolgen, die stets auch überinstitutionelle<br />

Dimensionen haben, wie etwa die »freie Geselligkeit«<br />

zeigt. Eine Pointe dieses Denkens liegt darin, tendenziell un-<br />

66


Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong><br />

endliche Prozesse des Austauschs <strong>und</strong> der Kommunikation<br />

im Endlichen aus ihren Vollzügen heraus zu beschreiben.<br />

Dazu bedarf es allerdings eines konstruktiven begrifflichen<br />

Überschusses, wie er durch jene mehrfachen Polaritäten markiert<br />

wird. Auch die Realität des Endlichen vermisst sich<br />

durch begriffliche Konstruktionen, in deren Fluchtlinien ein<br />

Ganzes von Relationen liegt. Es ist <strong>und</strong> bleibt freilich ein<br />

Grenzbegriff, ihre Einheit haben die über konstruktive Polarität<br />

gebildeten Relationen in einem strikt Transzendenten,<br />

das in seiner Negativität mit allen Operationen mitläuft. 19<br />

Das scheint weit weg vom <strong>Verkörperung</strong>s-Diskurs zu liegen.<br />

Begriffliche Konstruktivität <strong>und</strong> eine nur über Unterscheidungen<br />

fassbare, negative Einheit scheinen eher das Gegenteil<br />

von dessen Gr<strong>und</strong>intuitionen zu sein. Das lässt fragen,<br />

ob sich die Logik dieser Figuren <strong>–</strong> ähnlich wie im Blick<br />

auf die Negationsdialektik bei Hegel <strong>–</strong> dennoch im Lichte<br />

manch realistisch-geerdeter Einsicht von Schleiermacher<br />

plausibel machen lässt. Genannt seien der Realismus eines<br />

Immer-schon-Eingesetzt-Seins in den Vollzug des subjektiven<br />

wie sozialen Lebens <strong>und</strong> ein Primat des Praktischen.<br />

Schleiermacher kennt dies wie auch Hegel. Anders als bei<br />

Schleiermacher bildet allerdings eine kontemplative Figur<br />

der sich denkenden <strong>und</strong> darin anschauenden Vernunft den<br />

Gipfel von Hegels Denken. Gegen Schleiermacher wiederum<br />

könnte eingewendet werden, dass die Bedingungen der Dynamik<br />

im endlichen Leben, nämlich ihre immanenten Spannungen,<br />

letztlich in einer nur noch als unfassbar gefassten<br />

19 Vgl. den Argumentationsgang des »Transzendentalen Teils« von Schleiermachers<br />

Dialektik (Friedrich Schleiermacher, Dialektik [1814/15 [{=<br />

D}], Einleitung zur Dialektik [1833], hrsg. v. Andreas Arndt, Hamburg<br />

1988, 15<strong>–</strong>85).<br />

67


Jörg Dierken<br />

transzendenten Einheit verb<strong>und</strong>en sind, die als leere, negative,<br />

mithin auch unkörperliche Folie für alle realen Differenzen<br />

fungiert. Wenn demgegenüber Differenz <strong>und</strong> Negativität<br />

wie bei Hegel sowohl in die Erst- wie Letztbegriffe zwischen<br />

Sein, Nichts <strong>und</strong> Werden <strong>und</strong> dem Absoluten als Geist gesetzt<br />

werden <strong>und</strong> sich damit gleichsam das innere Verlaufsprinzip<br />

der Dynamiken des Lebens zeigt, erhebt sich im Blick auf das<br />

<strong>Verkörperung</strong>s-Denken die Frage, ob <strong>und</strong> wie es das Negative<br />

verstehen kann.<br />

Doch zunächst soll <strong>–</strong> gemäß dem Tagungsthema <strong>–</strong> der<br />

Blick auf die <strong>Ekklesiologie</strong> fallen.<br />

2. <strong>Körper</strong> <strong>und</strong> <strong>Kirche</strong><br />

Wenn man unterstellt, dass die Fluchtlinien des <strong>Verkörperung</strong>s-Diskurses<br />

nicht dazu führen, Religion als »Verirrung«<br />

des menschlichen Geisteslebens zu dekonstruieren, 20 zeigen<br />

sich Bezüge zu verschiedenen Themen der Theologie. Sie können<br />

nicht allein auf der Gegenstandsseite verortet werden,<br />

wenn nicht vorkritisch Symbole verdinglicht werden sollen.<br />

So hat es die Schöpfungsanthropologie mit Phänomenen<br />

wie der Verdanktheit <strong>und</strong> Kontextualität des physischen wie<br />

mentalen Lebens zu tun, dem seine eigene unbedingte Spontaneität<br />

in bleibender Spannung gegenübersteht. Beides<br />

macht seine Endlichkeit aus <strong>und</strong> lässt gegenbildlich nach<br />

einem Unendlichen fragen, in dem beide Motive zusammenkommen.<br />

Unter dem Titel »Sünde« werden Formen von ver-<br />

20 Um eine Formulierung Schleiermachers aufzugreifen, vgl. Ders., Kurze<br />

Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen,<br />

hrsg. v. Heinrich Scholz, Hildesheim 4 1977, § 22.<br />

68


Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong><br />

fehlender Entzweiung thematisch, bei denen ein Verlust von<br />

Selbst-Integration in den Dimensionen des Somatischen <strong>und</strong><br />

Mentalen zumeist mit missglückter sozialer Interaktion einhergeht.<br />

Stichwort wie Gnade <strong>und</strong> Heil sind die entsprechenden<br />

Gegenbegriffe. Bei ihnen wird mitkommuniziert, dass sie<br />

einerseits ohne ein immer auch verneinendes Bewusstsein<br />

von der Sünde nicht zu haben sind, andererseits aber durch<br />

die damit verb<strong>und</strong>ene Umkehrung nicht produziert werden<br />

können, da das gnadenhafte Aufkommen von Zuständen erlebten<br />

Heils kontingent ist. Wie sich der Gegensatz von Sünde<br />

<strong>und</strong> Gnade mit dem Endlichkeits- <strong>und</strong> Unendlichkeitsthema<br />

verbindet, zeigt der Zusammenhang, der am ehesten auf die<br />

Gr<strong>und</strong>intuitionen des <strong>Verkörperung</strong>s-Diskurses zu führen<br />

scheint: die Menschwerdung Gottes, konzentriert in Inkarnation<br />

<strong>und</strong> Tod. 21 Freilich bleibt auch der Fleischgewordene der<br />

Logos, <strong>und</strong> ebenso erscheint der um des Heils willen Auferstandene<br />

als der um der Sünde willen Gekreuzigte. Die Gemeinde<br />

oder <strong>Kirche</strong> wird sodann zum Ort, an dem diese christologischen<br />

Dimensionen des Geistigen <strong>und</strong> Leiblichen mitsamt<br />

ihren mehrfachen Negationen zusammenkommen <strong>–</strong><br />

<strong>und</strong> zwar mitsamt dem Spiegel eines mit der Sünde verlustig<br />

gegangenen Normativen. Die christologisch-ekklesiologische<br />

Metapher vom »Leib Christi« lässt davon etwas anklingen.<br />

Dessen Ganzheit wird konstituiert wie ermöglicht durch<br />

eine tendenziell unendliche Vielfalt von Kommunikationsvollzügen,<br />

in denen die Gestalt Jesu Christi im Lichte je eige-<br />

21 Das ist natürlich ein klassischer Topos, der im theologischen Segment des<br />

<strong>Verkörperung</strong>s-Diskurses gern aufgenommen wird (vgl. Etzelmüller/<br />

Weissenrieder, <strong>Verkörperung</strong> als Paradigma (s. Anm. 1), 221 ff.; Stoellger,<br />

Vom dreifaltigen Sinn [s. Anm. 1], 303 ff.). Ob er in nichttheologischen<br />

Segmenten eine ähnliche Bedeutung haben kann, mag gefragt werden.<br />

69


Jörg Dierken<br />

ner, biographisch <strong>und</strong> sozial vermittelter »<strong>Verkörperung</strong>« angeeignet<br />

<strong>und</strong> solchermaßen individualisiert dargestellt wird.<br />

Das schließt Widerspruch <strong>und</strong> Abweichen als Momente des<br />

Kommunikationsgeschehens ein <strong>–</strong> sofern es nicht, so der<br />

Grenzbegriff, zu Selbstausschlüssen kommt. Auch das wäre<br />

freilich noch ein Anschluss durch Negation, allerdings würde<br />

die Deutung des Ausschlusses als Anschluss sich an der<br />

Selbstauskunft vergehen. Selbsttätigkeit <strong>und</strong> Freiheit sind<br />

bei der Aneignung der Christusgestalt im Glauben immer<br />

schon beansprucht. Damit korrespondiert, dass die Ganzheit<br />

der kirchlichen Kommunikation mitsamt der letzten Stellung<br />

der Einzelnen verborgen bleibt <strong>und</strong> nur Gott offenbar<br />

ist. Die unsichtbare <strong>Kirche</strong> ist darum aber nicht irreal. Die<br />

empirische Sichtbarkeit der kirchlichen Kommunikation ist<br />

im Handeln ihrer unterschiedlichen Teilnehmer gegeben,<br />

wobei immer auch Regeln <strong>und</strong> Grenzen beansprucht werden.<br />

Aus <strong>protestantische</strong>r Perspektive seien zwei Grenzen der<br />

Regelbildung exemplarisch genannt, die auch zentrale As -<br />

pekte des <strong>Verkörperung</strong>s-Diskurses berühren. Eine davon<br />

wird durch den gleichsam höheren Realismus der römischkatholischen<br />

<strong>Ekklesiologie</strong> markiert. Die <strong>Kirche</strong> wird hierin<br />

nicht primär von der Gemeinde <strong>und</strong> ihren Kommunikationsvollzügen<br />

her verstanden. Vielmehr ist das Motiv einer Fortschreibung<br />

der Inkarnation maßgeblich. Die <strong>Kirche</strong> setzt als<br />

Ganzheit die <strong>–</strong> cum grano salis <strong>–</strong> inkarnationstheologische<br />

<strong>Verkörperung</strong> Gottes fort, mit ihrem Oberhaupt als symbolisch-stellvertretender<br />

Repräsentanz <strong>und</strong> symbolischer Nachfolge<br />

ihres ersten apostolischen Gesandten an der Spitze. Er<br />

besitzt gleichsam zwei <strong>Körper</strong>, deren leiblicher sich ganz dem<br />

geistlich-symbolischen anverwandeln soll, bis hin zu seinem<br />

tendenziell öffentlichen Sterben in jenen hinein. Man mag<br />

nur an die Bilder vom Ende des Papstes Johannes Paul II. den-<br />

70


Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong><br />

ken. Geschieht solches Sterben nicht, wie beim Amtsverzicht<br />

des letzten Papstes, sind Irritationen unausweichlich. Aus<br />

<strong>protestantische</strong>r Perspektive ist nun nicht der mit einer solchen<br />

inkarnationstheologischen <strong>Ekklesiologie</strong> verb<strong>und</strong>ene<br />

Realismus als solcher kritikbedürftig. Daher sei katholischen<br />

Stimmen gern zugestimmt, die die <strong>Kirche</strong> als »große Gottesidee«<br />

verstehen, die ohne reale Wirklichkeit im Vollsinn eben<br />

eine bloße subjektivistische »Idee« bliebe. 22 Für solchen Realismus<br />

soll die römisch-katholische <strong>Kirche</strong> stehen, wenn sie<br />

das Göttliche im Irdischen verkörpert <strong>–</strong> einschließlich aller<br />

damit verb<strong>und</strong>enen Härten, die sich mit kaum oder allzu heiligen<br />

Erscheinungen verbinden. Fraglich ist vielmehr, ob im<br />

Hintergr<strong>und</strong> nicht doch ein vulgärplatonisches Schema<br />

steht, wonach die »Idee« sozusagen als solche in der Sphäre<br />

Gottes bereits in sich vollendet ist <strong>und</strong> dann sek<strong>und</strong>är auch<br />

Realität wird, während die Kontingenz kommunikativer Anschlüsse<br />

bei der Aneignung des im Menschgewordenen offenbaren<br />

Gottes in historisch mannigfaltigen Formen überblendet<br />

wird. Das hat zur Folge, dass die historische Bildung<br />

»Rom« nicht in ihrer Kontingenz wahrgenommen, sondern<br />

als in ihrer <strong>Verkörperung</strong> aufgehende »Gottesidee« konstruiert<br />

wird. Die Kontingenz des Historischen nicht zu überblenden<br />

<strong>und</strong> ein Gemeinsames durch all ihre Besonderheit<br />

durch Regeln zur kommunikativen Vergemeinschaftung zu<br />

finden, ist demgegenüber ein Merkmal <strong>protestantische</strong>r <strong>Kirche</strong>nbegriffe.<br />

Ohne solche Kontingenz <strong>und</strong> sodann: weitere<br />

22 So der nachmalige Papst Josef Kardinal Ratzinger in den Debatten um das<br />

<strong>Kirche</strong>nverständnis im Umfeld der Erklärung Dominus Iesus, die die ökumenischen<br />

Visionen im Nachgang zu der Gemeinsamen Erklärung zur<br />

Rechtfertigungslehre dämpfte. Vgl. dazu vom Vf., Differenzhermeneutische<br />

Kontroverstheologie, in: Ders., Selbstbewußtsein individueller Freiheit,<br />

Tübingen 2005, 379 ff. (mit weiteren Nachweisen).<br />

71


Jörg Dierken<br />

kontingente An- <strong>und</strong> Ausschlüsse, ist auch <strong>Verkörperung</strong><br />

nicht zu haben.<br />

Die andere Grenze protestantisch-ekklesiologischer Regelbildung<br />

zeigt sich an spiritualistischen <strong>und</strong> pentecostalen<br />

<strong>Kirche</strong>nkonzepten. Sie gehen nicht primär von Konstrukten<br />

einer Materialität der Inkarnation aus, im Zentrum stehen<br />

vielmehr eher flüchtige Wirkungen des Geistes. In spiritualistischen<br />

Mustern macht er sich im Inneren des Herzens, der<br />

Seele oder des Bewusstseins geltend, unter tendenzieller Absehung<br />

von intersubjektiver Kommunikation <strong>und</strong> von der<br />

Materialität des Medialen. Auch hier wird das Jenseits der<br />

Grenze für <strong>protestantische</strong> <strong>Ekklesiologie</strong> nicht gleichgültig.<br />

Wenn sie auf Regeln zur Kommunikation abstellt, muss sie<br />

eingedenk bleiben, dass Kommunikation keinen Automatismus<br />

der Anschlüsse impliziert, die Freiheit zum Ausstieg<br />

oder zu anderen, neuen Anschlüssen will gewahrt sein. Auch<br />

Medialität ist mit der Möglichkeit von Wechseln verb<strong>und</strong>en,<br />

bis hin zum tendenziellen Verzicht auf ihre sinnliche Äußerlichkeit<br />

zugunsten eines sinnhaft erlebten Inneren <strong>–</strong> in dem<br />

andere mediale Formen, etwa die des Selbstgesprächs in<br />

Sprach- <strong>und</strong> Bildfragmenten beansprucht werden. In pentecostalen<br />

Formen von Geistchristentum wird dagegen der<br />

Geist selbst verkörpert, etwa in Flammen, Zungenreden oder<br />

Ekstase, <strong>und</strong> an die Stelle von intersubjektiv sich aufbauendem<br />

Verstehen treten autoritativ vom charismatischen Kult<strong>und</strong><br />

Gemeindeleiter vorgegebene Deutungsmuster für solche,<br />

auch somatisch sichtbare Zustände von Geistergriffenheit<br />

<strong>und</strong> -entrücktheit. Aus dem eigenen Dabeisein wird ein<br />

bloßes Instrument des Geistes eines anderen. Aber auch bei<br />

dieser Abgrenzung gilt, dass auch für <strong>protestantische</strong> <strong>Ekklesiologie</strong><br />

der Geist verkörpert sein will <strong>–</strong> allerdings symbolisch,<br />

nicht somatisch. Sonst wird er zum Gespenst.<br />

72


Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong><br />

Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> sei nun nach den <strong>Ekklesiologie</strong>n<br />

von Hegel <strong>und</strong> Schleiermacher gefragt, bevor abschließend<br />

der Diskurs mit dem <strong>Verkörperung</strong>s-Diskurs wieder aufgenommen<br />

wird.<br />

3. Hegel <strong>und</strong> Schleiermacher über Gott, Geist<br />

<strong>und</strong> Gemeinde<br />

Hegels wie Schleiermachers Religionstheorien zeigen ein<br />

starkes sozialphilosophisches Gepräge. Theologie wird in Soziologie<br />

übersetzbar, das Gottesverhältnis erscheint ebenso<br />

als Sozialverhältnis <strong>und</strong> fungiert als dessen Ausdruck. Bei Hegel<br />

macht sich dies in einem gleichsam kultursoziologischen<br />

Zugriff auf die Religionsthematik geltend. Danach kommt in<br />

der Religion symbolisch verschlüsselt zum Ausdruck, was ein<br />

Volk »für das Wahre hält«. 23 Damit ist weniger theoretisches<br />

Wissen gemeint, im Mittelpunkt stehen die Formative des sozialen<br />

Lebens mit ihrer impliziten Normativität. So werde das<br />

»Individuum« als solches sozial erst dann anerkannt, wenn<br />

Individualität <strong>–</strong> wie in der Trinität <strong>–</strong> »im göttlichen Wesen«<br />

ihren Ort hat <strong>und</strong> der »Einzelne« in der »Idee der Menschwerdung«<br />

»positiv angeschaut wird«. 24 Ihre Realität hat diese Idee<br />

im kontingenten »Ist« des einen Menschen, 25 der als bloße<br />

Realität für den Begriff, als der Einzige für Alle steht. Das<br />

führt dazu, dass die aus dem Jüngerkreis hervorgehende Ge-<br />

23 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie<br />

der Geschichte (ThWa Bd. 12), 70.<br />

24 Ebd.<br />

25 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie<br />

der Religion, Teile 1<strong>–</strong>3, hrsg. v. Walter Jaeschke (Hrsg.), Hamburg 1983<strong>–</strong><br />

1985 (= VorlRel), 5, 47.<br />

73


Jörg Dierken<br />

meinde nach dem Entzug seiner sinnlichen Präsenz den<br />

»Übergang vom bloßen Menschen zum Gottmenschen macht«,<br />

in dem sie ihn in die Gewissheit inneren Glaubens überführt.<br />

26 Dieser Übergang dürfte ein Grenzwert für das <strong>Verkörperung</strong>smotiv<br />

sein. Doch er ist gewissermaßen paradigmatisch<br />

für ein zentrales Moment von Intersubjektivität: den<br />

Übergang von Selbstsein zu Anderssein. Während beides<br />

idealerweise in Symmetrie zueinander steht <strong>und</strong> damit die<br />

Gr<strong>und</strong>struktur von Anerkennung ausmacht <strong>–</strong> wobei das Verhältnis<br />

zum Anderen dem Selbstverhältnis eingeschrieben ist<br />

wie vice versa <strong>–</strong> läuft dieses Ideal in realen <strong>und</strong> zeitlichen Vollzügen<br />

nur als implizites Sollensmoment in Asymmetrien<br />

mit Übergängen vom Einen zu den anderen, vom Selbst zum<br />

Anderssein mit. Genau ein solcher Übergang ist auch charakteristisch<br />

für das Verhältnis von Gott, Geist <strong>und</strong> Gemeinde.<br />

Geist ist bei Hegel keine numinose Größe, sondern Inbegriff<br />

einer Struktur, in der Selbst- <strong>und</strong> Anderssein im jeweiligen<br />

Selbstverhältnis durch ihr Verhältnis zum Anderen bestimmt<br />

sind <strong>und</strong> dieses in intersubjektiver Anerkennung<br />

vollziehen. Der Geist ist bei Hegel ein Letztbegriff, dessen tendenziell<br />

unendlicher Monismus alle Endlichkeit bis zum Einzelnen<br />

konstituierende Duale umfasst <strong>und</strong> von ihnen ebenso<br />

geöffnet wird. Solcher Duomonismus des Geistes gilt daher<br />

als das Absolute. Ebendarum kann aber der Geist nicht Gott<br />

als solcher sein. Vielmehr will die ideelle Absolutgeltung des<br />

Geistes im subjektiven Bewusstsein vollzogen <strong>und</strong> zugleich<br />

intersubjektiv kommuniziert werden. Das ist die Pointe von<br />

Hegels religionsphilosophischer Spitzenformel, wonach Gott<br />

nur Geist ist, wenn er als Gemeinde existiert. 27 Umgekehrt<br />

26 VorlRel, 3, 250. Vgl. dazu ausführlicher vom Vf., Glaube <strong>und</strong> Lehre im<br />

modernen Protestantismus, Tübingen 1996, 267 ff.<br />

74


Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong><br />

sind es die intersubjektiven Kommunikationsvollzüge der<br />

Gemeinde, in denen nicht nur der »Übergang« zum Gottmenschen<br />

nach dem Tod Jesu, sondern auch die weiteren<br />

Symbole des Christentums artikuliert werden, einschließlich<br />

der Trinität als Symbol für den christlichen Gott. 28 Dass es auf<br />

sinnliche Verhältnisse wie Vater, Sohn, Zeugen usw. rekurriert,<br />

allerdings auf eine nicht einfach sinnlich vermittelbare<br />

Weise, macht seinen symbolischen Sinn aus. Er will allerdings<br />

hermeneutisch verstanden werden <strong>und</strong> gibt dabei über seine<br />

inneren Negationsmomente immer auch zu denken. Dieses<br />

Verhältnis von Sinnlichkeit <strong>und</strong> Sinn kennzeichnet die<br />

Medialität symbolischer Kommunikation des Christlichen.<br />

Exemplarisch lässt sich dies am Abendmahl zeigen, bei dem<br />

die äußere Vernichtung der medialen Zeichen durch innere<br />

Einverleibung den Sinn der glaubenden Aneignung Gottes in<br />

Christus darstellt.<br />

Hegels Christentumsdeutung weist <strong>–</strong> wie auch die anderer<br />

Religionen <strong>–</strong> ein klares Gefälle hin zu den Elementen »Kultus«<br />

<strong>und</strong> »Gemeinde« auf. Deren Konstitution ist mit der Explikation<br />

der gleichsam höchsten Begriffe verwoben <strong>und</strong> geht<br />

mit der medialen Artikulation von deren Kommunikationssymbolen<br />

einher. Mediale Kommunikation wird bei Hegel <strong>–</strong><br />

stärker als bei Schleiermacher <strong>–</strong> im Gefälle einer Dialektik, die<br />

primär in der Seite ihrer Gehaltlichkeit verankert ist <strong>und</strong> von<br />

da aus auf die Seite subjektiver Zustände hinübergeht, gedacht.<br />

Wie Schleiermacher entwickelt auch Hegel einen starken<br />

Sinn für Institutionen. Wie an der <strong>Ekklesiologie</strong> deutlich<br />

wird, können Institutionen freilich auch die anarchische<br />

Lebendigkeit symbolischer Kommunikation hemmen. Das<br />

27 Vgl. VorlRel, 1, 33; 3, 250.<br />

28 Vgl. VorlRel, 3, 251.<br />

75


Jörg Dierken<br />

zeigt sich bei Hegel insbesondere darin, dass die institutionalisierte<br />

<strong>Kirche</strong> nach ihrem Entstehen als Gemeinde es am<br />

Ende nur noch mit der geisthaften, aber auch gleichförmigen<br />

Sozialisation von Einzelnen zu tun hat, während ihre soziokulturelle<br />

Spitze im Verlauf ihrer Geschichte tendenziell<br />

transformiert <strong>und</strong> in andere Gestalten des Geistes »aufgehoben«<br />

wird. 29 Gemeint sind die sich entwickelnde autonome<br />

Sittlichkeit von Familie, Wirtschaftsgesellschaft <strong>und</strong> insbesondere<br />

Staat auf der einen Seite <strong>und</strong> die Philosophie mit ihrem<br />

reinbegrifflichen Denken auf der anderen Seite. Hegel<br />

lässt keinen Zweifel daran, dass er die Sittlichkeit im Praktischen<br />

<strong>und</strong> die Philosophie im Theoretischen als die besseren<br />

Realisierungsgestalten des Geistes der Gemeinde erachtet.<br />

Die Rationalität beider Aufhebungsfiguren lässt sich plausibilisieren:<br />

die Aufhebung in Sittlichkeit aufgr<strong>und</strong> der mit<br />

dem subjektiven Glauben verb<strong>und</strong>enen Partikularität des religiösen<br />

Gemeindegeistes, <strong>und</strong> die Aufhebung in Philosophie<br />

aufgr<strong>und</strong> der Reflexivität, die die Übergänge in negationsvermittelter<br />

symbolischer Kommunikation ermöglicht <strong>und</strong><br />

darüber hinaus auf einen sie selbst einholenden Abschluss<br />

drängt. Hierfür steht das sich denkende Denken <strong>–</strong> obwohl es<br />

in der kontemplativen Theoria zur intellektuellen Anschauung<br />

gelangen soll. Das lässt die gr<strong>und</strong>legende Frage aufkommen,<br />

ob nicht gegenläufig zu jenen Aufhebungsfiguren der<br />

als solcher faktisch leer werdende Systemabschluss eine<br />

Pointe darin haben kann, die Verweisstruktur symbolischer<br />

Kommunikation zu vergegenwärtigen, die sich aber gerade in<br />

deren Vollzügen selbst bewähren muss. Das würde auf eine<br />

Lesart Hegels hinauslaufen, die eine gegenläufig-komplementäre<br />

Aufhebung der Philosophie in die Gestalten von Re-<br />

29 Vgl. VorlRel, 3, 163 ff.; 167 ff.; 256 ff; 262 ff.<br />

76


Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong><br />

ligion <strong>und</strong> Kunst kennt. Für das Verhältnis von Absolutem<br />

zur Sittlichkeit des objektiven Geistes dürfte Ähnliches gelten,<br />

mit Konkretionen im Gang von der Allgemeinheit des<br />

Staats hin zu Zivil- <strong>und</strong> Wirtschaftsgesellschaft <strong>und</strong> den Sozialformen<br />

von Geschlechter- <strong>und</strong> Generationenverhältnissen.<br />

Diese Lesart liegt nicht ganz fern von <strong>Verkörperung</strong>s-<br />

Motiven.<br />

Auch für Schleiermacher ist Religion primär ein Phänomen<br />

des geschichtlich-sozialen Lebens. Nach seinem ethischen<br />

Quadrupel ist sie individuelles Symbolisieren, worin<br />

sich das Vernünftige in einer unendlichen Fülle von naturhaft<br />

Endlichem darstellt <strong>und</strong> in jeweils innerliche subjektive<br />

Zustände eingeht. Danach ist Religion sowohl zuständliche<br />

Frömmigkeit mit ihrem Akzent auf Individuellem <strong>und</strong> Innerlichem,<br />

aber sie ist ebenso »Communikation« <strong>und</strong> »Zirkulation«.<br />

30 Individuum <strong>und</strong> Gemeinschaft lassen sich nicht<br />

gegeneinanderstellen, ebenso wenig wie das Subjektive <strong>und</strong><br />

das Soziale. Das zeigt schon die Einleitung von Schleiermachers<br />

Glaubenslehre, insofern sie »Lehnsätze aus der Ethik«<br />

präsentiert, welche der subjekt- <strong>und</strong> sozialtheoretischen »Basis<br />

[…] kirchlicher Gemeinschaften« nachgehen. 31 Nicht erst<br />

die Kommunikation, sondern bereits Frömmigkeit als solche<br />

30 Friedrich Schleiermacher, Die christliche Sitte, nach den Gr<strong>und</strong>sätzen<br />

der evangelischen <strong>Kirche</strong> im Zusammenhange dargestellt (= CS), aus<br />

Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse <strong>und</strong> nachgeschriebenen<br />

Vorlesungen, hrsg. v. Ludwig Jonas, Berlin 2 1884, 510; Ders., Die praktische<br />

Theologie, nach den Gr<strong>und</strong>sätzen der evangelischen <strong>Kirche</strong> im Zu -<br />

sammenhange dargestellt (= PT), aus Schleiermachers handschriftlichem<br />

Nachlasse <strong>und</strong> nachgeschriebenen Vorlesungen, hrsg. v. Jacob Frerichs,<br />

Berlin 1850, 65.<br />

31 Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube, nach den Gr<strong>und</strong>sätzen<br />

der evangelischen <strong>Kirche</strong> im Zusammenhange dargestellt (= CG),<br />

hrsg. v. Martin Redeker, Berlin 1960, § 3.<br />

77


Jörg Dierken<br />

ist mehr als etwas bloß Innerliches oder gar Privates. Frömmigkeit<br />

steht als Gefühl oder »unmittelbares Selbstbewusstsein«<br />

im Übergang von Wissen <strong>und</strong> Tun, die auf je entgegengesetzte<br />

Weise das Subjekt mit der Welt des Anderen zwischen<br />

Aufnehmen <strong>und</strong> Einwirken verwickeln. Das Subjekt lebt in<br />

Wechselzusammenhängen mit tendenziell allem, darin immer<br />

schon eingeb<strong>und</strong>en zu sein wird ihm als Frömmigkeit<br />

gegenwärtig. 32 Diesen holistischen Zug teilt Schleiermacher<br />

mit Hegel <strong>–</strong> wie auch das Motiv einer Freiheit des Subjekts.<br />

Denn im »Gesamtselbstbewusstsein« der Welt, genauer ihrer<br />

Ganzheit in Korrespondenz zur »Einheit unseres Selbstbewusstseins«,<br />

33 ist dieses als Teilmoment der Ganzheit immer<br />

auch über sie in seinem Für-sich-Sein hinaus, könnte es anderenfalls<br />

sie nicht in eigener Einheit haben. Diese Doppelstellung<br />

von Subjekt <strong>und</strong> Totalität schlägt sich in einer Doppelgestalt<br />

von entsprechenden Ideen nieder: der der Vielheit<br />

umfassenden Welt <strong>und</strong> der der korrelativen Einheit Gottes.<br />

Zugleich schattet sich durch diese Doppelstellung im Gefühl<br />

die transzendentale Voraussetzung der aufeinander bezogenen<br />

Gr<strong>und</strong>polaritäten von Schleiermachers System ab: Das in<br />

der Dialektik als transzendenter Gr<strong>und</strong> erschlossene, aber<br />

niemals als solches erreichbare Absolute, die Einheit von Denken<br />

<strong>und</strong> Sein, die hinter der von Natur <strong>und</strong> Vernunft steht<br />

<strong>und</strong> deren Bezogenheit in allen Differenzen des Endlichen<br />

ermöglicht. 34 Während die dialektische Theorie, die hinter<br />

32 Vgl. CG §§ 3 u. 4. Vgl. dazu ausführlicher vom Vf., Glaube <strong>und</strong> Lehre (s.<br />

Anm. 26), 357 ff.<br />

33 CG §§ 4.2; 8.2.<br />

34 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Dialektik (1814/15 [= D]), Einleitung<br />

zur Dialektik (1833), hrsg. v. Andreas Arndt, Hamburg 1988, §§ 212 ff.<br />

Vgl. dazu Ulrich Barth, Der Letztbegründungsgang der »Dialektik«, in:<br />

Ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 353 ff.<br />

78


Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong><br />

aller Theoriebildung steht, diese Einheit in einem begrifflich-reduktiven<br />

Verfahren im Ausgang von polaren Differenzen<br />

erschließt, wird sie dem Subjekt als Frömmigkeit in mental-emotiven<br />

Zuständen gewärtig, <strong>und</strong> zwar zusammen<br />

damit, dass sich das Subjekt in diesen selbstvollzogenen Zu -<br />

ständen immer schon vorfindet. Von diesem Sinn der Beschreibung<br />

von Frömmigkeit als Abhängigkeit lassen sich<br />

Linien zu <strong>Verkörperung</strong>sfiguren ziehen.<br />

Schleiermachers <strong>Ekklesiologie</strong> schließt an die interaktive<br />

<strong>und</strong> kommunikative Gr<strong>und</strong>struktur von Frömmigkeit an.<br />

Der Erlöser ist das Urbild von Frömmigkeit, insofern in ihm<br />

mögliche Konflikte von Gottes- <strong>und</strong> Weltbewusstsein, von<br />

Schleiermacher im Spiegel der niederen Vermögen von Lust<br />

<strong>und</strong> Unlust verfolgt, überw<strong>und</strong>en sind. Idealtypisch ist er als<br />

Person naturgewordene Vernunft <strong>und</strong> damit das individuelle<br />

Allgemeine. Solch vollkommene Mittlerschaft ist erst durch<br />

sein Erlösungsgeschäft in der Einbeziehung aller vollendet.<br />

Es ist ihm daher um die Stiftung eines neuen »Gesamtlebens«<br />

zu tun, <strong>und</strong> in die »Lebensgemeinschaft mit Christo« werden<br />

tendenziell alle durch Mitteilung seiner Seligkeit aufgenommen.<br />

35 Dies geschieht so, dass die Einzelnen durch ein in der<br />

»Ordnung des Freien« erfolgendes wechselseitiges »Mit- <strong>und</strong><br />

Aufeinander-Wirken« in den sie beseligenden »Gemeingeist«<br />

einbezogen werden, der der »Vereinigung des göttlichen Wesens<br />

[…] mit der menschlichen Natur« entspricht. 36 Entscheidend<br />

ist in diesem Zusammenhang, dass diese mit der Christologie<br />

parallelisierte pneumatologische Aufnahme in den<br />

Gemeingeist nicht die »personenbildende« Eigenart der Einzelnen<br />

zugunsten eines reinen »Gemeinbewusstseins«, das<br />

35 Vgl. CG §§ 91 ff.<br />

36 CG § 123.<br />

79


Jörg Dierken<br />

sich der Vollständigkeit »seines Seins in diesem Ganzen bewusst<br />

ist«, verdrängt. 37 Dann wären Christen <strong>und</strong> Christus<br />

ununterscheidbar <strong>–</strong> <strong>und</strong> zwar bar jeder Individualität. Dass in<br />

solch holistischer Vergemeinschaftung nicht alle dasselbe<br />

werden, haftet neben der empirischen Differenz in Raum <strong>und</strong><br />

Zeit an dem »vor der Wiedergeburt verflossenen Teil [des] Lebens«,<br />

mithin den Nachwirkungen der vergebenen Sünde im<br />

Erlösungsbewusstsein. 38 Diese starke, in der Gemeinde freilich<br />

schon eingehegte Differenz eröffnet die innere Dynamik<br />

ihrer tendenziell auf Dauer gestellten Kommunikation. Sie<br />

tilgt die Sterilität, die den mit dem über allen Widerstreit von<br />

Fleisch <strong>und</strong> Geist erhabenen Erlöser <strong>und</strong> die mit ihm parallelisierten<br />

Erlösten anderenfalls kennzeichnete. 39 Über diese<br />

Differenz ist ein weiterer Anker bei Schleiermacher für das<br />

<strong>Verkörperung</strong>s-Motiv zu finden. Denn diese Differenz ist<br />

nicht in Schleiermachers religiösem Gott oder seinem philosophischen<br />

Absoluten gehalten, die eben nur Einheit sind. Sie<br />

steht ihm in ihrer Realität gegenüber. Die aus den Nachwirkungen<br />

der vergebenen Sünde erwachsenden Differenzen ermöglichen<br />

es, dass in der realen Kommunikation Missverste-<br />

37 CG § 123.3.<br />

38 Ebd.<br />

39 In den beiden ekklesiologischen Individuationsmotiven, also der raumzeitlichen<br />

Differenz endlicher Subjekte unter anderen <strong>und</strong> der hamartiologischen<br />

Figur von »Nachwirkungen« der Sünde, liegt eine Spannung.<br />

Schleiermacher sucht sie faktisch über den geschichtsphilosophischen Ge -<br />

danken einer zunehmenden Durchdringung der ›Welt‹ durch das Christentum<br />

aufzuheben. Man kann sie <strong>–</strong> mit <strong>und</strong> gegen Schleiermacher <strong>–</strong> aber<br />

auch akzentuieren <strong>und</strong> in ihrem Zeichen die faktischen <strong>und</strong> kontingenten<br />

Vollzüge der Kommunikation zwischen endlichen Subjekten in deren<br />

Lebenssphäre hervorheben <strong>–</strong> was auf eine differenztheoretische Fassung<br />

des Verhältnisses von unendlichem <strong>und</strong> Endlichem hinausläuft. Davon<br />

wird im Folgenden Gebrauch gemacht.<br />

80


Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong><br />

hen, Abweichen <strong>und</strong> Widerstreit entstehen kann. Das ist für<br />

Schleiermacher legitim. Die Artikulationsformen des Christlichen<br />

sind vielfältig <strong>und</strong> geschichtlich wandelbar. Daher bedarf<br />

es sich ständig nachjustierender Regulative solcher Kommunikation.<br />

Eben dafür stehen die Medien des Wortes <strong>und</strong><br />

der Sakramente, gefolgt von den Vollzügen des Gebets im Namen<br />

Jesu <strong>und</strong> des Schlüsselamtes. Die Regeln zur Nachjustierung<br />

dieser Regulative in historisch unterschiedlichen Kontexten<br />

können freilich strittig werden. Das zeigen konfessionelle<br />

Dissense. Sie sind darum nicht nach dem Schema von<br />

Wahrheit <strong>und</strong> Abfall zu verstehen, sondern ein gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

legitimer Ausdruck für die Pluralität des Christlichen. Der<br />

Modus des Gemeinsamen dabei ist »Streit«. 40 Dass er nicht<br />

zum Impuls zur Vernichtung wird, sondern auch im Gebiet<br />

des Religiösen möglich bleibt, hängt daran, dass mit den Differenzen<br />

zwischen den Konfessionen die Spannung von sichtbarer<br />

<strong>und</strong> unsichtbarer <strong>Kirche</strong> offen gehalten wird. Das ist<br />

eine Grenze von <strong>Verkörperung</strong>. Sie kann wiederum verkörpert<br />

werden in einer Pluralität von <strong>Kirche</strong>n <strong>–</strong> wie schon der<br />

Christen als einzelnen. Solche <strong>Verkörperung</strong> kann freilich<br />

nicht exklusiv sein. Das zeigt sich im Optimalfall in einer<br />

Darstellung oder Artikulation, die den Streit kultiviert.<br />

4. Abspann<br />

Man ist offenbar nicht einfach im falschen Film, wenn es um<br />

Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong> geht, aber es<br />

handelt sich auch nicht um eine Serie zur simplen Erwartungsbestätigung.<br />

Beides sei im Abspann knapp festgehalten.<br />

40 CG 151.1.<br />

81


Jörg Dierken<br />

Gegenüber Modellen von Kognition, die diese als eine auf<br />

beliebiger Hardware spielbare algorithmische Software versteht,<br />

geht es wie im <strong>Verkörperung</strong>sdiskurs auch bei jenen<br />

Denkern um eine Geistigkeit, die nicht von allem Materiellen<br />

abgelöst wird <strong>und</strong> kontextfrei für sich steht. Symbolisieren<br />

wird bei Schleiermacher ohne sein Pendant, das Vernunft <strong>und</strong><br />

Natur verbindende Organisieren, leer; ebenso Hegels absoluter<br />

Geist, wenn er nicht an das gesellschaftliche <strong>und</strong> kulturelle<br />

Leben des objektiven als »zweite« Natur <strong>und</strong> des eben<br />

auch nur darin tätigen subjektiven Geistes als Durchdringung<br />

von »erster« Natur <strong>und</strong> Intelligenz zurückgeb<strong>und</strong>en<br />

bleibt. Auch das die <strong>Verkörperung</strong>sdiskurse kennzeichnende<br />

Motiv der Kontextualität fehlt bei ihnen nicht. Im Gegenteil,<br />

der Zusammenhang von tendenziell allem ist für beide Denker<br />

einer Rationalität des Relationalen charakteristisch, bis<br />

hin zu Grenzfiguren von Ganzheit oder eher theologisch: All-<br />

Einheit. Dass sie monotheistisch durch den Einen allein symbolisiert<br />

werden kann, legt sich angesichts des Für-sich-Moments<br />

des stets auf Anderes in stufenförmigen Weiterungen<br />

bezogenen Geistes nahe. Freilich entstammen die Begriffe des<br />

Ganzen, Universalen <strong>und</strong> Allgemeinen der Kreativität des Bewusstseins:<br />

Empirisch sind sie uneinholbar. Aber sie sind<br />

darum keine bloß wolkigen Gebilde, wie schon ihre grenzbegriffliche<br />

Orientierungskraft zeigt. So operiert Schleiermacher<br />

im Diesseits der Grenze mit plural gekreuzten Polaritäten,<br />

um Eigenart <strong>und</strong> Dynamik intersubjektiver Lebensvollzüge<br />

im Hier <strong>und</strong> Jetzt zu beschreiben; <strong>und</strong> Hegel fokussiert<br />

mit seiner Dialektik des Negativen gerade Differenzen im<br />

Monismus des Ganzen zur Bestimmung des Besonderen gegenüber<br />

dem Allgemeinen <strong>und</strong> deren Einheit im Einzelnen.<br />

Dass dies bei Hegel dazu führt, auch den Letztbegriff des Absoluten<br />

als in sich endlich, weil differenzgesättigt zu denken,<br />

82


Hegel, Schleiermacher <strong>und</strong> die <strong>Verkörperung</strong><br />

während bei Schleiermacher das Absolute eine negative Einheit<br />

im Jenseits bleibt, in dessen Diesseits die in jener Einheit<br />

nicht mehr gehaltenen Differenzen der beschreibenden Polaritäten<br />

unerklärt in Anspruch genommen werden, markiert<br />

den Gipfel der Debatten zwischen jenen klassischen Meisterdenkern.<br />

Ob die Teilnehmer am <strong>Verkörperung</strong>sdiskurs überhaupt<br />

Interesse an einer Expedition zu solchen Gipfellagen<br />

haben, mag dahingestellt bleiben.<br />

Im Blick auf die Mühen der Ebene lässt sich von hier aus<br />

an den aufsteigenden Richtungssinn, mit dem jene Denker<br />

die Übergänge von Natur <strong>und</strong> Vernunft, Leib <strong>und</strong> Geist, Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> Kultur beschreiben, die Rückfrage stellen, ob<br />

nicht ebenso ein Abstieg angezeigt wäre, um die Pointe ihres<br />

Ineinanders <strong>–</strong> Schleiermacher <strong>–</strong> oder ihrer Vermittlung <strong>–</strong> Hegel<br />

<strong>–</strong> darzustellen. Deren Sinn muss sich auch im Sinnlichen<br />

medial symbolisieren, freilich unter Wahrung des Negationsmoments<br />

von Symbolisierung. Nur es erlaubt es, Zeichen <strong>und</strong><br />

Bedeutung, Medium <strong>und</strong> Message auseinanderzuhalten. Das<br />

ist Religions- <strong>und</strong> <strong>Kirche</strong>ntheorien, für die das Absolute gerade<br />

im Nichtabsoluten erscheint, nicht ganz fremd. Sie müssen<br />

allerdings aufpassen, das Absolute nicht kurzschlüssig<br />

nur in einem, stets partikularen, Nichtabsoluten, etwa dieser<br />

<strong>Kirche</strong> oder gar ihren Adiaphora allein, zu identifizieren. Der<br />

damit gesetzten Tendenz zur Fragmentierung der Symbolisierung<br />

in unendliche Partikularerscheinungen können die<br />

pragmatischen Intuitionen des <strong>Verkörperung</strong>s-Diskurses<br />

entgegenwirken: nämlich dadurch, dass Symbolisierung mit<br />

Kommunikation in einem intersubjektiven Gespräch verb<strong>und</strong>en<br />

wird. Darin liegt etwas Gemeinsames, sogar noch im<br />

Streit. Sein Ort sind die Lebensvollzüge selbst <strong>und</strong> nicht deren<br />

Jenseits. Man mag im Blick auf das <strong>Verkörperung</strong>s-Denken<br />

fragen, ob »Kognition« wirklich sein gemeinsamer Nenner<br />

83


Jörg Dierken<br />

sein kann oder nicht eher »Handeln« in weitestem, mithin<br />

auch kommunikativem Sinn.<br />

Allerdings lebt ein solches Gespräch von einer Voraussetzung,<br />

die es nicht erbringen kann: nämlich dass seine Akteure<br />

sich selbst in es verwickeln lassen wollen. Für eigenes Wollen<br />

ist in irgendeiner Weise ihr Selbstverhältnis, das Rückbezüglichkeit<br />

mit Spontaneität verbindet, gefragt. Es setzt das Vermögen<br />

eigener Unterscheidung <strong>und</strong> Positionierung voraus<br />

<strong>und</strong> kann darum nicht nur kontextabhängig sein. Spontaneität<br />

mit Reflexivität zu verbinden <strong>und</strong> zwar im Horizont verschieblicher<br />

Kontexte bzw. Welten ist ein Gr<strong>und</strong>merkmal von<br />

Subjektivität. An ihm haftet nicht nur Wollen, sondern auch<br />

das an einem Gemeinsamen orientierte Wollen, kurz: Normativität<br />

überhaupt. Ihre Geltung impliziert immer auch<br />

Unterbrechungen bis zu kontrafaktischen Unterstellungen <strong>–</strong><br />

etwa Unterbrechungen des Determiniertseins von Kommunikation<br />

durch Kontextualität <strong>und</strong> kontrafaktische Unterstellung<br />

von je eigenem orientiertem Wollen <strong>–</strong>, <strong>und</strong> sie kennt<br />

gegenläufig dazu auch die Dimensionen des Gemeinsamen<br />

bis hin zum Allmeinen <strong>und</strong> Ganzen. Wie das Ganze bildet<br />

auch das Kontrafaktische einen Gr<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Grenzbegriff<br />

symbolisch-medialer Kommunikation. In deren Gefälle zum<br />

Praktischen hin wird auch das sichtbar, was nicht unbedingt<br />

im Fokus des <strong>Verkörperung</strong>s-Diskurses steht: Nämlich das<br />

Normative, dessen Realitätsmodus Geltung ist.<br />

Das zeigt sich, wenn man vom <strong>Verkörperung</strong>s-Diskurs<br />

auf Hegel <strong>und</strong> Schleiermacher <strong>und</strong> wieder zurück blickt.<br />

84


Matthias Jung<br />

Artikulation, Bewusstsein<br />

<strong>und</strong> Religion<br />

Die Zukunft einer Illusion, so betitelte Sigm<strong>und</strong> Freud einen<br />

Text, der heute zu den großen Klassikern der Religionskritik<br />

zählt. 1 1927 erschienen, nutzt er das Vokabular der Freudschen<br />

Psychologie <strong>und</strong> Psychoanalyse, um jede Form religiösen<br />

Glaubens unterschiedslos als illusionär, ja geradezu als<br />

kollektive Zwangsneurose zu charakterisieren. Freud schickte<br />

ein Exemplar dieses Buchs an den französischen Schriftsteller<br />

<strong>und</strong> Literaturnobelpreisträger Romain Rolland, <strong>und</strong> dieser<br />

reagierte mit einem Brief, den Freud wiederum, teils als Zitat,<br />

teils in Paraphrase, an den Beginn seiner Schrift über Das Unbehagen<br />

in der Kultur von 1930 stellte. Rollands Antwort <strong>und</strong><br />

Freuds Reaktion darauf führen mitten in die Frage hinein,<br />

wie sich leibgeb<strong>und</strong>enes Erleben <strong>und</strong> symbolische Artikulation<br />

in religiösen Dingen zueinander verhalten.<br />

Rolland, so führt Freud aus, sei mit seinem, Freuds, Urteil<br />

über die Religion ganz einverstanden, bedauere aber, dass er<br />

»die eigentliche Quelle der Religion nicht gewürdigt hätte«.<br />

Diese Quelle bestehe nun in einem besonderen Gefühl, das<br />

ihn, Rolland »nie zu verlassen pflege, das er von vielen anderen<br />

bestätigt gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> bei Millionen Menschen voraus-<br />

1 Sigm<strong>und</strong> Freud, Die Zukunft einer Illusion, in: Ders., Kulturtheoretische<br />

Schriften, Studienausgabe Bd. IX, Frankfurt a. M. 1974.<br />

85


Matthias Jung<br />

setzen dürfe. Ein Gefühl, dass er die Empfindung der ›Ewigkeit‹<br />

nennen möchte, ein Gefühl wie von etwas Unbegrenztem,<br />

Schrankenlosem, gleichsam ›Ozeanischem‹ […] Nur auf Gr<strong>und</strong><br />

dieses ozeanischen Gefühls dürfe man sich religiös heißen,<br />

auch wenn man jeden Glauben <strong>und</strong> jede Illusion ablehne.« 2<br />

Es wird niemanden überraschen, dass Freud nicht beeindruckt<br />

war. Er reagiert kühlt <strong>und</strong> konstatiert; nicht nur könne er<br />

dieses Gefühl in sich selbst nicht entdecken, überhaupt sei es<br />

»nicht bequem, Gefühle wissenschaftlich zu bearbeiten«. 3 Man<br />

spürt beim Lesen des Textes förmlich, wie sich der Rationalist<br />

Freud angesichts der in seinen Augen peinlichen Gefühlsduseleien<br />

windet, mit denen Rolland vielleicht nicht die positiven<br />

Religionen, aber doch das Religiöse retten möchte.<br />

Sein Haupteinwand gilt der epistemischen Rolle von Gefühlen:<br />

»Die Idee«, so schreibt Freud, »daß der Mensch durch<br />

ein unmittelbares, von Anfang an hierauf gerichtetes Gefühl<br />

K<strong>und</strong>e von seinem Zusammenhang mit der Umwelt erhalten<br />

sollte, klingt so fremdartig, fügt sich so übel in das Gewebe<br />

unserer Psychologie, daß eine psychoanalytische, d. h. genetische<br />

Ableitung eines solchen Gefühls versucht werden darf«. 4<br />

Auf diese Ableitung, die mit der Unterscheidung von Lust<strong>und</strong><br />

Realitätsprinzip arbeitet, kann ich hier nicht näher eingehen.<br />

Der entscheidende Punkt ist ein anderer, nämlich<br />

der, dass Freud hier die Existenz eines Phänomens abstreitet,<br />

das in Phänomenologie <strong>und</strong> embodied cognition-Forschung<br />

mittlerweile fest etabliert ist <strong>und</strong> breit diskutiert wird. Gemeint<br />

sind die sog. »existential feelings« oder »feelings of<br />

2 Sigm<strong>und</strong> Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: Ders., Kulturtheoretische<br />

Schriften, Studienausgabe Bd. IX, Frankfurt a. M. 1974, 197.<br />

3 A. a. O., 198.<br />

4 Ebd.<br />

86


Artikulation, Bewusstsein <strong>und</strong> Religion<br />

being alive«, wie sie zuerst Matthew Ratcliffe im Detail beschrieben<br />

<strong>und</strong> im Blick auf ihre psychopathologische Bedeutung<br />

analysiert hat. 5 Existentielle Gefühle sind mehr oder<br />

minder dauerhafte, oft eher im Hintergr<strong>und</strong> bleibende <strong>und</strong><br />

in unser Leibgefühl eingebettete affektive Zustände, in denen<br />

uns unser Verhältnis zum Ganzen unserer Existenz gewahr<br />

wird. In psychiatrischen Krankheiten zeigt sich dies besonders<br />

eindringlich, weil dann die Einbettung des Selbst in eine<br />

selbstverständliche Lebenswelt schwindet <strong>und</strong> die Wirklichkeit<br />

als fremd, unzugänglich <strong>und</strong> unverständlich wahrgenommen<br />

wird. Auf die existentiellen Gefühle wird noch zurück<br />

zu kommen sein. Wichtig ist hier zunächst, dass sie etwas<br />

exemplifizieren, das außerhalb des kognitiven Horizonts<br />

des Begründers der Psychoanalyse lag: ein erlebtes, leiblichpräreflexives<br />

Verhältnis zur Realität im Ganzen <strong>und</strong> ihrer Bedeutungshaftigkeit.<br />

Hat also Rolland gegen Freud recht behalten? Ja <strong>und</strong> nein.<br />

Ja, insofern das von ihm evozierte ozeanische Gefühl ganz<br />

nüchtern phänomenologisch beschrieben werden kann, eben<br />

als Spielart jener existential feelings, auf die uns Ratcliffe, <strong>und</strong><br />

vor ihm ansatzweise etwa Dilthey 6 <strong>und</strong> Heidegger 7 hingewiesen<br />

haben. Zwischen existentiellen Gefühlen <strong>und</strong> religiösen<br />

Gr<strong>und</strong>haltungen gibt es in der Tat einen Zusammenhang,<br />

auf den ich noch eingehen werde. Nein, insofern Rolland<br />

sein Konto deutlich überzieht: Was uns im Erleben als<br />

5 Matthew Ratcliffe, The Phenomenology of Existential Feeling, in:<br />

Joerg Fingerhut/Sabine Marienberg (Hrsg.), Feelings of Being Alive,<br />

Berlin/Boston 2012.<br />

6 Vgl. Wilhelm Dilthey, Weltanschauungslehre, Abhandlungen zur Philosophie<br />

der Philosophie. Gesammelte Schriften Bd. VIII, Stuttgart/Göttingen<br />

1960.<br />

7 Vgl. Martin Heidegger, Sein <strong>und</strong> Zeit, Tübingen 1979, § 29.<br />

87


Matthias Jung<br />

die Bedeutsamkeit unseres Lebens im Ganzen gewahr wird,<br />

ist nicht schon selbst religiös <strong>und</strong> schon gar nicht Religion.<br />

Erst durch kontingente, pfadabhängige, soziokulturelle Artikulationsleistungen,<br />

die dann ihrerseits auf erlebte Qualitäten<br />

zurückwirken, kann Bedeutsamkeit in konkrete Bedeutung<br />

überführt, können rituelle Vollzüge etabliert <strong>und</strong> Institutionen<br />

gestiftet werden. Es braucht also den Schritt vom<br />

individuellen Erleben zum geteilten Bewusstsein 8 <strong>und</strong> damit<br />

vom Okkasionellen zur auf Dauer gestellten <strong>und</strong> kulturell<br />

tradierten Sinnfigur. Selbst ein derart vager <strong>und</strong> metaphorischer<br />

Begriff wie »ozeanisch« stellt schließlich eine kulturelle<br />

Interpretationsleistung dar <strong>und</strong> nichts, was an Lebensqualitäten<br />

unmittelbar abzulesen wäre. Auch der alte Rationalist<br />

Freud hatte also recht: mit der bloßen Evokation von Erlebnisquellen<br />

ist religionstheoretisch kein Staat zu machen.<br />

Existenzielle Gefühle sind leibliche Reaktionen des Organismus;<br />

sie manifestieren psychosomatisch, wie es um unser<br />

In-der-Welt-Sein im Ganzen steht. Metaphorisch <strong>und</strong> mit<br />

einem Seitenblick auf Hartmut Rosas Resonanztheorie 9 gesprochen:<br />

Leib <strong>und</strong> Welt teilen sich einen Resonanzraum, der<br />

zum Schwingen gebracht werden, aber auch verstummen<br />

kann. Doch nur mit den Mitteln einer symbolischen Sprache,<br />

die das leibliche Erleben ebenso sehr voraussetzt wie transzendiert,<br />

können aus affektiven Schwingungen Haltungen<br />

<strong>und</strong> Überzeugungen werden. Die reflexive Artikulation des<br />

gelebten Lebens <strong>und</strong> ihr Rückgang in die Unmittelbarkeit des<br />

leiblichen Vollzugs machen zusammen den Gr<strong>und</strong>rhythmus<br />

8 Michael Tomasello, Becoming Human. A Theory of Ontogeny, Cambridge/London<br />

2019.<br />

9 Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin<br />

2016.<br />

88


Artikulation, Bewusstsein <strong>und</strong> Religion<br />

unserer Existenz aus, die dynamische Bewegung der symbolischen<br />

<strong>Verkörperung</strong>. Damit lasse ich die von Rosa doch stark<br />

strapazierte Schwingungsmetapher hinter mir <strong>und</strong> wende<br />

mich der begrifflichen Struktur symbolischer <strong>Verkörperung</strong><br />

zu. In einem ersten Teil werde ich die Dreischrittigkeit des basalen<br />

Artikulationsverhältnisses zwischen leiblichem Erleben<br />

<strong>und</strong> symbolischem Sinn erläutern. Teil zwei erläutert<br />

meine anthropologische Gr<strong>und</strong>annahme, Menschen seien<br />

verkörperte Symbolverwender. Der abschließende, dritte Teil<br />

trägt den von Thomas Nagel geborgten Titel Was bedeutet<br />

das alles? 10 In ihm behandle ich Weltanschauungen <strong>und</strong> Religionen<br />

als optionale, symbolisch-praktische Deutungsversuche<br />

unseres Weltverhältnisses im Ganzen, die bei aller Elaboriertheit<br />

immer auf individuelle <strong>und</strong> kollektive Erfahrungen<br />

bezogen bleiben.<br />

1. Das triadische Schema der Artikulation<br />

Mit Charles Taylor können wir den Menschen als »language<br />

animal« 11 verstehen, als ein Wesen, dessen Lebensform als<br />

Ganze durch die Fähigkeit zum Sprechen einer Symbolsprache<br />

geprägt ist. Die bis heute dominierende analytische<br />

Sprachphilosophie hat sich jedoch häufig auf geistige Bedeutungen<br />

konzentriert, die dann zwar auch eines physischen<br />

Trägermaterials bedürfen, dessen Beziehung zur Bedeutung<br />

jedoch als kontingent gedacht wird. Die »Bedeutung von Be-<br />

10 Thomas Nagel, Was bedeutet das alles? Eine ganz kurze Einführung in<br />

die Philosophie, Stuttgart 2012.<br />

11 Charles Taylor, The Language Animal. The Full Shape of the Human Linguistic<br />

Capacity, Cambridge/London 2016.<br />

89


Matthias Jung<br />

deutung« 12 erscheint so als rein geistige Bezugnahme auf etwas,<br />

ohne dass dabei der Wechselbeziehung zwischen der<br />

physischen <strong>und</strong> der ideellen Seite der Sprache ernstlich Beachtung<br />

geschenkt würde. Gegen diesen referenzfixierten<br />

Mainstream des westlichen Sprachdenkens richten sich von<br />

Wilhelm von Humboldt bis Taylor alternative Auffassungen<br />

der Sprache, die diese als artikulierend <strong>und</strong> intrinsisch verkörpert<br />

betrachten. Beide Aspekte sind intern verb<strong>und</strong>en: Wir<br />

artikulieren dasjenige, was sich im leiblichen Erleben <strong>und</strong><br />

in organischen Interaktionserfahrungen als bedeutungsvoll<br />

zeigt, <strong>und</strong> wir vermögen dies nur, indem wir dabei auf physische<br />

Gliederungsmuster zurückgreifen. Wilhelm von Humboldt<br />

bringt das unnachahmlich zum Ausdruck, wenn er die<br />

Sprache als das »bildende Organ des Gedanken[s]« 13 bezeichnet.<br />

Die menschliche Stimme ist das sinnfälligste Beispiel für<br />

diese stützende <strong>und</strong> gliedernde Funktion des Leibs, aber auch<br />

andere leibliche Strukturen spielen eine zentrale Rolle. So haben<br />

etwa Lakoffs <strong>und</strong> Johnsons Untersuchungen gezeigt, dass<br />

Position <strong>und</strong> Bewegungsdynamik unseres Leibs im Raum die<br />

wichtigste Basis für Metaphern bilden. 14 »Sich aufrichten« ist<br />

beispielsweise nie nur eine muskuläre Aktivität, es verkörpert<br />

<strong>und</strong> exemplifiziert, wenn wir etwa davon sprechen, »aufrecht<br />

durchs Leben zu gehen«, unser Weltverhältnis im Ganzen.<br />

Verkörpert sind Sprache <strong>und</strong> Geist darüber hinaus durch den<br />

Gebrauch, den sie von physischen Strukturen in der Umgebung<br />

des Organismus machen. Autoren der embedded cogni-<br />

12 Hilary Putnam, Die Bedeutung von »Bedeutung«, Frankfurt a. M. 1990.<br />

13 Wilhelm von Humboldt/Donatello Di Cesare (Hrsg.), Über die<br />

Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus <strong>und</strong> ihren Einfluß auf die<br />

geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, Paderborn u. a. 1998, 181.<br />

14 George Lakoff/Mark Johnson, Metaphors We Live By, Chicago/London<br />

2003.<br />

90


Artikulation, Bewusstsein <strong>und</strong> Religion<br />

tion sprechen hier von cognitive outsourcing, <strong>und</strong> gemeint<br />

ist, dass physische Umgebungsmerkmale kognitive Funktionen<br />

übernehmen, so wenn etwa Kiesel zum Rechnen benutzt<br />

werden. Ein weiterer, entscheidender <strong>Verkörperung</strong>sschritt<br />

liegt dann in der systematischen Verfertigung von Artefakten<br />

aller Art, deren Bedeutung für den menschlichen Geist in der<br />

material engagement-Theorie von Lambros Malafouris 15 herausgearbeitet<br />

wird. Artefakte lassen sich ihm zufolge nicht<br />

hylemorphistisch verstehen, d. h. sie entstehen nicht durch<br />

bloße Einprägung einer geistigen Vorlage in ein passives Material,<br />

sondern gehen aktiv in die durch sie ermöglichten kognitiven<br />

Prozesse ein.<br />

Die Idee der <strong>Verkörperung</strong> steht hierbei gleichermaßen in<br />

Distanz zu idealistischen wie zu materialistischen Positionen.<br />

Wären wir rein physische Wesen, wäre die Rede von <strong>Verkörperung</strong><br />

nämlich sinnlos. Sie darf aber selbstverständlich<br />

auch umgekehrt nicht so verstanden werden, als ob wir über<br />

einen vom <strong>Körper</strong> unabhängigen <strong>und</strong> vorgängigen Geist verfügten,<br />

der sich dann ex post angemessene <strong>Verkörperung</strong>en<br />

suchte. Die Gr<strong>und</strong>idee besagt vielmehr, wenigstens in der von<br />

mir vertretenen Lesart, dass geistiger Sinn <strong>und</strong> seine physischen<br />

Substrate streng komplementär sind, allerdings so,<br />

dass mit der Entstehung symbolischer Kommunikation Bedeutungen<br />

möglich werden, die nur noch indirekt an physische<br />

Erfahrung geb<strong>und</strong>en sind. Was damit genauer gemeint<br />

ist, soll nun mithilfe der Triade der Artikulation verdeutlicht<br />

werden. Dabei wird unter »Artikulation« ganz allgemein die<br />

sachlogisch gliedernde Herausarbeitung von semantischen<br />

Bedeutungen mithilfe physischer Mittel verstanden.<br />

15 Lambros Malafouris, How Things Shape the Mind. A Theory of Material<br />

Engagement, Cambridge 2013.<br />

91


Matthias Jung<br />

Den Ausgangspunkt aller Artikulationsprozesse bilden in<br />

der pragmatistischen Konzeption, die ich hier vertrete, immer<br />

Situationsqualitäten. Unsere primäre Wirklichkeitserfahrung<br />

ist qualitativ, sie besteht darin, dass sich die Situationen,<br />

die wir durchleben, auf eine bestimmte, ihnen Einheit<br />

verleihende Weise anfühlen, weil sie jeweils spezifische<br />

Qualitäten des Interaktionszusammenhangs zwischen unserem<br />

Organismus <strong>und</strong> seiner Umgebung präsent machen<br />

(nicht etwa: repräsentieren). Bewusst wird uns das immer nur<br />

dann, wenn diese Interaktionseinheit als problematisch <strong>und</strong><br />

bestimmungsbedürftig erscheint. In Situationsqualitäten<br />

sind die komplexen biographischen Erfahrungen von Individuen<br />

<strong>und</strong> die jeweils neu hinzukommenden Aspekte zu einer<br />

gestalthaften Einheit verschmolzen. In dem Moment, in dem<br />

wir beginnen, Ähnlichkeiten zwischen Situationen zu erkennen,<br />

gebrauchen wir bereits ikonische Zeichen, die erste Stufe<br />

von Artikulationsprozessen. Ikonische Qualitäten verkörpern<br />

Möglichkeiten weiterer Bestimmung, sie können aber auch<br />

in entfalteten Zeichensystemen konventionalisiert auftreten,<br />

etwa in Form von Logos oder Emojis.<br />

Soziale <strong>und</strong> physische Interaktionserfahrungen bilden die<br />

zweite Stufe der Artikulationsdynamik, der als Zeichentypus<br />

der Index entspricht. In solchen Erfahrungen manifestiert<br />

sich die Eigenständigkeit der uns begegnenden Realität gegenüber<br />

unseren Annahmen von ihr. Charles S. Peirce spricht<br />

in diesem Zusammenhang von einem »direct consciousness<br />

of hitting and of getting hit«, das in jede Kognition eingeht<br />

»and serves to make it mean something real« 16 . Wenn ich beispielsweise<br />

den Gesichtsausdruck einer anderen Person iko-<br />

16 Charles Sanders Peirce, An American Plato. Review of Royce’s Religious<br />

Aspect of Philosophy, in: Nathan Houser/Christian Kloesel<br />

92


Artikulation, Bewusstsein <strong>und</strong> Religion<br />

nisch als Lächeln interpretiere <strong>und</strong> mich ihr dann fre<strong>und</strong>lich<br />

nähere, werden erst ihre Reaktionen mich darüber belehren,<br />

ob meine ikonische Zeichenwahrnehmung auch realitätshaltig<br />

war. Aus regelmäßig eintretenden Reaktionen wie einer<br />

zum Gruß ausgestreckten Hand werden dann soziale Indexzeichen,<br />

aus kausalen Zusammenhängen wie dem berühmten<br />

Windsack an Autobahnbrücken solche, die sich auf Naturphänomene<br />

beziehen. Während der elementare <strong>Verkörperung</strong>smodus<br />

ikonischer Zeichen leiblich erlebte Qualitäten<br />

sind, sind Indexzeichen auf der Ebene physischer Interaktionserfahrungen<br />

angesiedelt. In beiden Fällen aber, <strong>und</strong> das<br />

ist hier der springende Punkt, handelt es sich um Formen<br />

eines direkten Realitätskontakts. Ikonische <strong>und</strong> indexikalische<br />

Zeichen setzten die leibliche Kopräsenz der am Zeichenprozess<br />

Beteiligten in einem geteilten Wahrnehmungsraum<br />

voraus.<br />

Die Ablösung von dieser physischen Einheit des Hier<strong>und</strong>-Jetzt<br />

gelingt nur über symbolische Zeichen, die ihre Bedeutung<br />

nicht einer direkten Bezugnahme auf Qualitäten<br />

oder physische Interaktionen verdanken, sondern einer gewissermaßen<br />

›horizontalen‹ Vernetzung der Symbolzeichen<br />

untereinander. Was z. B. das Symbolzeichen »Mutter« bedeutet,<br />

bestimmt sich, wie Robert Brandom gezeigt hat, durch<br />

seinen logischen Ort in einem System von innersprachlichen<br />

Bezügen; 17 es wird dadurch vom lokalen Kontext seiner Verwendung<br />

unabhängig. Es ist diese Eigenschaft symbolischer<br />

Sprachen, die es uns möglich macht, uns auf alles Mögliche<br />

(Hrsg.), The Essential Peirce. Selected Philosophical Writings. Volume I<br />

(1867<strong>–</strong>1893), Bloomington/Indianapolis 1992, 233.<br />

17 Robert Brandom, Begründen <strong>und</strong> Begreifen. Eine Einführung in den<br />

Inferentialismus, Frankfurt a. M. 2001.<br />

93


Matthias Jung<br />

<strong>und</strong> auf die Wirklichkeit im Ganzen zu beziehen. Ohne sie<br />

gäbe es keine Religion. Nun erlauben es uns symbolische Zeichen<br />

zwar, von persönlicher <strong>und</strong> sozialer Erfahrung zu abstrahieren,<br />

sie bleiben aber in doppelter Weise verkörpert.<br />

Zum einen durch ihre materiellen Substrate in Form von moduliertem<br />

Schall, Schmierspuren von Graphit oder Kreide etc.,<br />

zum andern aber durch ihren inneren Bezug auf ikonische<br />

<strong>und</strong> indexikalische Zeichen.<br />

Dieser Bezug hat wiederum zwei Aspekte. Erstens einen<br />

ontogenetischen: Spracherwerb beginnt ikonisch <strong>und</strong> indexikalisch<br />

<strong>und</strong> wird erst beim Überschreiten einer bestimmten,<br />

entwicklungsgeschichtlich zentralen Schwelle symbolisch.<br />

Auch das lässt sich an dem Symbolzeichen »Mutter« erläutern.<br />

Es wird zunächst als ikonische Präsenz der eigenen Mutter<br />

in verschiedenen Gestaltqualitäten wie Geruch, Klang der<br />

Stimme, Wärme etc. verstanden, bevor dann Interaktionserfahrungen,<br />

etwa in den präverbalen Protokonversationen<br />

zwischen Mutter <strong>und</strong> Kind, in den Vordergr<strong>und</strong> treten. Irgendwann<br />

wird die symbolische Schwelle überschritten <strong>und</strong><br />

das Kind lernt den Gebrauch des Worts als Symbolzeichen,<br />

das unabhängig von seinem Bezug auf eine konkrete Person<br />

gebraucht werden kann. Die unmittelbar leibgeb<strong>und</strong>enen<br />

Zeichenbedeutungen werden jedoch durch diesen Schritt<br />

nicht aufgelöst; sie interpretieren das <strong>Symbolische</strong>, indem sie<br />

es auf direkte Erfahrung beziehen. Deshalb, <strong>und</strong> dies ist der<br />

zweite Aspekt, müssen wir den gerade geschilderten ontogenetischen<br />

Dreischritt immer dann, nur eben in umgekehrter<br />

Form, wieder vollziehen, wenn wir uns symbolische Bedeutungen<br />

persönlich aneignen, verständlich machen <strong>und</strong> ihren<br />

Realitätsbezug überprüfen wollen. Eine reine Symbolsprache,<br />

die ohne ikonische <strong>und</strong> indexikalische Zeichen auskommen<br />

wollte, hätte überhaupt keinen Wahrheitswert, wie<br />

94


Artikulation, Bewusstsein <strong>und</strong> Religion<br />

Peirce nicht müde wird zu betonen. Denn nur über die ersten<br />

beiden, direkten Formen des Zeichengebrauchs ist Sprache<br />

mit Erfahrung verb<strong>und</strong>en. Allein die Tatsache, dass ein theoretisch<br />

postuliertes Teilchen, wie etwa das berühmte Higgs-<br />

Boson, über komplexe Zeichenketten indexikalisch mit bestimmten<br />

direkt beobachtbaren Ereignissen, etwa Spuren in<br />

einer Nebelkammer, verb<strong>und</strong>en ist, unterscheidet es von einer<br />

bloßen metaphysischen Spekulation. Und nur dadurch,<br />

dass religiöse Symbole durch ikonische <strong>und</strong> indexikalische<br />

Zeichenprozesse interpretiert werden, können sie überhaupt<br />

einen Erfahrungsbezug gewinnen. Wenn beispielsweise jemand<br />

ein Vaterunser betet, dann wird die Bedeutung dieses<br />

Gebets neben der symbolisch eröffneten metaphorischen<br />

Übertragung des Vaterbegriffs auf Gott auch von den individuellen,<br />

in direkten Zeichenbeziehung verkörperten Erfahrungen<br />

abhängen, die die jeweilige Person mit ihrem Vater<br />

gemacht oder aber entbehrt hat.<br />

Propositionalität, Reflexivität, logische Explizitheit, Allgemeinheit<br />

<strong>–</strong> all das sind symbolgestützte Eigenschaften von<br />

Zeichensystemen, die überhaupt erst kritisches Denken <strong>und</strong><br />

damit auch ein religiöses Bewusstsein von der Transzendenz<br />

des Bezeichneten über sein Zeichen möglich machen. Ohne<br />

Erfahrungsbezug jedoch haben sie keinerlei Bedeutung. Man<br />

kann sich diesen Punkt auch an der berühmten pragmatischen<br />

Maxime von Peirce klarmachen. 18 Sie formuliert ein<br />

Sinnkriterium für Sätze, das darin besteht, sich zu fragen,<br />

18 Es gibt mehrere Versionen, die bekannteste findet sich in dem Aufsatz How<br />

to make our ideas clear (Charles Sanders Peirce, How to Make Our<br />

Ideas Clear, in: Houser/Kloesel [Hrsg.], The Essential Peirce [s. Anm. 16],<br />

132): »Consider what effect, which might conceivably have practical bear -<br />

ings, we conceive the object of our conception to have. Then, our conception<br />

of these effects is the whole of our conception of the object.«<br />

95


Matthias Jung<br />

welche denkbaren praktischen Konsequenzen ihr Fürwahrhalten<br />

hätte. Praktische Konsequenzen können aber nur, <strong>und</strong><br />

das ist der springende Punkt, durch direkte Erfahrungen auftreten,<br />

die wir im Vollzug unseres Handelns machen. Der<br />

Dreischritt der Artikulation ist demnach keine Einbahnstraße,<br />

die vom leiblichen Erleben hin zu symbolischen<br />

Sinnfiguren führt, er gleicht viel eher dem wiederholten<br />

Durchlaufen dynamischer Feedbackschleifen. Diese Schleifen<br />

vermitteln zwischen einer Bedeutungsbildung, die das Hier<strong>und</strong>-Jetzt<br />

des organisch gelebten Lebens symbolisch transzendiert,<br />

<strong>und</strong> der jeweils lokalen Interpretation der so entstandenen<br />

Ausdrucksgestalten durch konkrete Individuen<br />

<strong>und</strong> soziale Gemeinschaften. Wem der kognitionswissenschaftliche<br />

Jargon an dieser Stelle nicht zusagt, der kann die<br />

Rede von Feedbackschleifen leicht durch diejenige vom hermeneutischen<br />

Zirkel ersetzen: Das Teil interpretiert das<br />

Ganze <strong>und</strong> umgekehrt.<br />

2. Das Bewusstsein verkörperter Symbolverwender<br />

Wenn man ernst nimmt, was eben über den Situationsbezug<br />

des Organismus <strong>und</strong> dessen Verhältnis zu Artikulationsprozessen<br />

gesagt wurde, ergeben sich einschneidende Konsequenzen<br />

für das Verständnis des menschlichen Bewusstseins.<br />

Bewusstsein wird in der Philosophie traditionell dualistisch<br />

gedacht, als geistiger Gegenspieler zu materiellen Prozessen.<br />

Selbst dort, wo man sich naturalistisch versteht, wie etwa im<br />

aktuellen Neurokonstruktivismus, bleibt es bei dieser Dualität:<br />

ein physisches Gehirn produziert dann ein illusionsartiges<br />

phänomenales Bewusstsein, das ohne die Möglichkeit<br />

kausaler Einwirkung auf die wirkliche Welt in seine eigenen<br />

96


Artikulation, Bewusstsein <strong>und</strong> Religion<br />

Konstrukte eingeschlossen bleibt. Besonders klar lässt sich<br />

das an Thomas Metzingers Konzept des Ego-Tunnels zeigen.<br />

Metzinger identifiziert das Selbst eines Menschen mit seinem<br />

vom Gehirn erzeugten Bewusstsein, <strong>und</strong> weil letzteres dualistisch<br />

von der Wirklichkeit abgekoppelt wird, ergibt sich eine<br />

ziemlich unangenehme Konsequenz, die Metzinger folgendermaßen<br />

formuliert: »Ganz im Gegensatz zu dem, was die<br />

meisten Menschen glauben, war oder hatte niemand je ein<br />

Selbst.« 19 Unangenehm ist das nicht zuletzt deshalb, weil sich<br />

damit schließlich sowohl das Selbst des Autors als auch dasjenige<br />

potentieller Leser verflüchtigt.<br />

Es sollte bereits klar geworden sein, warum sich das pragmatistisch-verkörperungstheoretische<br />

Verständnis von Bewusstsein<br />

<strong>und</strong> Geist von solchen Positionen radikal unterscheidet.<br />

Das bewusste Selbst ist für die Pragmatisten zwar<br />

keine immaterielle Seelensubstanz mehr, sondern eine konstitutive<br />

Komponente der dynamischen Interaktionseinheit<br />

von Organismus <strong>und</strong> Welt, als solche aber eben höchst real.<br />

Und während z. B. in der analytischen Qualia-Diskussion erlebte<br />

Qualitäten als letzte Bastion gegen die Naturalisierung<br />

des Geistes behandelt werden, sind die unified pervasive qualities,<br />

die es uns nach John Dewey erlauben, Situationen zu erfassen<br />

<strong>und</strong> zu artikulieren, gänzlich anderer Art. Sie situieren<br />

das Bewusstsein nicht als das Andere der natürlichen Welt,<br />

schon gar nicht als eine illusionäre Konstruktion des Gehirns,<br />

sondern als deren integralen Bestandteil. 20 Wenn ein erleben-<br />

19 Thomas Metzinger, Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst.<br />

Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik, Berlin 2010, 13.<br />

20 Vgl. John Dewey, Qualitatives Denken, in: Ders., Philosophie <strong>und</strong> Zivilisation,<br />

Frankfurt a. M. 2003, 94<strong>–</strong>116 <strong>und</strong> die luziden Erläuterungen dazu in<br />

Mark Johnson, Embodied Mind, Meaning, and Reason. How Our Bodies<br />

Give Rise to Understanding, Chicago/London 2017, 45 ff.<br />

97


Matthias Jung<br />

des, bewusstes Selbst ästhetische oder moralische Werterfahrungen<br />

macht, dann ist das so Erfahrene nicht weniger ein<br />

Teil der Wirklichkeit als die Spur eines Elementarteilchens in<br />

der Nebelkammer.<br />

Drei Einsichten des Pragmatismus sind hier von besonderem<br />

Interesse: Erstens werden bewusste Subjekte sozial über<br />

Artikulationsprozesse konstituiert, zweitens ist ihre Existenz<br />

an die Handlungsperspektive lebender Organismen geb<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> drittens hat Bewusstsein keinen Substanz-, sondern<br />

Prozesscharakter: Es besteht nicht permanent, sondern emergiert<br />

immer dort, wo Konflikte <strong>und</strong> Schwierigkeiten auftreten.<br />

Für den ersten Punkt ist George Herbert Mead der entscheidende<br />

Theoretiker. 21 Seine Theorie der sozialen Konstitution<br />

des Selbst hat gezeigt, dass wir nur durch die Internalisierung<br />

der Reaktionen anderer auf unser Verhalten<br />

sowie die Ausbildung einer eigenen Einstellung diesen gegenüber<br />

so etwas wie ein Selbst entwickeln. Neuere entwicklungspsychologische<br />

Studien zur primären Intersubjektivität<br />

zeigen, wie entscheidend hierbei zwischenleibliche Dynamiken<br />

sind 22 <strong>und</strong> wie früh Säuglinge als aktive Partner<br />

auftreten, so dass es bereits präverbal zu einer subtilen Verschränkung<br />

der <strong>Körper</strong>schemata kommt, die dann allen<br />

komplexeren Handlungsfolgen zugr<strong>und</strong>e liegt. Intersubjektivität<br />

ist essentiell verkörpert, <strong>und</strong> <strong>Verkörperung</strong> ist essentiell<br />

intersubjektiv. Hier findet sich auch der anthropologische<br />

Sitz im Leben von Ritualen. Rituale stellen kollektiv verbindlich<br />

gemachte, auf Dauer <strong>und</strong> Wiederholung gestellte<br />

21 Vgl. George Herbert Mead, Mind, Self & Society. The Definitive Edition,<br />

Chicago/London 2015.<br />

22 Vgl. Shaun Gallagher, How the Body Shapes the Mind, Oxford/New<br />

York 2005, 225 ff.<br />

98


Artikulation, Bewusstsein <strong>und</strong> Religion<br />

Interaktionserfahrungen dar, sind ihrer semiotischen Struktur<br />

nach also indexikalisch, wie der große Ritualtheoretiker<br />

Roy Rappaport 23 gezeigt hat. Als identitätsstiftende Formen<br />

kollektiver Erfahrung bleiben sie an die Einheit von Raum<br />

<strong>und</strong> Zeit geb<strong>und</strong>en, sind jedoch in ihrer Wirksamkeit nach<br />

»unten« <strong>und</strong> »oben« offen <strong>und</strong> ergänzungsbedürftig. Ein Ritual,<br />

das in den teilnehmenden Personen keine qualitative,<br />

erlebte Resonanz findet, wird ebenso hohl <strong>und</strong> sinnentleert<br />

wie eines, das nicht durch entsprechende Artikulationsprozesse<br />

mit symbolischer Allgemeinheit verb<strong>und</strong>en ist.<br />

Den zweiten <strong>und</strong> dritten Punkt fasse ich als den Handlungsbezug<br />

des Bewusstseins zusammen. In der Tradition<br />

des cartesianischen Dualismus ist Bewusstsein stets als dauerhaft<br />

<strong>und</strong> substanzartig gedacht worden. Innerhalb einer<br />

verkörperungstheoretischen Auffassung liefert jedoch der<br />

Organismus das Substrat der Lebendigkeit, <strong>und</strong> Bewusstsein<br />

emergiert nur dann, wenn in Handlungszusammenhängen<br />

Widerstände oder Probleme auftreten <strong>und</strong> die Situation daher<br />

einer Rekonstruktion bedarf, damit das Handeln fortgesetzt<br />

werden kann. Objektbewusstsein <strong>und</strong> Selbstbewusstsein<br />

sind die beiden Aspekte, die dann, aber eben auch nur dann,<br />

auseinandertreten, wenn die Interaktionseinheit problematisch<br />

wird. Das allerdings geschieht in einer widerständigen<br />

Realität permanent, <strong>und</strong> die pluralistischen Gesellschaften<br />

der Moderne haben diese anthropologische Konstante noch<br />

um eine auf Dauer gestellte Konfrontation mit kultureller,<br />

sozialer <strong>und</strong> religiöser Vielfalt ergänzt. Kurz: Das bewusste<br />

Selbst ist in handlungstheoretischer Perspektive Teil einer<br />

dauernden, dynamischen <strong>und</strong> von Widerständen geprägten<br />

23 Vgl. Roy Rappaport, Ritual and Religion in the Making of Humanity,<br />

Cambridge u. a. 1999, 54 ff.<br />

99


Matthias Jung<br />

Austauschbeziehung zwischen dem sozialen Organismus<br />

Mensch <strong>und</strong> der ihn umgebenden Wirklichkeit.<br />

Diese Austauschbeziehung ist die Gr<strong>und</strong>form allen Lebens<br />

<strong>und</strong> keineswegs auf den Menschen beschränkt. Doch das<br />

menschliche Bewusstsein, <strong>und</strong> nach allem was wir wissen<br />

nur dieses, ist als Ganzes von der Verfügung über eine symbolische<br />

Sprache bestimmt. 24 Die evolutionäre Kontinuität<br />

der menschlichen Lebensform mit allem Lebendigen ist die<br />

eine Seite einer Medaille, deren andere unser symbolisch entgrenztes<br />

Bewusstsein ist. Damit ist gemeint, dass wir unseren<br />

Geist vom Hier-<strong>und</strong>-Jetzt unserer physischen Existenz jederzeit<br />

lösen <strong>und</strong> ihn mithilfe der indirekten Referenz des <strong>Symbolische</strong>n<br />

auf alles Beliebige, mit Blick auf Religionen <strong>und</strong><br />

Weltanschauungen aber vor allem auf unser Leben im Ganzen<br />

richten können. Im vorangegangenen Abschnitt über Artikulation<br />

wollte ich zeigen, dass diese Möglichkeit, unser organisches<br />

Leben zu transzendieren, auf die Verbindung mit<br />

direkter Erfahrung um ihrer Realitätshaltigkeit willen angewiesen<br />

bleibt. Die Spannung, die sich hier zwischen unserem<br />

symbolisch expandierten Bewusstsein <strong>und</strong> der bleibenden<br />

Angewiesenheit auf direkte Erfahrung auftut, ist anthropologisch<br />

unhintergehbar. Sie durchdringt unser bewusstes Leben<br />

<strong>und</strong> manifestiert sich nicht nur kognitiv, sondern vor allem<br />

auch emotional.<br />

Menschen sind eine sehr besondere Art von Lebewesen,<br />

nämlich die einzigen, zu deren Lebensform es gehört, sich<br />

zum Ganzen ihres eigenen Lebens verhalten zu müssen <strong>und</strong><br />

gleichzeitig im Hier-<strong>und</strong>-Jetzt situiert zu sein. Die vorreflexive<br />

Gr<strong>und</strong>form dieses Verhaltens sind die eingangs schon erwähnten<br />

existential feelings, in denen wir die Qualität un-<br />

24 Vgl. Tomasello, Becoming Human (s. Anm. 8).<br />

100


Artikulation, Bewusstsein <strong>und</strong> Religion<br />

seres Weltverhältnisses spüren. Wir sind Wesen, deren Bewusstsein<br />

sich über die lokale Umwelt hinaus für das Ganze<br />

öffnen kann <strong>und</strong> gleichzeitig Organismen, für die es sich auf<br />

eine bestimmte Weise anfühlt, welche Qualität für ihr Wohl<br />

<strong>und</strong> Wehe ihre Beziehungen zur Realität haben. Hypothetische<br />

reine Geistwesen, beispielsweise Engel, hätten wohl eine<br />

geistige Beziehung zum Ganzen, würden sie aber nicht fühlen,<br />

wohingegen umgekehrt nach allem, was wir bisher wissen,<br />

auch die komplexesten nichtmenschlichen Organismen<br />

zwar über ein höchst differenziertes Gefühlsleben, aber eben<br />

nicht über existenzielle Gefühle verfügen.<br />

Solche Gefühle treten in vielfältigen Variationen einer<br />

gr<strong>und</strong>legenden Polarität zwischen Beheimatung in der Welt<br />

<strong>und</strong> ihrem Gegenteil, also Entfremdung <strong>und</strong> Distanz auf. In<br />

ihnen verhält sich ein lebendiges Subjekt zum Ganzen seines<br />

Lebens <strong>und</strong> der ihn umgebenen Wirklichkeit. Und in derselben<br />

Weise, in der lokale Situationsqualitäten uns ein Gefühl<br />

für Handlungs- <strong>und</strong> Artikulationsmöglichkeiten vermitteln,<br />

erschließen <strong>und</strong> verschließen uns existenzielle Gefühle Weisen<br />

des In-der-Welt-Seins. Das ozeanische Gefühl, um das es<br />

bei der Auseinandersetzung Freud-Rolland ging, lässt sich<br />

hier zwanglos einordnen. Auch der Bezug zum Inbegriff aller<br />

Situationen, dem Weltverhältnis als solchen, wird von uns<br />

erst gespürt, bevor er artikuliert werden kann. Ich behaupte<br />

daher, dass existentielle Gefühle einen wichtigen, wenn auch<br />

nicht den einzigen Ausgangspunkt religiöser Symbolbildungen<br />

darstellen. William James hat diesen Punkt unnachahmlich<br />

zum Ausdruck gebracht, weshalb ich ihm hier ausführlich<br />

das Wort gebe:<br />

»Was immer Religion sein mag, jedenfalls ist sie die Gesamtreaktion<br />

eines Menschen auf das Leben. […] Gesamtreaktionen sind etwas an -<br />

deres als gelegentliche Reaktionen, <strong>und</strong> Gesamthaltungen sind etwas<br />

101


Matthias Jung<br />

anderes als alltägliche oder berufliche Haltungen. Um zu ihnen zu<br />

gelangen, muß man den Vordergr<strong>und</strong> der Existenz durchstoßen <strong>und</strong><br />

hinabreichen bis zu jenem merkwürdigen Sinn für den ganzen übrigen<br />

Kosmos als einer andauernden Gegenwart <strong>–</strong> vertraut oder fremd,<br />

schrecklich oder ergötzlich, liebens- oder hassenswert <strong>–</strong>, den in irgendeinem<br />

Maße jedermann besitzt. Dieser Sinn für die Gegenwart der<br />

Welt wirkt sich auf unser besonderes individuelles Temperament aus<br />

<strong>und</strong> macht uns entweder tatkräftig oder nachlässig, demütig oder<br />

gotteslästernd, gedämpft oder jubelnd im Blick auf das Leben im großen;<br />

<strong>und</strong> in ihrer unwillkürlichen <strong>und</strong> unartikulierten <strong>und</strong> oft halb<br />

unbewussten Art ist unsere Reaktion die erschöpfendste unter all<br />

unseren Antworten auf die Frage: Welchen Charakter hat das Universum,<br />

in dem wir hausen?« 25<br />

James neigt allerdings wie Rolland dazu, die Gr<strong>und</strong>erfahrung<br />

einer gefühlten Beziehung zum Ganzen des Lebens schon für<br />

die Sache selbst zu halten <strong>und</strong> übersieht dabei, dass es eben<br />

erst sprachgeb<strong>und</strong>ene, intersubjektive Artikulationsleistungen<br />

sind, durch die aus einer gelebten <strong>und</strong> erlebten Leiberfahrung<br />

explizite Deutungen des Wirklichkeitsbezugs entstehen.<br />

Bereits die Beschreibung, die er so wortmächtig entwickelt,<br />

verdankt sich ja einer sprachlichen Deutung <strong>und</strong> ist<br />

nicht etwa am Phänomen einfach abgelesen. Dem Bewusstsein<br />

des verkörperten Symbolverwenders Mensch ist ein Verhältnis<br />

zu seinem eigenen Weltverhältnis eingeschrieben,<br />

wie schon Kierkegaard wusste. 26 Dieses Verhältnis wird primär<br />

qualitativ gespürt, kann aber Ausgangspunkt von Artikulationsprozessen<br />

werden <strong>und</strong> dann eine weltbildprägende<br />

Kraft entfalten. Hier darf ich nochmals an den dritten Aspekt<br />

des pragmatistischen Verständnisses bewussten Lebens er-<br />

25 William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die<br />

menschliche Natur, Olten/Freiburg i. Br. 1979, 45.<br />

26 Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Gütersloh 1978, 9.<br />

102


Artikulation, Bewusstsein <strong>und</strong> Religion<br />

innern: Qualitäten werden bewusst <strong>und</strong> Bewusstsein entsteht<br />

immer dann, aber auch nur dann, wenn sich Fragen,<br />

Schwierigkeiten oder Probleme in der Bewältigung des Lebens<br />

ergeben. Für ein organisches Wesen, das ein Verhältnis<br />

zum Ganzen seiner Existenz unterhält, lassen sich solche<br />

Keime der Bedeutungsbildung mit Stichworten wie Geburtlichkeit,<br />

Sterblichkeit, Verantwortlichkeit <strong>und</strong> Sinnbedürftigkeit<br />

andeuten.<br />

3. Was bedeutet das alles? Weltanschauungen<br />

<strong>und</strong> Religionen als Artikulationen des Bezugs<br />

zum Ganzen<br />

<strong>Symbolische</strong> <strong>Verkörperung</strong>, so wollte ich zeigen, ist stets dreidimensional:<br />

Symbolzeichen im engeren Sinn sind notwendig<br />

als Laute oder materielle Inskriptionen verkörpert <strong>und</strong><br />

vor allem zu ihrer Interpretation auf Zeichen angewiesen, die<br />

als Ikone <strong>und</strong> Indizes direkte Erfahrung verkörpern. Indexikalische<br />

Zeichen beruhen auf physischem Kontakt, entweder<br />

im Sinne eines Kausalverhältnisses oder einer sozialen Interaktion.<br />

Ikonische Zeichen basieren auf einer gefühlten Ähnlichkeit<br />

zwischen leiblich gespürten Qualitäten. Entscheidend<br />

ist, dass unser symbolisch verkörpertes Weltverhältnis<br />

auf einer funktionalen Verschränkung dieser drei Zeichenformen<br />

beruht <strong>und</strong> dementsprechend auch Artikulationsprozesse<br />

stets eine irreduzible Dreidimensionalität aufweisen.<br />

Analog dazu lassen sich Religionen <strong>und</strong> Weltanschauungen<br />

als Artikulationsgestalten deuten, die drei Dimensionen des<br />

In-der-Welt-Seins in ein stimmiges Verhältnis setzen: eine<br />

kognitive Deutung unserer Weltbeziehung, eine Vision des<br />

guten <strong>und</strong> richtigen Lebens, die den Willensregungen Rich-<br />

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