TOPFIT Sommer 2023
Bescheid wissen - gesund bleiben Ihr Magazin für Gesundheit, Fitness und Wellness
Bescheid wissen - gesund bleiben
Ihr Magazin für Gesundheit, Fitness und Wellness
- TAGS
- aquafitness
- zecken
- tinnitus
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
10 Diagnose & Therapie<br />
Foto oben: © Stefan Redel / fotolia<br />
Ganzheitlich ausgerichtete Schmerztherapie<br />
Krank vor Schmerz<br />
Anhaltende Schmerzen sind nicht nur physisch<br />
belastend, sondern sie rauben auch<br />
die Lebenskraft. Deshalb setzt die moderne<br />
Schmerz therapie auf ein multimodales<br />
Konzept, das auch die Psyche in die<br />
Behandlung mit einbezieht.<br />
Von Dr. Nicole Schaenzler<br />
Eigentlich ist der Schmerz ein Alarmsignal,<br />
das uns vor Gefahren warnt: vor der heißen<br />
Herdplatte, dem Steinchen im Schuh, dem Stacheldrahtzaun.<br />
Bei chronischen Schmerzpatienten<br />
hat sich der Schmerz von seiner biologischen<br />
Funktion als Warnsystem des Körpers jedoch<br />
abgekoppelt – er ist selbst zu einer Krankheit<br />
geworden. Allein in Deutschland sind hiervon<br />
etwa zwölf Millionen Menschen betroffen, weltweit<br />
geht die Weltgesundheitsorganisation von<br />
rund 80 Millionen Schmerzkranken aus.<br />
Chronischer Schmerz entsteht, wenn ein akuter<br />
Schmerzreiz über längere Zeit anhält, etwa,<br />
weil die Behandlung nicht ausreichend war. Dabei<br />
verändert sich oft der Charakter des Schmerzes:<br />
Viele empfinden ihn im Vergleich zum vorangegangenen<br />
Akutschmerz als dumpfer, drückender,<br />
diffuser. Hält der Schmerz über Monate<br />
und Jahre an, bleibt er in seiner Intensität<br />
irgendwann konstant und lässt sich kaum mehr<br />
beeinflussen – einer der Gründe, weshalb eine<br />
erfolgreiche Behandlung so schwierig ist. Zudem<br />
breitet sich das Schmerzareal mit der Zeit<br />
weiter aus: Nicht mehr nur die Stelle, an der der<br />
Schmerz erstmals aufgetreten ist, wird schmerzempfindlicher,<br />
sondern auch die umliegende<br />
Region.<br />
Übererregte Schmerzsensoren<br />
Noch sind nicht alle Mechanismen vollständig<br />
erforscht und verstanden, die an der Chronifizierung<br />
von Schmerzen beteiligt sind. Fest steht<br />
jedoch, dass beim chronischen Schmerz viele<br />
schmerzverursachende und schmerzerhaltende<br />
Faktoren ineinandergreifen, die einen direkten<br />
Einfluss sowohl auf den Körper als auch auf die<br />
Psyche haben. Im Fokus steht dabei vor allem die<br />
Erkenntnis, dass ein anhaltender Schmerzreiz<br />
zu signifikanten Veränderungen im »Schmerzsystem«<br />
des Körpers führt; diese werden heute<br />
unter dem Begriff »Schmerzgedächtnis« zusammengefasst.<br />
Zum Wesen dieses Schmerzgedächtnisses<br />
gehört es, überempfindlich auf<br />
Schmerzreize zu reagieren: Die Schmerzsensoren,<br />
die die schmerzauslösenden Reize empfangen,<br />
haben ihre Struktur und ihren Stoffwechsel<br />
so verändert, dass sie jetzt auch schon bei schwachen<br />
– oder nicht mehr vorhandenen – Reizen<br />
Schmerzsignale an Rückenmark und Gehirn<br />
weiterleiten. Auch in Rückenmark und Gehirn,<br />
wo die eigentliche Schmerzwahrnehmung und<br />
-verarbeitung stattfindet, wird als Reaktion auf<br />
die permanente Übererregbarkeit der Schmerzsensoren<br />
ein »Anpassungsprozess« in Gang gesetzt,<br />
an dessen Ende ein verstärktes Schmerzerleben<br />
steht. Die damit einhergehenden biochemischen<br />
und physiologischen Veränderungen<br />
können mithilfe von bildgebenden Verfahren<br />
wie der Positronenemissionstomographie (PET)<br />
inzwischen sogar sichtbar gemacht werden.<br />
Die Seele leidet mit<br />
Bei Menschen, bei denen sich ein Schmerzgedächtnis<br />
entwickelt hat, hat sich die Schmerzwahrnehmung<br />
verselbständigt. Dann können<br />
eine leichte Berührung, ein Windhauch, Wärme<br />
oder allein der bloße Gedanke an einen<br />
schmerzverursachenden Faktor genügen, um<br />
Schmerzen zu spüren.<br />
Auch ein unangenehmes Erlebnis oder negative<br />
Gefühle werden nicht selten zu Schmerzauslösern<br />
oder -verstärkern. Dies zeigt: Nicht nur biologische,<br />
sondern auch gedankliche, emotionale<br />
und soziale Einflüsse wirken auf das Schmerzempfinden<br />
ein. Eine wichtige Rolle spielen dabei<br />
die Art und Weise, wie mit dem Schmerz umgegangen<br />
wird und welche Konsequenzen dies<br />
auf das Verhalten und die Lebenseinstellung hat.<br />
Viele Betroffenen haben das Gefühl, durch ihre<br />
Schmerzen in eine emotionale Abwärtsspirale<br />
geraten zu sein, die nicht selten in Verzweiflung,<br />
Trauer, Hoffnungslosigkeit und einen enormen<br />
Verlust an Lebenskraft und Lebensfreude mündet.<br />
Die Folge: Sie ziehen sich von ihrer Umwelt<br />
zurück, soziale Kontakte und gewohnte Aktivitäten<br />
werden zunehmend eingeschränkt. Weitere<br />
psychosoziale Aspekte, etwa wenn der Betroffene<br />
– bewusst oder unbewusst – unter einem<br />
Verlusterlebnis, unbewältigten Konflikten,<br />
Ängsten oder Stress leidet, können die Problematik<br />
verstärken; mitunter sind sie auch Teil des<br />
Ursachenbündels, das zur Entstehung des chronischen<br />
Schmerzes beigetragen hat.<br />
Wenn die Seele leidet, vermindert sich die<br />
Schmerzschwelle. Der Schmerz wird dann stärker<br />
wahrgenommen – dies wirkt sich wiederum<br />
negativ auf die psychische Verfassung aus. Deshalb<br />
ist es ein wichtiges Anliegen der modernen<br />
Schmerztherapie, diesen Teufelskreis, z. B. mit<br />
einer Verhaltenstherapie, zu durchbrechen. Ziel<br />
ist es, den Patienten dazu zu befähigen, Gefühle,<br />
Gedanken und Verhaltensweisen aufzuspüren,<br />
die den Schmerz verstärken, und diese so zu<br />
modifizieren, dass er beherrschbar wird. Hierbei<br />
können auch Entspannungstechniken wie autogenes<br />
Training, Yoga, Thai Chi oder Qi Gong<br />
gute Dienste leisten: Oft hat der tiefgreifende<br />
Entspannungseffekt zugleich eine schmerzlindernde<br />
Wirkung.<br />
Mehrgleisiges Behandlungskonzept<br />
Dass die Psyche therapeutisch miteinbezogen<br />
wird, ist eine wichtige, aber nicht die einzige Behandlungsstrategie<br />
der modernen Schmerztherapie.<br />
Da sich gezeigt hat, dass es die eine Standardmethode<br />
nicht gibt, um den Betroffenen<br />
effektiv zu helfen, gilt heute ein multimodales<br />
(= vielfältiges) Therapiekonzept als Methode der<br />
Wahl: Unter Einbeziehung mehrerer Fachdisziplinen<br />
werden verschiedene Behandlungsme-<br />
<strong>TOPFIT</strong> 2 / <strong>2023</strong>