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MAINfeeling Winter 2023

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8 IM VERHÖR<br />

HAT DIE HOFFNUNG AUCH SO ETWAS<br />

WIE SEDIERENDE WIRKUNG? WENN<br />

ICH AUF ETWAS HOFFE, ZUM BEISPIEL<br />

AUF EIN HÖHERES GEHALT, AUF EIN<br />

FAIRES BILDUNGSSYSTEM, BRAUCHE<br />

ICH NICHTS MEHR DAFÜR ZU TUN …<br />

Es gibt den schönen Spruch „Hope for the best,<br />

plan for the worst“. Der trifft es sehr gut. Ob<br />

Hoffnung inaktiv macht, ist auch in der Philosophie<br />

eine viel diskutierte Frage. Ich würde<br />

sagen, Hoffnung führt eher zum Handeln, weil<br />

sie ein Ziel vorgibt. Sie ist das Gegenteil von<br />

Resignation und Verzweiflung. Und in manchen<br />

Situationen, in Situationen, wo viel auf<br />

dem Spiel steht und der Erfolg sehr unsicher<br />

ist, kann man vielleicht sogar sagen: Ohne<br />

Hoffnung würde ich womöglich gar nichts tun.<br />

Aber sicher geht genauso die Gefahr der Passivität<br />

mit ihr einher. Indem ich hoffe, gestehe<br />

ich ein, dass das Erhoffte nicht nur von meinen<br />

Handlungen abhängt, sondern vielleicht von<br />

anderen Menschen oder vom Zufall. Und<br />

wenn ich dann diese Abhängigkeit von diesen<br />

äußeren Faktoren als zu stark einschätze, dann<br />

höre ich eben auf, etwas dafür zu tun.<br />

IST DAS AUCH DIE ERKLÄRUNG, WES-<br />

HALB IMMER MEHR MENSCHEN SICH<br />

NICHT SOZIAL UND/ODER GEWERK-<br />

SCHAFTLICH ENGAGIEREN, SONDERN<br />

IHRE HOFFNUNGEN MIT EINEM KREUZ<br />

BEI DER AFD ZUM AUSDRUCK BRIN-<br />

GEN? Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung<br />

können zu Verzweiflungstaten führen. Ich<br />

denke, wenn Menschen politisch keine Perspektive<br />

sehen und insofern hoffnungslos<br />

werden, versuchen sie, zu anderen Mitteln zu<br />

greifen, um ihre Interessen durchzusetzen.<br />

Diese Menschen schaffen sich dann eigene<br />

Hoffnungen. Jene Art von Hoffnungen, die<br />

sich entweder gar nicht erfüllen lassen können<br />

oder die irrational sind. So wie die Hoffnung<br />

auf einfache Lösungen. Da wäre es Aufgabe<br />

der Politik, dafür zu sorgen, dass im aktuellen<br />

demokratischen System Hoffnung existieren<br />

kann. Und dass diese Hoffnung auf einem Vertrauen<br />

in die Demokratie basiert.<br />

WIR KÖNNEN MORGENS AUFSTEHEN<br />

UND HABEN SCHON EINIGE HOFFNUN-<br />

GEN AUF DER HABENSEITE – DASS UNS<br />

KEINE BOMBEN AUF DEN KOPF FALLEN<br />

ODER ETWA, DASS FRAUEN NICHT<br />

TOTGESCHLAGEN WERDEN, BLOSS,<br />

WEIL SIE IHR HAAR ZEIGEN – UND MAN<br />

FRAGT SICH, WIE KANN MAN LEBEN,<br />

OHNE DIESE BASISVERSORGUNG AN<br />

HOFFNUNG. Hoffnung ist auf jeden Fall mit<br />

Perspektive verbunden. Der Silberstreif am<br />

Horizont. Sogar dann, wenn wir – noch – gar<br />

nicht wissen, was das sein soll. Der amerikanische<br />

Philosoph Jonathan Lear hat dafür den<br />

Begriff der radikalen Hoffnung geprägt. Er<br />

meint damit „die Hoffnung auf eine Zukunft,<br />

die noch nicht zu begreifen“ ist. Und die dennoch<br />

„dem Gedanken verpflichtet“ ist, „dass<br />

etwas Gutes entstehen“ wird – ohne dass man<br />

weiß, worin genau dieses Gute besteht (S. 153).<br />

Und ohne, dass es im Jetzt dafür irgendeinen<br />

Anhaltspunkt gibt. Radikale Hoffnung ermöglicht<br />

eine Offenheit dafür, dass es irgendwann<br />

doch besser wird.<br />

DAS KLINGT ZIEMLICH NACH DEM, WAS<br />

MAN JA AUCH GOTTVERTRAUEN<br />

NENNT. Es ist aber durchaus vernünftig. Um<br />

zu hoffen, muss man darauf vertrauen, dass<br />

Menschen auch gute Anlagen haben. Dass es<br />

bessere Zeiten und friedliche Zustände geben<br />

wird. An dieser Hoffnung müssen wir festhalten.<br />

Und wir können es. Denn es kann uns<br />

niemand das Gegenteil beweisen. Und es gibt<br />

ja immer auch Zeichen von Hoffnung. Diese<br />

zu sehen, setzt allerdings voraus, dass man<br />

ihnen auch Aufmerksamkeit widmet. Die<br />

Hoffnung gerät immer wieder in Verdacht,<br />

dass sie das Schlechte verleugnet. Aber es gibt<br />

auch die spiegelbildliche Gefahr: Dass man<br />

das Gute nicht mehr wahrnimmt. Dinge, die<br />

tatsächlich Anlass zur Hoffnung geben.<br />

BEFINDEN WIR UNS GERADE IN SO<br />

EINER PHASE, WO DEM GUTEN WENIG<br />

AUFMERKSAMKEIT ZUTEILWIRD – UND<br />

ALSO DER HOFFNUNG GERADE DER<br />

NÄHRSTOFF KNAPP WIRD? Das ist nicht<br />

empirisch abgesichert, aber ich habe tatsächlich<br />

den Eindruck, dass die vielen Krisen – der<br />

Krieg in der Ukraine und in Israel und zuvor<br />

die Corona-Krise, die Klimakrise – es den<br />

Menschen schwer machen, zu hoffen. Dass<br />

aber damit auch der Ruf nach Hoffnung wieder<br />

lauter wird. Man merkt, dass das Bedürfnis<br />

da ist. Das ist das große Hoffnungs-Dilemma:<br />

Sie wird dann besonders gebraucht, wenn<br />

sie am schwersten zu haben ist. Und dann hat<br />

sie immer auch einen schweren Stand, weil sie<br />

mit dem Vorwurf kämpft, unrealistisch und<br />

blauäugig zu sein. Gleichzeitig gibt es auch<br />

viele Stimmen, die sagen, ohne die Hoffnung,<br />

dass es besser werden kann, können wir gleich<br />

einpacken.<br />

WIE KAMEN SIE EIGENTLICH ZUR<br />

HOFFNUNG? Ich hatte eine Schwester, die<br />

sehr jung an Krebs starb – da ist mir das<br />

Thema zum ersten Mal begegnet. Ich wollte<br />

wissen, was ist Hoffnung eigentlich. Was bedeutet<br />

es, wenn man auf Heilung hofft, obwohl<br />

alles dagegenspricht? Ist es gut? Ist es schlecht?<br />

Und in der Philosophie erlebt die Hoffnung<br />

gerade eine Renaissance. Lange hatte sie einen<br />

schweren Stand wegen ihres engen Bezugs zur<br />

Theologie – von der sich die Philosophie<br />

emanzipiert hat. Hoffnung spielte kaum eine<br />

Rolle – abgesehen von einer Hoffnungs-<br />

Renaissance im 20. Jahrhundert bei den politischen<br />

Utopien. Aber Utopien – wie etwa der<br />

Sozialismus – hatten irgendwann auch nur<br />

noch wenige Anhänger. Ich fand das Thema<br />

spannend, weil es mit meinem Leben zu tun<br />

hat und anschlussfähig an philosophische<br />

Debatten ist.<br />

HABEN SIE DIE ANTWORTEN GEFUN-<br />

DEN, DIE SIE GESUCHT HABEN? Da bin<br />

ich privat wie beruflich immer noch auf der<br />

Suche. Es gibt keine Definition der Hoffnung,<br />

die in der Philosophie Bestand hätte oder auch<br />

nur einen weiten Konsens fände. Aber man<br />

lernt auch viel über ein Phänomen, in dem<br />

versucht, es zu definieren.<br />

ICH HABE GELERNT, HOFFNUNGEN<br />

GIBT ES IN VIELEN GEWICHTSKLASSEN.<br />

WELCHES IST IHRE GRÖSSTE UND DIE<br />

IM MOMENT KLEINSTE? Eine große, persönliche<br />

Hoffnung hat sich mit einer Professur<br />

in Philosophie erfüllt – nun habe ich die Hoffnung,<br />

diese Stelle gut auszufüllen, sodass auch<br />

andere davon profitieren. Eine kleine Hoffnung<br />

ist, dass der <strong>Winter</strong>salat in unserem<br />

Hochbeet noch etwas wird. Dafür muss ich<br />

auch etwas tun: Jeden Tag die herabgefallenen<br />

Blätter von den Pflänzchen sammeln.

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