Das Benninger Ried (PDF) - Regierung von Schwaben - Bayern
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6.2 · DAS LEBEN IM WASSER<br />
Der Name der Milben (althochdeutsch:<br />
„milwa“) stammt aus<br />
einer Wortgruppe, die mit dem Begriff<br />
„mahlen“ in Verbindung steht<br />
und aus der auch die deutsche Bezeichnung<br />
„Motten“ für die Kleinschmetterlinge<br />
hervorgegangen ist.<br />
Als gemeinsames Merkmal galt<br />
das systematische Zermahlen organischen<br />
Materials zu kleinen<br />
Staubhäufchen. Nicht morphologische<br />
Merkmale, geschweige denn<br />
entwicklungsgeschichtliche Herkunft,<br />
sondern die Bedeutung für<br />
den Menschen war in voraufklärerischer<br />
Zeit Hauptgrundlage für<br />
die Einteilung der belebten Umwelt.<br />
Mit der seit einiger Zeit zu<br />
beobachtenden Vernachlässigung<br />
biologischer Grundlagenforschung<br />
und -lehre nähern wir uns wieder<br />
solchen mittelalterlichen Vorstellungen.<br />
Jedenfalls sind die Milben<br />
ein typisches Beispiel für ein mit<br />
negativen Vorurteilen behaftetes<br />
Element unserer belebten Umwelt,<br />
und Vorurteile verstellen oft den<br />
Weg zum tieferen Verständnis. Immens<br />
ist die Bedeutung dieser winzigen<br />
Spinnentiere nicht nur als<br />
Parasiten an Pflanzen und Tieren,<br />
sondern auch als Zersetzer organischer<br />
Überreste im Boden, als unermüdliche<br />
Räuber an Insektenlarven<br />
und -eiern und als Symbionten<br />
anderer Tierarten.<br />
Eingepaßte Flugbegleiter<br />
Ihre Wichtigkeit für die Reinhaltung<br />
<strong>von</strong> Bauten mancher Insekten<br />
hat im Laufe der Evolution sogar<br />
dazu geführt, dass sich am Körper<br />
Spinnentiere<br />
Mulmbewohner<br />
WASSERMILBEN (HYDRACARINA)<br />
Parasitismus<br />
Warnfarbe<br />
einiger Wespen Hohlformen entwickelten,<br />
in die „ihre“ Milben<br />
„haargenau“ hineinpassen. Solche<br />
„Babysitz-artigen“ Hohlformen, in<br />
denen die Milben mitgeführt werden<br />
können, ohne die Wespe aerodynamisch<br />
zu beeinträchtigen,<br />
wenn sie zur Gründung eines neuen<br />
Nestes aufbricht, bezeichnet die<br />
Wissenschaft als „Acarinarium”.<br />
Daß Milben auch in Quellen, Bächen,<br />
Flüssen und Seen vorkommen,<br />
ist allgemein wenig bekannt.<br />
Neben feuchtigkeitsliebenden<br />
Moos- und Mulmbewohnern und<br />
ans Wasserleben angepassten Vertretern<br />
verschiedener kleiner Landmilbengruppen<br />
finden sich hier<br />
zwei Großgruppen, die ausschließlich<br />
im Wasser auftreten: Die Meeresmilben<br />
(Halacaridae – wie der<br />
Name sagt, vorwiegend marin,<br />
aber auch mit etlichen Arten im<br />
Süßwasser vertreten) und die echten<br />
Süßwassermilben (Hydrachnidia),<br />
mit denen wir es im <strong>Benninger</strong><br />
<strong>Ried</strong> vorwiegend zu tun haben.<br />
Obwohl sie in den Binnengewäs-<br />
Detailzeichnung<br />
der neu entdeckten<br />
Art<br />
Neumania<br />
verrucosa<br />
sern zu den artenreichsten Tiergruppen<br />
gehören (aus Mitteleuropa<br />
sind über 500 Arten bekannt),<br />
fallen die Hydrachnidia aufgrund<br />
ihrer geringen Dimensionen nur<br />
dem gründlichen Betrachter auf.<br />
Einmal wahrgenommen, ziehen sie<br />
allerdings rasch weitere Aufmerksamkeit<br />
auf sich – zunächst aufgrund<br />
ihrer lebhaften Farben, bei<br />
genauerem Hinsehen auch wegen<br />
der enormen Vielfalt an Lebensformen<br />
und Anpassungen.<br />
Farbiges Leben<br />
<strong>Das</strong> buntfarbige Äußere – neben<br />
dem in allen Abstufungen vertretenen<br />
Rot findet sich auch lebhaftes<br />
Grün, Blau, Gelb oder Muster, die<br />
aus diesen Farben kombiniert sind<br />
– können sich die Wassermilben<br />
„erlauben”, da sie über ein effektives<br />
Wehrdrüsensystem verfügen.<br />
Dessen Sekrete bringen gelegentliche<br />
Angreifer dazu, <strong>von</strong> Milben<br />
rasch wieder abzulassen. Die mit<br />
dem Anblick der Warnfarbe verbundene<br />
Erinnerung an ein unan-<br />
genehmes Erlebnis schützt die Milbe<br />
und ihre Artgenossen vor weiteren<br />
Attacken.<br />
Ihrerseits nehmen sämtliche Süßwassermilben<br />
ausschließlich tierische<br />
Nahrung zu sich. Eine weite<br />
Palette verschiedenster kleiner<br />
Wirbelloser wird ebenso angenommen<br />
wie Eier <strong>von</strong> Insekten und anderen<br />
Milben oder frisch verstorbene<br />
Tierleichen. Dabei hat allerdings<br />
jede Milbenart ihre ganz bestimmten<br />
Bevorzugungen und ist an die<br />
Erbeutung bestimmter Tiergruppen<br />
angepasst. Die enge Beziehung<br />
zwischen Milbenarten und ihren<br />
Beutetieren kommt besonders zum<br />
Ausdruck, wenn man einen Blick<br />
auf den komplizierten Lebenszyklus<br />
der Süßwassermilben wirft:<br />
Erst sechs dann acht...<br />
Aus dem Ei schlüpft eine mit bloßem<br />
Auge kaum sichtbare Larve,<br />
die nicht vier Beinpaare besitzt,<br />
wie sich dies für Spinnentiere eigentlich<br />
gehört, sondern deren nur<br />
drei. Eine solche Larve benötigt ein<br />
Wirtsinsekt, an das sie sich wie<br />
eine Zecke ansaugt, um sich <strong>von</strong><br />
nun an völlig der Orientierungsund<br />
Fortbewegungsfähigkeit des<br />
Wirtes anzuvertrauen. Bei der<br />
Suche nach ihren Wirten müssen<br />
die Milbenlarven allerdings zuvor<br />
Großleistungen an Schnelligkeit<br />
und Orientierung vollbringen: ihre<br />
Vorstellungen da<strong>von</strong>, welche Wirte<br />
für ihre Art geeignet sind, sind<br />
erstaunlich differenziert.<br />
Von Wirten und Gästen<br />
Potentielle Wirte werden über chemische<br />
Signale wahrgenommen<br />
und zusätzlich mit Hilfe <strong>von</strong> Sinnesorganen<br />
geortet, die auf mechanische<br />
Reize ansprechen. Schlüpfrhythmen<br />
der Milben sind mit<br />
denjenigen ihrer Wirte koordiniert,<br />
ebenso folgt die Anzahl parasitierender<br />
Milbenlarven je Insekt<br />
strengen Gesetzen: Der Wirt darf in<br />
den Tagen des Parasitismus nicht<br />
zu sehr beeinträchtigt werden, sollte<br />
flugfähig bleiben, keinen Räubern<br />
zum Opfer fallen, geeignete<br />
Gewässer aufsuchen und sich dort<br />
möglichst auch noch fortpflanzen.<br />
Kurz: in dieser Phase sind die Interessen<br />
des Wirtsinsekts auch diejenigen<br />
der Milbenlarve, und es<br />
kommt nur selten – sozusagen als<br />
„Betriebsunfall“ – zu nachhaltigen<br />
Schäden am Wirt. Unter Aufnahme<br />
<strong>von</strong> Wirtsblut wächst die Milbenlarve<br />
zumindest über ein paar<br />
Tage, in Extremfällen aber über fast<br />
ein ganzes Jahr heran, bevor sie in<br />
ein puppenartiges Ruhestadium<br />
(„Protonymphe”) eintritt. Im Gelände<br />
kann man solche vollgesogenen<br />
Puppen gelegentlich mit bloßem<br />
Auge beobachten, z.B. wenn<br />
sie als rote Kugeln an den Flanken<br />
oder Beinen <strong>von</strong> Wasserläufern<br />
hängen. Unter günstigen Umständen,<br />
bei stark flugaktiven Insektenwirten<br />
zum Beispiel, wenn erhöhte<br />
Luftfeuchtigkeit die Nähe einer<br />
Wasseroberfläche anzeigt, fallen<br />
die Milben <strong>von</strong> ihren Wirten ab.<br />
Auch aus einer solchen Puppe<br />
schlüpft aber noch nicht das Adulttier,<br />
wie wir das beispielsweise <strong>von</strong><br />
den Schmetterlingen kennen, sondern<br />
eine sogenannte „Deutonymphe”.<br />
Diese sieht dem Adulttier<br />
zwar ziemlich ähnlich, ist aber<br />
noch nicht geschlechtsreif und<br />
kann als Wachstumsstadium bezeichnet<br />
werden. Sie ernährt sich<br />
meist in gleicher Weise wie die<br />
erwachsenen Milben und wächst je<br />
nach Nahrungsangebot unterschiedlich<br />
gut heran. Entsprechend<br />
können Milben ein- und derselben<br />
Art in Abhängigkeit <strong>von</strong> den<br />
Lebensbedingungen sehr unterschiedlich<br />
große erwachsene Tiere<br />
ausbilden. Vor das Erreichen der<br />
Geschlechtsreife ist aber noch eine<br />
weitere Puppenruhe geschaltet, die<br />
der „Tritonymphe”. Selbstverständlich<br />
sind beide puppenartigen<br />
Stadien bestens dazu geeignet,<br />
Zäsuren in der jahreszeitlichen<br />
Entwicklung zu setzen und die<br />
Schlüpfrhythmen <strong>von</strong> Parasit und<br />
Wirt zu koordinieren. Bemerkenswert<br />
ist schließlich, dass Milbenlarven<br />
oft dasselbe Insekt als Wirt<br />
bevorzugen, <strong>von</strong> dessen Eiern und<br />
Junglarven sich später auch die<br />
Deutonymphen und adulte Milben<br />
ernähren. Ein solches System kann<br />
selbstverständlich nur funktionieren,<br />
wenn die Milbenpopulation in<br />
deutlich geringerer Biomasse auftritt<br />
als diejenige ihres Wirts.<br />
links: Vergleichspräparate<br />
rechts: Mikroskopisches Bild eines<br />
Milben-Präparats<br />
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REINHARD GERECKE