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1. Wann endet die Nacht und<br />

wann beginnt der Morgen?<br />

Den Kreislauf von Gewalt und Verletzung<br />

durchbrechen<br />

Predigt von Petrus Diergaardt, ehemaliger<br />

Bischof der ELCRN*<br />

„Wann endet die Nacht und wann beginnt<br />

der Morgen?“<br />

Diese Frage wurde einmal von drei jüdischen Rabbinern<br />

diskutiert. Der erste meinte, die Nacht ende<br />

in dem Augenblick, wenn man die Berge vor dem<br />

Himmel sehen könne. Der zweite sagte, erst wenn<br />

man Zweige und Blätter eines Baumes unterscheiden<br />

könne, sei die Nacht vorüber. Der dritte Rabbi<br />

hörte den beiden anderen zu und dachte lange<br />

nach. Dann sagte er:<br />

„Die Nacht endet und der Morgen beginnt, wenn es<br />

hell genug ist, um deinen Mitmenschen als Bruder<br />

oder Schwester zu erkennen.“<br />

Diese Geschichte zitierte kürzlich ein muslimischer<br />

Theologe und ehemaliger Freiheitskämpfer, um<br />

den Stand der Versöhnungsarbeit in Südafrika zu<br />

reflektieren. Sein Problem war die Vision, die hier<br />

beschworen wird: Können wir wirklich erwarten, so<br />

fragte er, dass die Verletzten, die Opfer von Folter<br />

und Unterdrückung das Verlangen haben, ihre Folterer,<br />

die Mörder ihrer Familien, diejenigen, die sie<br />

seit langer Zeit ausgebeutet und verachtet haben,<br />

als Brüder und Schwestern zu erkennen? Ist dies<br />

nicht eine Zumutung für die Opfer? Und schlimmer<br />

noch: Hat die ganze Debatte über Versöhnung<br />

im südlichen Afrika nicht auch die Kehrseite,<br />

die Verletzten und Zornigen schon wieder zum<br />

Schweigen zu bringen, weil sie ihnen den Freiraum<br />

abspricht zu klagen, ihren Zorn hinauszuschreien<br />

und ihre Geschichten öffentlich zu erzählen?<br />

8<br />

Predigten und Predigtmeditationen<br />

Verständliche Enttäuschung<br />

Wenn ich auf die zehn Jahre unserer Unabhängigkeit<br />

in Namibia zurückblicke, kann ich die<br />

*(redigierter Auszug aus der Eröffnungspredigt zu 1. Mose 4,9-16<br />

auf dem JPIC-Workshop der VEM am 22. Januar 2000 in Windhoek;<br />

aus: In die Welt – für die Welt 3/2000, S. 5f.)<br />

Enttäuschung des südafrikanischen Autors verstehen.<br />

Es ist schon viel Wahrheit daran, wenn er<br />

sagt, dass wir uns so sehr nach Geschwisterlichkeit<br />

gesehnt haben, dass wir vielleicht unseren eigenen<br />

Schmerz unterdrückt und unsere Geschichten<br />

nicht öffentlich gemacht haben. Die erste Handlung<br />

der neuen namibischen Regierung war die<br />

Erklärung der Politik der nationalen Versöhnung<br />

und einer Generalamnestie für alle Verbrechen und<br />

Grausamkeiten, die im Zusammenhang mit dem<br />

Befreiungskrieg begangen worden waren. Die Welt<br />

war beeindruckt und lobte das namibische Volk<br />

und besonders die Opfer für ihre scheinbar unendliche<br />

Fähigkeit zu vergeben. Aber heute müssen<br />

wir uns fragen: Haben wir wirklich vergeben? Haben<br />

wir wirklich aus ganzem Herzen geglaubt, dass<br />

Versöhnung in unserem Land durch „Vergeben<br />

und Vergessen“ erreicht werden könne, wie unsere<br />

Führer uns erklärten?<br />

Unsere kurze Geschichte als unabhängiges Land<br />

zeigt, dass keine Politik der nationalen Versöhnung<br />

das Erbe von Krieg und Unterdrückung auslöschen<br />

konnte. Unsere Leute sind immer noch verletzt,<br />

und manchmal hat man das Gefühl, dass dies von<br />

Tag zu Tag schlimmer wird. Wollen wir immer<br />

noch zu Geschwistern werden? Ich denke schon,<br />

denn kaum einer ist mit dem Status quo zufrieden.<br />

Aber ich habe meine Zweifel, ob wir wirklich bereit<br />

sind, die Versöhnung zur Grundlage unseres Lebens<br />

zu machen. Tief in uns könnten wir sogar die<br />

ganze Idee der Geschwisterlichkeit in Frage stellen,<br />

weil wir fühlen, dass sie uns nicht die erhoffte<br />

Befreiung gebracht hat, sondern uns vielmehr im<br />

festen Griff der Vergangenheit festhält.<br />

Spirale der Gewalt<br />

Als Bibeltext für die Eröffnungspredigt des VEM­<br />

Workshops „Gerechtigkeit und Versöhnung“ habe<br />

ich die Geschichte von Kain und Abel ausgewählt.<br />

Kain ist ein Mörder, und kein Akt der Versöhnung<br />

kann diese Tat ungeschehen machen. Außerdem<br />

hat der Mord einen Fluch ausgelöst, dem erst Abel,<br />

und später immer mehr andere Menschen zum<br />

Opfer fallen.

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