Magazin 01/2010 - bei den Doxs
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von Denktempo und Multitasking-Fähigkeit – „die Menschen erleben sich als<br />
ausgeliefert“. Neu seien diese Zusammenhänge nicht, „einzig neu ist, dass<br />
man heute diese ,alten‘ Erkenntnisse <strong>bei</strong>m Namen nennt.“<br />
Der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Ulrich Müller sieht <strong>bei</strong> jungen<br />
Menschen nicht unbedingt einen Anstieg der Fallzahlen. Fest stehe lediglich,<br />
dass sich die Suizidrate unter Kindern und Jugendlichen erhöht habe (siehe<br />
„Depression und Suizid“, S. 10). Dies müsse nicht zwingend die Folge von<br />
Depression sein, auch Affekthandlungen seien zu berücksichtigen. Die Dia gnose<br />
Depression sei derzeit „im Schwange, vieles schwappt aus dem angloamerikanischen<br />
Raum herüber“. Generell beobachtet er, „dass <strong>bei</strong> 60 Prozent<br />
der Kinder in meiner Praxis die Eltern getrennt leben“. Dies führe nicht automatisch<br />
zu Defiziten, doch der Konflikt müsse bear<strong>bei</strong>tet wer<strong>den</strong>. „Manche<br />
schlucken’s runter, andere tun das Gegenteil und zeigen ihre Wut nach außen“,<br />
beschreibt Müller mögliche Reaktionen. Mädchen reagierten häufig mit<br />
Essstörungen, Jungen mit körperlicher Unruhe (was oft als Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom,<br />
ADS, diagnostiziert werde). Bei vielen ADS-Kindern zeige sich<br />
in der längeren Zusammenar<strong>bei</strong>t, dass etwas unverar<strong>bei</strong>tet geblieben sei, ein<br />
depressiver Konflikt dahinter stecke. Müller <strong>den</strong>kt an einen Jungen aus seiner<br />
Praxis, „der durch seine Hyperaktivität letztlich darauf aufmerksam machte“,<br />
dass sein Vater sich zu wenig Zeit für ihn nahm.<br />
Grundsätzlich gehen Pollmächer, Müller und Kramuschke davon aus, dass<br />
<strong>bei</strong> der Entstehung depressiver Störungen mehrere Faktoren zusammenspielen.<br />
„Wie kommt man darauf, das zu trennen?“, fragt Kramuschke, „der<br />
Mensch ist ein psycho-somatisch-soziales Wesen“. Deshalb fuße die Therapie<br />
(siehe „Depression: auf dem Weg zur Volkskrankheit“, S. 6-7) in der Regel<br />
auf drei Bausteinen: auf der Psychotherapie für die psychischen Faktoren,<br />
auf der medikamentösen Behandlung für die somatischen Störungen, auf<br />
Kontakten zu Familie, Freun<strong>den</strong>, Ar<strong>bei</strong>tskollegen auf der sozialen Ebene. Wie<br />
eng verwoben verschie<strong>den</strong>e der Faktoren sind, beschreibt der Psychiater<br />
und Psychotherapeut am Beispiel der Antidepressiva: Rein biologisch lasse<br />
sich im Gehirn schon nach 24 bis 48 Stun<strong>den</strong> ein veränderter Serotoninstoffwechsel<br />
erkennen. „Bis die Wirkung aber spürbar wird, vergehen zehn bis 20<br />
Tage, <strong>den</strong>n das Gehirn muss das Ablesen genetischer Informationen erst wieder<br />
ändern“, erklärt er.<br />
Die Sorge vor Nebenwirkungen versucht Kramuschke seinen Patienten schon<br />
im Vorfeld zu nehmen, indem er die häufigsten von sich aus erklärt. Allerdings<br />
dürften die Erwartungen an <strong>den</strong> Erfolg von Antidepressiva keineswegs<br />
zu hoch gesteckt wer<strong>den</strong> und es sollte klargestellt wer<strong>den</strong>, dass es sich nicht<br />
um eine kausale Therapie handelt. Pollmächer weist zusätzlich drauf hin,<br />
„diese Medikamente machen nicht abhängig, das wird häufig mit Beruhigungsmitteln<br />
verwechselt“. Müller sieht <strong>bei</strong> schweren Depressionen <strong>den</strong><br />
akuten Einsatz von Medikamenten gerechtfertigt, langfristig kombiniert mit<br />
psychotherapeutischer Behandlung, „leichte und mittelschwere Depressionen<br />
können psychotherapeutisch behandelt wer<strong>den</strong>, Medikamente sind<br />
nicht in jedem Fall angezeigt“. Er weist auf <strong>den</strong> hohen Placeboeffekt <strong>bei</strong><br />
Antidepressiva hin. „Dies kann ein Zeichen sein, dass der behandelnde Arzt<br />
und Psychotherapeut als Person eine signifikante Wirkung hat“, so Müller.<br />
„Allein die Tatsache, dass jemand im geschützten Raum zuhört, unterstützt<br />
positive Denkprozesse und eröffnet einen Raum für Veränderungen in der<br />
Sicht des Patienten auf sich und seine Beziehungen“, schildert Kramuschke.<br />
Thomas Zipp, Psychonaut A, 2008. Courtesy: Galerie<br />
Guido W. Baudach, Berlin und Sommer Contemporary,<br />
Tel Aviv. Foto: Roman März<br />
Die Kunsthalle<br />
als psychiatrische Anstalt<br />
Der Künstler Thomas Zipp verwandelt von März bis<br />
Juni die Räume der Kunsthalle Fridericianum in Kassel<br />
in seine Vision einer „psychiatrischen Anstalt“. Unter<br />
dem Titel (WHITE REFORMATION CO-OP) MENS SA-<br />
NA IN CORPORE SANO widmet er sich Fragen nach<br />
Norm und Abweichung, sozialer Ausgrenzung sowie<br />
der Einordnung des Selbst in die Gesellschaft. Mit<br />
dem Untertitel „mens sana in corpore sano“ (ein gesunder<br />
Geist in einem gesun<strong>den</strong> Körper) verweist<br />
Zipp auf ein Zitat des römischen Dichters Juvenal<br />
(etwa 60 bis 140 n. Chr.), der als Satiriker bereits die<br />
Zeichen seiner Zeit kritisierte.<br />
Zipp fasst seine Gemälde, Grafiken, Skulpturen und<br />
Installationen immer wieder unter einem Thema zusammen.<br />
Sein aktuelles Thema „mens sana in corpore<br />
sano“ prangt in großen Lettern am Portal des Fridericianums,<br />
das Foyer wird zur Eingangshalle der<br />
„Anstalt“. In <strong>den</strong> Hauptflügeln des Hauses verbindet<br />
der Künstler sein skulpturales und malerisches Werk<br />
mit Installationen. Durch Abdunkelung und <strong>den</strong><br />
gleich zeitigen Einsatz grellen Neonlichts erschafft<br />
Zipp die Illusion langer Gänge, deren Türen zu sowohl<br />
zugänglichen als auch verschlossenen Räumen<br />
führen. Darin wird sein Thema in Gemäl<strong>den</strong> oder<br />
Plastiken, wie seine Psychonauten, aufgegriffen. An<br />
die Gänge schließen sich in <strong>den</strong> Seitenflügeln die<br />
Großinstallationen einer Gummizelle, eines Turngeräteraumes<br />
und eines Spiegelsaals an.<br />
ig/Kunsthalle Fridericianum<br />
(WHITE REFORMATION CO-OP)<br />
MENS SANA IN CORPORE SANO<br />
Kunsthalle Fridericianum, Kassel, Friedrichsplatz 18<br />
13. 3 – 13. 6. Mi. - So., 11 - 18 Uhr, 5 Euro, Mi. frei<br />
www.fridericianum-kassel.de<br />
Fitte Körper, marode Verhältnisse<br />
Mittwoch, 12. Mai, 18 Uhr<br />
Vortrag von Prof. Dr. Ernst-Dieter Lantermann,<br />
Persönlichkeits- und Sozialpsychologie, Uni Kassel<br />
Eintritt frei<br />
<strong>Magazin</strong> Winter 2009<br />
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