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DIE <strong>BIBER</strong>’SCHEN ZUFÄLLE<br />
Oft waren es aber auch Zufälle, die nur in unserer Redaktion<br />
möglich waren, wie im Sommer 2021. Ich werde nie vergessen,<br />
als unser Politik-Ressortleiter Amar Rajković und ich<br />
auf der berühmten Grübel-Couch der Redaktion saßen und<br />
uns den Kopf darüber zerbrochen haben, wo wir denn jetzt<br />
Protagonisten für eine Geschichte über Afghanen in Wien,<br />
die mit den Taliban sympathisieren, herbekommen. Plötzlich<br />
platzt, mir nichts, dir nichts, ein junger Afghane in unsere<br />
Redaktion – die Hochsicherheitseingangstür stand nicht nur<br />
sprichwörtlich immer offen – und will uns ein Theaterstück<br />
eines afghanischen Filmemachers vorstellen. Die Szene war<br />
tatsächlich filmreif: Wir wechseln ein paar Blicke und Worte<br />
und es wird klar: Theaterstück uninteressant, seine Erzählungen<br />
umso spannender. Wir haben unseren Protagonisten.<br />
Unsere Geschichte ist uns wortwörtlich in den Schoß<br />
gefallen – oder in die Redaktion hereinspaziert. Manchmal<br />
spazierten die Geschichten auch auf Dächern:<br />
„Du, ich komme heute etwas später. Du wirst nicht glauben,<br />
was mir heute Nacht passiert ist. Meine Katze ist weggelaufen,<br />
wir haben sie die ganze Nacht gesucht. Aber weißt du,<br />
wem das Dach von meinem Haus gehört?” Diese kryptische<br />
Nachricht unserer Kulturressortleiterin Nada Chekh an<br />
mich brachte uns zu einer Geschichte über ultraorthodoxes<br />
Judentum in Wien. Einer, die man sonst noch nie so gelesen<br />
hat, wie wir als Feedback bekamen.<br />
Bis heute kann ich übrigens nicht glauben, dass diese<br />
klassisch bibereske Situation wirklich so passiert ist:<br />
November 2021, wir stehen frierend vor einem Krankenhaus<br />
in Bielsk-Podlaski, einer kleinen Ortschaft in Polen<br />
direkt an der Grenze zu Belarus, der damaligen Sperrzone,<br />
die Polen eingerichtet hatte. Wir, das sind unsere Kamerafrau<br />
Soza Jan und ich – und unzählige andere internationale<br />
Journalist:innen und Kamera-Teams: CNN, Reuters, die<br />
ganz Großen eben. Keiner von uns dürfte offiziell hier sein,<br />
aber wir nutzen das Chaos. Alle tummeln sich hier, um ein<br />
Interview mit dem Oberarzt des Spitals, Dr. Arsalan Azzadin,<br />
zu bekommen. Der gebürtige Kurde behandelt hier Flüchtlinge,<br />
die durch Push-Backs aus Belarus wieder nach Polen<br />
gebracht werden: unterkühlt, ausgehungert, und dann auch<br />
noch mitten in der Pandemie. „Ich habe wirklich keine Zeit<br />
für Interviews, Sie müssen verstehen, das geht einfach ni…<br />
Warte! Warte! Bist du Kurdin? Ich glaube, ich kenne deine<br />
Familie!”, fragt der Oberarzt unsere Kamerafrau Soza und<br />
pickt sie aus der Menge raus. Tatsächlich – sie tauschen<br />
einige Worte auf Kurmanji aus und es stellt sich heraus,<br />
dass der Oberarzt des Krankenhauses in einem kleinen<br />
polnischen Dorf die Familie unserer Kamerafrau in Syrien<br />
kennt. „Bei Gott, das ist Schicksal, das kann kein Zufall<br />
sein! Ihr kommt rein, aber nur ihr!” Wir bekommen als einziges<br />
Medium ein Interview mit ihm, das Gespräch wird ein<br />
wesentlicher und exklusiver Bestandteil unserer Reportage<br />
über die Sperrzone im polnisch-belarussischen Grenzgebiet,<br />
wo wir übrigens als einziges österreichisches Medium<br />
waren. Ach ja: Die Grenzsoldaten haben wir dort undercover<br />
über Tinder ausfindig gemacht, aber das ist eine ganz<br />
eigene Geschichte. Ressourcen hatten wir nie, dafür haben<br />
wir gelernt, kreativ über alle Tellerränder zu blicken.<br />
Diese besonderen Zufälle – oder eher Schicksale wie diese<br />
Szenen – passieren nur bei biber. Die Redaktion wird jetzt<br />
ihre Türen schließen, aber was bleibt, sind die Menschen, die<br />
daran mitgewirkt haben. Wir werden alles dafür tun, unsere<br />
Geschichten, unsere Berichterstattung und vor allem unsere<br />
Ideen mitzunehmen und sie in möglichst vielen Redaktionen<br />
des Landes zu streuen – ihr kommt sowieso nicht um uns<br />
herum, wir sind mittlerweile zu viele. ●<br />
Zur Autorin: Aleksandra Tulej war die letzte<br />
Chefredakteurin von biber.<br />
In „Asylstatus: Untergetaucht“ (20<strong>23</strong>) erzählten Asylwerber<br />
ohne Aufenthaltsstatus von ihrem Leben im Versteck.<br />
EIN CREDIT MIT SCHARF.<br />
Biber-Journalismus hat zu einem großen Teil nur funktioniert,<br />
weil unzählige Menschen mir und uns immer<br />
und immer wieder bedingungslos geholfen und vertraut<br />
haben. Menschen, die nie für biber gearbeitet haben,<br />
aber einen großen Part geleistet haben, damit die Reportagen<br />
entstehen konnten. Mein größter Dank gebührt<br />
Fabian Reicher, der mir bei so vielen Geschichten zur<br />
Seite gestanden ist und Rückendeckung geliefert hat.<br />
Genauso bedanke ich mich bei Rami Ali, Julian Pehm,<br />
Derai Al Nuaimi, Obada Karzoon, Even Assad, Ahmad<br />
Mitaev, Mansour, Cheda, Hawa, Amina, Omar, Ahmet und<br />
all den anderen, die nicht namentlich erwähnt werden<br />
wollen oder können – ihr wisst, wer ihr seid. Ohne euch<br />
wären die meisten dieser Geschichten niemals entstanden.<br />
Ihr werdet für mich im Herzen immer „mit scharf”<br />
bleiben.<br />
© Zoe Opratko<br />
20 / POLITIKA /