Der Birklehof in der Nachkriegszeit 1946-1963 - Schule Birklehof

auf der Universität unter vielen Opfern neu lernen müssen, um nicht als unkameradschaftlich zu
gelten.
Sehr zu unserer Besserung trugen die oben genannten Strichlisten bei – sie hingen in jedem
Zimmer. Für Vergehen aller Art bekam man je nachdem einen dünnen oder einen dicken Strich
aufgebrummt, den man sich selber eintragen mußte (Ehrlichkeit!). Drei dünne Striche ergaben
einen dicken. Für einen dicken Strich mußte man eine halbe Stunde arbeiten – auf dem
Sportplatz, in der Kaltküche abtrocknen oder - sehr unangenehm – man mußte am Sonntag früh
vor Tagesanbruch mit einem großen Leiterwagen ins Dorf oder zur Bäckerei Ravenna fahren, um
das Brot für das Frühstück zu holen. Die besten Striche waren die, die man sich für seine Fehler
selbst gab (Wahrhaftigkeit!).
Das System brach schließlich zusammen, weil die Sündenwährung nicht mehr durch Arbeit zu
decken war. Mein Zimmer erforschte sich einmal selbst, mit dem Ergebnis, daß jeder von uns
vier sich dreißig dicke Striche machen mußte.
Für die Schule bedeutete das, daß sie in einer Zeit ohnehin epidemischer Wahrhaftigkeit allein für
uns sechzig Stunden Strafarbeit bereitzustellen hatte. Das war unmöglich, obwohl hinter dem
Hirschen mit dem Bau eines neuen Sportplatzes begonnen war, eigens, damit wir dort dem
strahlenden Vorbild der Vorkriegsbirklehofer folgen, die ja den großen Sportplatz aus Idealismus
ganz alleine geschaufelt hatten (wie es hieß) und unsere Ehre durch Arbeit wiederherstellen
konnten. Unter uns rechneten wir: 1 Lore voll Erde = ½ Pfund Ehre.
Große Schwierigkeiten hatte ich mit der Ritterlichkeit; ich wusste nicht, wo ich sie einsetzen
sollte. Es kann ja auch sein, daß es sich bei dieser Tugend um eine nicht ganz treffende
Übersetzung von „andreia“ handelte? – Jedenfalls gab es auf dem Birklehof nur wenige Mädchen,
und denen brachte man, sagen wir, Anderes entgegen. Hanne Paul gegenüber, einem wirklich
besonders hübschen Mädchen, zerfielen die Schüler in etwa vier Gruppen: erstens in die
Unbeteiligten (ca. 30%), zweitens diejenigen, die Hanne Paul liebten (30%), drittens diejenigen,
die sich um die Mädchen bemühten, die in Hanne Pauls Fahrwasser segelten (10%) und viertens
die, die Hanne Paul nicht liebten. Ich tat damals der Stimme meines Herzens Gewalt an und
schloß mich, um originell zu bleiben, was ja sehr wichtig war, der letzten Gruppe an. Das mit den
Mädchen blieb überhaupt immer so ein Problem.
Einer von uns hat es richtig gemacht. Er setzte sich in der Kirche hinter Hanne und schnitt ihr
ein paar Haare ab, sei es, um sich seinen Teil an ihr zu sichern, sei es, um einen kleinen Handel
aufzumachen. Das wurde entdeckt und natürlich in einer Hirschenversammlung als
verabscheuungswürdige Untat gebrandmarkt, obwohl es dem Geist der Zeit entsprach.
Seit der Währungsreform im Juni 1948 hatte nämlich das Leben wieder einen Sinn. Ihretwegen
wurde eigens eine Hirschenversammlung abgehalten, in der Herr Herchenröther mit leuchtenden
Augen und diesmal freundlich gebogener Hakennase, wie ein orientalischer Märchenerzähler –
eine Rolle, die er ohnehin gut beherrschte – berichtete, in Freiburg gebe es Kirschen und
Erdbeeren auf dem Markt für 50 Pfennig und Schlagsahne auch – für uns Inbegriff des Friedens.
Ja, sogar in Hinterzarten könne man demnächst wieder Brot und Wurst und Zucker kaufen,
soviel man wolle!
Meine Lage auf dem Birklehof wurde durch die Währungsreform allerdings sofort prekär – denn
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