Gesund & Leben 2023/10
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IMMUNSYSTEM<br />
„IMPFUNGEN SIND DER<br />
BESTE IMMUNSCHUTZ!“<br />
Im Gespräch mit GESUND & LEBEN erläutert Univ.-<br />
Prof. Dr. med. univ. Winfried F. Pickl unter anderem,<br />
warum Impfungen besser sind als die natürliche Infektion,<br />
was Autoimmunerkrankungen mit latenten Infektionen<br />
zu tun haben und wie werdende Eltern schon<br />
vor der Geburt das Immunsystem ihres Kindes stärken<br />
können.<br />
Herr Prof. Dr. Pickl, die Hygienehypothese besagt,<br />
dass der Kontakt mit bestimmten<br />
Mikroorganismen im Kindesalter zur Entwicklung<br />
des Immunsystems beiträgt. Ist das so?<br />
Diese Annahme basiert auf der Beobachtung, dass<br />
Kinder, die schon im frühen Alter viel Zeit auf einem<br />
Bauernhof, genauer gesagt im Kuhstall, verbringen,<br />
später weniger häufig von allergischen Reaktionen betroffen<br />
sind. Irgendetwas in der Stallluft scheint unser<br />
Immunsystem in eine bestimmte Richtung zu lenken,<br />
wir wissen aber noch nicht, was genau.<br />
Noch früher im <strong>Leben</strong> setzen Studien an, die den<br />
wichtigen Einfluss der vaginalen Geburt<br />
auf das für das Immunsystem wichtige Mikrobiom<br />
im Darm untersuchen …<br />
Es stimmt, dass die erste Besiedlung der Neugeborenen<br />
mit den Mikroben der Mutter während des Geburtsvorgangs<br />
erfolgt, ich würde das aber nicht überbewerten.<br />
Unsere Kaiserschnitt-Rate ist hoch, aber<br />
aus multifaktoriellen Gründen. Mütter werden immer<br />
älter und vieles spricht dann gegen ein anatomisches<br />
Geburtsrisiko. Der beste Immunschutz, den man einem<br />
Kind schon vor der Geburt mitgeben kann, ist<br />
ein guter Impfschutz der Eltern. Denn alles was die<br />
Mutter an Antikörpern im Körper trägt, wird über die<br />
Plazenta 1:1 auf das Baby übertragen. Werdende Väter<br />
können ebenfalls durch eine gute Immunisierung<br />
zum Nestschutz des Kindes beitragen, indem sie dann<br />
deutlich weniger Erreger von außen in die Familie<br />
einschleppen. Zudem wissen wir aus Studien, die die<br />
<strong>Gesund</strong>heit von Kindern in der BRD und der DDR verglichen<br />
haben, dass sich eine frühe Kinderbetreuung<br />
in Kitas oder Kindergärten, wie sie im Osten gang und<br />
gäbe war, positiv auf das Immunsystem der Kinder<br />
auswirkte, was an einer geringeren Neigung für Allergien<br />
ablesbar ist. Das Ergebnis: Der frühe Kontakt<br />
mit leichten Infektionen von anderen Kindern trainiert<br />
die Immunabwehr gut. Das ist aber kein Plädoyer für<br />
Masernpartys oder ähnliche schwerwiegende Infektionen!<br />
Dafür gibt es die wichtige Sechsfach-Impfung (3.<br />
bis 6. <strong>Leben</strong>smonat), und die MMR -Impfung (<strong>10</strong>. bis<br />
13. <strong>Leben</strong>smonat), die Kinder noch vor dem Eintritt in<br />
Gemeinschaftseinrichtungen benötigen.<br />
Warum sind<br />
Impfungen<br />
so wichtig?<br />
Sie sind deshalb so<br />
wichtig, weil ernste<br />
Infektionen schwerwiegende<br />
Folgen haben<br />
können. Bei der Impfung<br />
wird eine abgeschwächte<br />
Version des Erregers oder nur<br />
ein bestimmtes Antigen selbst<br />
verabreicht. Macht man eine Infektion<br />
wie beispielsweise Masern auf natürlichem<br />
Weg durch, besteht die Gefahr, schwere<br />
Durchfälle, Mittelohr- und Lungenentzündungen<br />
sowie eine Gehirnhautentzündung zu bekommen.<br />
Mumps kann hingegen zu Meningitis, Enzephalitis<br />
mit nachfolgender Schwerhörigkeit sowie Bauchspeicheldrüsenentzündung<br />
und bei Männern zur<br />
Unfruchtbarkeit führen. Röteln stellt bei schwangeren<br />
Frauen ein großes Risiko für das ungeborene<br />
Kind dar. Beim Durchmachen natürlicher Infektionen<br />
besteht zudem die Gefahr, dass sich Viren<br />
Orte im Körper suchen und dann<br />
für immer in den Körperzellen<br />
sitzen bleiben. Wie das ebenfalls<br />
zu Folgeerkrankungen<br />
führen kann, ist Gegenstand<br />
der aktuellen Forschung.<br />
Was weiß man<br />
dazu bereits?<br />
Es wird etwa vermutet,<br />
dass Epstein Barr – ein<br />
Virus, mit dem 80 Prozent<br />
von uns infiziert sind – bei<br />
entsprechender Veranlagung<br />
die Entwicklung von Multipler<br />
Sklerose fördert. Zudem gibt es die<br />
Hypothese, dass Typ-1-Diabetes mit dem Vorhandensein<br />
von Coxsacki-Viren zusammenhängt. Bei vielen<br />
Autoimmunerkrankungen wissen wir nicht, warum<br />
das Immunsystem den eigenen Körper angreift, aber<br />
latente (Virus-)Infektionen sind eine denkmögliche Ursache.<br />
Ein anderes viel diskutiertes Thema im<br />
Zusammenhang mit dem Immunsystem ist der<br />
falsche Einsatz von Antibiotika.<br />
Die Erfindung von Antibiotika ist ein Meilenstein der<br />
Medizingeschichte und ihr Einsatz in vielen Fällen<br />
„Im Dreck spielen“, der<br />
Besuch des Kindergartens,<br />
eine natürliche Geburt<br />
sind nur einige von vielen<br />
Faktoren, die unser<br />
Immunsystem stärken.<br />
Durch die<br />
Immunsystem-<br />
Forschung wird<br />
man auch in<br />
Zukunft große<br />
Schritte in der<br />
Krebstherapie<br />
machen<br />
können.<br />
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GESUND & LEBEN <strong>10</strong>/23<br />
FOTOS: ISTOCK_ YURII ZASIMOV_ SUPERSIZER_ PROSTOCK-STUDIO_ DNY59_ ETERNALCREATIVE<br />
<strong>2023</strong><br />
Impfen hilft<br />
schwerwiegende<br />
Infektonen mit<br />
großen Folgen zu<br />
vermeiden und die<br />
richtige<br />
Einnahme von<br />
Antibiotika<br />
unterstützt die<br />
Vemeidung von<br />
Restistenzen im<br />
Körper.<br />
Gold wert. Wichtig ist, sie leitliniengerecht einzusetzen<br />
– das heißt, das richtige Antibiotikum in<br />
der richtigen Dosierung und über den richtigen<br />
Zeitraum zu verschreiben. Für Patientinnen<br />
und Patienten gilt: Das Antibiotikum bitte<br />
immer bis zum Ende nehmen, um die<br />
Bildung von Resistenzen zu vermeiden!<br />
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Warum wird das Immunsystem<br />
im Alter schwächer?<br />
Ein Grund ist, dass die Thymusdrüse,<br />
die die T-Lymphozyten<br />
hervorbringt, schrumpft und im<br />
Alter kaum mehr vorhanden ist. Ein<br />
weiterer hängt vermutlich von den<br />
vorhandenen Nischen im Knochenmark<br />
und in der Milz ab. Plasmazellen<br />
und T-Lymphozyten brauchen<br />
diese, um entsprechend ernährt und<br />
stimuliert zu werden, damit sie am <strong>Leben</strong><br />
bleiben. Man kann sich das wie bei<br />
einem Wasserglas vorstellen: Wenn ein Glas<br />
voll – also das Knochenmark mit Gedächtniszellen<br />
ausgefüllt ist – gibt es keine freien Nischen<br />
mehr. Das trifft im Alter zu. Die Forschung<br />
beschäftigt sich derzeit intensiv damit, herauszufinden,<br />
ob und wie die Nischengröße beeinflussbar<br />
ist.<br />
Was steht derzeit noch im Fokus der<br />
Immunsystem-Forschung?<br />
Letztendlich geht es bei der Immunantwort der<br />
B- und T-Zellen immer um eines: Habe ich ein<br />
Repertoire an Zellen, die genau auf ein Antigen<br />
– also eine Struktur, die vom Immunsystem als<br />
fremd erkannt wird – passen und werden neue<br />
Repertoires noch in großer (ausreichender)<br />
Menge hergestellt? Sollte das nicht der Fall sein,<br />
ist ein vielversprechender Weg die sogenannte<br />
CAR-T-Zell-Therapie, bei der die patienteneigenen<br />
T-Zellen entnommen, mit einem künstlichen<br />
Rezeptor ausgestattet und wieder in den<br />
Patienten zurücktransfundiert werden. Diese<br />
Therapie wirkt sehr gut bei bestimmten Krebsarten<br />
(z. B. Lymphdrüsenkrebs), ist aber noch<br />
sehr teuer. Wir identifizieren aber mehr und<br />
mehr Tumor-Antigene und dieser Bereich wird<br />
in Zukunft sicher eine noch größere Rolle spielen.<br />
Eine weitere Frage beschäftigt sich damit,<br />
ob eine ähnliche Vorgangsweise auch bei B-Zellen<br />
möglich ist. Was zur Zeit bereits sehr erfolgreich<br />
ist, ist der passive Transfer von bestimmten<br />
Antikörpern. Diese können Tumorerkrankungen<br />
heilen, Allergien bekämpfen und bestimmte<br />
Entzündungsfaktoren im Körper abfangen, die<br />
zu umfangreich gebildet werden.<br />
Ein weiterer ganz wichtiger Meilenstein ist die<br />
Allergie-Impfung mit rekombinant hergestellten<br />
Allergen-Fragmenten zur Ausbildung von sogenannten<br />
„blockierenden Antikörpern“. n<br />
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