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WOLL Magazin 2022.2 Sommer

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Birgitt Rudolf, ehemalige Leiterin der Madfelder Volksschule,<br />

erklärt: „Viele der Juden waren Handelsleute, die<br />

über die Dörfer zogen, um dort ihre Waren anzubieten. Da<br />

sie in Hessen kein Bleiberecht hatten und es vor Sonnenuntergang<br />

wieder verlassen mussten, suchten sie sich Wohnorte<br />

nahe der hessischen Grenze.“<br />

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte sich in<br />

Madfeld eine jüdische Gemeinde gebildet. In dieser Zeit<br />

entstand auch der jüdische Friedhof. Gab es zunächst nur<br />

einen kleinen Betraum, so konnte 1858 in Madfeld eine eigene<br />

Synagoge eigeweiht werden. Sie war jedoch sehr klein<br />

und bescheiden.<br />

Sobald genügend jüdische Kinder zusammenkamen und sie<br />

es sich finanziell erlauben konnte, beauftragte die jüdische<br />

Gemeinde einen eigenen Lehrer. „In den alten Schulbüchern<br />

und Archiven lässt sich das nachlesen“, so Birgitt Rudolf.<br />

„Die Israeliten, wie es damals in den Klassenbüchern<br />

stand, wurden dann aus der regulären Schule ausgeschult<br />

und später wieder eingeschult, wenn sie keinen eigenen Lehrer<br />

mehr hatten. Das ging so manches Mal hin und her.“<br />

In ihren besten Kleidern gingen die Juden am Sabbat in<br />

die Synagoge. Der letzte Hundertjährige Madfelds, der „alte<br />

Schulz“, an den ich mich selbst noch gut erinnern kann<br />

(immer seine Eckstein-Zigaretten rauchend), soll sich als<br />

kleiner Junge ein paar Pfennige damit verdient haben, die<br />

Kerzen in der Synagoge zu den Gottesdiensten angezündet<br />

und später wieder gelöscht zu haben.<br />

Bereits in den 1930er Jahren war die Synagoge aber renovierungsbedürftig<br />

geworden. Beantragte Zuschüsse wurden<br />

nicht gewährt und die jüdische Gemeinschaft selbst konnte<br />

die erforderlichen Gelder nicht aufbringen. So diente sie<br />

nur noch als Strohlager, als sie am Abend der Reichspogromnacht,<br />

am 9. November 1938, angesteckt wurde.<br />

Männer aus Marsberg (aber auch einige Madfelder waren<br />

dabei) brannten sie nieder und randalierten mit Eisenstangen<br />

und Hämmern an jüdischen Häusern in Madfeld.<br />

Noch immer stehen einige Häuser, in denen früher jüdische<br />

Familien wohnten, in Madfeld. Wie auch über andere Häuser,<br />

wird zu ihnen die eine oder andere Anekdote von den<br />

Älteren zum Besten gegeben. Je nachdem, wer sie erzählt,<br />

mit mehr oder weniger Ausschmückungen und durchaus<br />

wechselnden Details. Vom Hörensagen eben…<br />

Geschichten, die man sich im Dorf erzählt…<br />

So wie die vom Juden in „Beilens altem Hause“. Es wird erzählt:<br />

„Die hatten einen Kolonialwarenladen und bekamen<br />

immer ein ganzes Fass voll Fische. Der jüdische Inhaber war<br />

recht klein und sobald das Fass fast leer war, musste er sich<br />

tief hineinbeugen, um an die letzten Fische zu kommen.<br />

Eines Tages verlor er dabei sein Gleichgewicht und steckte<br />

schwuppdiwupp und zur Belustigung aller kopfüber im<br />

Fass.“<br />

Recht deftige Streiche gab es im Dorfleben, von denen auch<br />

die Juden nicht verschont blieben. „Bei Röbbens im Hause<br />

wohnten Juden“, erinnert sich mein Vater an Erzählungen<br />

der Älteren. „Der Walter durfte eigentlich keinen Alkohol<br />

trinken. Vertragen konnte er ihn ohnehin nicht, aber er<br />

mochte so gerne einen… Einmal haben ihn ein paar Madfelder<br />

ganz schön ’abgefüllt’, sodass er richtig betrunken<br />

war. Den armen Mann haben sie dann in seiner eigenen<br />

Miste so tief eingegraben, dass nur noch Kopf und Kappe<br />

heraus guckten.“<br />

Vom Lärm vor der Tür aufgeweckt, soll sein Vater Salomon<br />

nach draußen gestürzt sein und dort den Schreck seines Lebens<br />

bekommen haben. Dann rief er wohl nach seiner Frau:<br />

„Rosa! Rosa! Unser Walter sein Kopf liegt auf der Miste!“<br />

Was früher als derber Streich angesehen wurde, zöge heute<br />

einige juristische Konsequenzen nach sich, und das nicht<br />

unbegründet…<br />

Neben Erzählungen und alten Dokumenten findet man<br />

heutzutage nur noch wenige Spuren jüdischen Lebens in<br />

Madfeld. Der jüdische Friedhof jedoch, dessen Geschichte<br />

bis ins 18.Jahrhundert zurückreicht, ist noch da und<br />

beheimatet jüdische Grabstätten mit teils deutscher, teils<br />

hebräischer Schrift. ■<br />

Wo einst die Madfelder<br />

Synagoge stand,<br />

erinnert heute dieses<br />

Schild im Rahmen des<br />

historischen Dorfrundgangs<br />

Alt und Jung an<br />

vergangene Zeiten.<br />

42 - <strong>WOLL</strong> <strong>Sommer</strong> 2022

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