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Sa., 15. /So., 16. Dezember 2012 Kultur Nummer 290 · 51<br />
Von Peter Geiger<br />
Es gibt nicht viele Interviewpartner,<br />
die so punktgenau auf Journalistenfragen<br />
antworten. Das<br />
Gespräch war zwar seit längerem<br />
schon geplant, musste dann aber<br />
sehr kurzfristig anberaumt wer<strong>de</strong>n.<br />
Brigitte Fließ ist trotz<strong>de</strong>m fabelhaft<br />
vorbereitet.<br />
Nicht nur, dass<br />
sie Kaffee ge-<br />
kocht hat und<br />
einen formidablenSüßigkeitenteller<br />
serviert,<br />
vor ihr liegen<br />
lauter kleine<br />
Zettelchen mit<br />
Notizen –die sie<br />
allesamt nicht<br />
benötigt.<br />
„Du musst wissen:<br />
Man kann alles lernen!“<br />
Die 77-Jährige<br />
hat alles präzise<br />
im Kopf. Sie formuliertdruckreif.<br />
Und erzählt<br />
Geschichten, die <strong>für</strong> fünf Wochenendseiten<br />
reichen wür<strong>de</strong>n. Deshalb<br />
haben wir uns in <strong>de</strong>r Auswahl <strong>de</strong>s<br />
insgesamt zweistündigen Gesprächs<br />
auf jene Passagen konzentriert, in<br />
<strong>de</strong>nen es vor allem um Walter Höllerer<br />
geht. Es ist faszinierend und<br />
durchwegs kurzweilig, mit Brigitte<br />
Fließ auf Zeitreise zu gehen.<br />
Undzuerfahren, mit wie viel Engagement<br />
und Bürgersinn und gegen<br />
welche Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> das Haus damals<br />
aus <strong>de</strong>r Taufe gehoben wur<strong>de</strong>.<br />
Welche Ausstellungen sie mitkonzi-<br />
Zum 90. Geburtstag vonWalter Höllerer<br />
Gespräch mit Brigitte Fließ über <strong>de</strong>n Dichter und sein Literaturarchiv<br />
Zwei, dieAkzente setzten: Hans Ben<strong>de</strong>r und Walter Höllerer,gemeinsam im<br />
November 1977 bei <strong>de</strong>r Eröffnung <strong>de</strong>s Literaturarchivs. Hier wird <strong>de</strong>r wesentliche<br />
Teil <strong>de</strong>r Korrespon<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r bis heute be<strong>de</strong>utendsten <strong>de</strong>utschsprachigen<br />
Literaturzeitschrift „Akzente“ aufbewahrt. Höllerer und Ben<strong>de</strong>r<br />
hatten sie gemeinsam 1954 gegrün<strong>de</strong>t. Bild: Literaturarchiv<br />
Erwärefrohund sehr<br />
zufrie<strong>de</strong>n, wenn er sehen<br />
könnte,wie gut dieses<br />
Haus bestellt ist; wie gut<br />
es da steht; wie gut<br />
vernetzt wir sind und<br />
wie weit über die Grenzen<br />
hinaus sein Bekanntheitsgrad<br />
reicht.<br />
Brigitte Fließ über<br />
Walter Höllerer<br />
pierte. Welche Literaturgrößen sie<br />
am Bahnhof abholte. O<strong>de</strong>r wie dreist<br />
<strong>de</strong>r älteste Sohn von Günter Grass<br />
schummelte, als <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>n<br />
Fließ’schen Kin<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>n frühen<br />
80ern „Monopoly“ spielte. Und,<br />
ebenso bemerkenswert: Wie Martin<br />
Walser, <strong>de</strong>r mit einer Kehlkopfentzündung<br />
in Sulzbach-Rosenberg angekommen<br />
war<br />
und kaum mehr<br />
sprechen konn-<br />
te, sich beim örtlichen<br />
HNO-<br />
Spezialisten pinseln<br />
lassen<br />
musste. Anschließend<br />
hatte<br />
er zwar seine<br />
Stimme wie<strong>de</strong>r,<br />
befand aber:<br />
„Das Wartezimmer<br />
hat mich an<br />
einen Hitchcock-Filmerinnert.“<br />
Das Auftauchen Walter Höllerers –<br />
90 Jahre alt wür<strong>de</strong> er am 19. Dezember<br />
–und die Gründung <strong>de</strong>s Literaturarchivs<br />
vor 35 Jahren be<strong>de</strong>utete<br />
<strong>für</strong> die elegante Dame einen wichtigen<br />
Schritt hin zur Selbstverwirklichung:<br />
Sie, die einem bürgerlichen<br />
Haushalt in Nord<strong>de</strong>utschland entstammt,<br />
konnte sich nunmehr auf<br />
<strong>de</strong>m ihr wohlbekannten Feld <strong>de</strong>r Literatur<br />
betätigen und die Rolle <strong>de</strong>r<br />
bloßen Hausfrau und Mutter hinter<br />
sich lassen. Über viele Jahre hinweg<br />
war Brigitte Fließ so etwas wie <strong>de</strong>r<br />
gute Geist <strong>de</strong>s Literaturarchivs, als<br />
langjähriges Vorstandsmitglied schob<br />
sie in allen Bereichen mit an. Bis<br />
heute ist sie nicht nur regelmäßig bei<br />
Lesungen zu Gast, sie unterstützt das<br />
Haus auch personell bei <strong>de</strong>r Sonntagsöffnung.<br />
Wie wür<strong>de</strong> Walter Höllerer heute,<br />
wenige <strong>Tag</strong>e vor seinem 90. Geburtstag,<br />
auf das Literaturarchiv<br />
blicken?<br />
Brigitte Fließ: Er wäre froh und<br />
sehr zufrie<strong>de</strong>n, wenn er sehen könnte,<br />
wie gut dieses Haus bestellt ist;<br />
wie gut es da steht; wie gut vernetzt<br />
wir sind und wie weit über die Grenzen<br />
hinaus sein Bekanntheitsgrad<br />
reicht. Das war’s,was Walter Höllerer<br />
immer im Sinne hatte, von Anfang<br />
an, auch über diese Region hinaus<br />
und dieses berühmte Wort von ihm,<br />
dass die Provinz eine Möglichkeit ist,<br />
das war seine Vision. Genau so hatte<br />
er sich’s vorgestellt, wie das jetzt ist.<br />
Und das ist doch eine wun<strong>de</strong>rbares<br />
Ergebnis, wenn man sich überlegt,<br />
<strong>für</strong> ... wie lang geht das schon ... 30<br />
Jahre?<br />
Frau Fließ, jetzt kokettieren Sie<br />
aber! Die Gründung war 1977, also<br />
sind’s 35 Jahre!<br />
Fließ: Wahnsinn, 35 Jahre! Ja, wo<br />
ist nur die Zeit hin? Aber los war es ja<br />
eigentlich schon etwas früher gegangen,<br />
nämlich damit, dass <strong>de</strong>m Oswald<br />
Heimbucher einfiel, dass <strong>de</strong>r<br />
Höllerer hier geboren war, und dass<br />
man ihm eigentlich <strong>de</strong>n Kulturpreis<br />
<strong>de</strong>r Stadt verleihen sollte. Das war<br />
<strong>de</strong>r Startschuss. Heimbucher lud<br />
Höllerer also ein, <strong>de</strong>r kam und<br />
Heimbucher hat im Stadtrat die<br />
Preisverleihung durchgesetzt. Und<br />
als Dankeschön <strong>für</strong> diesen Preis, da<br />
hat Höllerer gesagt: Ich schenke<br />
Euch was, ich schenke Euch Materialien<br />
aus meinem Fundus. Erwollte<br />
sie nicht nach Marbach bringen,<br />
son<strong>de</strong>rn erhatte sich immer vorgestellt,<br />
ein Haus zu fin<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>m das<br />
auch präsentiertwer<strong>de</strong>n kann.<br />
Aber da gab es doch auch Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong>?<br />
Fließ: Natürlich! Höllerer hatte immer<br />
Angst, dass das alles in einem<br />
Keller verschwin<strong>de</strong>t und dass es nie<br />
mehr ans <strong>Tag</strong>eslicht kommt. Eigentlich<br />
hatte er das Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s Literarischen<br />
Colloquium Berlin – das er<br />
1961 gegrün<strong>de</strong>t hatte –imKopf. Und<br />
das ist heute gelungen!<br />
So hat also Höllerers Entschluss,<br />
nicht nach Marbach zu gehen, eine<br />
Zellteilung bewirkt, und zwar eine<br />
doppelte: Weil Sulzbach-Rosenberg<br />
heute die Schnittmenge ist, aus<br />
Marbach und Berlin.<br />
Fließ: Ja, ist das nicht toll? Aber wir<br />
müssen nochmal zurückgehen in die<br />
Kaum jemand hat die<br />
Entwicklung <strong>de</strong>s Literaturarchivs<br />
so eng<br />
und solang begleitet<br />
wie Brigitte Fließ.<br />
1995 wur<strong>de</strong> ihr da<strong>für</strong><br />
das „Ehrenzeichen<br />
<strong>de</strong>s Bayerischen Ministerpräsi<strong>de</strong>nten<br />
<strong>für</strong><br />
Verdienste im Ehrenamt“<br />
verliehen.<br />
Bild: Geiger<br />
„Spät kommt <strong>de</strong>r Walter, doch er kommt“: Zwischen Walter Höllerer und<br />
Günter Grass bestand eine lebenslange Freundschaft. Höllerer unterstütze<br />
er die Entstehung <strong>de</strong>r „Blechtrommel“ auch finanziell, <strong>de</strong>r Literaturnobelpreisträger<br />
zeichnete <strong>de</strong>n Freund im Jahr 2001. Repro: Geiger<br />
Walter Höllerer gilt als Erfin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s<br />
mo<strong>de</strong>rnen Literaturbetriebs.<br />
Bild: Huber<br />
Anfangsjahre – weil das tatsächlich<br />
alles ganz schwierig war: Also, <strong>de</strong>r<br />
Heimbucher, <strong>de</strong>r war als Lehrer und<br />
Konrektor ja berufstätig –und Höllerer<br />
saß in Berlin, weshalb er alle seine<br />
Schulkamera<strong>de</strong>n um sich versammelte<br />
und allen erzählte, wie er sich<br />
das vorstellt. Es gab aber noch nicht<br />
mal ein Haus! Dann ging die Suche<br />
los. Das Amtsgericht, das wegen <strong>de</strong>r<br />
Gemein<strong>de</strong>gebietsreform umgezogen<br />
war, das bot sich an. Da wollte aber<br />
das Landbauamt rein. <strong>Der</strong> damalige<br />
Bürgermeister interessierte sich vor<br />
allem <strong>für</strong> die Maxhütte. Wenn <strong>de</strong>r<br />
Gerd Geismann –damals noch Verwaltungsbeamter<br />
dieser Stadt –nicht<br />
gewesen wäre, dann hätte das sowieso<br />
alles nicht geklappt. Aber <strong>de</strong>r erwies<br />
sich als Garant, auch später, als<br />
er dann selbst Bürgermeister war,<br />
sonst wäre das sowieso alles schiefgegangen!<br />
Es war also zu Beginn viel Improvisation<br />
nötig?<br />
Fließ: Ja, klar, und jetzt komme ich<br />
ins Spiel. Heimbucher hatte mich<br />
1975 <strong>de</strong>m Höllerer vorgestellt, und<br />
man fand sich sympathisch und er<br />
sagte zu mir:Mach doch Du mal!<br />
Aber Sie waren gar nicht vom<br />
Fach?<br />
Fließ: Nein, überhaupt nicht! Ich<br />
war schon seit 1964 in Sulzbach-Rosenberg,<br />
ich war Hausfrau und Mut-<br />
ter. Aber ich kannte die mo<strong>de</strong>rne Literatur<br />
aus meiner Zeit in Oberhausen!<br />
Da war ich Theatergängerin,<br />
weshalb ich O’Neill, Beckett, Sartre<br />
kannte –das hab’ ich <strong>de</strong>m Höllerer<br />
auch erzählt. Und das fand er sagenhaft<br />
und merkte: Da hat er jeman<strong>de</strong>n,<br />
die kennt sich vielleicht nicht<br />
wissenschaftlich aus, aber da ist<br />
trotz<strong>de</strong>m so viel da, da lässt sich was<br />
draus machen.<br />
Als er mir mal einen Koffer mit Unterlagen<br />
hinstellte, dasagte ich: ’Hör<br />
mal, ich kann das gar nicht bearbeiten<br />
o<strong>de</strong>r auswerten!’ Da antwortete<br />
er: ’Man kann alles lernen, das musst<br />
Du wissen!’ Das Schöne war: Ich hatte<br />
immer seine Rücken<strong>de</strong>ckung! Ob<br />
das Ausstellungen waren, ob das Gestaltungsfragen<br />
in <strong>de</strong>n Räumen waren,<br />
er sagte immer zu mir: ’Mach<br />
das mal, Du kannst das, das geht<br />
schon!’ Unddann ging es auch.<br />
Undwie war er als Mensch?<br />
Fließ: Höllerer war toll: Er hatte<br />
selbst etwas Künstlerisches – und<br />
konnte fabelhaft mit Künstlern umgehen.<br />
Er hatte vor allen Dingen eine<br />
unglaubliche Nase <strong>für</strong> <strong>Neue</strong>s und<br />
spürte Außergewöhnliches, wie zum<br />
Beispiel, dass Uwe Johnson etwas<br />
Unvergleichliches und Bleiben<strong>de</strong>s<br />
hat. Und, was immer zu kurzkommt,<br />
wenn von Höllerer gesprochen wird:<br />
Er war witzig! Er war humorvoll! Er<br />
hatte einen Sinn <strong>für</strong> Menschen mit<br />
Humor. Mensch, was haben wir oft<br />
gelacht! Wir haben wirklich Tränen<br />
gelacht!<br />
Zur Person<br />
Für <strong>de</strong>n Chef <strong>de</strong>r Gruppe 47, <strong>für</strong><br />
Hans Werner Richter war er „das<br />
Lachen <strong>de</strong>r Oberpfalz“, <strong>de</strong>r Literaturkritiker<br />
Helmut Böttiger bezeichnet<br />
ihn als <strong>de</strong>n „Erfin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s<br />
mo<strong>de</strong>rnen Literaturbetriebs“:<br />
Walter Höllerer, geboren am 19.<br />
Dezember 1922 in Sulzbach-Rosenberg,<br />
war eine Mehrfachbegabung:<br />
Nicht nur Wissenschaftler<br />
und Hochschullehrer, Kritiker<br />
und Zeitschriftenherausgeber,<br />
son<strong>de</strong>rn auch Dichter und Institutionengrün<strong>de</strong>r.<br />
Neben <strong>de</strong>m Literaturarchiv<br />
in Sulzbach-Rosenberg<br />
geht auch das Literarische<br />
Colloquium Berlin auf seine Initiative<br />
zurück. Walter Höllerer<br />
starb nach schwerer Krankheit<br />
am 20. Mai2003.