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BIBER 12_23 Ansicht

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DIE <strong>BIBER</strong>’SCHEN ZUFÄLLE<br />

Oft waren es aber auch Zufälle, die nur in unserer Redaktion<br />

möglich waren, wie im Sommer 2021. Ich werde nie vergessen,<br />

als unser Politik-Ressortleiter Amar Rajković und ich<br />

auf der berühmten Grübel-Couch der Redaktion saßen und<br />

uns den Kopf darüber zerbrochen haben, wo wir denn jetzt<br />

Protagonisten für eine Geschichte über Afghanen in Wien,<br />

die mit den Taliban sympathisieren, herbekommen. Plötzlich<br />

platzt, mir nichts, dir nichts, ein junger Afghane in unsere<br />

Redaktion – die Hochsicherheitseingangstür stand nicht nur<br />

sprichwörtlich immer offen – und will uns ein Theaterstück<br />

eines afghanischen Filmemachers vorstellen. Die Szene war<br />

tatsächlich filmreif: Wir wechseln ein paar Blicke und Worte<br />

und es wird klar: Theaterstück uninteressant, seine Erzählungen<br />

umso spannender. Wir haben unseren Protagonisten.<br />

Unsere Geschichte ist uns wortwörtlich in den Schoß<br />

gefallen – oder in die Redaktion hereinspaziert. Manchmal<br />

spazierten die Geschichten auch auf Dächern:<br />

„Du, ich komme heute etwas später. Du wirst nicht glauben,<br />

was mir heute Nacht passiert ist. Meine Katze ist weggelaufen,<br />

wir haben sie die ganze Nacht gesucht. Aber weißt du,<br />

wem das Dach von meinem Haus gehört?” Diese kryptische<br />

Nachricht unserer Kulturressortleiterin Nada Chekh an<br />

mich brachte uns zu einer Geschichte über ultraorthodoxes<br />

Judentum in Wien. Einer, die man sonst noch nie so gelesen<br />

hat, wie wir als Feedback bekamen.<br />

Bis heute kann ich übrigens nicht glauben, dass diese<br />

klassisch bibereske Situation wirklich so passiert ist:<br />

November 2021, wir stehen frierend vor einem Krankenhaus<br />

in Bielsk-Podlaski, einer kleinen Ortschaft in Polen<br />

direkt an der Grenze zu Belarus, der damaligen Sperrzone,<br />

die Polen eingerichtet hatte. Wir, das sind unsere Kamerafrau<br />

Soza Jan und ich – und unzählige andere internationale<br />

Journalist:innen und Kamera-Teams: CNN, Reuters, die<br />

ganz Großen eben. Keiner von uns dürfte offiziell hier sein,<br />

aber wir nutzen das Chaos. Alle tummeln sich hier, um ein<br />

Interview mit dem Oberarzt des Spitals, Dr. Arsalan Azzadin,<br />

zu bekommen. Der gebürtige Kurde behandelt hier Flüchtlinge,<br />

die durch Push-Backs aus Belarus wieder nach Polen<br />

gebracht werden: unterkühlt, ausgehungert, und dann auch<br />

noch mitten in der Pandemie. „Ich habe wirklich keine Zeit<br />

für Interviews, Sie müssen verstehen, das geht einfach ni…<br />

Warte! Warte! Bist du Kurdin? Ich glaube, ich kenne deine<br />

Familie!”, fragt der Oberarzt unsere Kamerafrau Soza und<br />

pickt sie aus der Menge raus. Tatsächlich – sie tauschen<br />

einige Worte auf Kurmanji aus und es stellt sich heraus,<br />

dass der Oberarzt des Krankenhauses in einem kleinen<br />

polnischen Dorf die Familie unserer Kamerafrau in Syrien<br />

kennt. „Bei Gott, das ist Schicksal, das kann kein Zufall<br />

sein! Ihr kommt rein, aber nur ihr!” Wir bekommen als einziges<br />

Medium ein Interview mit ihm, das Gespräch wird ein<br />

wesentlicher und exklusiver Bestandteil unserer Reportage<br />

über die Sperrzone im polnisch-belarussischen Grenzgebiet,<br />

wo wir übrigens als einziges österreichisches Medium<br />

waren. Ach ja: Die Grenzsoldaten haben wir dort undercover<br />

über Tinder ausfindig gemacht, aber das ist eine ganz<br />

eigene Geschichte. Ressourcen hatten wir nie, dafür haben<br />

wir gelernt, kreativ über alle Tellerränder zu blicken.<br />

Diese besonderen Zufälle – oder eher Schicksale wie diese<br />

Szenen – passieren nur bei biber. Die Redaktion wird jetzt<br />

ihre Türen schließen, aber was bleibt, sind die Menschen, die<br />

daran mitgewirkt haben. Wir werden alles dafür tun, unsere<br />

Geschichten, unsere Berichterstattung und vor allem unsere<br />

Ideen mitzunehmen und sie in möglichst vielen Redaktionen<br />

des Landes zu streuen – ihr kommt sowieso nicht um uns<br />

herum, wir sind mittlerweile zu viele. ●<br />

Zur Autorin: Aleksandra Tulej war die letzte<br />

Chefredakteurin von biber.<br />

In „Asylstatus: Untergetaucht“ (20<strong>23</strong>) erzählten Asylwerber<br />

ohne Aufenthaltsstatus von ihrem Leben im Versteck.<br />

EIN CREDIT MIT SCHARF.<br />

Biber-Journalismus hat zu einem großen Teil nur funktioniert,<br />

weil unzählige Menschen mir und uns immer<br />

und immer wieder bedingungslos geholfen und vertraut<br />

haben. Menschen, die nie für biber gearbeitet haben,<br />

aber einen großen Part geleistet haben, damit die Reportagen<br />

entstehen konnten. Mein größter Dank gebührt<br />

Fabian Reicher, der mir bei so vielen Geschichten zur<br />

Seite gestanden ist und Rückendeckung geliefert hat.<br />

Genauso bedanke ich mich bei Rami Ali, Julian Pehm,<br />

Derai Al Nuaimi, Obada Karzoon, Even Assad, Ahmad<br />

Mitaev, Mansour, Cheda, Hawa, Amina, Omar, Ahmet und<br />

all den anderen, die nicht namentlich erwähnt werden<br />

wollen oder können – ihr wisst, wer ihr seid. Ohne euch<br />

wären die meisten dieser Geschichten niemals entstanden.<br />

Ihr werdet für mich im Herzen immer „mit scharf”<br />

bleiben.<br />

© Zoe Opratko<br />

20 / POLITIKA /

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