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Flüchtlinge und das ‚Aushandeln

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Martius-Staden-Jahrbuch<br />

2007 • Nr. 54<br />

Herausgeber:<br />

Rainer Domschke<br />

Eckhard E. Kupfer<br />

Renata S. G. Kutschat<br />

Martina Merklinger


Inhalt / Sumário<br />

Vorwort ......................................................................................................................................... 04<br />

Prefácio .................................................................................................................................... 06<br />

Identität <strong>und</strong> Weltkino: Ein Kurzporträt des brasilianischen<br />

Regisseurs <strong>und</strong> Produzenten Walter Salles<br />

Michael Korfmann ................................................................................................................... 09<br />

Índios Online. Verwendungen von Internettechnologie<br />

bei nordostbrasilianischen Indianern<br />

Nico Czaja ............................................................................................................................... 21<br />

A Junesche been ermi uramme: a versão fílmica da<br />

Verdadeira História dos selvagens, nus e ferozes devoradores de homens<br />

como ‚retupização‘ do encontro europeu-brasileiro<br />

Wolf Lustig............................................................................................................................... 45<br />

Africanismos e brasileirismos lexicais de matriz africana na imprensa brasileira<br />

Rosa Alice Cunha-Henckel ..................................................................................................... 65<br />

Annäherungen an die brasilianische Kultur:<br />

Anatol Rosenfelds frühe Beiträge zu den Staden-Jahrbüchern 1954-56<br />

Marcel Vejmelka ...................................................................................................................... 79<br />

„Die Blüte des Exils“: Ernst Feder <strong>und</strong> sein Brasilianisches Tagebuch<br />

Marlen Eckl ........................................................................................................................... 103<br />

Von deutschen Juden zu jüdischen Brasilianern: <strong>Flüchtlinge</strong> <strong>und</strong> <strong>das</strong> <strong>‚Aushandeln</strong>‘<br />

nationaler Identitäten in São Paulo in der Zeit von 1933-1945<br />

Jeffrey Lesser ......................................................................................................................... 125<br />

Imigração no Brasil e na Alemanha: contextos, conceitos, convergências<br />

Sérgio Costa .......................................................................................................................... 141<br />

„Nós sempre teremos Berlim“<br />

Fernando Bonassi ................................................................................................................. 165<br />

Cena brasileira<br />

Fernando Bonassi ................................................................................................................. 171<br />

Käthe Kollwitz e o meio artístico brasileiro: recepção e ressonância<br />

Eliana de Sá Porto De Simone .............................................................................................. 173


Protagonismo juvenil: Proposta para a formação de educadores sociais<br />

e agentes voluntários em projetos sócio-comunitários.<br />

A contribuição do pensamento de Paulo Freire<br />

Alexandre Magno Tavares da Silva ....................................................................................... 191<br />

Der Sertão <strong>und</strong> Amazonas von Spix <strong>und</strong> Martius:<br />

Von der Dürre, durch die Verheißung bis zur Öde<br />

Karen Lisboa .......................................................................................................................... 205<br />

Robert Avé-Lallemant (1812-1884) <strong>und</strong> seine Brasilienbücher<br />

Franz Obermeier .................................................................................................................... 221<br />

Koch-Grünberg <strong>und</strong> sein Meisterwerk Vom Roroima zum Orinoco<br />

Cristina Alberts-Franco .......................................................................................................... 241<br />

Zwei Jahrh<strong>und</strong>erte Amphibienforschung in Südbrasilien:<br />

Auf den Spuren deutscher Forscher in Rio Grande do Sul <strong>und</strong> Santa Catarina<br />

Axel Kwet .............................................................................................................................. 255<br />

Der fünfte Stern im Kreuz des Südens –<br />

Die brasilianische Fahne <strong>und</strong> ihre „interstellare“ Geschichte<br />

Ingrid Schwamborn.............................................................................................................. 277<br />

Wandsprüche – Lehrwort oder Leerwort?<br />

Ingrid Margareta Tornquist ................................................................................................... 301<br />

Regionale Identität <strong>und</strong> industrielle Entwicklung<br />

in Nordost-Santa Catarina in Zeiten der Globalisierung<br />

Gerd Kohlhepp / Maria Luiza Renaux .................................................................................. 321<br />

Vor 80 Jahren – Beginn des Luftverkehrs in Brasilien<br />

Harro Fouquet ....................................................................................................................... 339<br />

Aus der Arbeit des Martius-Staden-Instituts – Kulturbericht 2007<br />

Martina Merklinger ................................................................................................................ 349<br />

Das atividades do Instituto Martius-Staden – Relatório cultural 2007<br />

Martina Merklinger ................................................................................................................ 355<br />

Neue Bücher in der Bibliothek des Martius-Staden-Instituts .......................................... 361


Vorwort<br />

Jedes Jahr ist für uns ein Hans-Staden-Jahr, zumindest kann dieser Eindruck entstehen.<br />

2005, zum vierh<strong>und</strong>ertfünfzigsten Jahr der Rückkehr des hessischen Abenteurers,<br />

fand in Wolfhagen ein Kolloquium statt, verb<strong>und</strong>en mit einer Kunstausstellung des brasilianischen<br />

Künstlers José De Quadros. In der Jahrbuchausgabe desselben Jahres beschäftigte<br />

sich der bekannte Staden-Experte Franz Obermeier mit den Aufzeichnungen<br />

Juan de Salazars über <strong>das</strong> Leben der ersten Europäer in der portugiesischen Provinz<br />

Westindiens. Darin kam sowohl Hans Staden als auch der Regensburger Ulrich Schmidel<br />

vor, wohl die ersten Deutschen, die sich in dieser neu entdeckten Region aufhielten.<br />

In unserer Ausgabe Nr. 53 aus dem Jahr 2006 veröffentlichten wir dann die Beiträge<br />

der Stadenforscher Mark Münzel, Gernot Gerlach, Franz Obermeier <strong>und</strong> Dieter Gawora,<br />

die sie im Jahr zuvor in Wolfhagen präsentiert hatten.<br />

Natürlich konnten wir <strong>das</strong> Jahr 2007 nicht ohne Hans Staden vorüber ziehen lassen.<br />

Schließlich kommt diesem Datum eine besondere Bedeutung zu: Vor 450 Jahren, im Jahr<br />

1557 wurde die „Warhaftige Historia“ zum ersten Mal gedruckt <strong>und</strong> verkauft. Ein Buch, <strong>das</strong><br />

schon so lange auf dem Markt ist, dazu immer noch aktuell, sollte es wert sein, entsprechend<br />

gewürdigt zu werden. Zu diesem Anlass fand in Wolfhagen im März 2007 ein weiteres<br />

wichtiges Symposium statt. In diesem Zusammenhang erarbeitete <strong>das</strong> Regionalmuseum<br />

dieser Stadt zusammen mit dem Martius-Staden-Institut eine Wanderausstellung, die sich<br />

nochmals eingehend mit Stadens Erlebnissen in Brasilien <strong>und</strong> besonders eingehend mit<br />

der 450-jährigen Geschichte des Buchs befasst. Diese Ausstellung wird ab August 2007 für<br />

zehn Monate durch verschiedene Städte Brasiliens reisen, ehe sie im Mai 2008 zum Hessentag<br />

in den Geburtsort Stadens, nach Homberg zurückkehrt. Das deutsche Außenministerium<br />

ermöglichte diese Ausstellungstour.<br />

Das bereits in der Ausgabe Nr. 53 avisierte, neu aufgelegte <strong>und</strong> besonders komplette<br />

Staden-Buch liegt nun sowohl in Deutschland als auch in Brasilien zum Verkauf aus.<br />

Das Archiv der deutschen Einwanderung ist <strong>das</strong> ursprüngliche Standbein des Instituts,<br />

seit 1925 werden Dokumente über Einwanderer aus dem deutschsprachigen Raum<br />

gesammelt <strong>und</strong> registriert. Besonders interessant ist der Bestand, welcher sich auf die<br />

Immigration im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert bezieht. Nachdem wir uns aber bereits im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

befinden <strong>und</strong> die Einwanderungsströme auch im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert nach Brasilien<br />

anhielten, musste man an neue Techniken <strong>und</strong> Methoden denken, um diese Phasen zu<br />

dokumentieren. Ein wichtiges Instrument ist hierbei die „Zeitzeugenbefragung“ oder wie<br />

die vom Englischen geprägte Bezeichnung im Portugiesischen lautet, die „História Oral“.<br />

Das Institut hat sich entschieden, verstärkt auf diesem Gebiet zu arbeiten <strong>und</strong> diese in<br />

systematisch geführten Interviews gewonnenen Aussagen sowohl auf akustischen Datenträgern<br />

als auch als Transskriptionsdokumente im Archiv zu halten; damit wird ein bedeutender<br />

<strong>und</strong> unzureichend dokumentierter Erfahrungsschatz von Deutschsprachigen<br />

<strong>und</strong> Deutschstämmigen in Brasilien vor dem Vergessen bewahrt werden <strong>und</strong> Forschern<br />

sowie historisch Interessierten zukünftiger Generationen erhalten bleiben.<br />

Das nun vorliegende Jahrbuch Nr. 54 zeichnet sich durch eine besondere Vielfalt der<br />

angesprochenen Themen aus. Michael Korfmann hat sich den mittlerweile auch außerhalb<br />

Brasiliens sehr bekannten Regisseur Walter Salles vorgenommen <strong>und</strong> porträtiert<br />

sowohl ihn als auch sein Werk. Nico Czaja berichtet über die Verwendung von Internettechnologie<br />

bei Indianern im Nordosten Brasiliens. Wolf Lustig untersucht den Hans-<br />

Staden-Film des Regisseurs Luiz Alberto Pereira im Hinblick auf zeitgenössische kulturpolitische<br />

Intentionen seiner Gestaltung, die man im Vergleich mit der Buchvorlage <strong>und</strong><br />

vorherigen Filmversionen erkennen kann. Rosa Cunha-Henckel weist anhand von 21<br />

Wortbeispielen nach, <strong>das</strong>s die afrikanischen Sprachen im heutigen brasilianischen Portugiesisch<br />

einen tieferen Einfluss hinterlassen haben, als dies im Alltagsbewusstsein präsent ist.<br />

5


Marcel Vejmelka erinnert an den Theater- <strong>und</strong> Literaturkritiker Anatol Rosenfeld, der<br />

nach der Emigration nach Brasilien in seiner neuen Heimat eine wichtige Funktion im Kulturleben,<br />

besonders in São Paulo, erfüllte. Der Autor untersucht speziell Rosenfelds Artikel, die<br />

dieser in den ersten Staden-Jahrbüchern von 1954 bis 1956 veröffentlichte. Marlen Eckl<br />

erinnert an den Redakteur, Journalisten <strong>und</strong> Rechtsanwalt Ernst Feder, der bereits 1933<br />

Deutschland verließ <strong>und</strong> bis zum Kriegsbeginn in Paris arbeitete, ehe er schließlich im Jahr<br />

1941 nach Brasilien kam. Sogleich arbeitete er wieder als Journalist <strong>und</strong> schuf sich schnell<br />

einen Namen in brasilianischen intellektuellen Kreisen. Besonders soll hier noch seine bis<br />

zuletzt anhaltende Fre<strong>und</strong>schaft mit Stefan Zweig erwähnt werden. Jeffrey Lesser beschäftigt<br />

sich mit der Anpassung deutscher jüdischer Einwanderer in Brasilien in den Jahren 1933-<br />

1945. Sérgio Costa vergleicht die Immigrationspolitiken <strong>und</strong> -konzepte Brasiliens in den 1930er<br />

<strong>und</strong> 40er Jahren mit denen Deutschlands zum Ende des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

Fernando Bonassi, brasilianischer Schriftsteller <strong>und</strong> Drehbuchautor, der als DAAD-Stipendiat<br />

in Deutschland lebte, schildert in aphoristischen Bildern <strong>und</strong> Szenen seine Eindrücke<br />

von diesem so anderen Land <strong>und</strong> daneben eine Szene im eigenen. Eliana De Simone untersucht<br />

die Rezeption der bekannten deutschen Künstlerin Käthe Kollwitz in Brasilien <strong>und</strong> den<br />

Einfluss ihrer Arbeiten auf bekannte brasilianische Grafik-Künstler. Alexandre Magno Tavares<br />

schlägt vor, wie in unterentwickelten Gebieten des Nordostens Brasiliens durch internationale<br />

Gemeinschaftsprogramme zwischen Brasilianern <strong>und</strong> u. a. Deutschen auf der Basis des<br />

Denkens von Paulo Freire Erzieher <strong>und</strong> Freiwillige ausgebildet werden <strong>und</strong> mit den Jugendlichen<br />

dieser Region zusammenarbeiten können. Karen Lisboa setzt sich kritisch mit der<br />

Reise von Carl Friedrich Philipp von Martius <strong>und</strong> Johann Baptist von Spix durch den Sertão<br />

<strong>und</strong> die Amazonasregion auseinander. Franz Obermeier bringt uns die Tätigkeit <strong>und</strong> Reisebeschreibungen<br />

des Arztes <strong>und</strong> Reiseschriftstellers Robert Avé-Lallemant wieder in Erinnerung.<br />

Cristina Alberts-Franco berichtet über ihre Übersetzungsarbeit des wichtigen Expeditionsberichts<br />

Vom Roroima zum Orinoco des bekannten Ethnologen Theodor Koch-Grünberg ins<br />

Portugiesische. Axel Kwet informiert uns in einem sehr eindrucksvollen Bericht über zwei<br />

Jahrh<strong>und</strong>erte Amphibienforschung in Südbrasilien <strong>und</strong> die Spuren, die dabei deutsche Forscher<br />

hinterließen. Ingrid Schwamborn beschäftigt sich mit der Deutung der Sterne in der<br />

brasilianischen Flagge <strong>und</strong> gibt dazu interessante Erklärungen. Margareta Tornquist sammelte<br />

Wandsprüche der deutschen Immigranten im Süden des Landes <strong>und</strong> untersucht, inwieweit<br />

diese Sprüche <strong>das</strong> Leben der Bewohner beeinflusst haben.<br />

Gerd Kohlhepp vergleicht, in Zusammenarbeit mit Maria Luiza Renaux, die industrielle<br />

Entwicklung im Nordosten des Staates Santa Catarina zwischen den 1960er Jahren <strong>und</strong><br />

heute. Die Autoren kommen dabei zu interessanten Ergebnissen. Harro Fouquet schließlich,<br />

der ein Arbeitsleben im Dienste der brasilianischen Fluggesellschaft VARIG zugebracht<br />

hat, rollt nochmals die Geschichte dieser von Deutschen gegründeten Gesellschaft auf.<br />

Zum guten Abschluss dieses 54. Jahrbuchs wollen wir die Leser <strong>und</strong> diejenigen, welche an<br />

unserer Arbeit interessiert sind, über die im Jahr 2007 durchgeführten Aktivitäten des Martius-<br />

Staden-Instituts informieren. Unsere Kollegin Martina Merklinger berichtet darüber. Desweiteren<br />

wollen wir ab dieser Ausgabe wieder eine alte Tradition aufnehmen, nämlich eine<br />

Bibliografie von neuen, uns zugesandten oder von uns erworbenen Büchern aus den Themenbereichen<br />

deutsche Einwanderung <strong>und</strong> Geschichte Brasiliens zu veröffentlichen.<br />

Dieses Jahrbuch ist wieder sehr umfangreich geworden. Der Redaktionsstab hofft, <strong>das</strong>s<br />

die Vielfalt der Themen <strong>und</strong> Materien den Leser von neuem anspricht <strong>und</strong> einen weiteren<br />

Beitrag zur kulturellen Verständigung zwischen Brasilien <strong>und</strong> Deutschland leisten kann.<br />

Eckhard E. Kupfer<br />

Leiter des Instituts


Prefácio<br />

É procedente a constatação de que dedicamos todos os anos a Hans Staden.<br />

Em 2005, em comemoração aos 450 anos do retorno deste aventureiro de Hesse à<br />

sua terra natal, organizou-se em Wolfhagen um colóquio e uma exposição do artista<br />

e pintor brasileiro José De Quadros. Fez-se publicar, no Anuário do mesmo<br />

ano, uma matéria de Franz Obermeier, perito pesquisador de Staden, que trata<br />

<strong>das</strong> anotações de Juan de Salazar sobre a vida dos primeiros europeus na província<br />

portuguesa da Índia Ocidental. Nestas, menciona-se não só Hans Staden mas<br />

também Ulrich Schmidel, de Regensburg, certamente os dois primeiros alemães<br />

nesta recém-descoberta região.<br />

Em nossa edição 53 do ano de 2006, publicamos as matérias apresenta<strong>das</strong> no<br />

ano anterior em Wolfhagen, dos pesquisadores de Staden Mark Münzel, Gernot<br />

Gerlach, Franz Obermeier e Dieter Gawora.<br />

No ano de 2007 também deu-se ênfase a Hans Staden: este ano é de importância<br />

especial, pois há 450 anos seu livro, a „Warhaftige Historia“, havia sido impresso e<br />

vendido pela primeira vez. Um livro que permanece no mercado livreiro por tanto<br />

tempo, e ainda atual, merece um reconhecimento condizente. Neste contexto aconteceu<br />

em Wolfhagen, em março de 2007, outro importante simpósio. Paralelamente<br />

a este evento, o Museu Regional de Wolfhagen e o Instituto Martius-Staden organizaram<br />

uma exposição itinerante voltada às experiências de Staden no Brasil e, em<br />

especial, à história de 450 anos de seu livro. Esta mostra poderá ser visitada a partir<br />

de agosto de 2007 em várias cidades do Brasil, onde permanece por dez meses, para<br />

retornar em maio de 2008 à cidade natal de Staden, Homberg, por ocasião do<br />

Hessentag, Dia de Hesse. O Ministério <strong>das</strong> Relações Exteriores da Alemanha possibilitou<br />

o itinerário brasileiro da exposição.<br />

A nova e mais completa edição do livro de Staden, também anunciada no 53º<br />

Anuário, já se encontra à venda tanto no Brasil como na Alemanha.<br />

O arquivo da imigração alemã ao Brasil é o pilar f<strong>und</strong>amental do Instituto, pois<br />

desde 1925 se colecionam e se registram documentos de imigrantes ori<strong>und</strong>os <strong>das</strong><br />

regiões de língua alemã. De especial interesse é o acervo que se refere à imigração<br />

ocorrida no século XIX. Por estarmos, porém, no século XXI e uma vez que o<br />

movimento imigratório ao Brasil continuou também durante o século XX, novos<br />

métodos e técnicas se tornaram imprescindíveis para proceder o registro desta<br />

fase. Um instrumento para tanto é a assim chamada História Oral. É decisão do<br />

Instituto trabalhar efetivamente esta área e arquivar estes depoimentos, feitos<br />

através de entrevistas conduzi<strong>das</strong> de forma sistemática, tanto em formato de<br />

áudio como em transcritos documentais; assim são preserva<strong>das</strong> as experiências<br />

de pessoas de língua alemã e seus descendentes, no Brasil, e resguarda<strong>das</strong> do<br />

esquecimento, para estarem disponíveis a pesquisadores e interessados de gerações<br />

vindouras.<br />

Este 54° Anuário destaca-se sobretudo pela grande variedade de temas abordados.<br />

A matéria de Michael Korfmann desenha um retrato do diretor Walter Salles e<br />

seus filmes, entrementes conhecidos m<strong>und</strong>o afora. Nico Czaja informa sobre o uso<br />

da tecnologia de internet entre populações indígenas do nordeste brasileiro. Wolf<br />

Lustig analisa o filme de Luiz Alberto Pereira sobre Hans Staden à luz da intenção<br />

política-cultural desta criação, comparando-a ao livro e às versões cinematográficas<br />

anteriores. Rosa Cunha-Henckel demonstra, a partir do exemplo de vinte e uma<br />

palavras, que os idiomas africanos influenciaram mais prof<strong>und</strong>amente o português<br />

atual do Brasil, do que, no dia-a-dia, se tem consciência.<br />

O texto de Marcel Vejmelka evoca o crítico literário e de teatro Anatol Rosenfeld,


que, após sua imigração ao Brasil,teve papel importante na vida cultural da sua<br />

nova pátria, especialmente em São Paulo. O autor examina os textos de Rosenfeld,<br />

publicados entre 1954 e 1956, nas edições do Anuário do Instituto. A matéria de<br />

Marlen Eckl se foca em Ernst Feder, redator, jornalista e advogado, que, após<br />

deixar a Alemanha em 1933, trabalhou até o início da guerra em Paris, para em<br />

1941 imigrar ao Brasil. Imediatamente retomou suas atividades como jornalista,<br />

tornando-se notável nos círculos intelectuais do país. Destaca-se a amizade de<br />

Feder com Stefan Zweig, a quem acompanhou até seu trágico fim. Jeffrey Lesser<br />

discorre sobre a adaptação de imigrantes judeus, de origem alemã, ao Brasil, nos<br />

anos de 1933 a 1945. Sérgio Costa traz um estudo comparativo <strong>das</strong> políticas e<br />

conceitos de imigração brasileiros nos anos de 1930 a 1940 àqueles em vigor na<br />

Alemanha no final do século XX.<br />

O escritor e roteirista Fernando Bonassi, que na qualidade de bolsista do DAAD<br />

viveu na Alemanha, conta, por intermédio de cenas e quadros aforísticos, suas<br />

impressões deste país tão diferente, ao lado de uma cena brasileira. A recepção no<br />

Brasil da obra da conhecida artista alemã Käthe Kollwitz, e a influência de seus<br />

trabalhos nos de gravuristas brasileiros, são analisa<strong>das</strong> por Eliana de Simone. O<br />

texto de Alexandre Magno Tavares traz a proposta de como se viabiliza o trabalho<br />

com jovens <strong>das</strong> regiões subdesenvolvi<strong>das</strong> do nordeste, por meio de parcerias entre<br />

brasileiros e alemães, entre outros, através do treinamento destes baseado nos princípios<br />

de Paulo Freire. Karen Lisboa faz uma análise crítica da viagem empreendida<br />

por Carl Friedrich Philipp von Martius e Johann Baptist von Spix pelo Sertão e pela<br />

região do Amazonas. Franz Obermeier traz uma matéria que evoca tanto as atividades<br />

como os relatos de viagem do médico e viajante Robert Avé-Lallemant. O desafio<br />

que representou a tradução ao português da obra de Theodor Koch-Grünberg<br />

Vom Roraima zum Orinoco é o cerne da matéria de Cristina Alberts-Franco. Axel<br />

Kwet informa, por meio de uma descrição impressionante, sobre os dois séculos de<br />

pesquisa de anfíbios e os rastros que estudiosos alemães, envolvidos nesta, deixaram.<br />

A exegese <strong>das</strong> estrelas na bandeira brasileira, e explicações inerentes a esta são<br />

o foco da matéria de Ingrid Schwammborn. A autora Margareta Tornquist coletou<br />

os „bordados de parede“ <strong>das</strong> residências de imigrantes alemães no sul do país e<br />

examinou até que ponto estes influenciaram a vida daqueles.<br />

Gerd Kohlhepp, em colaboração com Maria Luiza Renaux, compara o desenvolvimento<br />

industrial no nordeste de Santa Catarina da época de 1960 àquele dos dias de hoje.<br />

Os autores chegam a conclusões interessantes. E esta edição finaliza com um artigo de<br />

Harro Fouquet que, tendo dedicado sua vida profissional integralmente à VARIG, arrola<br />

a história desta companhia aérea f<strong>und</strong>ada por alemães.<br />

A conclusão deste 54° Anuário se dirige aos leitores e interessados em nosso<br />

trabalho, informando sobre atividades e eventos do Instituto Martius-Staden no<br />

ano de 2007, relatados por nossa colega Martina Merklinger. Retomaremos, outrossim,<br />

uma antiga tradição: a partir desta edição publicaremos a bibliografia dos livros<br />

tanto adquiridos como recebidos pelo Instituto, relacionados à temática da<br />

imigração e à história do Brasil.<br />

Este Anuário resultou num intenso volume. A equipe editorial espera que a diversidade<br />

de temas e matérias agrade aos leitores, e que se constitua em mais um<br />

contributo para o entendimento cultural entre Brasil e Alemanha.<br />

Eckhard E. Kupfer<br />

Diretor do Instituto


Identität <strong>und</strong> Weltkino:<br />

Ein Kurzporträt des brasilianischen<br />

Regisseurs <strong>und</strong> Produzenten Walter Salles<br />

Michael Korfmann<br />

Porto Alegre<br />

Resumo: A partir da chamada „retomada“ do cinema brasileiro, por<br />

volta de 1995, formam-se dois pólos no cenário nacional:<br />

de um lado, as produções da Globo Filmes, com películas<br />

de grande audiência e uma estética freqüentemente<br />

televisiva; do outro, os filmes de Walter Salles e sua empresa<br />

VideoFilmes, que tentam estabelecer um contrapeso através<br />

de produções mais autorais e de caráter genuinamente<br />

cinematográfico. O artigo traça primeiramente um quadro<br />

geral da situação atual do cinema brasileiro e, a seguir,<br />

apresenta um perfil do diretor e produtor Walter<br />

Salles: sua trajetória a partir de filmes documentários, sua<br />

inserção na história do cinema brasileiro, bem como sua<br />

tentativa de combinar elementos regionais com um cinema<br />

de expressão m<strong>und</strong>ial.<br />

Abstract: Since the Brazilian cinema retook its activities aro<strong>und</strong> 1995<br />

one may identify two basic poles of production. On the<br />

one hand, we find Globo Filmes and their economically<br />

very successful movies which are frequently based on a<br />

more television-like esthetic; and on the other hand, the films<br />

of Walter Salles and his production company VideoFilmes try<br />

to establish a counterbalance with rather authorial and<br />

genuinely cinematographic productions. Initially, the article<br />

traces a general picture of the current situation of the<br />

Brazilian cinema. It will then show a profile of director and<br />

producer Walter Salles, his roots in documentary films, his<br />

insertion into the history of the Brazilian cinema as well as<br />

his attempt to combine regional elements with a cinema of<br />

international appeal.<br />

1. Zur Lage des brasilianischen Films<br />

Die jüngere brasilianische Filmgeschichte weist zwei Einschnitte auf: zum einen<br />

<strong>das</strong> Jahr 1990, in dem der damalige Präsident Fernando Collor u. a. die<br />

zentralen Filmförderungsprogramme <strong>und</strong> steuerlichen Begünstigungen strich <strong>und</strong><br />

damit die Filmproduktion zum Erliegen brachte. So kam etwa 1992 ein einziger,<br />

9


10<br />

teilweise brasilianischer Film auf den Markt, A Grande Arte, gedreht von Walter<br />

Salles nach einer Romanvorlage von Rubem Fonseca <strong>und</strong> als amerikanisch–brasilianische<br />

Koproduktion zudem mit englischem O-Ton. Der Film erreichte nur<br />

einen Marktanteil von weniger als einem Prozent. Als historischer Wendepunkt<br />

hin zu einer Wiederbelebung der Filmszene in Brasilien wird im Allgemeinen der<br />

Streifen Carlota Joaquina – Princesa do Brasil von Carla Camurati aus dem Jahr<br />

1995 gesehen <strong>und</strong> <strong>das</strong> Phänomen zunächst unter dem Begriff der retomada analysiert.<br />

Das Schlagwort von der retomada, also der Wiederaufnahme des Filmbetriebes<br />

in den letzten 12 Jahren, ist aber mittlerweile eher zu einem Allgemeinplatz<br />

geworden, so <strong>das</strong>s mehrere Kritiker ihn inzwischen nur noch in Anführungszeichen<br />

benutzen oder von der „so genannten retomada“ sprechen. Einige zentrale<br />

Punkte wurden bereits von Ute Hermanns in ihrem Artikel Favela, Sertao <strong>und</strong><br />

Pampa – Tendenzen des neuen brasilianischen Films in der letzten Ausgabe des<br />

Martius-Staden-Jahrbuches (2006, S. 297-312) skizziert. Und natürlich gibt es<br />

auch in Brasilien selbst zahlreiche Versuche, diese Phase aufzuarbeiten, wie etwa<br />

Cinema Brasileiro 1995-2005: Ensaios sobre uma década (CAETANO 2005), eine<br />

Buchpublikation verschiedener Essays, die ursprünglich in der elektronischen<br />

Zeitschrift Contracampo erschienen sind. Hier steht man dem Begriff retomada<br />

durchaus kritisch gegenüber, da man ihn eben nicht auf eine bestimmte formalinhaltliche<br />

Qualität der Filme beziehen könne, sondern einfach die neuen steuerlichen<br />

Begünstigungen für Filmproduktionen ab Mitte der neunziger Jahre<br />

zur Gr<strong>und</strong>lage habe: In dieser Zeit habe „<strong>das</strong> brasilianische Kino keine solide<br />

Kinematographie aufgebaut. Es wurden keine ästhetischen Bewegungen eingeleitet<br />

[...]. Diese Zeit besitzt keine Namen oder Gesichter“ (CAETANO 2005, S. 6).<br />

Weniger radikal analysiert Luiz Zanin Oricchio, Kritiker der Zeitung Estado de<br />

São Paulo, in seinem im Jahr 2003 veröffentlichten Buch Cinema de Novo: Um<br />

Balanço Crítico da Retomada die Filme dieser Zeit unter thematischen Gesichtpunkten<br />

wie z. B. „Geschichte <strong>und</strong> Film“ oder „Privatsphäre <strong>und</strong> Öffentlichkeit“,<br />

oder „Sertão <strong>und</strong> Favela“, eine Vorgehensweise, wie man sie in etwa auch in<br />

dem schon zitierten Artikel von Ute Hermanns findet.<br />

Der Kritiker Pedro Butcher kommt in seinem Buch Cinema Brasileiro Hoje (2005)<br />

ebenfalls zu dem Schluss, <strong>das</strong>s, anders als etwa <strong>das</strong> cinema novo der 60er Jahre,<br />

die Filme der retomada keine gemeinsame ideologisch-ästhetische Basis haben,<br />

sondern an Stelle einer gemeinsamen Programmatik in erster Linie die Absicht<br />

vorherrsche, sich einen bestimmten Marktanteil zurückzuerobern <strong>und</strong> damit dem<br />

brasilianischen Kino auch wieder als ökonomischem Faktor Geltung zu verschaffen.<br />

Kennzeichnend dafür stehe etwa, <strong>das</strong>s Carlota Joaquina der erste brasilianische<br />

Film seit den 80er Jahren sei, der mehr als eine Million Zuschauer in die<br />

Kinos lockte. Zuletzt sei noch Cinema Brasileiro: Das Origens à Retomada (2005)<br />

von Sidney Ferreira Leite erwähnt, der nach einem historischen Abriss der brasilianischen<br />

Kinogeschichte auch auf die wichtige <strong>und</strong> natürlich umstrittene Rolle<br />

von Globo Filmes im Kontext der Filmproduktionen der letzten Dekade eingeht.<br />

Dazu einige Zahlen: Globo Filmes wurde 1998 gegründet <strong>und</strong> hat bisher über 40<br />

Filme produziert, mit insgesamt mehr als 50 Millionen Zuschauern. Viele dieser<br />

Filme kommen mit etwa 200-300 Kopien in die Kinos, was in etwa den Zahlen der<br />

amerikanischen blockbuster entspricht, während Low-budget- <strong>und</strong> häufig auf Fe-


stivals erfolgreiche Filme wie z. B. Amarelo Manga von Cláudio Assis (2002) sich mit<br />

14 Kopien <strong>und</strong> etwa 120.000 Zuschauern begnügen müssen. Drei andere, mit<br />

zahlreichen Preisen ausgezeichnete Filme der letzten Jahre (De passagem,<br />

Narradores de Javé <strong>und</strong> Contra todos) erreichten nur jeweils zwischen 10.000 <strong>und</strong><br />

67.000 Zuschauer (ÉPOCA, 2005). Insgesamt gesehen besitzt Globo Filmes einen<br />

Anteil von etwa 20% an der brasilianischen Filmproduktion, kommt aber aufgr<strong>und</strong><br />

der zahlreichen Publikumserfolge auf einen Anteil von circa 80% in Bezug auf die<br />

Einnahmen an den Kinokassen (FONSECA o. D.), wobei logischerweise der eigene<br />

Fernsehsender als zentrales Werbemedium zum Zuge kommt. 1 Zu den erfolgreichsten<br />

Filmen gehören Cidade de Deus, Carandiru, Cazuza – O Tempo Não Pára,<br />

Olga <strong>und</strong> 2 Filhos de Francisco, der kommerziell erfolgreichste brasilianische Film<br />

der letzten Jahre. Jeder dieser Filme erreichte zwischen 2 <strong>und</strong> 3 Millionen Zuschauer.<br />

Man kann natürlich von daher auch folgende Argumentation vertreten:<br />

Bei der Gründung von Globo Filmes machte <strong>das</strong> brasilianische Kino weniger als<br />

1% des Inlandsmarktes aus, mittlerweile liegt dieser Anteil – in erster Linie als Resultat<br />

der sehr erfolgreichen Globo-Filme – bei etwa 25% <strong>und</strong> erfüllt damit teilweise<br />

die immer wieder, auch gerade aus dem linken politischen Spektrum erhobene<br />

Forderung nach einem „nationalen Kino“, zumindest, was die rein quantitative<br />

Seite betrifft. Die Konzentration der brasilianischen Filmproduktion auf einige<br />

wenige erfolgreiche Titel zeigen abschließend folgende Zahlen sehr deutlich: In<br />

der ersten Jahreshälfte 2006 erreichten 83% der brasilianischen Filme Zuschauerzahlen<br />

unter 50.000. „Dies bedeutet, <strong>das</strong>s von den 5,8 Millionen Zuschauern<br />

dieses Zeitraums allein 5,2 Millionen auf drei Globo-Filme fielen: Se Eu Fosse Você,<br />

Didi – O Caçador de Tesouros <strong>und</strong> Xuxinha e Guto Contra os Monstros do Espaço<br />

(MECCHI / VALENTE o.D.).<br />

Wenn man also die Entwicklung des brasilianischen Films in den letzten 10-15<br />

Jahren nicht so sehr unter thematischen Gesichtspunkten betrachtet sondern<br />

innerhalb dieser sich bildenden Marktstrukturen, die nur z. T. auch ästhetischinhaltlich<br />

bestimmte Tendenzen erkennen lassen, zeichnen sich zumindest zwei<br />

größere Referenzen ab: zum einen die eher (aber nicht nur) kommerziell bzw. am<br />

Publikumsgeschmack ausgerichteten <strong>und</strong> an eine erprobte Fernsehsprache angelehnten<br />

Produktionen von Globo Filmes <strong>und</strong> zum anderen die Filme von Walter<br />

Salles sowie die von ihm bzw. seinem Bruder, dem Dokumentarfilmer João Moreira<br />

Salles, geleitete <strong>und</strong> 1987 gegründete Produktionsfirma VideoFilmes, die nicht nur<br />

viele der kommerziell eher marginalen, kleineren Projekte fördert, sondern auch<br />

als Vertreiber eher künstlerisch ausgerichteter Filme (wie problematisch dieser<br />

Bergriff auch sein mag) anbietet. VideoFilmes produzierte z. B. Streifen wie O Céu<br />

de Suely (2006), Cidade Baixa (2005), Madame Satã (2002), Cidade de Deus (2002 –<br />

über die Produktionsfirma O2 zusammen mit Globo Filmes), Abril Despedaçado<br />

(2001), Lavoura Arcaica (2001) oder Central do Brasil (1998), die zum großen Teil ja<br />

auch in Deutschland oder Frankreich auf verschiedenen Festivals erfolgreich<br />

liefen. Als Vertriebsfirma hat VideoFilmes Streifen wie die deutsche Produktion Die<br />

Fetten Jahre sind vorbei (2004) oder Klassiker des engagierten Films wie Batalla de<br />

1. Die Geschichte <strong>und</strong> Bedeutung von Globo Filmes untersucht Pedro Butcher in seiner Magister-<br />

Arbeit (BUTCHER 2006).<br />

11


12<br />

Chile (erschienen 1979) oder Memorias del subdesarrollo (erschienen 1968; die<br />

DVD-Fassung mit einem Film-Kommentar von W. Salles) im Programm. 2<br />

2. Walter Salles<br />

Es mag von daher nicht verw<strong>und</strong>ern, <strong>das</strong>s Walter Salles von der<br />

brasilianischen Zeitschrift Veja kürzlich zu einer der einflussreichsten<br />

Persönlichkeiten des Landes gewählt worden ist. Regelmäßig bei<br />

internationalen Festivals wie Cannes oder der Berlinale vertreten,<br />

wird er den meisten deutschen Zuschauern von zwei Filmen<br />

her bekannt sein: Central Station (Central do Brasil), die Geschichte<br />

der abgeklärten Dora <strong>und</strong> des plötzlich mutterlosen Jungen<br />

Josué, die sich zusammen auf die Suche nach dem Vater von<br />

Josué machen <strong>und</strong> auf dieser Reise von der Metropole Rio de<br />

Janeiro in den Nordosten auch zueinander finden. Film <strong>und</strong><br />

Hauptdarstellerin erhielten 1998 auf der Berlinale die Hauptpreise,<br />

Central Station wurde zum besten nichtenglischen Film<br />

auch bei den British Academy Awards <strong>und</strong> den Golden Globes gewählt, gar nicht zu<br />

reden von den zahlreichen lateinamerikanischen Auszeichnungen. Und vor kurzem<br />

lief in den deutschen Kinos ein weiterer Film von Salles über eine Reise, die<br />

des jungen Guevara (Die Reise des jungen Che, Originaltitel: Diários de motocicleta),<br />

nominiert für den besten ausländischen Film der Golden Globes sowie mit einem<br />

Preis bei der Oscar-Verleihung 2005 bedacht, für <strong>das</strong> Lied Al otro lado del río des<br />

uruguayischen Songschreibers Jorge Drexler. Die International Movie Data Base<br />

(IMDB) errechnet insgesamt 39 Auszeichnungen sowie weitere 14 Nominierungen<br />

für den Regisseur Walter Salles.<br />

Wie in den meisten road-movies geht es natürlich auch bei Central Station <strong>und</strong><br />

Die Reise des jungen Che um die Suche nach einer zweifachen Identität, die der<br />

Protagonisten als Individuen sowie ihr Schicksal im Kontext der brasilianischen<br />

bzw. lateinamerikanischen Geopolitik. Gerade dieser Aspekt war sicher ausschlaggebend<br />

dafür, <strong>das</strong>s der Che-Film im Jahre 2005 auf dem Weltsozialforum – dem<br />

alternativen Gegenpol zu Davos – in Porto Alegre gezeigt wurde. Auch Salles<br />

selbst nahm auf Einladung der Landlosen-Bewegung (MST) am Forum teil. Seine<br />

Produktionsfirma VideoFilmes war zudem mit zwei weiteren Filmen vertreten:<br />

Entreatos, ein Dokumentarfilm seines Brudes João Moreira Salles über den Wahlkampf<br />

des jetzigen Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Silva sowie Peões von<br />

Eduardo Coutinho über Lulas Zeit als militanter Gewerkschaftler Ende der 70er<br />

Jahre. Walter Salles hat in zahlreichen Interviews immer wieder betont, <strong>das</strong>s<br />

gerade die Dreharbeiten zu der Reise des jungen Che eine Art Solidarerlebnis<br />

bedeuteten, <strong>das</strong> seine bisherige minuziöse Arbeitsweise durch Intuition, Improvisation<br />

<strong>und</strong> gemeinsame Erarbeitung des Filmstoffes ersetzte <strong>und</strong> alle an den Dreharbeiten<br />

Beteiligten – Argentinier, Chilenen, Peruaner, Mexikaner <strong>und</strong> Brasilianer<br />

– zusammenbrachte. So versteht Salles seinen Film auch als Ausdruck einer künst-<br />

2. Ein vollständige Liste unter: http://www.imdb.com/company/co0061824/<br />

VideoFilmes


lerisch-politischen Haltung, die gemeinsam erarbeitet, <strong>und</strong> nicht, wie häufig im<br />

globalen Kulturbetrieb, von außen aufgezwungen wurde.<br />

Dass man aber die Filme von Salles nicht auf ein simples Nord-Süd-Gefälle<br />

reduzieren kann, zeigt allein die Tatsache, <strong>das</strong>s etwa Central Station <strong>und</strong> Die Reise<br />

des jungen Che erst durch die Zusammenarbeit mit Robert Redford <strong>und</strong> dem<br />

S<strong>und</strong>ance Festival zustande gekommen sind. Central Station erhielt den S<strong>und</strong>ance-<br />

Drehbuchpreis <strong>und</strong> erst dadurch den finanziellen Rahmen zur Realisierung des<br />

Projekts. Und die Verfilmung der Tagebücher des jungen Guevara war seit Jahren<br />

ein Projekt des Amerikaners, der sich dazu Salles als Regisseur holte. Diese Verbindung<br />

von regionalen Landschaften, Stimmungen <strong>und</strong> Gesichtern mit Problematiken<br />

<strong>und</strong> Geschichten, die eher universell angelegt sind, ist sicherlich ein Kennzeichen,<br />

<strong>das</strong> den Filmen von Walter Salles ein weltweites Publikum einbringt, aber<br />

eben auch zugleich viele brasilianische Kritiker, besonders aus dem akademischen<br />

Bereich, eher skeptisch reagieren lässt. So grassierte eine Zeit lang der Begriff der<br />

cosmética da fome (Kosmetik des Hungers) als negative Kennzeichnung der Filme<br />

von Salles oder Fernando Meirelles (Cidade de Deus <strong>und</strong> z. Z. bei den Dreharbeiten<br />

der Verfilmung des Romans Versuch über die Blindheit von José Saramago).<br />

Der Begriff stammt von Ivana Bentes <strong>und</strong> ist als eine ironische Anspielung auf<br />

Glauber Rochas estética da fome (Ästhetik des Hungers) zu verstehen, eines der<br />

zentralen programmatischen Manifeste des cinema novo aus dem Jahr 1965. Bentes<br />

meint damit, <strong>das</strong>s Filme wie etwa Central Station den kargen, armen Nordosten<br />

eher als folkloristisches Massenspektakel inszenieren <strong>und</strong> hinter die radikalen Filmvisionen<br />

des cinema novo zurückfallen. Generell scheinen immer noch zahlreiche<br />

Kritiker dem cinema novo als dem Nonplusultra nationaler Filmkunst sehnsüchtig<br />

nachzutrauern <strong>und</strong> stehen dementsprechend der relativ großen thematischästhetischen<br />

Vielfalt der brasilianischen Filme der letzen 5-10 Jahre, die zu einem<br />

beträchtlichen Teil im Umkreis von VideoFilmes entstanden sind, eher misstrauisch<br />

gegenüber, da sie eben nicht so ein klares Identitätspontenzial bieten wie möglicherweise<br />

die Produktionen der 60er Jahre.<br />

These classic films of the 60s created an aesthetics based on the dry<br />

cut, the nervous framing, the overexposure, the handheld camera,<br />

the fragmented narrative which mirrored the cruelty of the sertão.<br />

This is the Cinema Novo aesthetics, whose purpose was to<br />

avoid turning misery into folklore. Those films proposed an<br />

ethics and an aesthetics for the images of pain and revolt.<br />

However the idea rejected by those films of expressing the<br />

intolerable through beautiful landscapes, thus glamorizing<br />

poverty, emerges in some contemporary films, in which<br />

conventional language and cinematography turn the sertão<br />

into a garden or a museum of exoticism, thus ›rescuing‹ it<br />

through spectacle. (NAGIB 2003, S.124)<br />

Wie gesagt, die zwei bekanntesten Filme von Salles, Central<br />

Station <strong>und</strong> Die Reise des jungen Che, entstanden aus einer internationalen<br />

Zusammenarbeit. Diese regional-globale Referenz<br />

zeigt sich auch bei Behind the Sun (Abril despedaçado) aus dem Jahre 2001, ein<br />

13<br />

VideoFilmes


14<br />

Film der auf der Romanvorlage Der zerrissene April des albanischen Schriftstellers<br />

Ismail Kadaré beruht (siehe hierzu BUTCHER / MÜLLER 2002). Salles überträgt<br />

hier die archaische Geschichte über die Blutrache in Albanien auf den Nordosten<br />

Brasiliens zu Anfang des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts, übrigens von Kadaré selbst als gelungene<br />

Adaptation gelobt. Nachdem sich Salles mit Film-Exkursionen in die lateinamerikanische<br />

Geschichte <strong>und</strong> Gegenwart einen Namen gemacht hatte, kam seine<br />

Regiearbeit im Jahre 2005 für <strong>das</strong> Hollywood-Remake des japanischen Dark<br />

Water (Buch: Suzuki Koji, der auch The Ring verfasst hatte) ziemlich überraschend.<br />

Salles zufolge war zwar die amerikanische Dreharbeit eine interessante Erfahrung,<br />

<strong>und</strong> er konnte endlich einen Film ohne die sonst bei ihm übliche langjährige<br />

Vorbereitungszeit fertig stellen, aber danach zog es ihn nun doch wieder zurück in<br />

den Autorenfilm: Nach der Beteiligung an dem Projekt Paris, je t’aime (2006), bei<br />

dem zwanzig internationale Filmemacher je ein Pariser Arrondissement ganz persönlich<br />

porträtierten, wobei die einzelnen Beiträge dann zu einer atmosphärischen<br />

Geschichte zusammengeflochten wurden, wirkte Salles an einem ähnlichen<br />

Projekt mit, <strong>das</strong> bei den 60. Filmfestspielen in Cannes 2007 uraufgeführt<br />

wurde: Chacun son cinéma, einem kollektiven Werk über <strong>das</strong> Kino von 33 renommierten<br />

Regisseuren wie Theodoros Angelopoulos, Bille August, Jane Campion,<br />

David Cronenberg, Lars von Trier oder Wim Wenders. Als aktuelles work in<br />

progress ist weiterhin die Verfilmung des Kult-Romans On the road aus dem Jahr<br />

1957 von Jack Kerouac zu nennen, dessen Rechte seit 1979 bei Francis Ford<br />

Coppola liegen <strong>und</strong> der Salles als Regisseur verpflichtet hat. Das Drehbuch wird,<br />

wie bei Die Reise des jungen Che, von José Rivera verfasst, <strong>und</strong> geplant ist eine<br />

Schwarz-weiß-Verfilmung, die voraussichtlich 2009 auf den Markt kommen soll.<br />

Interessant ist in diesem Zusammenhang die von Salles gewählte Perspektive,<br />

die sich explizit an dem Einwanderungs-Hintergr<strong>und</strong> der zentralen Protagonisten<br />

orientiert. Er betont demnach bei der beat-generation eher den Konflikt in<br />

Bezug auf die ihnen vorgesehene Rolle als marginale Einwanderergeneration<br />

<strong>und</strong> nicht als allgemeine Auflehnung gegen die Lebensformen der 50er Jahre in<br />

den USA. Kerouac selbst war ja Sohn von Franko-Kanandiern, Ginsberg von<br />

Osteuropäern mit kommunistischem Engagement <strong>und</strong> die Beat-Poeten<br />

Lawrence Ferlinguetti <strong>und</strong> Diane di Prima italienischer Herkunft. Um diesen<br />

Hintergr<strong>und</strong> möglichst umfassend auszuleuchten sowie eventuelle „Bezüge zur<br />

Gegenwart“ (STRECKER 2006, S. 4) zu reflektieren, drehte Salles zunächst einen<br />

Dokumentarfilm, der sozusagen als historische Rahmenreferenz die Koordinaten<br />

des eigentlichen, fiktiven Spielfilms setzen soll.<br />

Damit setzt sich im Prinzip ein weiteres zentrales Merkmal – neben der regionalglobalen<br />

Kombinatorik – in der Filmarbeit von Walter Salles fort, nämlich die Verbindung<br />

von Fiktion <strong>und</strong> Dokumentation, die den Ausgangspunkt für seine internationale<br />

Karriere bildet. Ganz konkret waren es zwei dokumentarische Kurzfilme,<br />

die den Anstoß zu Central do Brasil <strong>und</strong> damit der weiteren erfolgreichen Kinoarbeit<br />

gaben: zum einen ein Porträt des polnischen Bildhauers Franz Krajcberg<br />

(Krajcberg – O poeta dos vestígios) aus dem Jahr 1987 <strong>und</strong> zum andern sein Treffen<br />

mit der ehemaligen Gefängnisinsassin Socorro Nobre, filmisch festgehalten im<br />

gleichnamigen Werk von 1995.<br />

Dazu im Folgenden mehr. Zunächst jedoch ein kurzer biographischer Über-


lick. Salles, 1956 in Rio de Janeiro geboren, entstammt einer begüterten Familie:<br />

Sein Vater war Bankier <strong>und</strong> Diplomat. Zwischen 1962 <strong>und</strong> 1969 wohnt die Familie<br />

in Paris, danach geht Salles nach Rio de Janeiro zurück, wo er an der PUC Wirtschaftswissenschaften<br />

studiert. Im Anschluss absolviert er einen Master-Studiengang<br />

im Bereich Audiovisuelle Kommunikation an der University of California.<br />

Zwischen 1983 <strong>und</strong> 1993 ist er verantwortlich für die Interview-Serie Conexão<br />

Internacional des Fernsehsenders Manchete mit Gästen wie Federico Fellini, Vittorio<br />

Gassman oder Marcello Mastroianni. Hinzu kommen ausführliche Länderstudien<br />

zu Japan <strong>und</strong> China sowie Reportagen über kulturelle Themenbereiche, wie etwa<br />

über die Künstler Tomie Ohtake oder Rubens Gerchman, der übrigens auch auf<br />

Einladung des DAAD 1982 ein Jahr in Berlin verbrachte, sowie Dokumentarfilme<br />

für ARTE, France 3 <strong>und</strong> die BBC. 1987 dreht Salles einen weiteren Dokumentarfilm<br />

für <strong>das</strong> Fernsehen, der, wie schon gesagt, ausschlaggebend für seine weitere<br />

Karriere werden sollte. Es handelt sich um <strong>das</strong> Portrait von Frans Krajcberg<br />

(Krajcberg – O poeta dos vestígios), dessen Drehbuch von seinem Bruder João<br />

Moreira Salles, Dokumentarfilmer <strong>und</strong> Partner der gemeinsamen Produktionsfirma<br />

VideoFilmes, verfasst wurde. Krajcberg, geboren 1921 in Polen, flieht nach der<br />

Ermordung seiner Familie durch die Nazis nach Russland, schließt sich dort der<br />

Roten Armee an, studiert kurzeitig im damaligen Leningrad Kunst, wird aber dann<br />

in die zweite polnische Armee eingezogen. Bei Kriegsende, mit 24 Jahren <strong>und</strong><br />

ohne überlebende Familienangehörige, ein „verbrannter Mensch“, geht er ausgerechnet<br />

nach Deutschland, <strong>und</strong> zwar zu dem Künstler Willi Baumeister nach Stuttgart.<br />

Er beschäftigt sich dort mit der künstlerischen Moderne, dem Bauhaus <strong>und</strong><br />

der abstrakten Kunst. Mit einem Empfehlungsbrief von Baumeister zieht er 1947<br />

nach Paris zu Fernand Léger weiter <strong>und</strong> kommt dann 1948 nach Brasilien, wo er<br />

seit den 60er Jahren mit seinen Skulpturen <strong>und</strong> Installationen die Zerstörung der<br />

Natur anprangert <strong>und</strong> zu einem der international bekanntesten Öko-Künstler avanciert.<br />

3 Ein Zeitungsartikel über den Künstler, der verbranntes Holz in Skulpturen<br />

umformt <strong>und</strong> ihnen damit sozusagen neues Leben verleiht, findet den Weg zu<br />

Socorro Nobre, einer zu 36 Jahren Haft verurteilten Frau, die<br />

dem Bildhauer daraufhin einen Brief schreibt, in dem sie ihm<br />

mitteilt, <strong>das</strong>s sie von seiner künstlerischen Arbeit sehr beeindruckt<br />

war <strong>und</strong> diese ihrem eigenen Leben neue Impulse gegeben<br />

habe. Diese Geschichte sowie ein Treffen zwischen den<br />

beiden zeigt Salles in dem Kurzfilm Socorro Nobre (1995). Die<br />

Idee, <strong>das</strong>s etwas so Prosaisches wie ein Brief es schaffen kann,<br />

ein Leben zu ändern, beschäftigt Salles weiterhin <strong>und</strong> formt<br />

die Gr<strong>und</strong>idee zu Central Station.<br />

Ich habe vor zwei Jahren einen Dokumentarfilm (Socorro<br />

Nobre) über den Briefwechsel einer Frau, die zu 36 Jahren<br />

Haft verurteilt war, <strong>und</strong> dem in Brasilien lebenden<br />

Bildhauer Frans Krajcberg gedreht. Der Film erzählt davon,<br />

wie die Frau eines Tages im Gefängnis einen Artikel in einer Zeit-<br />

3. Einen Überblick bietet der Artikel FRANS KRAJCBERG: Brazil’s Eco Sculptor von Leon Kaplan.<br />

Zu finden unter der Adresse: http://www.artfocus.com/Krajcberg.html<br />

VideoFilmes<br />

15


16<br />

schrift über diesen Bildhauer entdeckt, der im Amazonasgebiet, wo<br />

ganze Landstriche niedergebrannt wurden, verbranntes Holz in Skulpturen<br />

umformte <strong>und</strong> ihnen damit eine Art zweite Geburt gab. Die Frau<br />

schrieb dem Bildhauer dann gleich einen Brief, daß sie sehr gerührt<br />

war von seiner künstlerischen Arbeit <strong>und</strong> daraus neuen Lebensmut<br />

schöpfen konnte. Mich hat <strong>das</strong> stark beeindruckt als eine sehr radikale<br />

Kunstform, die ein Leben ändern kann <strong>und</strong> einen sehr emotionalen<br />

Effekt auf jemanden hatte <strong>und</strong> ich finde, daß die Kunst generell diese<br />

Radikalität verloren hat. Zudem war ich wirklich erstaunt, daß am Ende<br />

des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts, im Zeitalter des Computers <strong>und</strong> der virtuellen<br />

Kommunikation, etwas so Prosaisches wie ein Brief es schafft, ein Leben<br />

zu ändern. Das hat mich längere Zeit beschäftigt, <strong>und</strong> ein paar<br />

Monate später wachte ich mit der Idee zu Central do Brasil auf <strong>und</strong><br />

schrieb alles an einem Tag nieder, <strong>und</strong> die ganze Architektur war da.<br />

(HOFMANN / DRÖGE o. D.)<br />

Das fertige Skript erhielt dann den Drehbuchpreis, den <strong>das</strong> S<strong>und</strong>ance-Festival zum<br />

100. Geburtstag des Kinos ausgeschrieben hatte <strong>und</strong> so konnte <strong>das</strong> Projekt starten, in<br />

dem Socorro Nobre in einer Nebenrolle selbst Präsenz zeigte (s. SALLES 1998).<br />

Seinen ersten Kinofilm dreht Salles aber, wie bereits erwähnt, schon 1991,<br />

eine brasilianisch-amerikanische Koproduktion mit englischem<br />

Original-Ton. Es handelt sich dabei um die Verfilmung des brasilianischen<br />

Romans A grande Arte (Die hohe Kunst) von Rubem<br />

Fonseca, ein mit unzähligen kulturellen Anspielungen<br />

versehener schwarzer Kriminalroman. Trotz einiger visuell überzeugender<br />

Szenen muss der Film im Ganzen betrachtet eher<br />

als nicht ganz geglücktes Einstiegswerk gesehen werden, wie<br />

auch Salles selbst dies immer wieder betont. Im Jahr 1995<br />

kommt sein in schwarz-weiß gedrehter Low-budget-Film Terra<br />

Estrangeira (Fremdes Land; Co-Regie: Daniela Thomas) in die<br />

Kinos, ein Streifen über die Rückkehr eines jungen Brasilianers<br />

in <strong>das</strong> Kolonisationsland Portugal, wo er erfolglos versucht,<br />

eine neue Existenz aufzubauen (s. CARVALHO 1997). Der darauf folgende<br />

internationale Erfolg von Central Station bringt Salles dann auch Einladungen<br />

zu Produktionen wie 2000, gesehen von... (produziert vom deutsch-französischen<br />

Sender Arte), in dem zehn Filmemacher aus zehn Ländern ihre Sicht zum<br />

Millenniumswechsel präsentierten <strong>und</strong> für den Salles, wieder zusammen mit<br />

Daniela Thomas, die Folge Mitternacht beisteuert. Kaleidoskopartig verbinden<br />

sich die Geschichten von einem Mann, der kurz vor Neujahr seine Frau – eine<br />

Pädagogin am Rande des Selbstmordes – verlässt, von einem Gefängnisinsassen,<br />

der einen guten Fre<strong>und</strong> umbringen muss, um der Haft zu entkommen sowie von<br />

einem alten Mann, der <strong>das</strong> Ende der Welt beschwört.<br />

Danach dreht Salles dann Behind the Sun (Abril despedaçado). Die Dreharbeiten<br />

ziehen sich hin, die Darsteller müssen sich wochenlang den harten Existenzbedingungen<br />

der Film-Figuren nähern. Zur Vorbereitungsphase gehört auch die<br />

Diskussion filmhistorischer Streifen. Gezeigt wird, neben Werken von Eisenstein<br />

VideoFilmes


<strong>und</strong> Pudovkin u. a. auch der brasilianische Stummfilm Limite (1931) von Mário<br />

Peixoto, einer legendären Figur des brasilianischen Kinos <strong>und</strong> neben Regisseuren<br />

wie Martin Scorsese, Nelson Pereira, Tomás Gutiérrez, Wim Wenders oder Michelangelo<br />

Antonioni eine der zentralen Inspirationsquellen für die eigene Filmkarriere.<br />

Walter Salles lernte Peixoto (1908-1992) Ende der 80er Jahre persönlich kennen,<br />

unterstützte den in Not geratenen Regisseur <strong>und</strong> Schriftsteller finanziell <strong>und</strong> gründete<br />

nach seinem Tod <strong>das</strong> Arquivo Mário Peixoto, <strong>das</strong> in seiner Produktionsfirma<br />

VideoFilmes untergebracht ist. 4 Mário Peixoto drehte 1930 als junger Mann von 22<br />

Jahren seinen ersten <strong>und</strong> einzigen Film, Limite (Uraufführung 1931), einer der großen<br />

Avantgarde-Filme, aber alle Versuche, einen weiteren Film fertig zu stellen,<br />

scheiterten (s. KORFMANN 2006). Eine neu restaurierte Fassung von Limite wurde<br />

2007 bei den Filmfestspielen in Cannes im Programm Cannes Classics als ein Beitrag<br />

der von Martin Scorsese ins Leben gerufenen World Cinema Fo<strong>und</strong>ation gezeigt <strong>und</strong><br />

von Salles vorgestellt. Peixotos (unvollendetes) zweites Werk hatte den Arbeitstitel<br />

Onde a terra acaba (Wo die Erde aufhört, nach Luís Vaz de Camões). Dies ist auch<br />

der Titel eines Dokumentarfilms über Mário Peixoto, gedreht im Jahr 2001 von<br />

Sérgio Machado, dem langjährigen Assistenten von Walter Salles. Peixoto schrieb<br />

außerdem einen 6-bändigen, etwa 2000 Seiten umfassenden Roman mit autobiographischen<br />

Zügen (O inútil de cada um), von dem bisher leider nur der erste Band<br />

erschienen ist. Behind the Sun enthält mehrere versteckte Referenzen zu Peixoto; so<br />

heißt etwa eine der Hauptfiguren „Breves“ – Peixoto hieß laut Geburtsurk<strong>und</strong>e Mário<br />

Rodrigues Breves Peixoto –, <strong>und</strong> es findet sich eine Dialogsequenz, die direkt aus<br />

dem Roman von Peixoto übernommen wurde.<br />

Zusammenfassend lassen sich also in der Arbeit als Regisseur <strong>und</strong> Produzent<br />

von Walter Salles folgende Gr<strong>und</strong>muster ausmachen: zum einen die bewusste<br />

Einordnung seiner Werke in die brasilianische Filmtradition, wobei es nicht so<br />

sehr um die Aufnahme oder Weiterentwicklung bestimmter stilistischer Elemente<br />

geht – seine eigene Filmästhetik etwa zeigt keinerlei Parallelen zu den experimentellen<br />

Formen Peixotos –, sondern in erster Linie um die Absicht, <strong>das</strong> nationalregionale<br />

Kino in seiner ganzen Vielfalt zu begreifen <strong>und</strong> fortzusetzen. Dazu gehört<br />

eben auch, <strong>das</strong>s die häufig geäußerten Erwartungen an ein primär sozialkritisch-realistisch<br />

geprägtes Kino aus Brasilien oder Lateinamerika als Fremdbestimmung<br />

<strong>und</strong> als reduktionistisch zurückgewiesen werden. Im Zusammenhang<br />

damit kann man zum Zweiten die Bemühungen verstehen, Filme zu drehen <strong>und</strong><br />

zu fördern, die – jeder auf eigene Art – kinematographisch kreativ sind <strong>und</strong> nicht<br />

zu einer televisiven Erzählform verkommen, sich also zum einen aus den Traditionen<br />

eines internationalen Weltkinos heraus entwickeln, andererseits aber auch<br />

regionale Geschichte, Landschaften, Gesichter <strong>und</strong> Thematiken einbeziehen. Drittens<br />

kommt noch die Annäherung von Dokumentar- <strong>und</strong> Spielfilm hinzu, wobei<br />

der erste sozusagen ein vorläufiges Abtasten des Themas bedeutet, einen Rahmen<br />

absteckt bzw. ein Netzwerk bildet, in dem die eigentliche Filmarbeit dann<br />

auch Raum zu Improvisation <strong>und</strong> Variation lässt. Ob dieser Spagat zwischen Weltkino<br />

<strong>und</strong> regionaler Identität im Einzelfall immer geglückt ist, soll dahingestellt<br />

bleiben. So kann man tendenziell sicher feststellen, <strong>das</strong>s die Anfangssequenzen von<br />

4. Einen Überblick zu Peixoto bietet die website www.mariopeixoto.com<br />

17


18<br />

Filmen wie Behind the sun oder Die Reise des jungen Che zweifellos dynamisch <strong>und</strong><br />

kinematographisch herausragend sind, sich die Filme aber im Laufe der Geschichte<br />

hin zu symbolischen Konfiguration verdichten, die dann doch sehr deutliche,<br />

oder wie einige Kritiker meinen, zu deutliche Botschaften vermitteln. 5 Der Grat<br />

zwischen Allgemeinplätzen <strong>und</strong> künstlerischem Kino, „Individuum <strong>und</strong> Menschlichkeit,<br />

ganz Persönlichem <strong>und</strong> allgemeineren Fragen zu der Welt, aus der wir<br />

kommen“ (SALLES zitiert nach DREYFUS 2005) ist schmal. Bleibt zu hoffen, <strong>das</strong>s<br />

der Wunsch nach kultureller Identität <strong>und</strong> Reflexion derselben sich die Waage<br />

halten können, wie es Salles selbst einmal programmatisch so formuliert hat:<br />

Das Kino ist in erster Linie die Projektion einer kulturellen Identität,<br />

die auf der Leinwand Leben gewinnt. Es spiegelt diese Identität wider,<br />

oder sollte es zumindest.<br />

Aber <strong>das</strong> ist nicht alles. Es<br />

sollte diese auch „erträumen“.<br />

Oder in Fleisch <strong>und</strong><br />

Blut verwandeln, mit all den<br />

implizierten Widersprüchen.<br />

Im Gegensatz zu Europa sind<br />

wir Gesellschaften, in denen<br />

sich die Identitäts-Frage noch<br />

nicht herauskristallisiert hat.<br />

Und vielleicht brauchen wir<br />

<strong>das</strong> Kino deswegen so dringend,<br />

damit wir uns in den<br />

vielen gegensätzlichen Spiegeln<br />

sehen können, die uns<br />

reflektieren. (SALLES 2004)<br />

Walter Salles<br />

5. Siehe dazu etwa die Kritik des FILMSPIEGEL zu Die Reise des jungen Che unter der im<br />

Literaturverzeichnis angegebenen Internetadresse.<br />

VideoFilmes


Literatur<br />

BUTCHER, Pedro (2005): Cinema Brasileiro Hoje. São Paulo.<br />

BUTCHER, Pedro (2006): A Dona da História: Origens da Globo Filmes e seu impacto no audiovisual<br />

brasileiro. .<br />

BUTCHER, Pedro / MÜLLER, Anna Luiza (2002): Abril despedaçado. São Paulo.<br />

CAETANO, Daniel (Org.) (2005): Cinema Brasileiro (1995-2005): ensaios sobre uma década. Rio de<br />

Janeiro.<br />

CARVALHO, Walter (1997): Terra estrangeira. Rio de Janeiro.<br />

DREYFUS, Dominique (2005): Interview Walter Salles. [26. 05. 2005].<br />

ÉPOCA (2005): Filmes brasileiros premiados saem em DVD. In: Revista ÉPOCA, 22.06.2005. [03. 02. 2007].<br />

FILMSPIEGEL: Die Reise des jungen Che. <br />

[15. 09. 2006].<br />

FONSECA, Rodrigo: O poder da Globo Filmes no cinema brasileiro. [19. 01. 2007].<br />

HERMANNS, Ute (2006): Favela, Sertão <strong>und</strong> Pampa – Tendenzen des neuen brasilianischen Films.<br />

In: Martius-Staden-Jahrbuch 53, S. 297-312.<br />

HOFMANN, Sonja / DRÖGE, Donata: Was wir machen, ist organischer... Interview mit Walter Salles.<br />

[19. 11. 2006].<br />

KAPLAN, Leon: Frans Krajcberg: Brazil’s Eco Sculptor. <br />

[25. 03. 2006].<br />

KORFMANN, Michael (2006): Ten contemporary views on Mario Peixoto’s Limite. Münster.<br />

LEITE, Sidney Ferreira (2005): Cinema Brasileiro – Das Origens à Retomada. São Paulo.<br />

MECCHI, Leonardo / VALENTE, Eduardo: Cinema brasileiro para quem? [12. 01. 2007].<br />

NAGIB, Lucia (2003): The New Brazilian Cinema. London, New York.<br />

ORICCHIO, Luiz Zanin (2003): Cinema de novo: um balanço crítico da retomada. São Paulo.<br />

SALLES, Walter (1998): Central do Brasil. Rio de Janeiro.<br />

SALLES, Walter (2004): I have seen the light. In: The Guardian, 02. 04. 2004. [28. 07. 2005].<br />

STRECKER, Marcos (2006): Dois cineastas on the road. In: Folha de São Paulo, 26.11.2006, Caderno<br />

Mais, S. 4.<br />

Dr. Michael Korfmann studierte Germanistik, Amerikanistik <strong>und</strong> Lateinamerikanistik in<br />

Heidelberg <strong>und</strong> Berlin (FU). Er war als Dozent im Goethe-Institut Berlin, São Paulo <strong>und</strong> Porto<br />

Alegre <strong>und</strong> als DAAD-Lektor an der Universität Porto, Portugal, tätig. Seit 1995 Hochschullehrer<br />

an der Universidade Federal do Rio Grande do Sul (UFGRS) in Porto Alegre. Herausgeber<br />

der elektronischen Zeitschrift CONTINGENTIA (www.revistacontingentia.com). Ausführlicher<br />

Lebenslauf mit Publikationsliste unter: http://lattes.cnpq.br/6551987991905815.<br />

19


http://www.indiosonline.org.br/


Índios Online.<br />

Verwendungen von Internettechnologie<br />

bei nordostbrasilianischen Indianern<br />

Nico Czaja<br />

Hamburg<br />

Resumo: Este artigo pretende descrever e comentar os processos<br />

complexos envolvidos no desenvolvimento de produtos<br />

midiáticos, motivado por intenções de cunho étnico. Para<br />

este efeito, serão apresenta<strong>das</strong> observações feitas durante<br />

a minha participação no projeto de uma ONG, no qual<br />

aldeias indígenas na região do Nordeste brasileiro foram<br />

provi<strong>das</strong> de computadores, acesso à internet, câmaras<br />

digitais e um website. Ali, os índios podiam publicar na<br />

internet imagens, videoclips e textos, documentando, deste<br />

modo, sua cultura, sua história e sua vida cotidiana, para<br />

um público externo assim como para si mesmos. O texto se<br />

baseia nos resultados apresentados na minha tese de<br />

mestrado (CZAJA 2005).<br />

Abstract: The article wants to describe and comment upon the processes<br />

involved in the development of ethnically motivated<br />

media products. For this purpose, the article documents<br />

observations made during my participation in a NGO<br />

project. The latter provided indigenous villages in the<br />

northeastern region of Brazil with computers, internet access,<br />

digital cameras and a website. There, the indigenous<br />

could publish pictures, video clips and texts on the internet<br />

documenting their culture, their history and their common<br />

life, for an external public as well as for themselves.<br />

The text is based on the results presented in my M. A. thesis<br />

(CZAJA 2005).<br />

Einführung<br />

Während die Globalisierung voranschreitet <strong>und</strong> die kulturelle Vormachtstellung<br />

des Westens sich dabei stetig vergrößert, sind indigene Gruppen weltweit<br />

vom Aussterben bedroht – wie schade... Da bleibt der unglücklicher- aber<br />

notwendigerweise unaufhaltsamen westlichen Forschrittsmaschinerie wohl<br />

nur eines zu tun: Wege zu finden, die unausweichliche Assimilierung ethnischer<br />

Differenz in die sie von allen Seiten umzingelnde Mainstream-Kultur so<br />

human wie möglich zu gestalten.<br />

21


22<br />

So oder ähnlich denken nicht wenige <strong>und</strong> geben damit auch ihren Zweifeln<br />

an der Sinnhaftigkeit der Wissenschaft von der kulturellen Differenz Ausdruck,<br />

der Ethnologen sich widmen. Mit fatalistischer Melancholie den bevorstehenden<br />

Untergang aller kultureller Heterogenität anzukündigen, ist schon seit dem frühesten<br />

Anbeginn dessen, was man etwas unscharf unter dem Begriff Globalisierung<br />

zusammenfasst, ein Leitmotiv der diesen Prozess begleitenden Hintergr<strong>und</strong>musik<br />

– ebenso lange allerdings widerspricht die empirische Beweislage diesem düsteren<br />

Ausblick auf die Zukunft der Ethnizität. Insbesondere indigene Völker sind<br />

anderer Meinung. Trotz – oder gerade wegen – der rasant zunehmenden Vernetzung<br />

scheinbar aller Dinge, trotz – oder gerade wegen – der weltweiten Beweglichkeit<br />

von Menschen <strong>und</strong> Bildern werden allerorts ethnische Identitäten neu<br />

<strong>und</strong> schärfer ausformuliert. Kulturelle Differenz beharrt also offenbar durchaus<br />

auf ihrem Platz in einer globalisierten Welt.<br />

Ein besonders prägnantes Beispiel für die wachsende Wahrnehmung ethnischer<br />

Identitäten auf lokaler wie globaler Bühne ist der Nordosten Brasiliens, der<br />

noch bis in die 1990er Jahre hinein zumindest im Hinblick auf seine indigenen<br />

Bewohner <strong>und</strong> deren Kulturen selbst in der brasilianischen Ethnologie weitestgehend<br />

unsichtbar blieb. Dies gilt umso mehr für die Wahrnehmung der Region<br />

durch die brasilianische Öffentlichkeit, die noch heute schwierig davon zu überzeugen<br />

ist, <strong>das</strong>s es richtige Indianer in diesem Gebiet geben soll, <strong>das</strong> bei der Kolonisierung<br />

des Landes durch die Portugiesen an erster Stelle stand <strong>und</strong> nun schon<br />

über 500 Jahre Zivilisierung hinter sich hat.<br />

Dieses Problem haben die Indianer des Nordostens erkannt <strong>und</strong> zu ihrem eigenen<br />

gemacht: In einem komplexen Zusammenspiel westlicher Stereotypen von<br />

Indianität <strong>und</strong> indigenem Bewusstsein von Andersartigkeit konstruieren, rekonstruieren<br />

<strong>und</strong> inszenieren sie Indianer-Sein zum einen für die eigene Gruppe, der<br />

in einer langen Kontaktgeschichte mit der nicht-indianischen Bevölkerung viel<br />

kulturelle Eigenheit mit Gewalt ausgetrieben worden ist, <strong>und</strong> zum andern für eine<br />

Öffentlichkeit, die eigentlich nur bereit ist, an Indianer zu glauben, wenn diese<br />

fremdartige Sprachen sprechen, fast nackt gehen, wie Asiaten aussehen <strong>und</strong> mit<br />

Pfeil <strong>und</strong> Bogen schießen.<br />

Dies geschieht auf verschiedenen Wegen – unter anderem unter Zuhilfenahme<br />

genau der Mittel, die oft gemeinhin als Hauptwerkzeug globaler kultureller<br />

Gleichschaltung angesehen werden, nämlich der modernen Kommunikationstechnologien.<br />

Geschichte des indigenen Nordeste<br />

Paulo Titiá: Als der SPI [Serviço de Proteção ao Índio] noch hier<br />

war, was haben sie da mit euch gemacht?<br />

Dona Maria: Angefangen, uns zu töten, <strong>das</strong> haben sie gemacht! Weil<br />

die fazendeiros uns unseren Platz hier wegnehmen wollten <strong>und</strong> weil<br />

wir ihn nicht hergeben wollten, sind sie gekommen <strong>und</strong> haben Zé<br />

Martinho getötet, haben Manoel meinen Vetter getötet… […]. Sie haben<br />

die Indianer mitgenommen, haben dabei nach ihren Fersen getreten<br />

wie bei Tieren. […] Wir haben schon alle im Busch geschlafen,<br />

<strong>und</strong> die jagunços wollten uns töten, wollten allem ein Ende machen.


Und wir sind im Busch schlafen gegangen, <strong>und</strong> an manchen Tagen hat<br />

es geregnet, an manchen schien die Sonne… oh mein Gott im Himmel.<br />

Und die Frauen trugen ihre Kinder unter die Bäume, alles um sich zu<br />

verstecken. Wenn es Morgen wurde, liefen die Alten in die Häuser, um<br />

schnell eine farofa zu machen <strong>und</strong> sie den Kindern im Busch zu bringen.<br />

Und so haben wir gekämpft, gekämpft, gekämpft… Wir haben uns<br />

dann so verstreut, einige hierhin, andere dorthin. […] Liebe Leute, ich<br />

sage euch, was haben wir hier schon gelitten. […] Kaum, <strong>das</strong>s man’s<br />

wusste, hatten sie schon unser Land verpachtet. Als die Männer kamen,<br />

haben sie uns verjagt. Alle sind weggegangen wie wir, wie ich<br />

<strong>und</strong> meine Mutter. Wir haben ein Stück Erde zurückgelassen mit reifen<br />

Bohnen, Kürbissen, maxixe, mit allem möglichen, was wir gepflanzt<br />

hatten, Melonen… alles schon reif, fertig zum Ernten. Wir haben da<br />

alles zurückgelassen. 1<br />

Der brasilianische Nordosten ist berühmt für seine afro-brasilianische Kultur<br />

<strong>und</strong>, verlässt man die Küstenregion, für die entbehrungsreiche Lebenswelt des<br />

Sertão. Von der indigenen Bevölkerung der Region allerdings hört man in der<br />

Regel wesentlich weniger. Indianisch belegte Symbolik taucht in der populären<br />

Kultur des Nordostens kaum auf – <strong>und</strong> wo doch, meist lediglich als Verweis auf<br />

eine mythische Vergangenheit, in der die Indigenen in ihrer Begegnung mit den<br />

Kolonisatoren im Nordosten einen der Gr<strong>und</strong>steine für die brasilianische Kultur<br />

legten <strong>und</strong> sich dann in ihr auflösten.<br />

Jedoch haben die indigenen Völker des Nordostens eine ebenso lange Geschichte<br />

wie diejenigen anderswo im Land, <strong>und</strong> natürlich endet sie nicht mit der<br />

Ankunft der Portugiesen in Brasilien. Der Orden der Jesuiten begann mit dem<br />

Segen der portugiesischen Regierung ab dem 16. Jahrh<strong>und</strong>ert, vor allem die im<br />

Sertão entlang des Rio São Francisco ansässigen Indianer in Missionsstationen<br />

umzusiedeln, in denen den Indigenen Arbeitsdisziplin beigebracht <strong>und</strong> Katechese<br />

betrieben wurde. In diesen neuen Dörfern wurden Angehörige verschiedener<br />

ethnischer Gruppen <strong>und</strong> Sprachfamilien um eine zentrale Kapelle herum sesshaft<br />

gemacht. Ziel des Unternehmens war, neben der natürlich stets erstrebten Verbreitung<br />

des christlichen Glaubens in unwegsamen Gegenden, die Befriedung<br />

der „Wilden“, damit sie sich anschließend hilfreich, fügsam <strong>und</strong> zumindest ansatzweise<br />

zivilisiert in <strong>das</strong> Unterfangen der weiteren Erschließung des neuen Landes<br />

integrieren lassen würden. Das Verhältnis zwischen Orden, portugiesischer Krone<br />

<strong>und</strong> Autoritäten vor Ort war dabei allerdings kein konfliktfreies, hatten doch Jesuiten<br />

<strong>und</strong> Kolonisten sehr verschiedene Vorstellungen davon, auf welche Weise<br />

die Indianer an Zivilisation <strong>und</strong> Christentum herangeführt werden sollten. Oftmals<br />

waren die aldeias die einzigen Orte, an denen die Indigenen vor der Versklavung<br />

<strong>und</strong> vor anderen gewaltsamen Übergriffen durch die weißen Siedler verhältnismäßig<br />

sicher waren (vgl. SGRECCIA 1981, S. 29-52).<br />

1. Interview mit Maria de Jesus do Rosário (Pataxó-Hãhãhãe) am 14/09/2004, durchgeführt im<br />

Rahmen der Materialsammlung für die Indios-Online-Website. Die ersten Fragen stellte ich,<br />

bis ich vom Pataxó-Hãhãhãe Paulo Titiá abgelöst wurde, der wesentlich geschickter darin<br />

war als ich. Hier <strong>und</strong> auch im Folgenden meine Übersetzung.<br />

23


24<br />

Als die Jesuiten im Jahr 1759 im Rahmen der säkularisierenden Maßnahmen<br />

des Marquês de Pombal Portugal <strong>und</strong> seine Kolonien verlassen mussten, sahen<br />

sich die Bewohner der Missionsdörfer des Hinterlandes mit einem Mal wieder sich<br />

selbst überlassen: Weil die Besiedlung Brasiliens bis zu diesem Zeitpunkt vor allem<br />

im fruchtbareren Küstenbereich stattgef<strong>und</strong>en hatte <strong>und</strong> der Sertão wirtschaftlich<br />

noch wenig interessant war, konnten die Indianer die Verwaltung der ehemaligen<br />

Missionssiedlungen nun von der weißen Gesellschaft relativ unbeeinträchtigt<br />

in Eigenregie fortführen. Dies allerdings nur bis zur Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />

als die nicht-indianischen Siedlungen im Landesinneren zu wachsen begannen<br />

<strong>und</strong> in ihrem Umkreis von der Küste umgesiedelte wohlhabende Familien versuchten,<br />

sich als Viehzüchter zu etablieren – ein Geschäftszweig, für den man viel<br />

Land brauchte. Die ehemals zu den Missionen gehörenden Ländereien wurden<br />

an weiße Landwirte verpachtet. Mit diesen Vorgängen beginnt die Unsichtbarkeit<br />

großer Teile der indigenen Bevölkerung des Nordostens in der brasilianischen<br />

Öffentlichkeit ebenso wie in der ethnologischen Literatur. 2 Es gilt in der Öffentlichkeit<br />

bis heute <strong>und</strong> galt in weiten Teilen der Wissenschaft bis zum Ende des 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts als Gemeinplatz, <strong>das</strong>s die Indianer des Nordostens bis auf wenige<br />

Ausnahmen als Gemeinschaften ausgestorben oder zumindest bis zur kulturellen<br />

Unkenntlichkeit assimiliert in der nationalen Gesellschaft aufgegangen sind (s.<br />

OLIVEIRA 2004, S. 26).<br />

1910 wurde der Serviço de Proteção ao Índio (SPI) gegründet, der einige Postos<br />

Indígenas im Nordosten demarkierte <strong>und</strong> damit wieder offiziell als indianische Ländereien<br />

anerkannte. 3 Anders als im Amazonasgebiet, wo oftmals aus geopolitischen<br />

Erwägungen Indianerland in schwierig zu kontrollierenden Grenzgebieten<br />

zu anderen Nationalstaaten anerkannt wurde, war die Situation im Nordosten<br />

eine andere: Die Indianer lebten nicht jenseits des Endes der „zivilisierten Welt“,<br />

sondern waren inzwischen in die Strukturen von Viehzucht <strong>und</strong> Zuckerrohranbau<br />

des Hinterlandes integriert, wenn auch selbstverständlich am untersten Ende<br />

des Macht- <strong>und</strong> Wohlstandsgefälles. Es interessierte die Autoritäten nicht, <strong>das</strong><br />

Land, <strong>das</strong> sie bewohnten, möglichst <strong>und</strong>urchdringlich zu halten, um Feinden von<br />

außen <strong>das</strong> Durchkommen zu erschweren – vielmehr galt es, der landwirtschaftlichen<br />

Erschließung der Region <strong>und</strong> damit der Bereicherung der daran Beteiligten<br />

weiter nachzuhelfen. An dieser Erschließung hatten wiederum die Indianer verständlicherweise<br />

kein großes Interesse, so <strong>das</strong>s der SPI, im Rahmen der ihm anvertrauten<br />

Vorm<strong>und</strong>schaft über die damals noch offiziell unmündigen Indigenen, es<br />

in vielen Einzelfällen für eine zukunftsträchtige Vorgehensweise hielt, indianisches<br />

Land weiter Stück für Stück an Großgr<strong>und</strong>besitzer zu verpachten, die Ordnung<br />

<strong>und</strong> Fortschritt vorantreiben sollten.<br />

Für die Indigenen, die nicht flohen, ergaben sich aus dieser Entwicklung nahezu<br />

feudale Strukturen, in denen sie auf dem Land, <strong>das</strong> eigentlich anerkannter-<br />

2. Ausnahmen bilden z. B. die Arbeiten von Curt Nimuendajú, der Anfang des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

ausgedehnte Forschungsreisen im Nordeste unternommen hat.<br />

3. Pankararu in Pernambuco and Pataxó[-Hãhãhãe] in Bahia 1937, Kariri-Xocó in Alagoas 1944,<br />

Truká in Bahia in den 1940ern, Atikum in Pernambuco <strong>und</strong> Kiriri in Bahia 1949, Xukuru-Kariri<br />

in Alagoas 1952, Kambiwá in Pernambuco 1954 <strong>und</strong> Xukuru, ebenfalls in Pernambuco, 1957<br />

(s. Oliveira 2004, S.27).


maßen ihr eigenes war, oft einen der Leibeigenschaft ähnlichen Status innehatten<br />

<strong>und</strong> der Willkür der fazendeiros <strong>und</strong> ihrer Privatarmeen ausgesetzt waren. Mit<br />

dem Segen des SPI wurden Indianer zur „Zähmung“ eingefangen <strong>und</strong> unter unmenschlichen<br />

Bedingungen zwangszivilisiert, um in den landwirtschaftlichen Betrieben,<br />

zu denen ihr Land nun faktisch gehörte, unentgeltliche Arbeit zu leisten.<br />

Westliche Kleidung, portugiesische Sprache <strong>und</strong> gesalzenes Essen wurden vor<br />

diesem Hintergr<strong>und</strong> zu Pflichten, denen die Indianer sich nur unter Gefahr für<br />

Leib <strong>und</strong> Leben entziehen konnten (vgl. FERREIRA 2002, S. 33).<br />

Zwar wurde der SPI 1967 durch die FUNAI (F<strong>und</strong>ação Nacional do Índio) ersetzt,<br />

nicht zuletzt wegen nationaler <strong>und</strong> internationaler Empörung über ebendiese<br />

Menschenrechtsverletzungen, aber auch <strong>das</strong> neue Regierungsorgan, <strong>das</strong> nun<br />

für die Indigenen zuständig war, zielte zunächst auf die Auflösung indianischer<br />

Kulturen in der brasilianischen Nationalgesellschaft ab. In den siebziger <strong>und</strong><br />

achtziger Jahren des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts verschärfte sich die Assimiliationspolitik<br />

der FUNAI noch – jedoch zeigte sich bald, <strong>das</strong>s alle Anstrengungen zur „humanen“<br />

Auflösung indigener Kulturen nicht den gewünschten Effekt hatten. Brasilianische<br />

Akkulturationsforscher hatten bis weit in die 1970er Jahre hinein alle<br />

Veränderungsprozesse in indianischen Gesellschaften als Zeichen des nahenden<br />

Niedergangs <strong>und</strong> Endes indigener Gruppen interpretiert. Tatsächlich allerdings<br />

war in vielerlei Hinsicht <strong>das</strong> Gegenteil der Fall: Der Kontakt zwischen Weißen<br />

<strong>und</strong> Indianern, von Seiten der Nationalgesellschaft klar auf Assimilation<br />

angelegt, führte trotz indianischer Annahme neuer <strong>und</strong> Aufgabe alter Kulturelemente<br />

nicht zur Auflösung der indigenen Gruppen <strong>und</strong> zum Ende der Selbstwahrnehmung<br />

als Indianer. In vielen Fällen trug der Assimilationsdruck von<br />

außen vielmehr zu einer Bewusstwerdung des Wertes der eigenen Kultur auf<br />

indianischer Seite bei, ebenso wie zu einem Prozess der Einigung gegen den<br />

gemeinsamen Feind; im Rahmen dieser Vorgänge konnte eine indianische Mitsprache<br />

bei der Erstellung der neuen Verfassung Brasiliens von 1988 erreicht<br />

werden, in der <strong>das</strong> Recht der Indigenen auf eigene Territorien <strong>und</strong> eigene Kultur<br />

schließlich festgeschrieben wurde.<br />

Die Gründung zahlreicher indigener Organisationen im ganzen Land zu dieser<br />

Zeit zeigt, wie diese Entwicklung <strong>das</strong> ethnische Selbstbewusstsein vieler Indianer<br />

stärkte, <strong>und</strong> im Nordosten ist es dieser Zeitraum, in dem <strong>das</strong> Phänomen<br />

der so genannten „neuen indigenen Ethnizitäten“ Gestalt annimmt: Während in<br />

den 1950er Jahren die Liste indigener Gruppen Nordostbrasiliens nicht mehr<br />

als 10 Einträge umfasste, waren es 1994 bereits 23, <strong>und</strong> eine große Zahl von<br />

Brasilianern, die zuvor lediglich als ländliche Mestizen wahrgenommen worden<br />

waren, durften – oder mussten – nun wiederentdecken, wie man in der Öffentlichkeit<br />

Indianer zu sein hat.<br />

Die Idee der Ursprünglichkeit (Traditionalität, Harmonie mit der Natur, Spiritualität<br />

etc.) ist ein wesentlicher Bestandteil der stereotypisierten Erwartungen,<br />

die die brasilianische Gesellschaft guten Indianern entgegenbringt, <strong>und</strong> mit demselben<br />

Maß wird auch die Indianität der indigenen Gruppen des Nordostens gemessen.<br />

Um also in den Genuss des guten Willens der Öffentlichkeit zu gelangen,<br />

muss der Indianer des Nordeste ein diesen Erwartungen entsprechendes Bild bieten.<br />

Somit wird, wie ich es selbst beobachten konnte, von vielen Indigenen des<br />

25


26<br />

Nordostens in der Rekonstruktion ihrer im Laufe der Kolonisierung verloren gegangenen<br />

<strong>und</strong> dem Indianerbild in der brasilianischen Öffentlichkeit nahe kommenden<br />

Kulturmerkmale genau auf diese Stereotypen zurückgegriffen, um negativen<br />

Vorurteilen entgegenzuwirken <strong>und</strong> positive fortzuschreiben – dies allerdings<br />

nicht nur nach außen, sondern ebenso nach innen, für die eigene Gruppe.<br />

Das Projekt<br />

Das Projekt Índios na Visão dos Índios wurde 2001 begonnen; in Workshops für<br />

kreatives Schreiben, Fotografie <strong>und</strong> kulturelle Identität sammelte der ehemalige<br />

Werbefachmann Sebastián Gerlic in sieben indigenen Dörfern in Nordostbrasilien<br />

Materialien, die später in aufwendigen, 60-seitigen Farbbroschüren als Selbstporträts<br />

der jeweiligen Dorfgemeinschaft veröffentlicht wurden. 4 Während des Projektverlaufs<br />

gründete Gerlic 2003 die NRO Thydêwá, die von diesem Zeitpunkt an der<br />

offizielle Träger des Projektes sein sollte.<br />

Ein Teil der gedruckten Broschüren ging an die verschiedenen Sponsoren, ein<br />

weiterer blieb bei Thydêwá, <strong>und</strong> der dritte <strong>und</strong> größte Teil wurde den teilnehmenden<br />

Dorfgemeinschaften zur freien Verfügung gestellt. Dabei war von Veröffentlichung<br />

zu Veröffentlichung <strong>das</strong> Bestreben Gerlics, die indigene Teilhabe am<br />

<strong>und</strong> Verantwortung für <strong>das</strong> Projekt stetig zu vergrößern, <strong>und</strong> er hoffte, mit der<br />

Einführung von Computern <strong>und</strong> Internettechnologie in den Dörfern den Höhepunkt<br />

dieser Entwicklung zum eigenständig indianischen Projekt herbeizuführen.<br />

Das Pilotprojekt Índios Online, <strong>das</strong> 2004 seinen Anfang nahm, war als<br />

Verlängerung von Índios na Visão dos Índios konzipiert. Sieben Reservate 5 wurden<br />

mit je einem PC, digitalen Fotokameras <strong>und</strong> schnellem Internetzugang über<br />

Satellit ausgestattet. Ein zweiwöchiger Workshop in Salvador sollte zwei Repräsentanten<br />

aus jeder Dorfgemeinschaft mit den Gr<strong>und</strong>lagen der elektronischen<br />

Datenverarbeitung vertraut machen; zurück in den Dörfern sollten diese Personen<br />

als Multiplikatoren dieses Wissens fungieren <strong>und</strong> so die Technologie dort<br />

möglichst für jeden zugänglich machen.<br />

Herz des Projektes ist die Website (THYDÊWÁ 2004), auf der zum einen ein<br />

Chatbereich die Kommunikation der teilnehmenden Ethnien untereinander wie<br />

auch theoretisch mit dem Rest der Welt ermöglicht, zum anderen ein inhaltlicher,<br />

dokumentarischer Teil geboten wird. Für jede teilnehmende Gruppe existiert eine<br />

einzeln aufrufbare Abteilung; für die Dörfer, deren Broschüren bereits in Print-<br />

Form vorlagen, wurden in ihren jeweiligen Abteilungen zu Beginn des Projektes<br />

digitale Versionen ihrer Veröffentlichungen eingestellt. Mit einem einfachen Interface<br />

ist es von den Dörfern aus möglich, Texte <strong>und</strong> Fotos zu Beiträgen zusammenzustellen<br />

<strong>und</strong> in die entsprechende Abteilung der Website zu übertragen. Diese<br />

Möglichkeit sollten die beteiligten Gruppen nutzen, um für ein potenziell weltweites<br />

Publikum Alltag, Probleme, Kultur <strong>und</strong> Geschichte zu dokumentieren. Für die-<br />

4. Comunidade Tupinambá 2003, Comunidade Kariri-Xocó 1999, Comunidade Pankararu 2001,<br />

Comunidade Kiriri 2003, Comunidade Truká 2003, Comunidade Fulni-ô 2003, Comunidade<br />

Tumbalalá 2003.<br />

5. Kariri-Xocó, Kiriri, Pankararu, Pataxó-Hãhãhãe, Tumbalalá, Tupinambá, Xukuru-Kariri.


jenigen, die ihre Portraits in gedruckter Form noch nicht fertig gestellt hatten,<br />

sollte die Website zum Medium für die Materialsammlung werden: Man stellte sich<br />

vor, <strong>das</strong>s die Indianer Inhalte auf der Internetseite anhäufen <strong>und</strong> zu einem bestimmten<br />

Zeitpunkt davon die besten Beiträge für die Veröffentlichung im Druck<br />

auswählen würden.<br />

Die Rolle des Autors<br />

Die Frage, die vor allem Thydêwá immer wieder in den Mittelpunkt zu stellen<br />

versuchte, war, was es bedeute, Indianer zu sein. In diesem Prozess der Ausarbeitung<br />

eines Konzepts von Indianität waren die Akteure <strong>und</strong> Autoren offiziell die<br />

Indianer selbst; tatsächlich allerdings trug Thydêwá mindestens einen ebensogroßen<br />

Teil zu dem so entstehenden Bild indianischer Kultur bei – <strong>und</strong> ich damit<br />

ebenfalls, wenn auch wegen der Doktrin des Nicht-Eingreifens, des bloßen Beobachtens,<br />

die ich während meiner Ausbildung als Ethnologe verinnerlicht hatte,<br />

eher widerwillig. Ich war in die Reservate der Xukuru-Kariri in Alagoas <strong>und</strong> der<br />

Pataxó-Hãhãhãe in Bahia geschickt worden, um dort Hilfestellung im Umgang mit<br />

der neuen Technologie zu leisten <strong>und</strong> damit für die Veröffentlichung der Broschüren<br />

dieser beiden Gruppen den Weg zu ebnen.<br />

Neben der technischen Beratung aber war ich von indianischer Seite vor<br />

allem als Impulsgeber gefragt, wenn es darum ging, welche Fragen die Jungen<br />

den Alten in Interviews stellen würden, welche Fotos gut waren <strong>und</strong> welche<br />

schlecht, <strong>und</strong> welche Texte in welcher Form auf der Website <strong>und</strong> später im Buch<br />

auftauchen sollten.<br />

Bei den Pataxó-Hãhãhãe, wo die materiellen Aspekte des Projektes (Computer,<br />

Internet, Kamera) bei den Begünstigten auf viel Gegenliebe stießen, der inhaltliche<br />

Teil allerdings zwar Wohlwollen, aber nicht wirklich viel Interesse fand, musste mein<br />

Beitrag zum Entstehen der dokumentarischen Materialien ein noch größerer sein,<br />

so<strong>das</strong>s der Großteil der Fotos <strong>und</strong> Interviews von mir selbst gemacht wurde.<br />

Damit geriet ich in eine Verantwortlichkeit, mit der ich vorher naiverweise<br />

nicht gerechnet hatte: Meine Aufgabe bestand nicht etwa nur darin, zu erklären,<br />

in welchem Moment welcher Knopf an welchem Gerät zu drücken war, sondern<br />

ich selbst sollte mitbestimmen, was für die Projektteilnehmer Indianersein bedeutete<br />

– zumindest in der Öffentlichkeit, aber gewiss nicht ohne Rückwirkung auf die<br />

Realität im Dorf – <strong>und</strong> <strong>das</strong> passte nicht wirklich gut zum „romantischen Diskurs<br />

vom indigenen Protagonisten“, 6 der <strong>das</strong> Projekt umgab <strong>und</strong> den ich offenbar zunächst<br />

nicht als solchen erkannt hatte.<br />

Die Tatsache, <strong>das</strong>s der Ethnologe im Feld nie nur Beobachter sein kann <strong>und</strong><br />

seine Ergebnisse nie nur dokumentarisch sind, ist innerhalb der Wissenschaft kaum<br />

umstritten (vgl. z. B. KOHL [1993] 2000, S. 115-119 oder BARLEY [1997] 2000, S. 7-<br />

16). Mir kam es allerdings so vor, als ob in der besonderen, weil historisch noch<br />

sehr jungen Situation der Suche nach ethnischer Identität <strong>und</strong> Ethnizität der<br />

6. Diese Bezeichnung verwendete Gerlic in einem persönlichen Gespräch, als ich ihm davon<br />

erzählte, <strong>das</strong>s ich Zweifel in Bezug auf meinen zu großen Beitrag zu einem Kulturprodukt<br />

hatte, <strong>das</strong> ja eigentlich offiziell in indianischer Eigenverantwortung entstehen sollte.<br />

27


28<br />

indianischen Gruppen Nordostbrasiliens, die ich näher kennen gelernt habe, die<br />

Wechselwirkungen zwischen der Reproduktion <strong>und</strong> Konstruktion indianischer<br />

Identität <strong>und</strong> der Anwesenheit <strong>und</strong> Arbeit des nichtindianischen Experten besonders<br />

groß war <strong>und</strong> ist.<br />

Aus dieser Perspektive kann der Prozess der „Wiederauferstehung“ der<br />

Tupinambá in Bahia zurückverfolgt werden zur Entdeckung eines klassischen <strong>und</strong><br />

Lesern dieses Jahrbuches gewiss nicht unbekannten Werkes über die menschenfressenden<br />

Küsten-Tupinambá durch die Bewohner des Caboclo-Dorfes 7 Olivença:<br />

Ein nichtindianischer Ausbilder indigener Lehrkräfte hatte in den 1990er Jahren<br />

Stadens Warhaftige Historia (STADEN [1557] 1978) ins Dorf mitgebracht, um es im<br />

Geschichtsunterricht zu verwenden. Die caboclos von Olivença fanden sich selbst<br />

in den Beschreibungen Stadens wieder <strong>und</strong> verwendeten <strong>das</strong> Buch fortan als<br />

Basis für die Rekonstruktion ihrer Traditionen – so benannten sie zum Beispiel<br />

ihren rituellen Tanz, den Toré, in Porancim um, weil Staden einen von ihm beobachteten<br />

Tanz so genannt hatte. Diese Entwicklung fand ihren vorläufigen Höhepunkt<br />

in der offiziellen Anerkennung der bahianischen Tupinambá als indigenes<br />

Volk durch die FUNAI 2002. 8 Ähnliche Prozesse beschreibt der brasilianische Ethnologe<br />

Henyo Trindade Barreto Filho, der in einem Forschungsinterview von<br />

einer Indianerin schmunzelnd mitgeteilt bekommt, <strong>das</strong>s die Tapeba sich erst wieder<br />

für die Tapeba zu interessieren begonnen haben, seitdem er, der Ethnologe,<br />

so viele Fragen über die Tapeba stellt – bis dahin hatte man gar nicht mehr darüber<br />

nachgedacht, aber mit einem Mal wollten alle Indianer sein (vgl. BARETTO<br />

FILHO 1993, 2004).<br />

Der Forscher oder Ratgeber von Außen kann also durchaus zum Katalysator<br />

des identitären Prozesses werden. Bezüglich meiner Arbeit mit Thydêwá sehe ich<br />

mich in vergleichbare <strong>und</strong> ähnlich komplexe Strukturen eingeb<strong>und</strong>en.<br />

Online<br />

Das Recht auf <strong>und</strong> die Möglichkeit zur informationellen Selbstbestimmung, die<br />

– zumindest in meinen Augen – die Dreh- <strong>und</strong> Angelpunkte des Projekts Índios<br />

Online darstellten, trafen auf indianischer Seite zwar in der Theorie, nicht aber in<br />

der Praxis auf besonders viel Enthusiasmus; die Initiative, den dokumentarischen<br />

Teil der Website mit neuem Material zu versehen, ging bei den meisten Gelegenheiten<br />

von mir aus. Auf wesentlich mehr Interesse der Begünstigten stieß <strong>das</strong> der<br />

Seite beigegebene Chatsystem; diese Beobachtung habe ich bei den Xukuru-Kariri<br />

ebenso wie bei den Pataxó-Hãhãhãe gemacht. Die hohe Zahl der 3000 registrierten,<br />

größtenteils nichtindianischen Nutzer, die Thydêwá in den ersten Wochen<br />

der Laufzeit des Projektes bei verschiedenen Aktionen sammeln konnte, ist wenig<br />

aussagekräftig für <strong>das</strong> tatsächliche Geschehen im Chat, in dem sich vor allem eine<br />

7. Caboclos: Mischlinge; z. B.: „Das ist doch kein richtiger Indianer, bloß ein Caboclo!“<br />

8. Der Ausbilder, der den Indianern Stadens Buch vorgestellt hatte, war ausführender Direktor<br />

von Thydêwá zur Zeit meiner Arbeit mit der Organisation. Genaueres über die Bedeutung<br />

des Tanzes für die Ethnogenese der Tupinambá wird in seiner noch unveröffentlichten Dissertation<br />

nachzulesen sein: PAMFILIO (unv.)


Gruppe von insgesamt vielleicht dreißig Jugendlichen <strong>und</strong> Verwandte aus deren<br />

Elterngeneration aus den im Projekt vertretenen Dorfgemeinschaften treffen. Dabei<br />

sind nicht alle Dörfer gleich stark vertreten – so bin ich zum Beispiel keinem<br />

Pankararu jemals online begegnet, Tupinambá, Tumbalalá <strong>und</strong> Xukuru-Kariri dagegen<br />

sehr oft. Darüber hinaus finden sich im Chat hin <strong>und</strong> wieder Indianer anderer<br />

Gruppen <strong>und</strong> nichtindianische Interessierte oder Sympathisanten, oftmals Schüler,<br />

die Nachforschungen für eine Hausarbeit anstellen, selten Anthropologen<br />

<strong>und</strong> manchmal Suchende, die sich Einblicke in indianische Spiritualität erhoffen.<br />

Die Registrierung ist für jeden offen. Jedes Mitglied, <strong>das</strong> einem der Administratoren<br />

9 glaubhaft seine indianische Identität versichert, kann von diesem systemintern<br />

mit dem Label „índio“ versehen werden – <strong>das</strong> heißt in der Konsequenz, <strong>das</strong>s<br />

<strong>das</strong> so beförderte Mitglied für den entsprechenden Namen <strong>und</strong> die im Chat erscheinenden<br />

Redebeiträge eine Textfarbe frei wählen kann. So einfach wird online<br />

die Identitätsfrage gelöst: Die Bunten sind die Indianer, jedenfalls theoretisch.<br />

Diese Möglichkeit der farblichen Kennzeichnung ist sehr begehrt; oftmals konnte<br />

ich mich vor diesbezüglichen Anfragen kaum retten, die ich dann meist an meine<br />

indianischen Administratorenkollegen weiterzuleiten versuchte, zumal ich nie<br />

wusste, ob es sich bei den Anfragenden denn nun wirklich um „richtige“ Indianer<br />

handelte oder nicht.<br />

Ob es bei der Popularität dieser Funktion allerdings darum ging, demonstrativ<br />

online Indianer sein zu können, oder eher ästhetische Spielfreude der Gr<strong>und</strong><br />

dafür war, kann ich nicht eindeutig beantworten. Angesichts der Beliebtheit von<br />

Programmen, mit denen man E-Mails mit allerlei unterhaltsamen Bildchen <strong>und</strong><br />

Animationen verzieren kann, ebenso der Emoticons (Smilies etc.), die <strong>das</strong> Chat-<br />

Interface bietet, möchte ich fast in letztere Richtung tendieren – allerdings schließen<br />

sich die beiden Möglichkeiten auch nicht gegenseitig aus.<br />

Im System gibt es acht Chaträume; einen für jede teilnehmende Ethnie sowie<br />

einen allgemeinen Raum mit dem Titel „Thydêwá“. Die ethnisch differenzierten<br />

Räume allerdings habe ich niemals in Verwendung gesehen. Offenbar zogen alle<br />

Chatbenutzer den allgemeinen Raum vor.<br />

Die Themen, die den größten Teil der Zeit besprochen werden, sind Alltäglichkeiten:<br />

Begrüßungen, Verabschiedungen <strong>und</strong> gegenseitige Erk<strong>und</strong>igungen nach<br />

dem Wohlbefinden. Die meisten Jugendlichen <strong>und</strong> ebenso einige ältere Benutzer<br />

verwenden den Chat vor allem zur Anbahnung oder Pflege virtueller Liebeleien.<br />

Die ersten Fragen, denen sich ein neuer Besucher meist ausgesetzt sieht, sind, in<br />

dieser Reihenfolge: Bist du Indianer? Bist du Mann oder Frau? Wie alt bist du? – es<br />

geht darum, potenzielle Flirtpartner schnell als solche zu erkennen. Bei gegenseitigem<br />

Interesse wird die Konversation schnell von einer Many-to-many- in eine<br />

Person-to-person-Form der Interaktion überführt – interessanterweise schon innerhalb<br />

des Chatsystems, <strong>das</strong> seitens Thydêwá eine solche Möglichkeit gar nicht<br />

technisch vorsieht: Die Möglichkeit der Versendung privater Mitteilungen innerhalb<br />

des Systems ist eigentlich allein den Administratoren vorbehalten. Der vielleicht<br />

nicht besonders ausführlich reflektierte Hintergedanke dabei war mögli-<br />

9. Administratorenrechte haben die Mitarbeiter der Thydêwá auf indianischer <strong>und</strong> nichtindianischer<br />

Seite, insbesondere die Teilnehmer des Computerkurses.<br />

29


30<br />

cherweise, <strong>das</strong>s ein Gemeinschaftsgefühl gefördert <strong>und</strong> dem entgegenwirkende<br />

individualistische Formen der Kommunikation nicht begünstigt werden sollten.<br />

Die Benutzer mit dem Label „índio“ umgehen dieses Hindernis, indem sie sich<br />

gegenseitig mit der „Invite“-Funktion, die eigentlich zur Einladung in andere<br />

virtuelle Räume dient <strong>und</strong> die Möglichkeit bietet, eine für diesen Zusammenhang<br />

klärende Nachricht beizufügen, in Räume einladen, in denen sie sich bereits<br />

befinden. So senden sie sich private Mitteilungen, bis E-Mail-Adressen ausgetauscht<br />

werden, über die man sich gegenseitig Fotos <strong>und</strong> bunt gestaltete<br />

Briefchen schicken kann.<br />

Dieses Vorgehen, ebenso wie die Nichtnutzung der ethnisch differenzierten<br />

Chatrooms, zeigt sehr deutlich, <strong>das</strong>s die indianischen Bedürfnisse in der Nutzung<br />

des Chatsystems andere sind als von den Erstellern der Website antizipiert oder<br />

beabsichtigt: Der von Thydêwá abgesteckte Rahmen wird anders als erwartet gefüllt,<br />

die von der Organisation gesetzten technischen Hindernisse werden stellenweise<br />

kreativ umgangen.<br />

Die auf Índios Online zu beobachtende Flirtkultur ähnelt in vielerlei Hinsicht<br />

den Vorgängen, die man in anderen Chatrooms internetweit zuhauf beobachten<br />

kann. Ein maßgeblicher Unterschied liegt meines Erachtens jedoch in der Selbstverständlichkeit,<br />

mit der Online-Bekanntschaften in Offline-Zusammenhänge eingebettet<br />

sind. Das heißt nicht notwendigerweise, <strong>das</strong>s auf Índios Online häufiger<br />

Hochzeiten angebahnt würden als in anderen Chaträumen – ich weiß von keiner<br />

Beziehung dort, die allein aus der Online-Bekanntschaft heraus zu einer tatsächlichen<br />

Liebesbeziehung geworden wäre. Jedoch fehlt auf Índios Online fast gänzlich<br />

die sonst für die Mythologie des Internet maßgebliche Idee, <strong>das</strong>s man im Cyberspace<br />

jemand ganz anderes sein kann (oder sein will oder sein wollen sollte) als im<br />

herkömmlichen Leben. Die Vorgabe eines falschen Geschlechts findet, jedenfalls<br />

soweit von mir beobachtet, nicht statt, nur selten wird <strong>das</strong> eigene Alter übertrieben,<br />

um „erwachsener“ zu wirken, Fotos werden vor allem zwischen Flirtpartnern<br />

bereitwillig über E-mail ausgetauscht, sobald allererste Annäherungen erfolgreich<br />

waren. Online <strong>und</strong> „Diesseits“ stattfindende Interaktionen werden nicht als voneinander<br />

unabgängige erfahren. Die Kluft zwischen Cyberspace <strong>und</strong> Space existiert<br />

ebenso wenig wie zwischen Telefongespräch <strong>und</strong> Geplauder von Angesicht<br />

zu Angesicht. In beiden Fällen geht es nicht darum, sich in verschiedenen Welten<br />

zu bewegen, sondern darum, sehr diesseitige Beziehungen über größere Entfernungen<br />

zu knüpfen <strong>und</strong> zu pflegen.<br />

Das hängt sicherlich auch damit zusammen, <strong>das</strong>s die Indianer online im Chat<br />

vor allem mit ähnlichen oder oft gar denselben Menschen zu tun haben wie bei<br />

anderen, für die heutigen Indianer Brasiliens selbstverständlichen Gelegenheiten:<br />

Es gibt einen Raum „zwischen“ den Dörfern <strong>und</strong> Ethnien, der bereits vor<br />

Ankunft des Internet konstituiert wurde, <strong>und</strong> zwar durch in verschiedenen Dörfern<br />

stattfindende interethnische Seminare <strong>und</strong> Workshops, durch Kongresse <strong>und</strong><br />

Symposien in den Städten, kurz, durch die politischen <strong>und</strong> sonstigen interethnischen<br />

Aktivitäten, in denen sich Indianer schon seit den 1970er Jahren begegnen,<br />

austauschen <strong>und</strong> interagieren. Viele der indianischen Chatbenutzer kennen<br />

sich persönlich von solchen Anlässen, aber selbst wenn <strong>das</strong> nicht der Fall ist,<br />

steht die Möglichkeit, sich zum Beispiel bei einem Seminar über den Weg zu laufen,


stets im Raum. Wie bei solchen Veranstaltungen üblich, so redet man sich auch im<br />

Chat gegenseitig mit parente (Verwandter) an <strong>und</strong> verwendet fast ausschließlich<br />

indigene Namen (die man im dörflichen Alltag nur selten hört).<br />

Die Teilnehmer von Índios Online betreten im Chat also nur technisch gesehen<br />

Neuland, jedoch wird <strong>das</strong> neue Medium in seiner Verwendung lediglich<br />

zu einer weiteren <strong>und</strong> gerne wahrgenommenen Möglichkeit, sich in einem<br />

bereits bekannten sozialen Raum zu bewegen – eine Art überregionales Dorf,<br />

<strong>das</strong> durch die computerbasierte Vernetzung nur eine weitere Dimension <strong>und</strong><br />

größere Präsenz gewinnt.<br />

Eine bewusste Inszenierung von Indianität findet (sinnvollerweise) erst statt,<br />

wenn ein interessierter Außenseiter den Chatroom betritt, was nicht allzu oft geschieht.<br />

Dann wird, wie bei anderen Begegnungen mit der brasilianischen Öffentlichkeit<br />

auch, ein Verhalten geboten, welches Harald Prins treffend als Primitivismus<br />

bezeichnet (vgl. PRINS 2002): Es wird auf <strong>das</strong> stereotypisierte westliche<br />

Indianerbild zurückgegriffen, <strong>das</strong> sich bis zu Rousseaus Konstrukt des Edlen Wilden<br />

zurückverfolgen lässt <strong>und</strong> durch dessen Brille die Indianer sich inzwischen<br />

auch gern selbst betrachten. So wird versucht, für alle Beteiligten die Grenzen<br />

zwischen Weißen <strong>und</strong> Indianern besonders deutlich zu ziehen. Dementsprechend<br />

kommen auf wenig differenzierte Fragen wie „Wer kann mich über die indigene<br />

Religion informieren?“ wenig differenzierte Antworten wie „Wir haben die Religion<br />

unserer Vorfahren. Wir lieben die Mutter Natur.“<br />

Diese primitivistische Strategie führt oft zum Erfolg (in dem Sinne, <strong>das</strong>s alle<br />

Teilnehmer mit dem Resultat der Interaktion zufrieden sind): Nicht-Indigene<br />

verpacken den Anderen in romantischen Kategorien, die ihnen behaglich sind.<br />

Indianer hingegen können sowohl ihren Ruf als auch ihr Selbstbewusstsein verbessern,<br />

indem sie die Stereotypen, die ihnen aufgenötigt worden sind, verwenden,<br />

um auf Seiten der Weißen die Solidarität <strong>und</strong> Handlungsbereitschaft für die<br />

indigene Sache zu vergrößern (s. PRINS 2002).<br />

Die Möglichkeit der direkten Kommunikation, die <strong>das</strong> Online-Chatting bietet<br />

– im Gegensatz zu einseitigeren visuellen oder audiovisuellen Medien, wo<br />

solche Romantizismen wegen fehlender sofortiger Überprüfbarkeit leichter aufrechtzuerhalten<br />

sind – führt jedoch oftmals zu Irritationen bei romantisierenden<br />

Nicht-Indianern.<br />

Bei einer Gelegenheit beobachtete ich eine Konversation zwischen einer Schülerin<br />

<strong>und</strong> einer Indianerin. Die Schülerin recherchierte für ein Projekt über die<br />

Bedeutung des Wassers „in der indigenen Kultur“ – <strong>und</strong> war sichtlich enttäuscht,<br />

als die junge Indianerin am anderen Ende antwortete, <strong>das</strong>s sie es zum Kochen<br />

<strong>und</strong> Waschen verwenden würden. Auch weiteres Nachfragen brachte nicht die<br />

spirituelle oder mythologische oder zumindest irgendwie andere Sicht der Dinge,<br />

die die Interviewerin sich offenbar erhofft hatte.<br />

Solche irritierenden Erfahrungen sind im Sinne einer echten Verständigung<br />

zwischen den Kulturen gewiss nichts Schlechtes: So haben die Fragenden Gelegenheit<br />

zu bemerken, <strong>das</strong>s erstens Indianer nicht alle gleich <strong>und</strong> zweitens doch<br />

eher ganz normale Leute sind, <strong>und</strong> nicht die spirituellen, naturnahen ‚ganz Anderen‘,<br />

die sie sich vorgestellt hatten – ein Klischee, <strong>das</strong> unter anderem so langlebig<br />

ist, weil es nicht an alltäglichen Begegnungen mit den im Leben der meisten wei-<br />

31


32<br />

ßen Brasilianer sonst wenig präsenten Indianern überprüft werden kann. Als<br />

„persuasive device in their collective quest for biological and cultural survival“<br />

versagt der Primitivismus in solchen Fällen jedoch scheinbar (PRINS 2002, S. 58).<br />

Es muss noch beigefügt werden, <strong>das</strong>s die Mehrzahl der indianischen<br />

Chatbesucher nicht dieselben Personen sind, die gewohnheitsmäßig in den Außenbeziehungen<br />

der Dörfer die Drähte ziehen. Die PR-bewanderten Indianer, die<br />

regelmäßig in den Städten aus politischen <strong>und</strong> kommerziellen Gründen den Kontakt<br />

mit Weißen suchen, gehen in der Regel davon aus, <strong>das</strong>s es erfolgversprechender<br />

ist, auf Fragen anstatt banal alltäglicher Informationen romantisch verklärte<br />

Antworten zu liefern. Die chattenden Jugendlichen dagegen können in vielen<br />

Fällen nicht bieten, was ihre nichtindianischen Kommunikationspartner dort draußen<br />

in der von ihnen imaginierten Wildnis erwarten: Wilde, weise, edle, rein mythisch<br />

denkende <strong>und</strong> handelnde sowie medizinisch w<strong>und</strong>ertätige Menschen.<br />

Xukuru-Kariri<br />

Wie bereits erwähnt geschah der größte Teil der Materialsammlung für den dokumentarischen<br />

Teil der Website nicht aus eigener indigener Motivation heraus, im<br />

Gegensatz zu der indianischen Eigenregie, die Gerlic sich vorgestellt hatte, als er <strong>das</strong><br />

Projekt plante. Ich musste beständig Impulse geben, um zumindest ein Mindestmaß<br />

an indigenem Enthusiasmus für die Archivierung <strong>und</strong> Veröffentlichung ihrer Geschichte<br />

zu entfachen – <strong>und</strong> so handelte ich gegen meine eigene Überzeugung,<br />

<strong>das</strong>s es der wesentliche Aspekt des Projektes war, den Indianern die Selbstbestimmung<br />

zu überlassen (<strong>und</strong> nicht etwa, ihnen Selbstbestimmung aufzudrängen).<br />

Selten sind die Beiträge geblieben, in denen <strong>das</strong> offenk<strong>und</strong>ig „Indianische“ in<br />

den Mittelpunkt gestellt wurde. So gab es bis kurz vor meiner Abreise aus dem Dorf<br />

keinen Beitrag über den Toré, von dem ich eigentlich erwartet hätte, <strong>das</strong>s er selbstverständlich<br />

als ein sehr präsentables <strong>und</strong> typisches Element nordostbrasilianischer<br />

Indianerkultur an einer solchen Schnittstelle zwischen Dorf <strong>und</strong> Öffentlichkeit<br />

auftaucht: Wer zeigen möchte, <strong>das</strong>s er Indianer ist, tut <strong>das</strong> im Dorf <strong>und</strong> außerhalb<br />

am ehesten, indem er zeigt, <strong>das</strong>s er Toré zu tanzen <strong>und</strong> die entsprechenden Lieder<br />

zu singen weiß – so dachte ich <strong>und</strong> deutete beständig an, <strong>das</strong>s es doch schön<br />

wäre, noch etwas über den Toré ins Netz stellen zu können.<br />

Der Beitrag entstand letzten Endes nur, weil ich in einem aus der Sicht des<br />

Forschers schlecht zu rechtfertigenden, aber aus der des Projektmitarbeiters nachvollziehbaren<br />

Bestreben, ein schlüssiges <strong>und</strong> irgendwie auch pittoreskes Bild vom<br />

Indianischen zu erstellen, immer wieder davon sprach. Er kann hier in seiner<br />

vollen Länge wiedergegeben werden, ohne den Rahmen zu sprengen:<br />

Unser Toré<br />

Das hier [auf dem beigegebenen Foto, NC] ist unser toré, den wir<br />

immer singen, wenn wir uns treffen, um unsere Brüder zu erfreuen.<br />

Tatinan<br />

(THYDÊWÁ 2004, Beitrag „Nosso Toré“, Abteilung Xukuru-Kariri)<br />

Dieses Ergebnis ernüchterte den Projektmitarbeiter in gewisser Weise – der<br />

Ethnologe dagegen bemüht sich, diesen mangelnden indianischen Enthusias-


mus als Zeichen dafür zu deuten, <strong>das</strong>s er sich geirrt hat <strong>und</strong> der Toré aus indianischer<br />

Sicht doch nicht an jeder Stelle <strong>das</strong> Mittel der Wahl ist, um Indianität zu<br />

repräsentieren. 10<br />

In meiner Zeit bei den Xukuru-Kariri entstand ein Konflikt, indem es genau<br />

darum ging, wie man Indianer zu sein hat <strong>und</strong> wie nicht. Die Meinungen darüber<br />

gingen auseinander <strong>und</strong> waren unübersehbar interessengeleitet, da zwar Fragen<br />

nach Religion <strong>und</strong> Kultur im Vordergr<strong>und</strong> standen, aber machtpolitische Rivalitäten<br />

zwischen zwei Familiengruppen die Folie bildeten, vor der die Auseinandersetzung<br />

ausgetragen wurde. Aus einem Pool von besonders indianisch gedachten<br />

Kulturelementen wählten die Fraktionen <strong>und</strong> Akteure diejenigen aus, die ihnen<br />

jeweils geeignet schienen, um die Indianität der Gegenseite anzuzweifeln bzw.<br />

die eigene zu illustrieren. 11<br />

Eine der Lehrerinnen der Dorfschule hatte aus verschiedenen Gründen aufgehört,<br />

am Ouricuri-Ritual teilzunehmen <strong>und</strong> sich einer protestantischen Kirche<br />

angenähert. Das tat aus ihrer Sicht ihrer Identität als Indianerin keinen Abbruch,<br />

da sie weiterhin Toré tanzte <strong>und</strong> vor allem in ihrer Tätigkeit als Lehrerin am Fortdauern<br />

der indigenen Kultur arbeitete, wie sie in einem ihrer Beiträge zur Website<br />

zeigt, der geradezu programmatischen Charakter hat:<br />

Unsere Kultur ist alles für uns<br />

Mein Name ist Tânia, ich bin 35 Jahre alt <strong>und</strong> eine Xukuru-Kariri-Indianerin<br />

in der Aldeia Mata da Cafurna. Ich bin Lehrerin in diesem Dorf<br />

seit 15 Jahren. [...] Ich versuche, durch Gespräche, Textproduktion <strong>und</strong><br />

Spaziergänge in unserem Regenwald tief im Geist jedes Schülers eine<br />

Form zu finden, uns zu sensibilisieren für die Dinge, die wir tun können,<br />

damit uns die Natur immer erhalten bleiben wird. Und auf diese Weise,<br />

indem wir unsere Bräuche bewahren, werden unsere Traditionen weitergereicht,<br />

von Generation zu Generation, so lang Gott will. [...] Ich<br />

versuche sehr entschieden, die Bräuche des Katholizismus von denen<br />

der indigenen Kultur zu trennen. Es tut mir leid, wenn sie sagen, <strong>das</strong>s sie<br />

katholisch sind <strong>und</strong> Bilder anbeten. Aber ich hoffe von ganzem Herzen,<br />

<strong>das</strong>s diese neue Generation mit einem Bewusstsein ihrer Kultur leben<br />

wird <strong>und</strong> <strong>das</strong>s sie niemals so einen Eingriff erlaubt, wie er mit unseren<br />

Vorfahren geschehen ist. Wir müssen unsere Kultur respektieren, <strong>und</strong><br />

die aller Völker, damit die unsere immer mehr Respekt gewinnt. Wir<br />

müssen uns angesichts jeder Situation zu unserer Identität bekennen.<br />

Ich versuche, diese Selbstsicherheit an alle weiterzugeben, seien sie nun<br />

eine Autorität in der Dorfgemeinschaft oder nicht.[...].<br />

Tânia<br />

(THYDÊWÁ 2004, Eintrag „Nossa cultura é tudo para nós“, Abteilung<br />

Xukuru-Kariri)<br />

10. Auf der vor einiger Zeit reformierten <strong>und</strong> erweiterten Website ist allerdings inzwischen ein<br />

längerer Beitrag veröffentlicht worden, der unter dem Titel „Toré Xucuru Kariri“ die populärsten<br />

Toré-Gesänge dieser Gruppe kurz erläutert.<br />

11. Für ähnliche Beobachtungen bei den Canela im brasilianischen Maranhão <strong>und</strong> bei den<br />

Mayangna in Nicaragua s. KOWALSKI 2004 bzw. MARGGRAFF 2001.<br />

33


34<br />

Es handelt sich hier um einen Text, der offensichtlich von Mitgliedern der Dorfgemeinschaft<br />

mit anderen Augen gelesen wird als von anderen Besuchern der<br />

Website, <strong>und</strong> er funktioniert in beiden Lesarten: Zum einen als spitzzüngiger Beitrag<br />

zu einer dorfinternen Auseinandersetzung um <strong>das</strong> „richtige“ Indianer-Sein,<br />

von der die Außenwelt nichts weiß, zum anderen um ein selbstbewusstes <strong>und</strong><br />

modernes Protokoll indianischen Kampfgeistes angesichts eines langen <strong>und</strong> entbehrungsreichen<br />

Konfliktes zwischen Kolonisatoren <strong>und</strong> Kolonisierten.<br />

Mit ihrem Austritt aus dem Ouricuri stieß Tânia selbst im eigenen Haus eine<br />

Kontroverse an. Die politischen Gegner der Familie jedoch versuchten, im Dorfrat<br />

eine Art Verfügung zu erwirken, um sie mitsamt ihren Kindern aus dem Dorf<br />

verbannen zu können: Jeder richtige Indianer habe am Ouricuri teilzunehmen,<br />

die evangélicos 12 seien der Feind der indianischen Kultur, <strong>und</strong> den Feind dürfe<br />

man schon gar nicht in der Schule unterrichten lassen, wo er unweigerlich indianische<br />

Kinder dazu indoktriniere, zu weniger indianischen Kindern zu werden.<br />

In der Polemik innerhalb des Dorfes wird die Frage nach dem Indianer-Sein<br />

also anhand einer handvoll unterschiedlich gewichteter Eigenschaften ausgehandelt:<br />

Die Teilnahme am Ouricuri steht in der Regel an erster Stelle, dicht gefolgt<br />

vom Toré – beides Phänomene, die ich dem Bereich der Religion zurechnen<br />

würde, von denen mir allerdings von indianischer Seite oft <strong>und</strong> unaufgefordert<br />

versichert wurde, <strong>das</strong>s es sich nicht um Religion, sondern um Kultur handele;<br />

Religion sei etwas von Außen aufgezwungenes, Kultur dagegen sei coisa do povo. 13<br />

Weitere verwendete Insignien von Indianität sind Pfeife <strong>und</strong> Tabak, <strong>das</strong> Anfertigen<br />

von Kunsthandwerk <strong>und</strong> die politische Arbeit für die „indianische Sache“, die<br />

verschiedene Formen annehmen kann. Je nach Situation stellen verschiedene<br />

Akteure verschiedene Elemente von Indianität in den Vordergr<strong>und</strong>.<br />

Den Schwerpunkt der Materialien, die wir für Buch <strong>und</strong> Website sammeln sollten,<br />

legten die Xukuru-Kariri jedoch deutlich auf <strong>das</strong> Historische; so war es für sie<br />

zum Beispiel <strong>das</strong> selbstverständlich Naheliegende, Interviews mit den Ältesten durchzuführen.<br />

Es entstand eine Sammlung von Texten, die aus der Perspektive biographischer<br />

Erzählungen unterschiedliche Aspekte des Kampfes um Anerkennung <strong>und</strong><br />

der Landnahmen der Xukuru-Kariri darstellt <strong>und</strong> so vor allem den Anspruch der<br />

Gruppe auf eigenes Land <strong>und</strong> eigene Kultur untermauert; es geht um <strong>das</strong> generationsübergreifende<br />

Bekenntnis zur eigenen indianischen Identität sowie <strong>das</strong> Einfordern<br />

der Anerkennung des indianischen Andersseins auf Seiten der Nichtindianer. Ein<br />

gutes Beispiel für die sich hierbei wiederholenden Motive ist ein Text von Korã:<br />

Unser Leben gestern <strong>und</strong> heute<br />

Vor der Invasion unseres Landes gab es nur Menschen, die zu einer<br />

einzigen Rasse gehörten, aber zu verschiedenen Ethnien. Alle waren<br />

Indianer, aber mit verschiedenen Dialekten, jedoch mit nur einer gemeinsamen<br />

Herkunft. Durch die Invasion wurden wir auseinander gerissen,<br />

<strong>und</strong> wir mussten uns von unseren Ursprüngen entfernen. Weil<br />

12. Gemeint sind „Evangelikale“, protestantische Gruppen neupfingstlerischer Prägung.<br />

13. Eine Sache des Volkes. Diese Sicht der Dinge mag sich unter anderem daraus erklären, <strong>das</strong>s<br />

gerade jesuitische Missionare den Indianern nicht ihre Kultur austreiben wollten, wohl aber<br />

ihre heidnische Religion – wollte ein Brauch beibehalten werden, so hatte er Kultur zu sein.


wir in vorderster Front standen, waren wir im Nordosten die ersten,<br />

die massakriert wurden; es wurde uns verboten, unsere Muttersprache<br />

zu sprechen, denn wenn man uns hätte sprechen hören, hätte<br />

man uns getötet. Viele Indianer, die flohen, mussten mit Masken leben<br />

<strong>und</strong> Zeichen auf den Körpern benutzen, um mit den anderen Verwandten<br />

zu kommunizieren, Frauen wurden gezwungen, Kinder von<br />

Weißen zu haben, damit sie als Sklaven dienten.<br />

An die Vergangenheit denken ist nicht, was ich [hier] wollte. Vielmehr<br />

suchen wir die Kraft für unsere Gegenwart, indem wir unsere Kräfte<br />

vereinen, um die Zukunft eines Volkes zu planen, <strong>das</strong> nach Würde <strong>und</strong><br />

Respekt strebt. Wir sind fähig, eine Realität zu verändern, die bis heute<br />

gelebt wird. Wir wussten nicht, wie sie sich verändert hatte, denn wir<br />

hatten keine Lebensperspektive mehr. Die Dörfer wurden verseucht von<br />

einer Krankheit, die sich Individualismus nennt. Die Leute wussten, <strong>das</strong>s<br />

sie uns schwächen würden, indem sie <strong>das</strong> den Indianern beibrachten.<br />

Mit der Einführung dieses Projektes Indios Online suchen wir nach<br />

Stärkung zwischen unseren Völkern, übertragen spirituelle Energien<br />

<strong>und</strong> machen unsere Kulturen bekannt. Wir zeigen, was es heißt, Indianer<br />

zu sein, <strong>und</strong> verschaffen einem Volk mit anderen Bräuchen <strong>und</strong><br />

Traditionen Respekt. Wir zeigen damit auch, <strong>das</strong>s es noch nicht so<br />

weit ist, <strong>das</strong>s sie uns unsere Träume austreiben können vom Leben in<br />

Harmonie mit den f<strong>und</strong>amentalen Elementen unserer Mutter Erde, Liebe,<br />

Einigkeit, Respekt <strong>und</strong> Glauben.<br />

Nie soll man sich schämen, Indianer zu sein, denn Indianer zu sein ist<br />

ein Geschenk Gottes, eine Gabe der Natur, es zeigt der Menschheit,<br />

<strong>das</strong>s wir alle Kinder eines einzigen Gottvaters sind, <strong>und</strong> deshalb haben<br />

wir alle <strong>das</strong> Recht zu leben <strong>und</strong> glücklich zu sein, unabhängig von<br />

Rasse oder Farbe.<br />

Nhenety Korã, Aldeia Mata da Cafurna.<br />

(THYDÊWÁ 2004, Eintrag „Nossa vida ontem e hoje“, Abteilung<br />

Xukuru-Kariri; meine Interpunktion)<br />

Sehr deutlich wird trotz des versöhnlichen Tonfalls die Opposition zwischen<br />

der kollektivistischen, friedlichen indigenen Kultur <strong>und</strong> der individualistischen,<br />

respektlosen weißen. Der Respekt für die Mutter Erde steht für die spirituelle indianische<br />

Naturnähe. Die politische Emanzipation wird einer passiven Vergangenheit<br />

entgegensetzt: Früher hatten wir keine Ahnung <strong>und</strong> ließen alles mit uns machen,<br />

aber jetzt nehmen wir unser Leben selbst in die Hand.<br />

Indianer-Sein heißt hier, die Natur zu lieben <strong>und</strong> Traditionen zu haben, wobei<br />

nicht weiter darauf eingegangen wird, welche <strong>das</strong> sind, vor allem aber heißt es, sich<br />

zum Indianer-Sein zu bekennen <strong>und</strong> für die entsprechenden Rechte einzusetzen.<br />

Es lässt sich also beobachten, <strong>das</strong>s in der Darstellung des Dorfes im Internet<br />

eine andere Gewichtung der Kriterien erfolgt, als <strong>das</strong> im dörflichen Alltag der Fall<br />

ist: Ouricuri <strong>und</strong> Toré, die im dorfinternen Diskurs die wesentlichen Merkmale<br />

einer indianischen Lebensweise sind, kommen in den im Internet veröffentlichten<br />

Beiträgen nur am Rande vor.<br />

35


36<br />

Da ein wesentlicher Bestandteil des Ouricuri die Geheimhaltung seiner Inhalte<br />

gegenüber nichteingeweihten Außenseitern ist, leuchtet es jedoch ein, <strong>das</strong>s<br />

sich dieser Brauch in der Öffentlichkeit nicht gut eignet, um anschaulich Indianer<br />

zu sein. Ähnliches gilt für den Toré, der zwar als Vorführung beeindrucken kann,<br />

über den sich aber in Form von Texten jedenfalls auf indianischer Seite nicht viel<br />

reden lässt, da viele tiefere Bedeutungen des Rituals mit dem Komplex des Ouricuri<br />

verb<strong>und</strong>en sind <strong>und</strong> damit unter dieselben Geheimhaltungsregeln fallen.<br />

Pataxó-Hãhãhãe<br />

Trotz der Unstimmigkeiten zwischen den verschiedenen Gruppen innerhalb des<br />

Reservates sind die Pataxó-Hãhãhãe in ihrer politischen Mobilisierung deutlich weiter<br />

fortgeschritten als die Xukuru-Kariri <strong>und</strong> damit als Ethnie in der brasilianischen<br />

Öffentlichkeit wesentlich präsenter. In Palmeira dos Índios, der Stadt, die an <strong>das</strong><br />

Reservat der Xukuru-Kariri grenzt, wissen viele Stadtbewohner nicht einmal von der<br />

Existenz der in der Umgebung lebenden Indianer – <strong>das</strong> ist in Pau Brasil <strong>und</strong>enkbar.<br />

In den Interaktionen mit der Außenwelt geht es den Pataxó-Hãhãhãe vor allem<br />

darum, ein einheitliches Bild einer homogenen ethnischen Gemeinschaft zu<br />

projizieren; die Spannungen zwischen den Ethnien, von denen innerhalb des<br />

Reservates große Teile des Alltags bestimmt werden, werden nach Außen hin<br />

möglichst ausgeblendet: „Somos um povo só, de várias etnias“, 14 ist ein Satz, der in<br />

diesen Zusammenhängen oft fällt.<br />

Das vor allem von den politischen Eliten gelenkte Bestreben, eine einheitliche<br />

Front zu präsentieren, setzte sich auch in der Projektarbeit für Indios Online fort, allerdings<br />

weniger während meines Aufenthaltes im Dorf als später während des redaktionellen<br />

Prozesses in Zusammenarbeit mit Thydêwá, der die gesammelten Materialien<br />

für die Veröffentlichung im Buch der Pataxó-Hãhãhãe vorbereiten sollte.<br />

Während meiner Zeit im Reservat schlug man mir zwar Interviewpartner vor,<br />

ließ mir aber in der Bearbeitung der Texte <strong>und</strong> der Auswahl der Bilder in der Regel<br />

völlig freie Hand – nicht, weil man meine Fähigkeiten in dieser Hinsicht so schätzte,<br />

sondern viel eher, so schien es mir, aus Desinteresse. 15<br />

Die Art, mit der führende Mitglieder der verschiedenen Fraktionen mir entgegentraten,<br />

war sehr unterschiedlich.<br />

14. Wir sind ein einziges Volk, bestehend aus verschiedenen Ethnien.<br />

15. Andreas Kowalski interpretierte eine von ihm erlebte, in groben Zügen ähnliche Situation bei<br />

den maranhensischen Canela im Rückblick anders: So geschehe dort die kulturspezifische<br />

Aneignung von Neuerungen aus der Welt der Weißen durch die Indianer, wenn sie denn<br />

stattfindet, nicht in der humanitären Zusammenarbeit, sondern erst später, nach Abzug des<br />

Kooperanten. Will der Kooperant etwas an diesem Verfahren ändern, gibt man ihm Recht,<br />

lässt ihm mit der Phrase „Du bist derjenige, der es weiß“ <strong>das</strong> letzte Wort <strong>und</strong> macht daraufhin<br />

weiter wie zuvor. Aber: „‘Du bist derjenige, der es weiß’ bedeutete in einer solchen Situation<br />

eben kein Desinteresse an fremden (Entwicklungs-)Ideen oder eine machtbezogene Unterordnung,<br />

sondern <strong>das</strong> Zugeständnis an die Weißen, <strong>das</strong>s sie ihr eigenes Wissen besitzen <strong>und</strong><br />

damit besser als jeder Canela den Zugang zu Ressourcen finden, die außerhalb der Canela-<br />

Gemeinschaft, ihres Dorfes <strong>und</strong> Territoriums darauf warten, von ihnen angeeignet zu werden.“<br />

(KOWALSKI 2004, S. 217). Eine längerfristige Beobachtung des weiteren Projektverlaufes von<br />

Índios Online könnte womöglich zeigen, inwieweit Kowalskis Beobachtungen auf die Pataxó-<br />

Hãhãhãe übertragbar sind (Dank an Michael Kraus für den Hinweis).


Die Kaziken Gerson <strong>und</strong> Nailton, politisch die größten Feinde im Reservat, aber<br />

einander ähnlich in ihrem autoritären Führungsstil, trafen mich als volle Repräsentanten<br />

ihrer jeweiligen Gruppe. Jeder von ihnen ließ mich eine Ansprache<br />

aufnehmen <strong>und</strong> betrachtete damit den Beitrag der Kiriri-Sapuyá bzw. der<br />

Tupinambá als abgegolten. Beide stellten in ihren detailreichen Abhandlungen<br />

erwartungsgemäß die Geschichte <strong>und</strong> die Entbehrungen des Kampfes um Land<br />

<strong>und</strong> Anerkennung in den Mittelpunkt, nebst den führenden Rollen, die ihre jeweilige<br />

Gruppe in diesen Entwicklungen übernommen hat. Als in der Öffentlichkeitsarbeit<br />

bewanderte <strong>und</strong> international vortragsgeübte Aktivisten fiel es ihnen leicht,<br />

für mich entsprechende Rhetorik zu produzieren.<br />

Nach zehn Jahren haben die Kakaosammler, die Fazendeiros hier aus<br />

der Gegend, angefangen, unser Volk von hier zu vertreiben, besonders<br />

die Kiriri-Sapuyá. Sie haben sie hier rausgeschmissen, getötet... sie haben<br />

unsere Leute genauso gejagt, wie wir Wildtiere gejagt haben. [...]<br />

Mich als Kazike haben sie schon entführt... es waren 16 Pistoleiros, zwei<br />

Fazendeiros, sie haben mich entführt <strong>und</strong> mir gesagt, <strong>das</strong>s ich <strong>das</strong> Dorf<br />

verlassen soll. Sie haben mir Geld angeboten, sie haben mir eine Fazenda<br />

in einer Stadt weit weg von hier angeboten, im Staat Mato Grosso... [...].<br />

Damit ich hier aus der Region raus konnte, um mich um die Probleme<br />

der Gemeinschaft zu kümmern, bin ich sogar schon im Kofferraum<br />

eines Käfers gefahren, um nicht irgendwo auf der Straße zu sterben.<br />

Das war lustig... ich fuhr im Kofferraum mit, <strong>und</strong> als wir noch 30, 40<br />

Kilometer vom Busbahnhof entfernt waren, auf der Flucht vor den<br />

Pistoleiros, kamen da ein paar Polizisten <strong>und</strong> hielten uns an..... <strong>und</strong> ich<br />

im Kofferraum. Es hat mehr als eine halbe St<strong>und</strong>e gedauert, bis die<br />

Polizisten den Wagen haben weiterfahren lassen, <strong>und</strong> ich immer noch<br />

drin... Später bin ich dann aus dem Kofferraum raus <strong>und</strong> umgestiegen,<br />

ich war auf dem Weg nach Brasília.<br />

Ich bin hier schon raus im Kofferraum eines Käfers, ich bin hier schon<br />

raus in Laken eingewickelt, um durch Pau Brasil durchzukommen...<br />

heute nicht, heute ist es entspannter, ruhiger. Aber man hat mir schon<br />

viel nachgestellt. [...] Das ist die Situation, der Kampf, den wir durchmachen<br />

müssen.... von Reisen spät nachts zurückkommen, fast schon<br />

im Morgengrauen, dann mitten durch den Wald rennen aus Angst,<br />

<strong>das</strong>s uns ein Pistoleiro umbringt. [...] Für die Kiriri-Sapuyá war es zuviel,<br />

zuviel, zuviel. Aber wir sind ein starkes Volk, ein Volk, <strong>das</strong>s immer<br />

an der Spitze der Leute hier stand, <strong>das</strong> sich immer einsetzte im Kampf<br />

um unser Land, <strong>und</strong> Gott sei dank, wir sind auf dem Weg zu gewinnen.<br />

(Aus einem Interview mit Gerson Melo am 29/09/04).<br />

Hatte Gerson im Gespräch vorher nicht an Seitenhieben gegen seinen politischen<br />

Feind <strong>und</strong> Hauptkonkurrenten um die Autorität im Reservat, Nailton Muniz,<br />

gespart, wurden diese Spannungen ausgeblendet, sobald ich mit dem Einschalten<br />

des Aufnahmegerätes der Situation einen offiziellen Charakter verlieh. Das<br />

Interview mit Nailton verlief sehr ähnlich. Beiden Kaziken ging es darum, nach<br />

außen hin Geschlossenheit <strong>und</strong> Einigkeit der Pataxó-Hãhãhãe zu demonstrieren.<br />

37


38<br />

Je nach Grad der Involvierung in die Öffentlichkeitsarbeit jedoch zeigten die<br />

Individuen <strong>und</strong> Gruppen, mit denen ich im Reservat zu tun hatte, andere Umgangsweisen<br />

mit der von mir gebotenen Selbstdarstellungsmöglichkeit. Eine weniger<br />

an den Umgang mit der Öffentlichkeit gewöhnte indianische Dame hielt sich<br />

in einem Interview nicht an die Konvention, im Kontakt mit der Außenwelt innere<br />

Spannungen im Reservat auszuklammern:<br />

Paulo: Was ist Ihrer Meinung nach <strong>das</strong> schwerwiegendste Problem<br />

hier im Gebiet?<br />

Dona Maria: Mein Sohn, ich glaube, es ist die Uneinigkeit, die die Leute<br />

hier haben, <strong>das</strong> ist es. Das Volk hat keinen Zusammenhalt. Wenn alle<br />

Indianer zusammen wären, um sagen zu können, wir sind alle zusammen...<br />

Paulo: Und da ist die Uneinigkeit der Indianer – es sind drei Kaziken<br />

im Dorf...<br />

Dona Maria: Ja.<br />

Paulo: Denn früher war es nur einer.<br />

Dona Maria: So ist es, <strong>das</strong> sag ich ja. Es ist die Uneinigkeit. Drei Kaziken!<br />

Drei Kaziken in einem Reservat, wo gibt es denn so was? In einem Reservat<br />

braucht es nur einen Kaziken, um sich um alles zu kümmern. Drei<br />

Kaziken in einem Reservat! Am Anfang gab es keinen Kaziken, es gab<br />

keine Anführer <strong>und</strong> nichts, <strong>und</strong> alle kamen zurecht. So taugt <strong>das</strong> nichts,<br />

so kommen wir nirgendwohin! Früher war <strong>das</strong> Volk einiger als heute.<br />

[...] Und heute drei Kaziken, <strong>und</strong> keiner von denen erreicht irgendetwas.<br />

Gerson kommt nicht hierher, Ci kommt nicht hierher, <strong>und</strong> Nailtons<br />

Gesicht sieht hier auch keiner. Kein Mensch sieht diese Kaziken. Was<br />

soll <strong>das</strong> für eine Einigkeit sein?<br />

(Aus einem Interview, <strong>das</strong> Paulo Titiá <strong>und</strong> ich mit Maria de Jesús do<br />

Rosário am 14/09/04 durchgeführt haben, zu finden auch in THYDÊWÁ<br />

2004, Abteilung Pataxó-Hãhãhãe, Eintrag „A história de Dona Maria“)<br />

In dieser Version ist der Text auf der Website zu finden, auf der Veröffentlichungen<br />

nur geringer bis keiner redaktionellen Kontrolle unterworfen sind, bzw. im<br />

Falle der Pataxó-Hãhãhãe lediglich meiner, da ich derjenige war, dem die<br />

Digitalisierung <strong>und</strong> Übertragung der Interviews ins Internet überlassen wurde,<br />

<strong>und</strong> ich nahm so wenig Veränderungen wie möglich an den Texten vor.<br />

In der redaktionell nachbearbeiteten Fassung des Gesprächs, die Sebastian<br />

Gerlic später gemeinsam mit Maura Titiá erstellte, um im Buch der Pataxó-Hãhãhãe<br />

zu erscheinen, ist die Stelle in eine andere Richtung gewendet worden:<br />

Paulo: Was ist Ihrer Meinung nach <strong>das</strong> schwerwiegendste Problem<br />

hier im Gebiet?<br />

Dona Maria: Mein Sohn, weil es viele Weiße in unserer Mitte gibt,<br />

wird unser indianisches Volk immer uneiniger.<br />

(Aus dem Manuskript für <strong>das</strong> noch unveröffentlichte Buch der Pataxó-<br />

Hãhãhãe)<br />

Die beiden PR-bewanderten Redakteure, die eine eine erfahrene indianische<br />

Aktivistin, der andere ein ehemaliger Werbefachmann, rücken also hier


<strong>das</strong> Feindbild zurecht, damit sich der Beitrag von Dona Maria besser in <strong>das</strong> Bild<br />

von der von außen bedrohten Gemeinschaft indianischer Brüder <strong>und</strong> Schwestern<br />

einfügt, <strong>das</strong> die Eliten der Pataxó-Hãhãhãe in ihren Außenbeziehungen<br />

von sich zu zeichnen bemüht sind.<br />

Diese Unterschiedlichkeit der Ansätze zur Selbstdarstellung zwischen politisierten<br />

Eliten <strong>und</strong> den „einfachen Leuten“ möchte ich anhand meiner Begegnungen<br />

mit den Camacã <strong>und</strong> den Pataxó, zwei weiteren Subgruppen im Reservat,<br />

weiter zu veranschaulichen versuchen.<br />

Die Camacã sind Randfiguren in der politischen Szene des Dorfes; wenn Kazike<br />

Nailton zum Beispiel zur Verdeutlichung der ethnischen Vielfalt im Reservat die<br />

verschiedenen Gruppen aufzählt, neigt er dazu, die Camacã zu vergessen oder zu<br />

unterschlagen. Der 58-jährige Romildo, einer ihrer Anführer, ergriff die Initiative,<br />

sich mit mir in Verbindung zu setzen, um genau diesem Missstand entgegenzuwirken<br />

<strong>und</strong> an den etablierten Autoritäten vorbei die Stimme der Camacã in der<br />

Außenwelt bzw. mir hörbar zu machen. Er versammelte die Generation seiner<br />

Eltern, die mir von ihren Entbehrungen in der Vergangenheit <strong>und</strong> ihren Hoffnungen<br />

für die Zukunft erzählten – der Kampf gegen die Großgr<strong>und</strong>besitzer, die Angst<br />

davor, jederzeit wieder vom neu besetzten Land mit Gewalt vertrieben werden zu<br />

können, wie es bereits mehrmals geschehen war, <strong>und</strong> der Wunsch, die weit reichenden<br />

Kenntnisse über Heilpflanzen im Projekt eines groß angelegten Kräutergartens<br />

zur Erwirtschaftung eines Einkommens einzusetzen.<br />

Marinho: Mit unseren ältesten Vorfahren ist es Folgendes: Ihre Kultur,<br />

soweit ich <strong>das</strong> verstanden habe, hat mit Ackerbau zu tun. Wir<br />

pflanzten den Maniok, den Mais, die Bohnen <strong>und</strong> andere wichtige Sachen.<br />

Den Inhame, die Kartoffel <strong>und</strong> noch dies <strong>und</strong> <strong>das</strong>. Und was sie<br />

als Waffe benutzten war der Bogen, es gab Pfeil <strong>und</strong> Bogen. Diesen Teil<br />

machen wir heute noch, wir benutzen ihn nicht, aber wir stellen ihn<br />

her. Und außerdem war noch Folgendes: Wir hatten ein paar Wurzeln,<br />

die wir benutzten, um Medizin zu machen. Sie dort versteht ein<br />

bisschen von dieser Angelegenheit, von der Medizin.<br />

Elisinha: Früher gab es hier keinen Arzt, es gab überhaupt keine<br />

ges<strong>und</strong>heitliche Versorgung. Wenn einer krank wurde, behandelten wir<br />

uns mit Kräutern aus unserem Wald. Und heute kämpfen wir ständig,<br />

arbeiten wir ständig, ich hatte schon mit der Arbeit angefangen, habe sie<br />

wieder verloren... ich habe keine Mittel gef<strong>und</strong>en, um die Arbeit fortzusetzen,<br />

<strong>und</strong> die Leute kommen immer zu mir, um mich zu bitten, <strong>das</strong>s ich<br />

weitermache, aber ich habe nicht die Mittel zum Weitermachen. Und wir<br />

haben immer viele Leute hier mit Medizinen versorgt, diese Leute da sind<br />

der Beweis, vielen hier hat die Medizin, die ich mache, schon geholfen.<br />

Heute sind wir schwach. Heute wollen wir arbeiten, aber wir haben nicht<br />

die Mittel, um arbeiten zu können. Wir haben es schon zweimal versucht,<br />

oder? Zu sechs Frauen haben wir gearbeitet, ohne jede Unterstützung,<br />

zur Unterstützung hatten wir nur unseren Mut. Aber wir haben keine<br />

Hilfe gef<strong>und</strong>en, dann haben wir aufgehört. Jetzt wollen wir wieder weitermachen,<br />

aber ich weiß nicht, ob wir weitermachen können.<br />

39


40<br />

Wir machen Sirup, wir machen Flaschenmedizin, wir machen Bäder,<br />

gegen Bronchitis, gegen Grippe, gegen Fieber, gegen Schmerzen, Massagen,<br />

Salben, Tabletten gegen Würmer, <strong>das</strong> alles machen wir immer.<br />

Medizin gegen Krätze.... machen wir alles. Wir wollen diesen Garten<br />

anlegen, aber wir haben keine Mittel. Es gibt nicht einmal Mittel, um<br />

den Zaun zu kaufen oder die Planen...<br />

(Aus einem Interview, <strong>das</strong> Romildo <strong>und</strong> ich mit den von ihm für diesen<br />

Anlass versammelten Camacã am 26/09/04 durchführten. Online<br />

in THYDÊWÁ 2004, Abteilung Pataxó-Hãhãhãe, Eintrag “Nós<br />

queremos trabalhar”)<br />

Der Kulturbegriff, der in diesem <strong>und</strong> anderen Gesprächen 16 mit den Camacã<br />

hervortritt, ist nicht der instrumentalisierte, objektivierte, der nach Sahlins (1997,<br />

S. 123-46) <strong>und</strong> Appadurai (1996, S. 15) bezeichnend für kulturelle Bewegungen in<br />

einer globalisierten Welt ist.<br />

Den Kulturalismus als Strategie zur Mobilisierung kulturellen Materials für politische<br />

Zwecke haben die Camacã noch nicht verinnerlicht, von der Mystifizierung<br />

<strong>und</strong> Romantisierung indigener Kultur ist in ihren Beiträgen keine Spur zu finden.<br />

Sie stellen vielmehr ihren Fleiß <strong>und</strong> ihre arbeitsame Natur in den Mittelpunkt <strong>und</strong><br />

damit dem Klischee des faulen Indianers entgegen, um um Unterstützung für ihre<br />

Projekte zu werben. In der Beantwortung der von außen gestellten Frage, was es<br />

denn bedeute, Indianer zu sein, haben sie, anders als die politischen Eliten des<br />

Reservates, wenig Routine; für sich selbst stellen sie die Frage in dieser Form offenbar<br />

nicht. So sind auch die Fotos, die sie mich von ihnen zu machen beauftragen,<br />

vor allem solche, die sie bei der Arbeit auf dem Feld zeigen, frei von klassischen<br />

Insignien von Indianität, wie etwa Federschmuck <strong>und</strong> Kunsthandwerk.<br />

Die Pataxó traten mir in vergleichbarer Weise als interessierte Gruppe entgegen,<br />

die nicht nur aus Fre<strong>und</strong>lichkeit mit mir kooperierte, sondern sich tatsächlich etwas<br />

versprach von meiner Anwesenheit. Der Ablauf war sehr ähnlich wie im Fall der<br />

Camacã: An einem festen Termin versammelte sich die Gruppe, um mir nach vorheriger<br />

interner Absprache zu erzählen <strong>und</strong> zu zeigen, was sie von sich veröffentlicht<br />

sehen wollte. Dies taten sie allerdings auf einer eigens für diesen Zweck gerodeten<br />

Lichtung im Wald, alle erschienen bemalt <strong>und</strong> geschmückt, zur Eröffnung des Treffens<br />

gab es einen Toré, <strong>und</strong> für die Verköstigung der Gäste wurde ein traditioneller Fisch in<br />

Bananenblättern über dem Feuer gegrillt – alle Zeichen sagten: Wir sind Indianer.<br />

Viele der in diesem Rahmen entstandenen Fotos eignen sich ohne weiteres,<br />

den Betrachter glauben zu machen, er habe es hier mit unverdorbenen ‚edlen<br />

Wilden‘ zu tun, entsprungen der romantischsten Vorstellungskraft.<br />

Für die Organisation des Treffens war Marilene verantwortlich, Anführerin der<br />

Pataxó, eine der wenigen weiblichen Kaziken des Landes <strong>und</strong> wie Nailton <strong>und</strong><br />

Gerson eine Person des öffentlichen Lebens außerhalb des Reservates <strong>und</strong> damit<br />

qualifiziert, über die Erwartungen der Außenwelt an richtige Indianer Bescheid zu<br />

wissen. Allerdings wäre es eine zu kurze Sicht der Dinge, den von den Pataxó für<br />

dieses Treffen betriebenen Aufwand allein damit zu begründen, <strong>das</strong>s sie vor der<br />

16. Siehe auch THYDÊWÁ 2004, Abteilung Pataxó-Hãhãhãe, Beitrag „Ao léu da sorte“.


asilianischen Nationalgesellschaft ein ordentliches Bild abgeben wollten – mit<br />

der Abschlussrede Marilenes, nachdem alle Interviews <strong>und</strong> Fotos gemacht <strong>und</strong><br />

ein weiterer Toré getanzt worden war, wurde klar, <strong>das</strong>s die Kazikin die Gelegenheit<br />

meiner Anwesenheit noch für einen weiteren Zweck nutzte: Sie verband den<br />

Dank an mich mit einer Aufforderung an ihre Leute, diesem schönen Tag weitere<br />

ähnliche folgen zu lassen, vielleicht jeden Sonntag – es ging darum, ein<br />

gemeinschaftsstiftendes Ritual wieder zu beleben oder neu zu erfinden. Marilene<br />

wollte nicht nur mir <strong>und</strong> durch mich dem Rest der Welt zeigen, wie richtige Indianer<br />

auszusehen haben, sondern auch den Pataxó, denen es in ihren Augen offenbar<br />

an gemeinschaftlicher traditioneller kultureller Praxis fehlte.<br />

Schlüsse<br />

Ich halte <strong>das</strong> hier präsentierte Material für ausreichend, den Leser zumindest<br />

skeptisch zu machen gegenüber zu einfachen Ansätzen zur Interpretation indigener<br />

Medienprodukte; ich möchte es als ein Argument für die Notwendigkeit multilokaler<br />

Ethnographie in diesem Feld verstanden wissen. Die Heterogenität <strong>und</strong><br />

Multivokalität des Prozesses, der mit der immer noch ausstehenden Veröffentlichung<br />

der Broschüren der Xukuru-Kariri <strong>und</strong> Pataxó-Hãhãhãe seinen Abschluss<br />

finden wird, sollte klar geworden sein.<br />

Am Ende stehen zwei Produkte, die nur scheinbar einstimmige, scheinbar „rein“<br />

indianische Inhalte dokumentieren <strong>und</strong> präsentieren: Zwei kleine, homogen erscheinende<br />

Oberflächenausschnitte über durch <strong>und</strong> durch heterogenen <strong>und</strong><br />

stets dynamisch in Bewegung befindlichen Kulturen. Damit sollte auch deutlich<br />

geworden sein, wie viel Vorsicht geboten ist bei der Verwendung indigener Medienprodukte<br />

als ethnographische Quellen: Ohne Einblick in den komplexen<br />

Produktionsprozess einer solchen Medialisierung lassen sich nur wenige Aussagen<br />

machen über die Beziehungen zwischen dem im Medium transportierten Bild<br />

<strong>und</strong> dem in der Realität stattfindenden indigenen Alltag. Es reicht nicht, sich Bilder<br />

<strong>und</strong> Texte im Internet anzusehen oder mit den Indianern im Chat zu plaudern;<br />

eine Beobachtung vor Ort lässt andere <strong>und</strong> aufschlussreichere Blicke auf die in<br />

den Medien stattfindenden Interaktionen zu.<br />

Dass eine wachsende mediale Präsenz indigener Gruppen auch im Internet zu<br />

verzeichnen ist, zeigt zum Beispiel eine schon 1998 erschienene Ausgabe von<br />

Cultural Survival Quarterly mit dem Titel The Internet and Indigenous Groups<br />

(CULTURAL SURVIVAL INC. 2003), die in einigen kurzen Fallbeispielen erfolgreiche<br />

indigene Aneignungen von Internettechnologien vorstellt. Tatsächlich ging<br />

die erste indianische Website, die der Oneida Indian Nation in New York, schon<br />

1994 ans Netz – also noch bevor weniger weltgewandte Organe wie zum Beispiel<br />

<strong>das</strong> Weiße Haus ihren Auftritt im Internet zuwege brachten (vgl. PRINS 2002, S. 71;<br />

ONEIDA INDIAN NATION 2000).<br />

Trotz dieses Trends gibt es bis heute nur sehr wenige ethnologische Arbeiten,<br />

die sich mit indigenen Gruppenidentitäten oder Fragen der Ethnizität im Internet<br />

beschäftigen. Von diesen wiederum betrachten viele nur die virtuellen, <strong>das</strong> heißt,<br />

im Internet stattfindenden Bestandteile des Prozesses.<br />

Allerdings ist man sich inzwischen einig, <strong>das</strong>s der Cyberspace nicht die von<br />

41


42<br />

der herkömmlichen Realität losgelöste, völlig eigene Welt ist, über die man anfangs<br />

fantasiert hatte: Der Gebrauch des Mediums Internet findet nicht unabhängig<br />

von soziokulturellen <strong>und</strong> individuellen Bedingtheiten der Lebenswelten<br />

der Benutzer statt; es existieren mindestens so viele Kontinuitäten wie Brüche<br />

zwischen online <strong>und</strong> offline geschehendem Alltag (vgl. u. a. ZURAWSKI 2000,<br />

MILLER/SLATER 2000, WILSON/PETERSON 2002). Dementsprechend sind in<br />

medienanthropologischen Zusammenhängen immer wieder Forderungen nach<br />

einem dieser Situation angemessenen multilokalen ethnographischen Ansatz für<br />

internetbezogene Forschungen laut geworden; zur Gänze durchgesetzt allerdings<br />

haben meines Wissens diese Erwägungen bisher nur Miller/Slater (2000) in ihrer<br />

hervorragenden Studie über Verwendungen des Internet auf Trinidad. In meiner<br />

Bearbeitung von Índios Online habe ich versucht, einer ähnlichen Herangehensweise<br />

zu folgen, wenn auch wegen der zeitlichen, finanziellen <strong>und</strong> räumlichen<br />

Beschränkungen meiner Forschung in wesentlich kleinerem Maßstab.<br />

Die Demonstration der Sinnhaftigkeit der multilokalen Vorgehensweise mag<br />

als eines der Hauptergebnisse dieses Textes stehen bleiben. Auf dem Weg dorthin,<br />

so denke ich, sollte dem Leser aber auch die eine oder andere weitere interessante<br />

Beobachtung möglich gewesen sein:<br />

Eine indigene Aneignung der Medientechnologie für repräsentative <strong>und</strong> politische<br />

Zwecke hat in keinem der beiden Reservate stattgef<strong>und</strong>en, die ich besucht<br />

habe, noch meines Wissens in einer der anderen teilnehmenden Gruppen – ganz<br />

anders, zum Beispiel, als im berühmten Fall der Kayapó, bei denen Videotechnologie<br />

schnell <strong>und</strong> auf kreative Weise in die indigene Kultur integriert wurde<br />

(vgl. TURNER 2002).<br />

Zwar nahmen einige Indianer der Xukuru-Kariri <strong>und</strong> Pataxó-Hãhãhãe<br />

selbstbewusst Einfluss auf die entstehenden Bilder für den dokumentarischen Teil<br />

der Website, der tatsächliche Vorgang der Medialisierung (Fotografie, Aufnahme,<br />

Verschriftlichung, Übertragung ins Internet) wurde allerdings meistens mir überlassen.<br />

Vor allem bei den Xukuru-Kariri war zu beobachten, <strong>das</strong>s dorfintern in der<br />

Aushandlung von Indianität andere Kriterien zur Anwendung gebracht wurden<br />

als in der Selbstdarstellung für Website <strong>und</strong> Buch.<br />

Der Höhepunkt indianischer Eigenverantwortlichkeit in der Zusammenarbeit<br />

mit der Thydêwá wurde nicht, wie von der NRO erhofft, durch die Einführung der<br />

neuen Medientechnologie erreicht. Meine Anwesenheit in den Reservaten war<br />

im ursprünglichen Projektplan nicht vorgesehen gewesen; ohne sie allerdings<br />

wäre mit großer Wahrscheinlichkeit kein Material für Website <strong>und</strong> Bücher gesammelt,<br />

die Technologie also nicht für die politische <strong>und</strong> kulturelle Aktivität genutzt<br />

worden, die Thydêwá sich ausgemalt hatte.<br />

Der Bereich der Many-to-Many-Kommunikation auf der Website, <strong>das</strong><br />

Chatsystem also, scheint indigenen Bedürfnissen allerdings eher entgegenzukommen,<br />

<strong>und</strong> es trägt mit Sicherheit zur Verstärkung interethnischer Kommunikations-<br />

<strong>und</strong> Organisationsstrukturen bei. Im Chatroom ist zu beobachten, wie traditionelle<br />

Formen der Soziabilität, <strong>das</strong> heißt, Formen der Soziabilität, die schon<br />

vor der Ankunft des Internet Gang <strong>und</strong> Gäbe waren, fortgesetzt <strong>und</strong> intensiviert<br />

werden. Um diese Interaktionen zu begünstigen, werden technische Beschränkungen<br />

des Chatsystems kreativ umgangen. Begegnungen mit nichtindigenen


Besuchern im Chat führen zu mehr Irritationen, als es in weniger interaktiven<br />

Medialisierungen von Indigenität der Fall ist; anders als in der „professionellen“<br />

indigenen Öffentlichkeitsarbeit werden Klischees öfter dekonstruiert als zur<br />

Prestigevergrößerung eingesetzt, sei es willentlich oder nicht, <strong>und</strong> die romantischen<br />

Erwartungen des nichtindigenen Chatbesuchers werden enttäuscht.<br />

In ihrer öffentlichen Wahrnehmung bleiben Índios Online <strong>und</strong> Índios na Visão<br />

dos Índios vorbildhafte <strong>und</strong> einzigartige Projekte – <strong>und</strong> nicht zuletzt Aufsehen erregende.<br />

Mit verschiedenen nationalen Auszeichnungen, einem Fördervertrag des<br />

Kulturministeriums <strong>und</strong> der lobenden Aufmerksamkeit der UNESCO bedacht, darf<br />

man die Arbeit von Thydêwá durchaus als erfolgreich bezeichnen. Betrachtet<br />

man, wie es <strong>das</strong> Kulturministerium <strong>und</strong> auch die UNESCO bisher getan haben, die<br />

Endprodukte – die Bücher <strong>und</strong> die Internetpräsenz der Projekte – bleibt der von<br />

Gerlic so genannte „romantische Diskurs vom indigenen Protagonisten“ ein größtenteils<br />

glaubwürdiger.<br />

In dieser Hinsicht hat meine Arbeit zwangsläufig einen entlarvenden Charakter,<br />

der mir etwas unbehaglich ist. Zwar funktionieren die Projekte weniger als<br />

indianische Selbstläufer als von Thydêwá gewünscht, <strong>und</strong> sie funktionieren auch<br />

anders, als Thydêwá potenzielle Sponsoren glauben lässt (was im weiten Feld der<br />

nichtkommerziellen Entwicklungsorganisationen gewiss kein Einzelfall ist). Ihre<br />

Originalität möchte ich ihnen deshalb nicht in Abrede stellen, noch ihr Potential<br />

für eine zukünftige Stärkung indianischer Positionen gegenüber Problemen interner<br />

Organisation <strong>und</strong> Teilnahme am Weltgeschehen – Probleme, deren Lösung<br />

oder zumindest Verkleinerung tatsächlich durch Vermittlung der Kenntnisse<br />

<strong>und</strong> Zugangsvoraussetzungen für die Verwendung eines weit reichenden<br />

Kommunikationsnetzwerkes erreicht werden könnte.<br />

Ich halte es allerdings für nötig, die Planung der Projekte noch stärker unter<br />

indianischer Beteiligung durchzuführen <strong>und</strong> damit an indianischen Bedürfnissen<br />

auszurichten – der von Thydêwá vorgegebene, recht unflexible Rahmen von Índios<br />

Online trifft in sieben verschiedenen Reservaten auf sieben verschiedene Situationen<br />

<strong>und</strong> kann nicht in jeder Lage gleich gut funktionieren. Wie diese bessere<br />

Anpassung an oft schwierig einzukreisende indianische Bedürfnisse aussehen<br />

könnte, wird die Zukunft oder ein anderer Essay zeigen müssen. Jedenfalls spricht<br />

nicht zuletzt der große Respekt, den Thydêwá sich in der kurzen Zeit ihres Bestehens<br />

unter den mit ihr zusammenarbeitenden indianischen Gruppen erworben<br />

hat, dafür, <strong>das</strong>s ihre Projekte so fehlgeplant, nutzlos <strong>und</strong> an indianischen Bedürfnissen<br />

vorbei nicht gewesen sein können.<br />

Literatur<br />

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COMUNIDADE KARIRI-XOCÓ (1999): Índios na Visão dos Índios: Kariri-Xocó. Salvador.<br />

COMUNIDADE KIRIRI (2003): Índios na Visão dos Índios: Kiriri. Salvador.<br />

COMUNIDADE PANKARARU (2001): Índios na Visão dos Índios: Pankararu. Salvador.<br />

COMUNIDADE TRUKÁ (2003): Índios na Visão dos Índios: Truká. Salvador.<br />

COMUNIDADE TUMBALALÁ (2003): Índios na Visão dos Índios: Tumbalalá. Salvador.<br />

COMUNIDADE TUPINAMBÁ (2003): Índios na Visão dos Índios: Tupinambá. Salvador.<br />

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Verständnis der Canela von Indianerhilfe. Ein ethnographisches Beispiel aus dem indianischen<br />

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MARGGRAFF, Katrin (2001): Das Kulturhaus der Mayangna (Nicaragua) zwischen kultureller Revitalisierung<br />

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in Marburg).<br />

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Nico Czaja, M. A., Jahrgang 1978, hat in Marburg <strong>und</strong> Recife Ethnologie studiert. Für<br />

seine Magisterarbeit forschte <strong>und</strong> arbeitete er 2004 in dem Entwicklungsprojekt „Indios Online“<br />

der bahianischen Nichtregierungsorganisation Thydêwá. 2006 war er für <strong>das</strong> GTZ-Tropenwaldschutzprojekt<br />

PPTAL in Brasília tätig <strong>und</strong> lebt heute in Hamburg.


A Junesche been ermi uramme:<br />

a versão fílmica da Verdadeira História<br />

dos selvagens, nus e ferozes devoradores<br />

de homens como ‚retupização‘<br />

do encontro europeu-brasileiro<br />

Wolf Lustig<br />

Mainz<br />

Resümee: 500 Jahre nach der Europäischen Entdeckung Brasiliens<br />

wurde die 1557 erstmals veröffentlichte Chronik, in der<br />

Hans Staden über seine Erlebnisse bei einem Tupinambá-<br />

Stamm an der brasilianischen Küste berichtet, in Brasilien<br />

neu verfilmt. Der Beitrag untersucht die Übertragung von<br />

Inhalts- <strong>und</strong> Ausdrucksformen des Buches ins filmische<br />

Medium. Dabei wird insbesondere hervorgehoben, <strong>das</strong>s<br />

die Umsetzung als ‚brasilianisierende‘ Wieder-Aneignung<br />

des historisch-ethnographischen Stoffes erfolgt. Sie reiht<br />

sich in eine im Kontext des Modernismo aufkommende Tradition<br />

der kulturellen Anthropophagie ein, für welche eine<br />

stilisierte Konzeption der indigenen Tupi-Kultur <strong>und</strong> -Sprache<br />

eine beachtliche symbolische Bedeutung gewinnt.<br />

Abstract: 500 years after the European conquest of Brazil Luiz Alberto<br />

Pereira presents a new cinematographic adaptation of<br />

Hans Staden’s chronicle, first published in Marburg in 1557,<br />

in which the German soldier tells his adventures among<br />

the cannibal Tupinambá-Indians at the Brazilian coast. The<br />

article investigates how certain structures of content and<br />

expression are transformed into the new medium, emphasizing<br />

the ‚re-brazilization‘ of the historical and ethnographic<br />

information transported by the original. This attitude<br />

can be situated in the context of cultural anthropophagy,<br />

which has its roots in Brazilian Modernismo, traditionally<br />

giving a considerable symbolic importance to an idealized<br />

image of ancient Tupi language and culture.<br />

Ao findar o ano de 1999, justo a tempo para ser mais uma comemoração do<br />

quinto centenário do descobrimento do Brasil, chegou às telas a película Hans<br />

Staden, baseada na crônica (publicada por primeira vez em Marburgo em 1557)<br />

daquele mercenário alemão em serviço espanhol que entre 1547 e 1555 realizou<br />

duas viagens ao Brasil, em cuja seg<strong>und</strong>a acabou passando mais de nove meses<br />

45


46<br />

como prisioneiro dos „selvagens, nus e ferozes devoradores de homens“, integrando-se<br />

desta forma a uma tribo tupi-guarani assentada na zona de Ubatuba, ao<br />

sul do atual Rio de Janeiro.<br />

Com este projeto e a sua realização, o cineasta Luiz Alberto Pereira criou – aliás<br />

com apoio financeiro alemão e português, assim como de várias entidades culturais<br />

do Brasil – uma extraordinária adaptação fílmica de um documento<br />

historiográfico da época dos descobrimentos. Essa é pelo menos a primeira impressão,<br />

também em vista <strong>das</strong> críticas geralmente positivas que surgiram ao redor<br />

do lançamento da obra.<br />

Há duas particularidades que chamam a atenção tanto do filólogo como do<br />

cinéfilo comum, e elas formarão o ponto de partida desta análise: a primeira é o<br />

alto grau de concordância com o texto de Staden – tanto em relação da histoire<br />

como do discours – e a seg<strong>und</strong>a é a óbvia pretensão de autenticidade que apresentam<br />

os diálogos, embora já não se trate de fidelidade ao texto original, mas ao<br />

que foi a suposta realidade histórica. É que os índios se comunicam em tupi antigo,<br />

e o próprio Staden fala – seg<strong>und</strong>o qual for o seu interlocutor – igualmente em<br />

tupi ou em português, ou em alemão moderno quando desempenha o papel de<br />

narrador autobiográfico. Uma terceira questão que merece discussão e resposta<br />

é: por que precisamente a crônica antropófaga deste conquistador alemão, chegou<br />

a ser matéria para um filme prof<strong>und</strong>amente brasileiro, ao qual não faltam<br />

traços de epopéia nacional?<br />

Contudo, nem sequer se trata – como faz crer a comercialização da obra – da<br />

primeira, mas sim da seg<strong>und</strong>a adaptação da História de Staden. Já em 1971, Nelson<br />

Pereira dos Santos produziu uma primeira versão com o título Como era<br />

gostoso o meu francês (How tasty was my little frenchman). É verdade que responde<br />

a um contexto bem diferente, mas é difícil interpretar a seg<strong>und</strong>a versão sem recorrer<br />

a esta primeira.<br />

1. A Verdadeira História de Staden e sua recepção<br />

1.1. Contexto historiográfico: as crônicas da área tupi-guaranítica<br />

A crônica de Hans Staden insere-se num grupo de relatos que se propõem um<br />

registro <strong>das</strong> realidades geográficas, naturais e etnográficas descobertas nas costas<br />

do Brasil e que foram publicados a prazo relativamente curto, embora não por<br />

portugueses nem espanhóis, mas por alemães e franceses:<br />

1557 Hans Staden Warhaftige Historia der wilden, nacketen, grimmigen<br />

Menschfresser-Leuthen<br />

1558 André Thévet Les singularitez de la France Antarctique, autrement nommée<br />

Amérique: et de plusieurs terres et isles decouvertes de nostre temps<br />

1567 Ulrich Schmidel Wahrhafftige Historien einer w<strong>und</strong>erbaren Schiffart<br />

1578 Jean de Léry Histoire d’un voyage faict en la terre du Brésil, autrement<br />

dite Amérique


Estas quatro obras constituem também os primeiros e mais importantes documentos<br />

sobre a etnografia dos povos tupi-guaraníticos, cuja língua e cultura marcam<br />

até a atualidade o Brasil e os países do Rio da Prata. Para caracterizar resumidamente<br />

o livro de Staden só recorreremos aqui a uma apresentação de Franz<br />

Obermeier, um dos melhores conhecedores da obra:<br />

O relato de Hans Staden é o primeiro livro publicado na Europa que<br />

se dedica exclusivamente ao Brasil. Hans Staden, (que nasceu em 1525<br />

e morreu depois de 1558), natural de uma pequena cidade situada no<br />

estado alemão de Hessen, Homberg an der Efze, fez duas viagens ao<br />

Brasil entre 1548 e 1555. Durante a seg<strong>und</strong>a, em 1554, foi preso<br />

pelos índios Tupinambás perto de São Vicente e, seg<strong>und</strong>o seu próprio<br />

relato, viveu nove meses e meio com aquela tribo antropófaga, que se<br />

tinha aliado com os franceses e estava em pé de guerra com os portugueses.<br />

Graças a dotes xamânicos que lhe atribuem os índios, Staden<br />

consegue escapar aos rituais da execução e do banquete, e pôde voltar<br />

num navio francês, via França, para a Alemanha, na condição de<br />

escravo resgatado. Em 1557 publica seu livro, incitado pelo catedrático<br />

marburguês Dryander, e com um prólogo do mesmo. Em comparação<br />

com as primeiras crônicas sobre a América, não só contém informações<br />

muito mais amplas sobre a cultura e especialmente sobre a<br />

antropofagia dos Tupinambás, mas também o primeiro corpus iconográfico<br />

com drásticas representações de como eram mortos e comidos<br />

os prisioneiros. Embora tenham surgido dúvi<strong>das</strong> acerca da autenticidade<br />

destas informações – provavelmente inf<strong>und</strong>a<strong>das</strong>, tendo em conta<br />

as numerosas fontes sobre a antropofagia daquelas tribos – o livro de<br />

Staden é uma <strong>das</strong> obras mais importantes sobre o Brasil da época do<br />

Descobrimento. Devido ao seu estilo pessoal e às reminiscências a<br />

uma literatura de edificação de cunho protestante, que enfatiza o testemunho<br />

da fé, alcançou uma popularidade considerável, a qual é confirmada<br />

por numerosas reedições.<br />

(OBERMEIER 2004, trad. minha 1 )<br />

O tema da antropofagia, já anunciado no próprio título da História, é explorado<br />

por todos os quatro autores mencionados, ainda que com prof<strong>und</strong>idade e<br />

valorização diferentes. Inesperadamente, o próprio Staden, ameaçado de ser<br />

comido por seus ‚anfitriões‘ durante meses, aborda o tema de uma forma relativamente<br />

sóbria e distanciada. De maneira nenhuma a antropofagia é objeto de um<br />

tratamento sensacionalista, tal como o poderiam sugerir o título e certas adaptações<br />

e elaborações posteriores da matéria.<br />

Os autores <strong>das</strong> referi<strong>das</strong> ‚crônicas brasileiras‘ (certamente com exceção de<br />

Ulrich Schmidel, que relata o encontro com os guaranis do rio Paraguai) são<br />

protestantes, e o intertexto edificante é mais palpável em Staden. Assim, o teor de<br />

acusação e condenação contra as práticas diabólicas, tão típico para as obras de<br />

1. No que segue, to<strong>das</strong> as traduções de fontes não publica<strong>das</strong> em português também serão da<br />

minha autoria.<br />

47


48<br />

muitos cronistas espanhóis e católicos, cede aqui a uma reflexão quase intimista<br />

sobre o destino individual, a esperança da salvação e, finalmente, a gratidão por<br />

Deus tê-lo salvado efetivamente <strong>das</strong> caldeiras tupinambás. 2<br />

1.2. A crônica autobiográfica de Staden como romance picaresco<br />

Outro traço específico da Verdadeira História consiste no caráter marcadamente<br />

autobiográfico e narrativo da primeira parte. A seg<strong>und</strong>a parte fornece um panorama<br />

quase enciclopédico de „todos os costumes e usanças dos índios<br />

Tupinambás“, incluindo a geografia, a flora e a fauna, ao passo que os 53 capítulos<br />

do „primeiro livrinho“ correspondem à narração linear <strong>das</strong> duas viagens que<br />

Staden fez para o Brasil. A grande maioria desta parte é consagrada à seg<strong>und</strong>a<br />

viagem (a partir do cap. 6) e passou a ser – com algumas omissões e modificações<br />

(que por sua parte integram amiúde informações tira<strong>das</strong> do seg<strong>und</strong>o livro) – o<br />

argumento do filme.<br />

A crítica moderna, várias vezes tem insistido nas estruturas ‚novelescas‘ que<br />

apresentam algumas crônicas da conquista de América, por exemplo, na obra<br />

de Álvar Núñez Cabeza de Vaca, cuja história, aliás, também foi adaptada ao<br />

cinema. 3 O mesmo fenômeno observa-se no texto de Staden. Em vista da estrutura<br />

episódica, da condição do herói como ‚servidor de muitos amos‘ e dos<br />

títulos que resumem o conteúdo de cada capítulo, não seria exagerado falar até<br />

de uma semelhança com o gênero picaresco, que estava germinando naquela<br />

época. Também cabe assinalar a ‚visão desde baixo‘ que adota Staden durante<br />

seu cativeiro e que é contrária à ‚perspectiva de conquistador‘, própria à maioria<br />

dos textos deste gênero, incluindo a outra Verdadeira História do seu compatriota<br />

Schmidel.<br />

1.3. Estrutura dialógica e cultura lingüística tupi<br />

Outra característica que talvez só chame a atenção a quem quiser elucidar a<br />

base textual dos diálogos fílmicos, é a alta percentagem que na História de Staden<br />

corresponde ao discurso falado. Este, porém, manifesta-se sobretudo em discurso<br />

indireto, pelo qual pode passar despercebido à primeira leitura. 4 Trata-se<br />

de um elemento estrutural que pode motivar toda uma gama de reflexões e<br />

comentários. Por agora nos limitamos a lembrar que a cultura tupi-guaraní é<br />

considerada, até a atualidade, como uma ‚cultura da palavra‘, na qual as relações<br />

comunitárias se definem pela interação da fala oral e muitas vezes em<br />

forma do discurso ritualizado (cp. MELIÀ 1992, p. 297s). Este fenômeno foi cap-<br />

2. O Livro I finaliza com um „amém“ e uma oração de graças por ter-se salvado do cativeiro dos<br />

canibais. – To<strong>das</strong> nossas citações referem-se à primeira edição de 1557, disponível online<br />

tanto em fac-símile como em transcrição. As cifras entre parênteses remetem à numeração<br />

dos capítulos, sempre que não houver referência explícita, à tradução para o alemão moderno<br />

de Ulrich Schlemmer (1984).<br />

3. México/Estados Unidos/Inglaterra 1990, diretor: Nicolás Echevarría.<br />

4. Veja mais abaixo, 3.2. Para completar este artigo pode-se consultar uma apresentação com<br />

materiais adicionais em www.romanistik.uni-mainz.de/guarani/staden/staden.ppt. A folha<br />

7 mostra o fac-símile <strong>das</strong> páginas 192/193 da edição de 1984, no qual o discurso direto<br />

aparece marcado em cor laranja e o discurso direto em verde.


tado por Staden consciente ou inconscientemente. É uma marca importante<br />

do seu estilo narrativo e os realizadores do filme transformaram-no num dos<br />

ângulos de sua técnica, de maneira que seria justificado falar de uma ‚adaptação<br />

lingüística‘ do texto historiográfico.<br />

A sensibilidade do autor e seu talento para tudo que se relaciona com o idioma,<br />

manifestam-se igualmente na rapidez com a qual chega a dominar o dialeto<br />

tupinambá, ou seja, a língua geral de base tupi-guarani, o que lhe permite comunicar-se<br />

sem grandes dificuldades com seus novos donos. Até se serve desta língua<br />

para tratar com os comerciantes franceses. Além disso, comenta explicitamente o<br />

uso da língua e o câmbio de código (code switching). 5<br />

Os estudiosos <strong>das</strong> línguas tupi-guaraníticas concordam que a obra de Staden,<br />

além disso, possui um valor inigualável como primeira contribuição à filologia<br />

deste ramo, já que o texto contém cerca de uma dúzia de enunciações completas<br />

num dialeto tupi-guarani 6 que, seg<strong>und</strong>o parece, o autor sabia transcrever<br />

com relativa correção e fidelidade e que coloca estrategicamente para marcar<br />

momentos cruciais dentro da narração. Tornou-se famosa aquela frase que ele<br />

mesmo pronuncia, cumprindo forçadamente o ritual antropofágico, logo ao<br />

começo de seu cativeiro: „a Junesche been ermi uramme“ (I, cap. 21) seg<strong>und</strong>o<br />

sua própria transcrição, traduzido corretamente por ele mesmo como „eu, vossa<br />

comida, vou chegando“. Em guarani atual seria „ajúne che pene<br />

rembi’urã(ma)“. No tupi clássico, que constitui o padrão para o roteiro da película,<br />

sai com pequena alteração, mas como hoje em dia é praticamente impossível<br />

averiguar qual foi o dialeto utilizado pelos índios de Ubatuba por volta de<br />

1550, nada contradiz a tese que Staden transcrevesse com grande fidelidade os<br />

trechos de diálogo em língua indígena (cf. WICKER 2004).<br />

1.4. Primeiras imagens do Brasil<br />

Se a Verdadeira História provocou um grande interesse entre o público contemporâneo,<br />

isso se deve também às numerosas xilogravuras com as quais o<br />

editor marburguês fez ilustrar já a primeira edição, muito provavelmente sob a<br />

direção do próprio Staden – ou pelo menos seg<strong>und</strong>o indicações adicionais que<br />

recebeu dele –, pois contêm certas informações que não se podem deduzir do<br />

texto escrito. Sem dúvida, as imagens que representavam o sacrifício dos presos,<br />

a preparação do banquete ritualístico e sua própria realização – quer dizer, tudo<br />

que se relaciona com o canibalismo – eram fatores importantes para uma comercialização<br />

eficaz do livro, e daí se compreende que este tema é muito mais presente<br />

nas ilustrações que no próprio relato. Além disso, elas enfatizam a nudez<br />

5. Confira-se, por exemplo, o episódio no cap. 26 do livro primeiro, onde se comenta uma<br />

situação de ‚trilingüismo‘: „Conduziram-me então nu ao francês. Era um jovem a quem os<br />

índios chamavam Caruatá-uara. Ele falou-me em francês e não pude entendê-lo. Os selvagens<br />

nos rodeavam e ouviam-nos. Como não pude responder-lhe, disse-lhes o francês na língua<br />

dos nativos: Matai-o e comei-o, esse miserável; ele é bem português, vosso inimigo e meu.<br />

Isto entendi eu bem e pedi-lhe portanto, pelo amor de Deus, que lhes dissesse que não me<br />

comessem. Mas ele retrucou: Eles querem comer-te“.<br />

6. Berchem conta „umas 150 palavras e locuções“ (BERCHEM 1996, p. 859), o que parece um<br />

pouco exagerado. Pelo menos o número <strong>das</strong> frases completas é bastante reduzido.<br />

49


50<br />

de todos os atores, que no<br />

livro só encontra uma menção<br />

marginal, mas que os realizadores<br />

do filme aproveitarão<br />

e transformarão num<br />

dos elementos decisivos da<br />

representação cênica.<br />

Assim, as 54 xilogravuras<br />

do artista desconhecido formam<br />

um terceiro elemento<br />

– ao lado da narração e dos<br />

diálogos – aproveitado na realização<br />

do filme. Até desempenha<br />

funções estruturais,<br />

quando ao princípio e ao fim<br />

aparece na tela aquela caravela<br />

que abre e fecha o primeiro<br />

ciclo de ilustrações,<br />

pertencente ao Livro I.<br />

Fig. 1: Staden 1557, Livro II, cap. 29<br />

Todavia, a História de Staden<br />

foi publicada não só com estas gravuras relativamente próximas à fonte, mas<br />

também em edições ilustra<strong>das</strong> pelo famoso gravador flamengo Theodor de Bry (DE<br />

BRY 1592). Sua interpretação do relato é muito mais drástica, mas é ela que até hoje<br />

marca a ‚imagem‘ que temos dos „selvagens, nus e ferozes devoradores de homens“,<br />

pela simples razão que uma boa parte <strong>das</strong> edições vem acompanhada destas<br />

ilustrações e não <strong>das</strong> originais. Isto explica também porque Luiz Alberto Pereira<br />

‚ilustrou‘ seu filme<br />

com imagensempresta<strong>das</strong><br />

de De Bry,<br />

como se verá<br />

mais adiante.<br />

Fig. 2:<br />

Staden seg<strong>und</strong>o<br />

De Bry 1592, p. 141


1.5. Recepção da História no Brasil<br />

O acento que desta forma já muito cedo se colocou no canibalismo e na<br />

nudez dos índios foi decisivo para a recepção européia e dotou a obra, ainda<br />

nos séculos XVI e XVII, de umas 50 edições e traduções. Não menos considerável<br />

é o êxito que a Verdadeira História conheceu no Brasil, embora seu triunfo se<br />

fez notável só a partir do século XX em diferentes traduções e edições. Neste<br />

ano de 2007, o livro está disponível nas livrarias do Brasil em pelo menos cinco<br />

edições diferentes, ilustra<strong>das</strong> a maioria delas. 7 Não seria exagerado afirmar que<br />

Staden é um dos heróis ‚brasileiros‘ mais populares, desde que em 1925 José<br />

Bento Monteiro Lobato adaptou a história do soldado alemão em forma de um<br />

livro de aventuras para jovens, popularizado à maneira de Robinson Crusoe<br />

(FEIJÓ 2003). Até 1996 este livro conheceu 32 edições.<br />

Em sincronia com as preparações para o quinto centenário do descobrimento<br />

do Brasil e quase ao mesmo tempo com a película Staden, apareceu a Verdadeira<br />

História dos selvagens, nus e ferozes devoradores de homens – Primeiros registros<br />

escritos e ilustrados sobre o Brasil numa tradução atualizada de Pedro<br />

Süssekind e foi premiado pela F<strong>und</strong>ação Nacional do Livro Infantil e Juvenil como<br />

melhor livro informativo do ano 1999.<br />

As ilustrações originais não deixaram de desdobrar seu potencial artístico:<br />

em 1941 o grande pintor brasileiro Cândido Portinari criou a partir delas um<br />

ciclo de 26 desenhos à tinta da China, mas que pelo seu caráter escandaloso<br />

para a época não encontraram o agrado do norte-americano George Macy que<br />

encomendara o trabalho. Tanto mais fascinaram o público brasileiro quando<br />

foram publicados – outra vez no contexto do ano simbólico – sob o título Portinari<br />

devora Staden (HERRERO 2003), constituindo assim uma óbvia alusão à estética<br />

modernista que comentaremos mais adiante.<br />

Não surpreenderá, pois, que em 1989 as aventuras de Staden foram verti<strong>das</strong><br />

em quadrinhos pelo famoso artista pernambucano Jô de Oliveira, obra que hoje<br />

em dia é considerada um clássico dos quadrinhos brasileiros. 8 Efetivamente o<br />

passo do original ao gênero da banda desenhada não foi demasiado grande, já<br />

que os diálogos do livro fornecem bastante matéria para os balões, imagináveis<br />

já inseridos nas gravuras originais.<br />

7. A primeira edição em língua portuguesa apareceu em 1892 no Rio de Janeiro, a seg<strong>und</strong>a<br />

em 1900, reeditada em 1930. Em 1941 foi publicada a terceira tradução, feita por<br />

Guiomar de Carvalho Franco, que se baseia na tradução para o alemão moderno,<br />

efetuada por Karl Fouquet, então diretor do Instituto Hans Staden. O catálogo da<br />

Biblioteca Nacional Brasileira http://catalogos.bn.br enumera para o período de 1985 a<br />

2006 25 edições da História, entre elas 17 edições da adaptação popular de Monteiro<br />

Lobato, divulgada sob o título Aventuras de Hans Staden. Seg<strong>und</strong>o informa Franz<br />

Obermeier, este número corresponde a pouco mais da metade <strong>das</strong> edições lobatianas<br />

que realmente têm circulado até hoje. Para to<strong>das</strong> essas questões remetemo-nos à<br />

recente edição crítica preparada pelo próprio Obermeier, com extensa bibliografia.<br />

Lamentavelmente este excelente trabalho aparecido em 2007, não pôde ser tomado<br />

em consideração à hora de elaborar-se o presente artigo.<br />

8. Os quadrinhos se publicaram primeiro na revista italiana Corto Maltese em 1989 e só em<br />

2005 na editorial brasileira Conrads (cf. Naranjo 2005 e Conrad Editora 2006).<br />

51


52<br />

2. Tupi or not tupi – a antropofagia como receita cultural<br />

O panorama da recepção brasileira revela como, aos 500 anos do descobrimento<br />

europeu do Brasil, surge o interesse por um ‚texto de f<strong>und</strong>ação‘, como o<br />

constitui a Verdadeira História. A isso contribui a promoção pelas instituições culturais,<br />

à qual não é alheia certa intencionalidade didático-educativa, já inerente<br />

à versão de Monteiro Lobato. „Uma aula de história do Brasil“ – é também o lema<br />

com que a Folha de São Paulo saúda a estréia do filme Hans Staden, seg<strong>und</strong>o<br />

relembra o texto publicitário do DVD.<br />

2.1. Modernismo e Antropofagia<br />

Mas aí não reside o único motivo<br />

para a ressurreição brasileira de<br />

Staden ao findar o século XX. Para<br />

compreender o significado atual do<br />

tema antropofágico e o retorno à<br />

antiga língua tupi, é preciso recordar<br />

o movimento cultural do Modernismo<br />

brasileiro dos anos 20 que já<br />

recorrera de forma simbólica a ambos<br />

os elementos.<br />

O escritor vanguardista Oswald<br />

de Andrade (1890–1954) postulou<br />

em 1928 com seu Manifesto Antropófago<br />

„devorar o patrimônio europeu,<br />

digeri-lo e transformá-lo numa cultura<br />

nacional própria e inovadora“<br />

(ENGLER 1996, S. 84). Desta forma a<br />

antropofagia adquiriu um novo sentido<br />

dentro de um discurso de revolução<br />

cultural. O grito de guerra dos<br />

modernistas foi o legendário „Tupi, or<br />

not tupi, that is the question“: nele<br />

condensa-se uma tendência meio<br />

Abb. 3: Frontispício da Revista de Antropofagia<br />

com ilustração tomada de De Bry (1929)<br />

séria, meio irônica para revitalizar valores e símbolos de uma hipotética cultura<br />

tupi interpretada como essência da cultura brasileira, incluindo a língua tupi, que<br />

efetivamente serviu de língua geral e nacional até sucumbir à campanha de<br />

lusificação iniciada pelo Marquês de Pombal. 9<br />

A História de Staden como ‚o primeiro livro sobre o Brasil‘, é não só a descrição<br />

mais objetiva e completa da antropofagia ritual e da cultura tupinambá, mas<br />

9. Cf. BOPP 1966, p. 71. – Uma primeira pesquisa sobre aspectos religiosos <strong>das</strong> culturas tupiguarani<br />

e as práticas de antropofagia foi publicada no mesmo ano por Alfred Métraux (La<br />

religion des Tupinamba, 1928). À continuação, apareceram vários dicionários e métodos de „tupi<br />

antigo“, nomeadamente o Curso de tupi antigo do Pe. Lemos Barbosa e o Método moderno de<br />

Eduardo Almeida Navarro. O discípulo e colaborador deste último, Hélder Perri, foi encarregado<br />

a dar aulas de tupi antigo aos atores de Hans Staden antes e durante a rodagem.


também um dos poucos documentos relativamente autênticos daquela língua.<br />

Estas qualidades converteram-na – em texto e imagem – na referência primordial<br />

para modernistas e tupinistas (BASTOS 2000). Além disso, a específica estrutura<br />

comunicativa do livro (narração, diálogos, imagens) predestinava-o para a<br />

adaptação cinematográfica.<br />

A primeira realizou-se já quase 30 anos antes de Hans Staden, na obra já mencionada<br />

Como era gostoso o meu francês, dirigida por Nelson Pereira dos Santos<br />

(1971), ou How tasty was my little frenchman, título que foi dado à versão em VHS<br />

que foi comercializada nos Estados Unidos a partir de 2005.<br />

O filme pode-se colocar no contexto do chamado tropicalismo, revitalização <strong>das</strong><br />

idéias modernistas depois de 1968. Nele, a aventura de Staden é modificada e<br />

reinterpretada alegoricamente, integrando temas e episódios da crônica francesa de<br />

Jean de Léry. O protagonista chama-se Jean, é francês e sofre o mesmo destino como<br />

o alemão, embora com um desenlace bem diferente, de rico simbolismo. Durante sua<br />

estadia entre os Tupinambás, o protagonista namora uma bela moça da tribo, motivo<br />

que o impede embarcar no navio francês que o havia de repatriar. Estas condições –<br />

namorando e heróico, mas plenamente consciente – permitem que a cultura tupibrasileira<br />

literalmente o ‚incorpore‘. Falando claro: ele mesmo é ritualmente executado<br />

pelos índios e ingerido, em evidente realização fílmica do credo modernista (cf.<br />

RAMOS 2000). Já neste primeiro a filme, o tupi antigo funciona como língua geral,<br />

com a diferença de que o herói francês – obedecendo ao esquema iniciático que<br />

fornece a estrutura básica do argumento – não o domina de antemão como Staden,<br />

assim que o espectador torna-se aqui testemunho da lenta aprendizagem do idioma,<br />

sobretudo através do relacionamento com a namorada índia.<br />

2.2. A tradição do cine tupi-brasileiro<br />

Mas Como era gostoso o meu francês nem foi o primeiro filme no Brasil que<br />

valorizou programaticamente o tupi como língua ‚clássica‘ da nação. De fato, está<br />

presente em pelo menos seis obras que to<strong>das</strong> enfocam a questão da brasilidade e<br />

a relação que esta mantém com um patrimônio tupi mais ou menos estilizado.<br />

Descobrimento do Brasil Humberto Mauro 1937 10<br />

Macunaíma Joaquim Pedro de Andrade 1969<br />

Como era gostoso o meu francês Nelson Pereira dos Santos 1971<br />

Uirá, um índio em busca de deus Gustavo Dahl 1974 11<br />

Hans Staden Luiz Alberto Pereira 1999<br />

Desm<strong>und</strong>o Alain Fresnot 2003 12<br />

10. Para comentários sobre este filme consulte-se SCHWAMBORN 2000.<br />

11. „Baseado em um livro de Darcy Ribeiro, o filme foca a trajetória de Uirá, um índio Urubu-<br />

Kaapor, na busca pela ‚terra sem males‘. A aventura começa após a morte de seu primogênito,<br />

quando ele e sua família decidem ir à busca de Maíra o Herói criador nas culturas Tupi.<br />

Nesse processo, Uirá e sua família saem de sua aldeia no interior do Maranhão e chegam à<br />

capital, São Luiz.“ (MORGADO 2000)<br />

12. SCHWAMBORN 2005, p. 100s.<br />

53


54<br />

Sem dúvida esta tradição merece uma pesquisa mais aprof<strong>und</strong>ada. Mas parece<br />

justificado falar de uma continuidade, senão de uma tradição própria, sobretudo<br />

pelo fato que o pioneiro desta corrente, Humberto Mauro, escreveu também<br />

os diálogos em tupi e que todos os seis filmes são adaptações de textos literários,<br />

sejam crônicas históricas ou romances modernos que enfocam o tema da identidade<br />

cultural e lingüística de um Brasil com raízes tupi-indígenas.<br />

3. Hans Staden: A versão fílmica do texto narrativo<br />

Esperamos ter colocado devidamente no seu contexto literário-cinematográfico<br />

o projeto de Luiz Alberto Pereira, propondo também uma explicação da atualidade<br />

e do interesse que correspondem à crônica ‚antropófaga‘ de Staden precisamente<br />

no Brasil do ano 2000. A seguir trataremos, pois, de abordar a análise<br />

da transformação do texto narrativo em filme.<br />

O primeiro que salta à vista comparando o texto e as suas ilustrações com o filme,<br />

é que efetivamente se chegou a uma máxima conformidade entre o documento de<br />

origem e a sua interpretação pelo novo meio. A partir do momento quando Staden<br />

cai nas mãos dos Tupiunambás, junto com o seu criado índio (cap. 18), até sua volta<br />

no barco francês (cap. 52), a matéria textual é transformada quase integramente em<br />

cenário, ação e diálogos. Somente 9 dos 36 capítulos desta seqüência (caps. 19-20,<br />

32, 38, 40, 44-46, 48), não são objeto de uma realização direta. 13 Mas esta perda não<br />

prejudica em absoluto a ‚unidade da ação‘ no sentido aristotélico. Parcialmente os<br />

temas ou acontecimentos tratados ou mencionados nesses capítulos (sacrifício de<br />

cativos e banquete ritualístico, atuação ‚xamânica‘ de Staden) ou bem são integra<strong>das</strong><br />

em outras seqüências, ou bem são ‚temas cegos‘ que seriam um estorvo para a<br />

tensão dramática e não aportariam nada à mensagem (como, por exemplo, uma<br />

excursão da tribo a uma aldeia vizinha).<br />

16 17 18 19 20 21 22 23 24<br />

25 26 27 28 29 30 31 32 34<br />

35 36 37 38 39 40 41 42 43<br />

44 45 46 47 48 49 50 51 52<br />

Fig. 4: Esquema dos capítulos correspondentes à parte central da ação realizados no filme.<br />

Somente as seqüências marca<strong>das</strong> em branco escaparam à adaptação.<br />

13. Na numeração dos capítulos da edição de 1557 não existe o cap. 33. Da numeração diferente<br />

da versão modernizada de 1984, na qual a 32 segue imediatamente 33, resulta uma<br />

discrepância nos números dos capítulos. Nós respeitamos – salvo indicação contrária – a<br />

numeração de 1557.


3.1. Quadros de costume e (novas) histórias<br />

Por outro lado parece interessante a inserção de cenas novas, que não têm<br />

f<strong>und</strong>amento direto no livro. Sua análise nos permitirá determinar a acentuação<br />

própria que caracteriza o filme e faz dele algo mais que uma mera transposição<br />

da crônica para outro meio. Aqui é preciso diferenciar entre passagens que<br />

utilizam a informação etnográfica do seg<strong>und</strong>o livro e outras que aparentam ser<br />

criações totalmente originais.<br />

Os dados sobre a cultura Tupinambá que Staden fornece na seg<strong>und</strong>a parte da<br />

obra, estão certamente sempre presentes no cenário, seja na escolha <strong>das</strong> locações,<br />

da aldeia indígena reconstruída, na caracterização <strong>das</strong> atrizes e dos atores<br />

(contra toda aparência eles não são verdadeiramente ‚nus‘, mas têm os corpos<br />

artificiosamente pintados). Adicionalmente, porém, certos costumes descritos pelo<br />

cronista se inserem na ação do filme em forma de cenas curtas. Trata-se, por<br />

exemplo, da preparação da mandioca, a fabricação de flechas e a elaboração do<br />

algodão, pouco antes da realização do capítulo 27, no qual Staden se lembra de<br />

um grave ataque de ‚odontalgia‘ (HS 07:21). 14<br />

Assim mesmo, o filme traz uma representação exaustiva do ritual antropofágico<br />

que carece de base narrativa no primeiro livro. É certo, no entanto, que ao final do<br />

cap. 37 [36] o autor remete aos capítulos respectivos do seg<strong>und</strong>o livro („Como isto<br />

se passa sabereis no capítulo nono do seg<strong>und</strong>o livro“), e é exatamente esse aviso<br />

que encontra sua realização a partir de HS 54:23, onde é combinada com a história<br />

do prisioneiro mencionado neste mesmo capítulo. A seqüência começa, aliás, com<br />

outra reminiscência etnográfica, mostrando umas mulheres ocupa<strong>das</strong> com a preparação<br />

do cauim, conforme a receita inserta no seg<strong>und</strong>o livro.<br />

Uma base textual ainda muito menos sólida, senão nenhuma, tem o namoro<br />

de Staden com uma jovem da tribo chamada Naira – nome que o leitor buscaria<br />

em vão nas páginas da História. Há, quando muito, uma frase relacionada com o<br />

tratamento dos cativos que pode servir de justificação para introduzir esse motivo,<br />

explorado bastante na tela: „Dão-lhe então uma mulher, que dele cuida, servindo-o<br />

também“ (livro II, cap. 29 / HS 41:45).<br />

Agora, ao estabelecer uma comparação com o primeiro filme sobre Staden,<br />

realizado por Pereira dos Santos, constatar-se-á que esta mesma obra foi a que<br />

inspirou o romance com a bela índia. A prova mais persuasiva é a cena de amor<br />

numa rede, demasiado parecida para ser mera coincidência, precisamente por<br />

falta de apoio textual (HT 20:18). Contudo, não se pode negar que o episódio é<br />

realizado com maior dramatismo e uma estética mais convincente na obra precursora,<br />

nomeadamente por sua função dilatória quanto ao processo de iniciação<br />

à cultura indígena que experimenta o herói. A seg<strong>und</strong>a versão, porém, faz<br />

pensar que o episódio erótico é uma concessão aos gostos do público, e que,<br />

ainda por cima, fornece o motivo para uma lacrimosa cena de separação ao final<br />

do filme. 15 Apesar de tudo, o episódio amoroso constitui um elemento que se<br />

14. À continuação, marcar-se-ão as referências a determina<strong>das</strong> seqüências do filme com a<br />

indicação aproximada do início da cena respectiva (hora: minuto: seg<strong>und</strong>o), com base no<br />

DVD Hans Staden (HS) e o cassete VHS How Tasty Was My Little Frenchman (HT).<br />

15. Além disso, a relação com Naira permite ao protagonista demonstrar sua lealdade para<br />

55


56<br />

integra plenamente na lógica do argumento, porque contribui a caracterizar o<br />

protagonista branco como uma pessoa simpática e leal, e sobretudo livre de preconceitos<br />

raciais, portanto totalmente oposto à imagem negativa do conquistador<br />

europeu tal como é pintado na maioria <strong>das</strong> obras da literatura ou do cinema<br />

que enfocam essa temática.<br />

O insólito conceito do ‚bom conquistador‘ revela-se também em outro acréscimo:<br />

é a cena na qual Staden salva um escravo negro fugitivo de um ataque<br />

armado dos tupinambás e – quem sabe – até de cair vitima da antropofagia deles.<br />

Resulta que aqui os indígenas são mais racistas que o homem branco. O negro<br />

inspira-lhes um horror literalmente infernal, porque vêem nele um espírito diabólico<br />

e acabam entoando uma espécie de canto exorcista. O incidente serve também<br />

para ilustrar a piedade prof<strong>und</strong>amente humanista que distingue o herói e<br />

que no próprio texto se manifesta numa série de reflexões e orações que dificilmente<br />

poderiam encontrar uma realização direta.<br />

O tema religioso é de suma importância no relato de Staden, de modo que se<br />

justifica o fato que seja também um leitmotiv no filme, embora em realização parcialmente<br />

diferente. Staden vence todos os perigos e adversidades – exteriores e<br />

interiores – graças à sua fé protestante que aparece isenta da intolerância, hipocrisia<br />

e agressividade inerentes ao catolicismo de muitos cronistas espanhóis.<br />

Uma conversa sobre questões religiosas que Staden mantém com um prisioneiro<br />

à véspera do sacrifício dele adquire uma dimensão propriamente pastoral (cap.<br />

37). Portanto, se a fé cristã que professa Staden se manifesta de uma forma muito<br />

válida e positiva, a religiosidade dos tupinambás carece de todo atrativo.<br />

No que diz respeito a esta religiosidade, o filme comunica uma visão mais coerente<br />

e diferenciada da que se desprende do próprio livro, e parece como se se baseasse em<br />

resultados de pesquisa da etnologia moderna. No livro, as maracás que os índios usam<br />

em seus rituais são erroneamente interpreta<strong>das</strong> como ídolos, e Staden não chega a<br />

perceber o caráter cerimonial da antropofagia. A postura e o nível de conhecimentos<br />

dos autores do filme são outros: em vez de partir da ignorância em matéria religiosa<br />

que marca o texto da crônica, eles introduzem um elemento que supostamente ilustraria<br />

a ‚autêntica‘ religiosidade dos indígenas. Para isso recorrem ao mito de Jurupari,<br />

de certa relevância no imaginário tupi recuperado no século XX, mas que por mera<br />

especulação se relaciona aqui com a cosmovisão tupinambá do século XVI.<br />

Numa seqüência também acrescentada, um grupo delegado pela aldeia visita um<br />

xamã que vive a certa distância na floresta (HS 21:23). Do seu discurso, infere-se que<br />

Jurupari é concebido como uma deidade ávida de sacrifícios humanos, parecida às<br />

do México antigo. Se bem que essa interpretação de Jurupari, figura mítica conhecida<br />

em toda a zona tupi-guaranítica, 16 etnologicamente não é mais sólida que a explicação<br />

que Staden encontra para as maracás, ela é uma prova de que os criadores do<br />

filme se esforçaram por dar maior prof<strong>und</strong>idade à representação da religiosidade<br />

tupi-guarani, além de impregná-la de uma aparência marcadamente brasileira.<br />

com a namorada quando, já ao final de sua aventura, o seu novo dono Abatipoçanga quer<br />

consignar-lhe outra mulher, e ainda mais de ilustrar o conflito de culturas entre a poligamia<br />

tupi e a monogamia do cristão protestante.<br />

16. „Jurupari é, pois, o antenado lendário, o legislador divinizado, que se encontra como base em<br />

to<strong>das</strong> as religiões e mitos primitivos.“ (CASCUDO 1972: 496, cf. VALENCIA SOLANILLA 2000)


Contudo, Hans Staden não visa em absoluto a uma idealização da cultura<br />

índia. Nada lembra o tópico do ‚bom selvagem‘, antes se nota uma tendência<br />

desmitificadora. 17 Algumas cenas, também ausentes no texto original, mas sim<br />

recuperando motivos de Como era gostoso o meu francês, sublinham a<br />

agressividade guerreira dos povos tupi-guarani, em que muitas vezes se tem<br />

insistido, não sempre de forma desinteressada (LUSTIG 2007). Sirva de exemplo<br />

o episódio no qual Naira se nega a deixar ao comerciante francês seu papagaio<br />

em troca de uns brinquedos cintilantes mas sem valor, exigindo que em câmbio<br />

a pague com „muitos fuzis“ (HS 1:04:50).<br />

3.2. A versão fílmica de texto e imagem<br />

em serviço da ‚brasileirização‘<br />

Depois desta análise de algumas particularidades do argumento, que enfocavam<br />

– entre outros aspectos – a relativa independência frente à base textual,<br />

gostaríamos agora de pôr em relevo a realização do discurso, ou seja – em sentido<br />

literal – a adaptação <strong>das</strong> estruturas discursivas do livro de Staden.<br />

O seguinte exemplo do cap. 52 (HS 1:16:26) demonstra como o roteiro aproveita<br />

um máximo do texto original. Na seguinte passagem marcamos em itálico o<br />

discurso narrativo propriamente dito e sublinhamos a representação do discurso<br />

<strong>das</strong> personagens, o qual – como já dissemos – constitui uma larga parte do relato<br />

e muitas vezes se realiza em forma de discurso indireto:<br />

Entrementes haviam ouvido dizer os franceses, que tinham chegado a Niterói,<br />

que eu vivia entre os índios. Então enviou o capitão duas pessoas do seu<br />

navio com alguns chefes dos selvagens que lhes eram amigos, ao lugar em<br />

que me encontrava. Foram eles a uma choça, que pertencia ao chefe Çôouara-açu,<br />

e que ficava bem próxima daquela em que eu estava. Os selvagens<br />

anunciaram-me que dois homens do navio haviam vindo. Dirigi-me<br />

a eles e dei-lhes as boas vin<strong>das</strong> na língua dos nativos. Quando me viram<br />

aproximar tão miserável, tiveram compaixão de mim e deram-me alguma<br />

coisa de suas vestes. Perguntei por que haviam vindo. Responderam que<br />

por minha causa. Tinha-lhes sido ordenado trazer-me a bordo, e isto<br />

deviam eles empreender por todos os meios. Alegrei-me então de todo o<br />

coração pela misericórdia divina e disse a um dos dois que se chamava Perot<br />

e conhecia a língua indígena, que devia declarar que era meu irmão e<br />

que me havia trazido alguns caixões cheios de mercadorias, a fim de<br />

que os índios me levassem ao navio, indo buscar os caixões. Além<br />

disso, precisava dizer que eu queria permanecer entre eles para juntar<br />

pimenta e outras mercancias, até que o navio retornasse no próximo<br />

ano. Com estas informações levaram-me também ao navio, e meu amo<br />

mesmo me acompanhou. A bordo tiveram todos pena de mim, tendo-me<br />

feito muitas gentilezas. (STADEN 2007, p. 368 18 )<br />

17. A este respeito o texto de Staden não segue a linha dos cronistas franceses. Sobre a mesma<br />

problemática cf. WICKER 2004.<br />

18. O cap. 51 na versão traduzida em Staden 2007, que corresponde ao cap. 52 em Staden 1557.<br />

57


58<br />

A transformação do discurso indireto em direto é um fenômeno normal e<br />

necessário que acompanha a ‚dramatização‘ de um texto narrativo, já que a<br />

função do narrador como instância mediadora é transpassada aos códigos visuais<br />

e auditivos próprios do meio cinematográfico. Esses, em geral, transportam<br />

a informação de maneira mais imediata.<br />

No entanto, no caso de Hans Staden a apresentação adquire uma imediatidade<br />

desproporcionada em relação ao texto primário, que não se deve somente<br />

à passagem de um meio a outro. É que o discurso do livro, por sua qualidade<br />

autobiográfica e a atenuação do dramatismo que deriva da reflexão e o<br />

indireto do discurso, cria uma maior distância da realidade representada do<br />

que seria o caso num texto narrado em discurso objetivo, que corresponderia à<br />

norma de uma crônica historiográfica. A película procura estabelecer uma máxima<br />

contigüidade entre o espectador e a ação. Um dos meios para consegui-la<br />

consiste em renunciar à tradução do tupi (que é um princípio natural ao que<br />

obedece a História, escrita para leitores alemães), eliminando desta forma um<br />

nível de refração que teoricamente diminui a autenticidade da representação.<br />

O roteiro faz falar em tupi – a saber, na língua geral – não só os índios tupinambás,<br />

mas também Staden e os demais europeus. Isto leva a pensar que os autores do<br />

filme se esforçaram por desentulhar, numa atitude quase arqueológica, o núcleo<br />

objetivo, brasileiro, escondido e encoberto no discurso subjetivo de um<br />

cristão europeu.<br />

A mesma intenção manifesta-se na adaptação <strong>das</strong> xilogravuras, cuja existência<br />

se revela certamente como uma condição muito favorável para a encenação.<br />

Em bastantes seqüências é óbvio que o cenário se orienta na imagem e não<br />

no texto. Um exemplo convincente é a cena HS 01:10:46, que corresponde à<br />

gravura do cap. 47: Staden numa pose expressiva, rezando ajoelhado frente a<br />

uma cruz de madeira.<br />

Fig. 5: „Eu tinha feito uma cruz de varas grossas e a plantara em frente à choça em que morava.<br />

Aí orava ao Senhor muitas vezes. Recomendara aos selvagens que não a arrancassem , pois<br />

disso podia resultar-lhes uma desgraça; não acreditaram, entretanto, na minha palavra.“<br />

(STADEN cap. 47 [46])


Certamente não se pode negar que a ‚visão européia‘ se traduz também nestas<br />

ilustrações, as quais, observa<strong>das</strong> detalhadamente, transportam outras refrações e<br />

deformações. É verdade que o ilustrador marburguês criou as imagens a partir do<br />

relato de Staden (e eventualmente com informações adicionais, mas essas não<br />

refletem uma vivência pessoal). São ainda muito mais enganosas as gravuras de<br />

Theodor de Bry, em realidade criações de terceira mão, apesar de aparentarem<br />

um maior realismo. Mas são precisamente elas que, por sua drástica expressividade<br />

e naturalmente pelo grande êxito dos livros do flamengo, têm contribuído muito<br />

mais à popularização <strong>das</strong> aventuras de Staden do que as gravuras esquemáticas<br />

da edição original. Que a película brasileira sucumbisse a esta tentação é corroborado<br />

pela realização da cerimônia funerária em HS 37:43, que carece de qualquer<br />

f<strong>und</strong>amento textual e que não foi ilustrada por gravura nenhuma na primeira<br />

edição da História. Não há dúvida que se inspira numa ilustração incluída em De Bry.<br />

Fig. 6: Realização do pranto funerário <strong>das</strong> mulheres inspirada em De Bry (1592, p. 130)<br />

Também aqui o filme procede a uma ‚retupização‘ do material, despindo-o de<br />

tudo que remete aos códigos europeus e renascentistas. Em contrapartida, a preparação<br />

e a caracterização dos atores representando os índios, obedecem evidentemente<br />

ao assessoramento etnológico dispensado aos realizadores da obra. Além<br />

disso, a mensagem que no original tem um caráter exclusivamente visual, recebe<br />

uma ampliação e intensificação pelo acréscimo musical, embora discutível. 19<br />

4. Língua e perspectiva: as funções da retupização<br />

4.1. Tupi ou jevyr<br />

Voltemos, antes de acabar, ao fenômeno tão sensacional que parece constituir<br />

uma película com diálogos falados quase inteiramente em tupi. Como já explica-<br />

19. É emblemático que a música do filme – arranjada por Marlui Miranda e com razão tão<br />

elogiada pela crítica – sofra de uma pequena incoerência: utiliza ritmos e cantos da etnia<br />

mbya-guarani assentada atualmente em alguns sítios daquela região litoral, embora as<br />

semelhanças da cultura desta com a dos Tupinambás do século XVI não devam superar as<br />

que existem entre portugueses e romanos antigos.<br />

59


60<br />

mos, a língua tupi tem sido objeto de várias ressurreições ao curso do século XX,<br />

e ultimamente no contexto do V Centenário do Descobrimento do Brasil. 20 Quem<br />

contribuiu sobremaneira à restituição de uma língua que se considera parte do<br />

patrimônio nacional é o professor Almeida Navarro, docente na USP e autor de<br />

um Método moderno de tupi antigo muito procurado. Seu aluno e colaborador<br />

Hélder Perri Ferreira é o principal responsável da versão tupi do roteiro e delegou-se<br />

por dois meses para assegurar a iniciação lingüística dos atores antes e<br />

durante a rodagem (DUARTE 2006). No entanto, é de supor que todos os participantes<br />

na empresa eram conscientes de que o tupi antigo ensinado no livro de<br />

Navarro e utilizado na película é uma língua relativamente artificial, uma koinê<br />

que corresponde àquela língua brasílica que só na seg<strong>und</strong>a metade do século<br />

XVI foi sistematizada e normalizada até certo grau pelos Jesuítas (especialmente<br />

por José de Anchieta com sua gramática de 1555). Os índios tupinambás, cuja<br />

língua Staden parece ter aprendido em tempo relativamente curto, falavam<br />

uma entre dezenas de variantes do tronco tupi-guaraní que aparentemente não<br />

se afastava muito dos dialetos guarani falados hoje no Paraguai e por alguns<br />

grupos desta etnia radicados no Sul do Brasil. Efetivamente, quem tiver conhecimentos<br />

do guarani paraguaio moderno, sabendo ao mesmo tempo interpretar<br />

a transcrição germanizante do autor, compreenderá com pouca dificuldade<br />

os fragmentos da edição marburguesa de 1557 (Wicker 2004, p. 83s). Contudo,<br />

para captar o sentido dos diálogos do filme, traduzidos para o tupi antigo, é<br />

preciso ter estudado com o livro de Eduardo Navarro, pois ele forneceu o padrão<br />

lingüístico adotado no roteiro. 21<br />

Não é exagerado dizer que as línguas e seu uso chegam a se tematizar em Hans<br />

Staden: concretiza-se a função do tupi antigo como língua geral quando é usada<br />

não só pelos índios entre si, mas também se serve dela o próprio Staden para<br />

comunicar-se com os comerciantes franceses. Isto se vê claramente na adaptação<br />

do cap. 52 (HS 1:19:45), a qual também revela o valor simbólico da linguagem:<br />

pelo uso do idioma autóctone – para não dizer nacional – Staden torna-se para os<br />

brasileiros um ‚dos nossos‘, enquanto que o capitão da caravela francesa continua<br />

sendo um estrangeiro.<br />

Resumindo: o uso generalizado da língua tupi não resulta somente da intenção<br />

realista, confessado pelo próprio diretor. A decisão de utilizar o idioma indígena<br />

deve ser visto num contexto que lhe atribui um alto valor simbólico para a<br />

identidade cultural e nacional. 22<br />

20. ou jevyr = „está voltando“; sobre a última ‚ressurreição‘ da língua tupi confira-se TUNES 2000<br />

e DUARTE 2006. As questões relaciona<strong>das</strong> com a reanimação do tupi antigo se dedicam a um<br />

fórum bastante ativo na Internet, acessível por .<br />

21. Parece que na versão em alemão moderno preparada por Ulrich Schlemmer (STADEN 1984) os<br />

fragmentos em língua indígena foram copiados de uma edição brasileira. Isto nota-se, por exemplo,<br />

no uso da letra - que não existe em alemão – em substituição de em Staden.<br />

22. A distinção entre línguas tupi e guarani é um fenômeno que tem suas raízes no século XIX.<br />

Sobretudo depois da Guerra do Paraguai (1865-1870) deixa de utilizar-se no Brasil o termo<br />

guarani para designar as línguas autóctones desse tronco comum e generaliza-se a<br />

denominação tupi para referir-se à língua dos “f<strong>und</strong>adores” da nação brasileira. Os próprios<br />

falantes da língua não usavam nem uma, nem outra dessas designações, mas falavam do<br />

ava ñe’ê ou respectivamente do aba nhe’enga (“língua dos homens”).


4.2. Língua e perspectiva<br />

Contrariamente ao texto original do livro – monolíngüe em alemão, e com um<br />

número reduzido de expressões na língua tupinambá – o filme caracteriza-se por<br />

seu poliglotismo. A grande maioria dos diálogos é em tupi, mas também ouvimos<br />

falar em francês e alemão, e o espanhol está presente em forma escrita numa <strong>das</strong><br />

primeiras cenas. 23 Mais além, em nove ocasiões – sobretudo ao princípio e ao final<br />

– ouve-se do off a voz do narrador, embora com um tipo de discurso ‚teicoscópico‘<br />

que resume acontecimentos alheios à ação principal e que nesta forma não aparecem<br />

no livro.<br />

Consegue-se desta maneira uma objetivação dos sucessos e <strong>das</strong> enunciações,<br />

a qual equivale a uma desconstrução do texto original que, quanto a sua forma<br />

lingüística (alemã) e sua tonalidade religioso-cultural (cristã protestante) apresenta<br />

um caráter homogêneo. Tudo quanto o narrador autobiográfico usurpou<br />

pela escrita e a tradução aos princípios da era colonial, os brasileiros recuperamno<br />

num ato ‚antropofágico‘. Este procedimento, que precisamente transpassa o<br />

que costuma acontecer ao texto literário em qualquer adaptação cinematográfica,<br />

‚devora‘ a perspectiva européia que também Staden ‚o bondoso‘ projeta sobre<br />

o Novo M<strong>und</strong>o, apesar de sua eficaz iniciação à cultura indígena.<br />

Ainda que o leitor moderno também adote, até certo grau, o ponto de vista do<br />

narrador e não o dos índios, sendo demasiado grande a distância cultural e<br />

humana que o separa da cultura canibal, sim se lhe abre um acesso mais direto no<br />

filme: o foco dele situa-se em ‚nossa terra‘ (para dizê-lo com Eduardo Navarro), e<br />

o espectador já não se sente mais perto de Staden – que fala uma língua duplamente<br />

estrangeira (incompreensível e européia) – que dos índios ‚retupizados‘,<br />

que falam uma língua também incompreensível, mas altamente brasileira. Staden<br />

volta à sua condição de intruso, de colonizador, de estrangeiro, homem branco e<br />

pálido em meio a uma colorida turma de futuros brasileiros. Apesar de que presta<br />

seu nome ao filme, ele deixa de ser o verdadeiro protagonista e transforma-se<br />

numa quase-vítima.<br />

4.3. Alteridade?<br />

A artificiosa desconstrução e repatriação de uma crônica da época da conquista,<br />

são suscetíveis de provocar algumas perguntas pertencentes à estética da<br />

recepção e que provavelmente só poderia esclarecer uma sondagem entre os<br />

cinéfilos brasileiros. Contudo, chama a atenção que a obra não soube atrair às<br />

salas mais que um número relativamente reduzido de espectadores 24 , embora<br />

fosse projetada durante 17 semanas, presença prolongada na tela só explicável<br />

pelo apoio institucional.<br />

À falta de dados concretos fica em aberto a questão de quem são, para os<br />

brasileiros, ‚os outros‘ e quem os próprios antepassados culturais. É que eles se<br />

23. „Enquanto isso, procurou um dos companheiros decifrar o escrito, tendo-o conseguido. Aí<br />

estava entalhado em língua espanhola: “Si viene por ventura aquí la armada de Su Majestad,<br />

tiren un tiro y habrán recado“ (cap. 9 / HS 03:15).<br />

24. „Infelizmente a falta de divulgação concedeu ao filme uma bilheteria de apenas 42 mil<br />

espectadores“ (Werneck 2004), cf. Faltam locais de exibição (Revista E 2000).<br />

61


62<br />

sentem inclinados a aceitar os tupinambás tupi-falantes como fator essencial de<br />

sua identidade cultural histórica? Ou concebem-se como descendentes de Jean<br />

e Hans, os quais, aos poucos meses de compartir a rede com uma beleza da terra,<br />

encontram cada um a sua maneira o acesso à cultura proto-brasileira?<br />

Filmografia<br />

DOS SANTOS, Nelson Pereira (1971), How tasty was my little frenchman [Como era gostoso o meu<br />

francês], Brasilien, 80 Min (VHS: New Yorker Video, New York).<br />

PEREIRA, Luiz Alberto (1999), Hans Staden, Brasilien, 92 Min (DVD: Versátil Home Video, São Paulo).<br />

Bibliografia<br />

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BOPP, Raul (1996): Movimentos modernistas no Brasil: 1922-1928. Rio de Janeiro.<br />

CASCUDO, Luis da Câmara ( 3 1972): Dicionário do Folclore brasileiro. Rio de Janeiro.<br />

CONRAD EDITORA (2006): Hans Staden: História... em quadrinhos. [30.03.06].<br />

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meu francês). In: The American Historical Review (Washington), 106, p.695-697.<br />

DE BRY, Theodor (1592): Americae tertia pars, Memorabilem provinciae Brasiliae Historiam continens,<br />

germanico primum sermone scriptam a Ioanne Stadio Homburgensi Hesso, nunc autem latinitate<br />

donatam [...]. Frankfurt. [Reimpressão parcial in: SIEVERNICH, Gereon (ed.): America de Bry.<br />

1590-1634. Amerika oder die Neue Welt. Die “Entdeckung” eines Kontinents in 346 Kupferstichen.<br />

Berlin / New York 1990, p. 111-147].<br />

DUARTE, Sara (2006): O-î-kuab abá-nhe’enga. In: Istoé. [01.04.06].<br />

ENGLER, Erhard (1996): Die brasilianische Literatur. In: Kindlers Neues Literatur- Lexikon. Bd. 20.<br />

München, p. 78-88.<br />

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Dr. Wolf Lustig nasceu em 1954 em Frankfurt do Meno. Estudou filologias românica e<br />

germânica em Mogúncia (Mainz) e Munique, doutorando-se em 1987 com um trabalho sobre<br />

Cristianismo e simbolismo cristão no romance hispanoamericano do século XX. Desde<br />

1988 exerce a docência de línguas, literaturas e culturas românicas no Seminário de Filologia<br />

Românica na Universidade de Mogûncia, ocupando atualmente o cargo de Diretor Acadêmico<br />

na área de filologia hispânica. Seus campos de pesquisa são, entre outros, as crônicas sobre a<br />

conquista da América e a cultura paraguaia de expressão guarani. Sua lista de publicações é<br />

acessível em http://www.staff.uni-mainz.de/lustig/texte/veroeff.htm.<br />

63


agunça bulugusa bulungunza<br />

b<strong>und</strong>a mb<strong>und</strong>ab<strong>und</strong>a<br />

mb<strong>und</strong>a<br />

cachaça cachaça kanua kisasa kanua kisasa<br />

caçula kasuka kasule okwasula<br />

cafuné kafunile kafa<br />

calango nkalanda dikalanga<br />

cam<strong>und</strong>ongo kamingondo<br />

cangaço cam<strong>und</strong>ongo konganso kamingondo nkangunsu<br />

capanga<br />

cangaço<br />

kimpunga<br />

konganso<br />

kimbangala<br />

nkangunsu<br />

capanga kimpunga<br />

carimbo ka kindimbu kimbangala<br />

bagunça bulungunza bulugusa<br />

b<strong>und</strong>a cachaça mb<strong>und</strong>a<br />

kisasa kanua<br />

caçula<br />

okwasula kasuka kasule kasule<br />

cafuné okwasula<br />

calango cafuné kafunile nkalanda kafa kafa<br />

calango cam<strong>und</strong>ongo dikalanga<br />

nkalanda dikalanga<br />

cangaço kamingondo<br />

nkangunsu konganso<br />

capanga kimbangala kimpunga<br />

carimbo carimbo cochilo kindimbu ka kushila kindimbu ka<br />

molambo<br />

molambo cochilo mulamba kushila mulamba kushila mulumbi<br />

molambo mambembe<br />

mambembe mulumbi mulamba (mu)mbembele mulumbi<br />

mambembe (mu)mbembele<br />

kam<strong>und</strong>enge (mu)mbembele<br />

moleque kam<strong>und</strong>enge<br />

moleque nleeke mi-/ mi-/ mu-/ mu-/ a nleekea<br />

mulungu quenga mkemba mulungu<br />

quitanda penga<br />

quizília kizila kitanda<br />

samba macumba kijila<br />

xingar (ku)samba<br />

zumbi<br />

xingar<br />

mvumbi<br />

singa<br />

moleque mi-/ mu-/ a nleeke<br />

mulungu mulungu<br />

quenga mkemba mulungu penga mulungu<br />

quitanda<br />

quenga<br />

kitanda<br />

mkemba penga<br />

quitanda kitanda<br />

quizília kizila quizília kijila kizila kijila<br />

samba macumba (ku)samba<br />

xingar singa<br />

zumbi mvumbi<br />

zumbi mvumbi


Africanismos e brasileirismos lexicais de<br />

matriz africana na imprensa brasileira<br />

Rosa Alice Cunha-Henckel<br />

Jena<br />

Resümee: Der Wortschatz des brasilianischen Portugiesisch enthält<br />

eine beachtliche Zahl von Ausdrücken, die aus verschiedenen<br />

afrikanischen Sprachen stammen, vor allem aus der<br />

Bantu-Gruppe, <strong>und</strong> die von den afrikanischen Sklaven<br />

während der Jahrh<strong>und</strong>erte der Sklavenwirtschaft nach<br />

Brasilien gebracht wurden. Diese Wörter wurden von Sprechern<br />

der verschiedenen Ethnien angeeignet, fügten sich<br />

in <strong>das</strong> System der portugiesischen Sprache ein, produzierten<br />

<strong>und</strong> produzieren bis heute Ableitungen, bildeten echte<br />

Brasilianismen, verdrängten portugiesische Wörter <strong>und</strong><br />

werden immer öfter auch im Standardregister der Schriftsprache<br />

verwendet, ohne <strong>das</strong>s aber ein Bewusstsein hinsichtlich<br />

ihres Ursprungs <strong>und</strong> ihrer Bedeutsamkeit im Alltag<br />

der Brasilianer besteht. Der vorliegende Artikel will die<br />

Aufmerksamkeit auf diesen sprachgeschichtlichen Beitrag<br />

lenken, indem er exemplarisch 21 Ausdrücke afrikanischer<br />

Herkunft aus brasilianischen Pressetexten zitiert <strong>und</strong> Angaben<br />

zu ihrer Ursprungssprache, zum Datum ihrer Aufnahme<br />

in die portugiesische Schriftsprache, zur Häufigkeit<br />

ihres Gebrauchs sowie zu ihrer Produktivität liefert. Des<br />

Weiteren wird auf die semantische Wandlung einiger Ausdrücke<br />

hingewiesen, verursacht durch die interethnischen<br />

Beziehungen auf dem brasilianischen Territorium, bei denen<br />

<strong>das</strong> Afrikanische kein privilegiertes Element war.<br />

Abstract: The lexicon of the Portuguese language spoken in Brazil<br />

contains a considerable number of terms originating from<br />

different African languages, above all from the Bantu group.<br />

They were brought by African slaves to the Brazilian territory<br />

during the centuries of slave economy in the country<br />

and were appropriated by speakers of the diverse ethnicities.<br />

Integrated into the Portuguese language system, they produced<br />

and still produce derivations until the present days,<br />

formed genuine brazilianisms, substituted Portuguese<br />

words, being used increasingly in written standard Portuguese,<br />

yet without raising a general awareness of their origin<br />

and their importance in the Brazilian’s everyday life.<br />

The present article wants to call attention to this contribu-<br />

65


66<br />

tion by citing 21 examples of words with African provenance<br />

from Brazilian press releases, indicating their source<br />

language, the date of entry into written Portuguese language,<br />

signalizing their frequency of usage and their productivity.<br />

Furthermore, there will be pointed out semantic<br />

changes, to which some terms were submitted, due to the<br />

interethnic relations on the Brazilian territory, in which<br />

the African element was not a privileged one.<br />

Repassando o panorama lingüístico no território brasileiro da época colonial,<br />

encontramos o português, língua transplantada pelos colonizadores e imposta<br />

por lei como língua oficial do Brasil em 1757/8 , convivendo em diferentes graus,<br />

com as inúmeras línguas dos habitantes indígenas e as muitas línguas africanas<br />

leva<strong>das</strong> pelos cerca de quatro milhões de africanos transportados como escravos<br />

por mais de três séculos.<br />

Deste convívio, é mais que normal que a língua portuguesa tenha-se apropriado<br />

de muitos termos destas outras línguas para descrever realidades próprias do<br />

Novo M<strong>und</strong>o ou hábitos, comi<strong>das</strong> e conceitos, experimentados na convivência<br />

estreita com esses povos de outras culturas.<br />

No que se refere aos falantes de línguas africanas, Houaiss (1985, p.101) considera<br />

legítimo admitir que os africanos de origem sudanesa e banto levados para o<br />

Brasil, representassem uma imensa variedade de proveniências, falando um número<br />

considerável de línguas (mormente dos grupos sudanês e banto) nunca<br />

inferior a 20% <strong>das</strong> línguas da África. Esta cifra significa, em números absolutos, 300<br />

a 400 línguas com grupos de falantes em quantidades variáveis, dispersos pelo<br />

território brasileiro.<br />

É do nosso conhecimento que ao comprar os escravos, havia por parte dos<br />

futuros proprietários o cuidado em misturar as etnias o máximo possível, para que<br />

não constituíssem motins contra eles. Do lado do governo português da colônia<br />

americana e da metrópole havia total falta de interesse por essas línguas, assim<br />

como também por parte dos jesuítas, que detinham o monopólio da educação<br />

formal no Brasil até 1758, apesar de algumas exceções por parte destes (DIAS<br />

1697; CASTRO 2002). Sendo assim, estas línguas, apesar do grande contingente<br />

de falantes, diluíram-se pouco a pouco no solo brasileiro.<br />

No entanto, o contato dos povos africanos com os falantes lusófonos foi muito<br />

estreito. O papel da mulher negra na educação e criação dos filhos dos senhores<br />

brancos foi de primordial importância para a formação da sua maneira de ser<br />

(CASTRO 1990; CUNHA-HENCKEL 2005c). E o número de africanos era muito<br />

grande. Às vezes, seg<strong>und</strong>o a região e a época, a população africana era maior que<br />

as <strong>das</strong> outras etnias. „Em 1800, cerca de dois terços da população do país – 3<br />

milhões de habitantes – são formados por negros e mulatos cativos e libertos“<br />

(ALMANAQUE ABRIL 2000, p. 263).<br />

Assim sendo, apesar de todos os fatores contrários à sua difusão – descaso,<br />

circunstâncias materiais desfavoráveis, misturas de etnias, distância social entre<br />

as raças, etc. – era impossível elas não deixarem vestígios no português<br />

falado no Brasil.


Estes se encontram sob diversas formas, a saber: aportes lexicais encontrados<br />

nos diferentes níveis de língua; elementos lexemáticos nas línguas usa<strong>das</strong> como<br />

código secreto por grupos componentes de algumas comunidades descendentes<br />

de africanos como por ex. Caf<strong>und</strong>ó e Patrocínio em SP (VOGT/FRY 1982, 1983,<br />

1985, 1996; VOGT/FRY/GNERRE 1975, 1980, 1984) e Bom Despacho, em MG<br />

(QUEIROZ 1984, 1998) nas línguas-de-santo (CASTRO 2001, p. 80) na linguagem do<br />

povo de santo (CASTRO 2001, p. 97) e, por fim, na forma de elementos crioulóides<br />

nas variedades do português falado por populações rurais como por exemplo<br />

Helvécia, na Bahia (FERREIRA 1985) e no Vale do Ribeira, em São Paulo (CARENO<br />

1997), onde grande parte dos habitantes são descendentes de africanos.<br />

É sobre o primeiro tipo de contribuição assinalado acima, o dos aportes lexicais,<br />

que atualmente são computados em mais ou menos 3500 vocábulos, incluindo os<br />

derivados, sobre os quais faremos algumas observações, tentando mostrar a importância,<br />

cada vez crescente, destes termos no nosso vocabulário do cotidiano.<br />

Que palavras relativas aos cultos religiosos de origem africana como candomblé,<br />

xangô, orixá, afoxé, e à cozinha afro-brasileira como vatapá, acarajé evoquem<br />

de imediato aos ouvidos dos brasileiros a sua origem africana, apesar da sua<br />

integração ao sistema da língua portuguesa, é um fato. No entanto, o mesmo não<br />

acontece com palavras como caçula, carimbo, cafuné, b<strong>und</strong>a, etc. É então, para<br />

estes termos tão presentes na nossa língua cotidiana e dos quais não temos consciência<br />

da origem africana, que a atenção será centrada.<br />

Contemplando esta enorme contribuição do ponto de vista sincrônico, vários<br />

são os aspectos a considerar. Primeiro, a intensidade com a qual estes termos são<br />

utilizados no nosso cotidiano, seg<strong>und</strong>o, a sua produtividade, terceiro, a nossa<br />

falta de consciência da importância desta contribuição e, por último, a constatação<br />

da sua utilização como instrumento inconsciente de denúncia do racismo sutil<br />

existente no seio da sociedade brasileira.<br />

Apesar de o número de africanismos ser menor do que o de tupinismos –<br />

cerca de 10.000, incluindo os topônimos – „eles têm mais curso“, como afirma<br />

Gladstone Chaves de Melo (1981, p. 43). Eles encontram-se sobretudo no registro<br />

informal e na língua coloquial, mas também no português padrão. E foi justamente<br />

isto que constatei e tenho constatado nas minhas leituras. É raro abrir uma<br />

revista brasileira ou um jornal brasileiro sem encontrar uma palavra portuguesa<br />

de origem africana.<br />

Vejamos alguns exemplos colhidos aleatoriamente:<br />

bagunça<br />

»Querer contar os presidentes direitinho, como fazem os americanos, é igual a<br />

festejar o Halloween. É querer imitá-los. Assumamos a nossa história. A impossível<br />

lista dos presidentes reflete nossa bagunça f<strong>und</strong>adora.« (VEJA 15/01/2003, p. 98)<br />

b<strong>und</strong>a<br />

»„Não sou convencida, mas acho que devo mostrar a minha b<strong>und</strong>a em ocasiões<br />

especiais, para alguém especial.“ Gisele Bündchen, top modelo brasileira, contando<br />

à revista VOGUE inglesa, que seu contrato impede que mostre seu derrière.« (VEJA<br />

14/12/05, p. 43)<br />

67


68<br />

cachaça<br />

»Charutos encorpados combinam com conhaque, rum, cachaça envelhecida e<br />

cerveja escura.« (VEJA 26/05/04, p. 110)<br />

caçula<br />

»Nicky: tanto a caçula dos Hilton quanto a irmã Paris são patricinhas de chinelinho.«<br />

(VEJA 19/07/06, p. 82)<br />

cafuné<br />

»Além de tocar sua música e espalhar mensagens do bem, a banda U2 criou, com<br />

seus shows em São Paulo, uma celebridade instantânea: a bancária Katilce Miranda,<br />

28 anos, que, alçada ao palco, dançou, fez cafuné e deu beijo-selinho no vocalista<br />

Bono.« (VEJA 01/03/06, p. 63)<br />

cam<strong>und</strong>ongo<br />

»Por causa <strong>das</strong> semelhanças do seu código genético com o dos seres humanos,<br />

os cam<strong>und</strong>ongos são as cobaias preferi<strong>das</strong> dos cientistas para experiências em<br />

laboratório.« (VEJA 09/11/05, p. 133)<br />

cangaço<br />

»Em Serra Talhada, visita-se o Museu do Cangaço, com fotografias, objetos e<br />

documentos sobre o tema.« (VEJA 26/05/04, p. 60)<br />

capanga<br />

»Os três filhos de Gabriela Arias foram levados pelo marido muçulmano para a<br />

Jordânia, onde vivem há quase oito anos: „Vi as crianças em sete ocasiões sempre<br />

vigia<strong>das</strong> por capangas armados“.« (VEJA 20/07/05, p. 108)<br />

calango<br />

»Ainda bem que não tenho que comer calango.« (VEJA 06/05/1998, capa)<br />

carimbo<br />

»CPI marca o PT com carimbo do mensalão.« (CORREIO BRAZILIENSE 06/04/06, p. 1)<br />

cochilar<br />

»Numa viagem de oito horas, um motorista que faz exercícios regularmente resiste<br />

melhor ao sono do que um motorista sedentário. A diferença é percebida pela<br />

quantidade de cochilos durante o trajeto.« (VEJA 23/11/05, p. 33)<br />

mambembe<br />

»„Entrei numa universidade mambembe que nem sequer tinha biblioteca. Decidi<br />

então procurar outra universidade na própria Bolívia, pois viajei com o intuito de<br />

me tornar um bom médico“, diz Carlos.« (VEJA 04/05/05, p.104)<br />

moleque<br />

»„Vocês me tratam como se eu fosse um moleque (...). Na boa vocês podem me<br />

levar, mas na porrada, não!“ José Sarney, senador (PMDB-AP), em reunião em<br />

que o seu partido vetou sua reeleição para presidente do senado, cargo pelo qual<br />

ele jurava não estar brigando.« (VEJA 05/05/2004, p. 41)<br />

molambo<br />

»De uns tempos para cá, o pêndulo mudou de lado e em vez de querer parecer


icos e civilizados, a moda passou a fazer figura de pobre, irremediavelmente pobre,<br />

mais pobre do que somos. „Veja que molambos somos“, esta é a mensagem atual<br />

aos estrangeiros. „Repare bem, conte aos amigos, lambuze-se com nossa penúria“.«<br />

(VEJA 12/01/05, p. 114)<br />

mulungu<br />

»Levados por guias locais, os turistas podem conhecer a paisagem da caatinga<br />

com seus facheiros (espécie de cactos) que atingem mais de 12 metros de altura,<br />

além de outras plantas nativas, como quixabeiras, mulungus e mandacarus.« (VEJA<br />

26/05/04, p. 59)<br />

quenga<br />

»Ter filha quenga é o maior desgosto da minha mãe.« (CORREIO BRAZILIENSE 24/<br />

08/1998, Cad. 1, p. 6)<br />

quitanda<br />

»Eu ouço de várias emprega<strong>das</strong> domésticas que é comuníssimo aqui no Rio de<br />

Janeiro que responsáveis pela merenda escolar retirem substancial quantidade<br />

de víveres e alimentos <strong>das</strong> crianças para levar para casa, distribuir entre parentes<br />

e até montar quitan<strong>das</strong>.« (VEJA 18/05/05, p. 14)<br />

quizílias<br />

»Agora, as quizílias entre o governo fluminense e o paulista a respeito da<br />

criminalidade em seus Estados e as divergências sobre a cidade onde seria filmada<br />

a cena em que a personagem Fernanda (Vanessa Gerbelli) da novela Mulheres<br />

apaixona<strong>das</strong> é morta por uma bala perdida, atraíram a atenção da mídia<br />

internacional.« (VEJA 13/08/03, p. 24)<br />

samba<br />

»O lema „brasileiro é sexy“ virou uma espécie de marketing para atividades varia<strong>das</strong>,<br />

que vão de aulas de samba a venda de lingerie.« (VEJA 19/05/04, p. 86)<br />

xingar<br />

»O líder dos Rolling Stones, na boa tradição do rock é um nulo em matéria de<br />

política. Um „alienado“, como se dizia, numa ofensa pior do que xingar a mãe, na<br />

época em que ele era jovem.« (VEJA 01/03/2006, p. 106)<br />

zumbi<br />

»É por esta razão que critico a tendência da ONU de assumir o papel de babá dos<br />

pobres. Se isso acontecer, os africanos se tornarão uns zumbis, uns inúteis que não<br />

sabem de nada.« (VEJA 10/08/05, p. 15)<br />

Nos exemplos acima citados, encontramos vocábulos cuja origem se encontra<br />

nas línguas do grupo banto, fala<strong>das</strong> sobretudo em Angola, país originário de um<br />

número bastante elevado de africanos transportados para o Brasil. Examinemo-los<br />

em detalhe, fornecendo a etimologia indicada por Castro no seu livro Falares Africanos<br />

na Bahia (2001) que é, até agora, o que há de mais confiável e atual sobre o tema:<br />

1. bagunça: desordem, confusão, baderna [do quicongo bulugusa ou bulungunza].<br />

2. b<strong>und</strong>a: nádegas, traseiro [do quimb<strong>und</strong>o e do quicongo mb<strong>und</strong>a].<br />

69


70<br />

3. cachaça: aguardente [do quicongo (kanua) kisasa, lit. água ardente, que fermenta,<br />

excitante].<br />

4. caçula: o mais novo dos filhos ou dos irmãos [do quicongo kasuka, do<br />

quimb<strong>und</strong>o kasule e do umb<strong>und</strong>o okwasula].<br />

5. cafuné: ato de coçar levemente a cabeça de alguém, dando estalidos com as<br />

unhas para provocar sono [do quicongo kafunile kafa, ação de bater, estalar<br />

com os dedos].<br />

6. calango: lagarto maior que a lagartixa [do quicongo nkalanda e do quimb<strong>und</strong>o<br />

dikalanga].<br />

7. cam<strong>und</strong>ongo: ratinho caseiro [do quicongo e do quimb<strong>und</strong>o kamingondo].<br />

8. cangaço: gênero de vida do cangaceiro [do quicongo e do quimb<strong>und</strong>o<br />

konganso, nkangunsu, bando, grupo de bandoleiros].<br />

9. capanga: guarda-costas [do quicongo e do quimb<strong>und</strong>o kimpunga/kimbangala].<br />

10. carimbo: selo, sinete, sinal público com que se autenticam documentos [do<br />

quimb<strong>und</strong>o, quicongo e umb<strong>und</strong>o ka-, kindimbu, marca].<br />

11. cochilo: um curto sono leve [do quicongo e do quimb<strong>und</strong>o kushila, cochilar].<br />

12. molambo: pano velho, trapo [do quicongo e do kimb<strong>und</strong>o mulamba (mulumbi)<br />

pedaço de pano velho].<br />

13. mambembe: medíocre, de má qualidade, inferior, ínfimo [do quicongo<br />

(mu)mbembele, e do quimb<strong>und</strong>o kam<strong>und</strong>enge, ninharia].<br />

14. moleque: menino, garoto, rapaz [do quicongo, quimb<strong>und</strong>o e umb<strong>und</strong>o mi-/<br />

mu-/ a nleeke, jovem, garoto].<br />

15. mulungu: planta medicinal [do quicongo mulungu].<br />

16. quenga: prostituta de baixa classe [do quicongo mkemba e do quimb<strong>und</strong>o<br />

penga].<br />

17. quitanda: pequeno estabelecimento onde se vendem frutas e verduras [do<br />

quimb<strong>und</strong>o e do quicongo kitanda].<br />

18. quizília: tabu, interdição religiosa [do quicongo kizila e do quimb<strong>und</strong>o kijila].<br />

19. samba: cerimônia pública de macumba, gênero musical, dança [do quicongo<br />

e do quimb<strong>und</strong>o (ku)samba, rezar, orar].<br />

20. xingar: [do quimb<strong>und</strong>o e do quicongo singa, praga].<br />

21. zumbi: fantasma [do quicongo mvumbi].<br />

Passando em revista esses exemplos, teremos a assinalar:<br />

1. Integração<br />

Eles estão completamente integrados no sistema morfológico do português, o<br />

que impede a sua identificação originária. Pouquíssimos brasileiros têm consciência<br />

deste fato. Vejamos um exemplo concreto no qual o jornalista brasileiro Diogo<br />

Mainardi afirma ser a palavra cafuné exclusiva do português:<br />

Se é para me orgulhar, orgulho-me de outras palavras em português. Palavras<br />

que não descrevem a realidade de maneira concreta e que, em minhas<br />

andanças, só encontrei na nossa língua, provocando espanto e inveja em<br />

meus interlocutores estrangeiros. Talvez sejam palavras menos nobres, porque<br />

não se referem a sentimentos elevados, e sim a miudezas da vida coti-


diana, de uso corriqueiro, quase vulgares. Mas nós temos palavras para<br />

defini-las, eles não. A mais óbvia é cafuné. (VEJA 10/01/2001, p. 133)<br />

É claro que nesta forma ela só existe em português, mas o vocábulo é de<br />

origem banto e faz parte do vocabulário do português angolano, na forma quifune<br />

ou kifune, „estalidos produzidos com os dedos na cabeça“ (RIBAS 1994 ).<br />

Aqui temos uma explicação histórica, pois os povos bantos foram os primeiros a<br />

chegar ao território brasileiro. Portanto, de introdução mais remota, eles se assimilaram<br />

completamente, são correntes em todos os níveis sócio-culturais da linguagem<br />

brasileira e se encontram também presentes na maioria <strong>das</strong> áreas semânticas. Já os<br />

do grupo sudanês, por serem de origem mais recente, são melhor identificáveis e<br />

encontrados sobretudo no domínio culinário e religioso (CASTRO 2001, p. 74-75).<br />

2. Data de inserção na língua escrita<br />

As obras lexicográficas e as minhas pesquisas dão as seguintes datas de entrada<br />

dos respectivos termos na língua portuguesa escrita :<br />

bagunça: 1926<br />

b<strong>und</strong>a: 1836<br />

cachaça: 1635<br />

caçula: 1824/1825<br />

cafuné: 1789<br />

calango: 1689<br />

cam<strong>und</strong>ongo:1899<br />

cangaço: 1889<br />

capanga: 1856<br />

carimbo: 1837<br />

cochilo: cochilar: 1671/1696 (séc.XVII)<br />

mambembe: séc. XX<br />

molambo: 1824<br />

moleque: 1683<br />

mulungu: 1877<br />

quenga: 1836<br />

quitanda: 1681<br />

quizília: 1681<br />

samba: 1842<br />

xingar: séc. XVII<br />

zumbi: 1681<br />

São datas que até agora foram encontra<strong>das</strong>, portanto, não definitivas. É possível<br />

que com o passar do tempo sejam encontra<strong>das</strong> datas mais remotas.<br />

3. Utilização e freqüência<br />

São vocábulos utilizados diariamente no nosso português cotidiano e mesmo<br />

no português padrão, como nos exemplos aqui citados da mídia brasileira escrita.<br />

Alguns ainda trazem a marca tabuísmo (tab.), como quenga, no sentido de prosti-<br />

71


72<br />

tuta. Outros, que eram considerados chulos no dicionário de Macedo Soares (1889),<br />

como b<strong>und</strong>a, hoje em dia, aparecem nos dicionários sem esta marca diastrática. E<br />

se outros faziam parte do vocabulário popular, hoje são classificados como fazendo<br />

parte do registro neutro da língua: é o caso de calango (lagartixa). E, se alguns<br />

eram específicos de uma região, portanto tidos como regionalismos, através da<br />

mídia oral, sobretudo <strong>das</strong> telenovelas, passaram a ser conhecidos nacionalmente<br />

p. ex. o termo do Nordeste quenga (prostituta), como especifica a revista Veja no<br />

seguinte exemplo: „Nos salões, o penteado ganhou um apelido nada lisonjeiro: é<br />

conhecido como ‚cabelo de quenga‘, um regionalismo da novela para designar<br />

uma <strong>das</strong> mais antigas profissões do planeta“ (29/09/1993, p. 64).<br />

Quase todos os exemplos aqui citados, assim como ainda outros mencionados<br />

por Castro (2001, p. 121) têm equivalentes na língua portuguesa, mas a tendência<br />

é substituir o vocábulo português pelo de matriz africana. Quem diz o meu benjamin<br />

referindo-se ao filho mais novo? Carimbo, cujo equivalente português é sinete/<br />

marca já faz parte do português europeu há muitos anos. Outrossim, quem diz „Eu<br />

estava dormitando“ em vez de „Eu estava cochilando“?<br />

4. Produtividade<br />

Eles chegaram, ficaram, integraram-se e se reproduziram, adquiriram outros<br />

significados (tiveram os seus significados alargados), constituindo verdadeiros<br />

brasileirismos como o vocábulo molambo, no exemplo a seguir, a respeito <strong>das</strong><br />

sandálias Havaianas, demonstra: „Mary-Kate, a mais molambenta-chique <strong>das</strong> gêmeas<br />

Olsen, praticamente não calça outra coisa“ (VEJA 19/07/2006, p. 2). Vejamos<br />

alguns derivados deste termo:<br />

a. substantivos<br />

esmolambação, „estado de esmolambado“<br />

esmolambador, „que ou aquele que esmolamba, acanalha, achincalha“<br />

molambada, „coisa sem importância“<br />

molambo, no sentido figurado de “pessoa mole“<br />

b. verbo<br />

esmolambar, „arrastar molambos, andar esfarrapado, maltrapilho“<br />

esmolambar, (fig.) „achincalhar, acanalhar“<br />

c. adjetivos<br />

molambado, „que ou aquele cuja roupa está em molambos“<br />

molambo, acompanhando um substantivo para qualificá-lo desta maneira<br />

molambento, molambudo „diz-se de, ou indivíduo roto, esfarrapado“<br />

Um outro lexema muito produtivo é moleque, que deu os seguintes derivados:<br />

a) substantivos<br />

molecada, molecório, molecoreba, „grupo ou corja de moleques“<br />

molecada, molecagem, molequeira, „ação de moleque“<br />

molecote/molecota, „moleque, moleca pequeno/a“<br />

molecão, „moleque encorpado“<br />

molequice, o mesmo que molecada e molecagem no sentido de ato censurável


) verbos<br />

amolecar, „tratar indecorosamente“; „tornar-se moleque“<br />

molecar, molequear, „proceder como moleque“; „em que denota molecagem“<br />

c) adjetivos<br />

amolecado, „que tem ar de moleque“ ; „em que denota molecagem“<br />

moleque/moleca, „engraçado/a, pilhérico/a, trocista, jocoso/a“<br />

5. Indicadores dos relacionamentos sociais /interétnicos<br />

Se, por um lado alguns deles incorporaram significados que traduzem o afeto,<br />

a ternura que de um certo modo não podemos negar na relação branco-negro<br />

na sociedade brasileira, por outro lado, eles são portadores de um racismo incutido<br />

na cabeça dos locutores que, se tivessem consciência deste fato, não o pronunciariam,<br />

sobretudo quando se trata de pessoas da vida pública ou de classe<br />

social privilegiada. Para ilustrar, vejamos o substantivo molecagem derivado de<br />

moleque, que tem acepções tanto no sentido positivo quanto negativo.<br />

a) no sentido de brincadeira:<br />

»As molecagens de um narrador: Aos 55 anos, com mais de uma dúzia de livros<br />

publicados, o escritor Sérgio Sant’Anna chega à maturidade sem abrir mão de<br />

dois atributos que considera essenciais à sua obra: o experimentalismo e a<br />

molecagem.« (FOLHA DE SÃO PAULO 1/06/1997, Cad. Mais, p. 11)<br />

b) no sentido de „ato censurável“, portanto uma ação não aceitável praticada<br />

por moleques, no caso, patifes, velhacos, malandros.<br />

»Não admito molecagem do PSDB com o maior líder deste partido, que era<br />

meu marido.« (ISTOÉ 16/05/01, p. 31; Lila Covas, esposa do falecido governador<br />

de São Paulo, Mário Covas, revoltada com o cancelamento da homenagem<br />

do Congresso ao marido).<br />

c) em casos ambíguos, onde não está claro se é brincadeira ou ato censurável:<br />

»Molecagem no plenário [...]. Na última quarta-feira, num ato de molecagem<br />

parlamentar, o Senado aproveitou-se da fragilidade política do governo e<br />

aprovou a elevação do salário mínimo de 300,00 para 384,29 reais« (VEJA 17/<br />

08/05, p. 80).<br />

Estes casos dão material para uma análise bastante plácida da discriminação<br />

sofrida pelos descendentes dos africanos, os afro-brasileiros ou brasileiros mestiços,<br />

sendo, de maneira inconsciente, portadores de um sutil racismo. A língua<br />

serve assim, de instrumento para tal percepção.<br />

6. Estudos lexicológicos luso-brasileiros dedicados ao tema<br />

Introduzidos por via oral, através do estreito contato estabelecido entre os<br />

africanos e o colonizador português no território brasileiro, sobretudo no seio da<br />

sua família, vocábulos de origem africana já fazem parte da língua portuguesa<br />

escrita do século XVII, como atestam os textos do poeta baiano Gregório de Matos<br />

(1636-1695). No entanto, só no século XIX é que os estudiosos começam a<br />

73


74<br />

tecer considerações a respeito da sua presença no nosso vocabulário (Pedra<br />

Branca 1824/5 em RIBEIRO 1979, p. 60; e SOARES 1879, 1880). Nas obras<br />

lexicográficas só serão inseridos a partir do final do século XIX (SOARES 1889),<br />

com exceção de moleque, que já consta de Bluteau (1716). Também datam dessa<br />

época as primeiras alusões à nossa displicência em não ter tido o cuidado de<br />

documentar assunto tão importante da nossa cultura (ROMERO 1977, p. 34) e é<br />

dessa época em diante, sobretudo depois da abolição da escravatura (1888) que<br />

começam os estudos sobre a presença lingüística dos povos africanos na língua<br />

portuguesa falada no Brasil. A primeira obra de importância dedicada ao assunto<br />

só veio a surgir em 1933. É a obra de Renato Mendonça Influência africana no<br />

português do Brasil. Do mesmo ano é a de Jacques Raim<strong>und</strong>o O elemento afrobrasileiro<br />

na língua portuguesa. Fato que nos salta à vista quando se compara com<br />

o interesse e os estudos dedicados às línguas indígenas durante a época colonial.<br />

Também datam dos anos 30 grandes obras, em diversas áreas, que tratam da<br />

importância do africano na formação da cultura brasileira: Casa Grande e Senzala<br />

de Gilberto Freyre, Raízes do Brasil de Sérgio Buarque de Holanda, O negro na<br />

Bahia, de Nina Rodrigues, etc. Também dessa época é a inserção dessas palavras<br />

considera<strong>das</strong> típicas do Brasil em obras lexicográficas importantes como o dicionário<br />

de Cal<strong>das</strong> Aulete (primeira ed. 1925), sobretudo na sua terceira edição. No<br />

entanto, nessas obras pioneiras esses vocábulos não são tratados com o rigor<br />

científico desejado, o que veio acontecer só nos anos 1970 com as pesquisas de<br />

campo de Castro (1976) na África e no Brasil.<br />

Em alguns desses estudos há uma tendência a classificar muitos dos afronegrismos<br />

de brasileirismos. Tendência denominada por Bolouvi (1996, p. 214) de „antiafricanisme“.<br />

Ora, sob o rótulo de brasileirismos devem ser enquadrados os termos<br />

e expressões típicos ou próprios do Português do Brasil. Aqui há muita benevolência<br />

dos lexicógrafos que classificam alguns desses termos com esta marca de uso, quando<br />

num exame mais aprof<strong>und</strong>ado vamos encontrá-los tanto no português <strong>das</strong> ex-colônias<br />

portuguesas da África, como no espanhol da América – por ex. zumbi, que se<br />

encontra no léxico afro-americano do espanhol da Venezuela (ALVAREZ 1987, p.<br />

190) e no inglês da América (CASTRO 1996) e no português de Angola (RIBAS 1994).<br />

Um grande passo já foi dado na reedição do Dicionário Aurélio (1999) e no Dicionário<br />

Houaiss (2001) que também trazem as marcas Angol. (angolanismo), Moç.<br />

(moçambicanismo), etc. Mesmo assim, há ainda alguns deslizes.<br />

7. Brasileirismos “verdadeiros”<br />

Mas a particularidade destes vocábulos é que, mesmo que alguns não façam<br />

parte só do léxico do português do Brasil, eles forneceram e fornecem derivados<br />

que se incluem na categoria do que Faulstich e Strehler (2003) denominam de<br />

brasileirismos verdadeiros, isto é, vocábulos cujas forma e acepção se formaram<br />

no Brasil. Vejamos alguns:<br />

• Desb<strong>und</strong>e: „descontrole“, derivado de b<strong>und</strong>a: nádegas<br />

»O padre, o travesti, o ator e o cineasta coexistem também como as Espanhas<br />

diversas: a Espanha oprimida e reprimida do franquismo, a do desb<strong>und</strong>e<br />

deflagrado no fim dos anos 70, o país conformista, pragmático e ambicioso da


década passada e a Espanha que o próprio Almodóvar representa e ajudou a<br />

criar – a da efervescência capaz de dar a volta por cima à ditadura de Franco...«<br />

(VEJA 10/11/04, p. 153)<br />

• Cochilar: „cometer um erro por distração“, derivado de cochilar: dormitar<br />

»Se cochilar, sai convocação.« (VEJA 08/06/05, p. 36)<br />

E, ainda que existentes no léxico de outras línguas, esses lexemas traduzem de<br />

maneira muito plácida a índole e o caráter do nosso povo.<br />

A língua, ao mesmo tempo em que é considerada também um possível fator de<br />

identidade, é um agente revelador de uma sociedade. „As transformações sociais<br />

e culturais se refletem nitidamente no acervo do léxico de uma comunidade“<br />

(ALVES 1990, p. 87). A importância desses termos é indiscutível, a sua produtividade<br />

cresce constantemente. O seu uso, também na imprensa, é cada vez mais<br />

freqüente, o que nos faz pensar se isto não é um reflexo de uma mudança consciente<br />

de comportamento que acompanha as medi<strong>das</strong> oficiais anti-racistas postas<br />

em prática pelo governo nos últimos anos ou se, inconscientemente, o povo<br />

brasileiro as utiliza por serem mais adequa<strong>das</strong> à suas intenções comunicativas.<br />

Muitas têm equivalentes no português. Outro ponto importante a assinalar é que<br />

muitos desses vocábulos estão pouco a pouco galgando os andares dos níveis da<br />

língua, do vulgar ou popular para o standard, como se conclui numa análise mais<br />

aprof<strong>und</strong>ada dos mesmos (CUNHA-HENCKEL 2002, 2005b).<br />

Enfim, é impossível imaginar a língua portuguesa falada no Brasil sem esses<br />

africanismos adotados, ou sem os brasileirismos de matriz africana como os acima<br />

mencionados. Sobretudo sem samba, cafuné, cachaça e bagunça. São termos que<br />

refletem a nossa índole, a nossa africanidade, o nosso modo de ser. São, portanto,<br />

reveladores da nossa identidade de brasileiros, do Brasil como nação mestiça<br />

para a qual a contribuição africana foi e é de primordial importância.<br />

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CUNHA-HENCKEL, Rosa (2005c): Die Bedeutung der Frauen bei der Bildung eines afrikanischstämmigen<br />

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Brasil que fala até hoje uma língua de origem africana. In: Revista de estudos lingüísticos 2 FAFIL/<br />

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vista – Revista de cultura, Ano III, 9. Buenos Aires, p. 26-32.<br />

VOGT, Carlos / FRY, Peter / GNERRE, Maurízio (1984): A comunidade do Caf<strong>und</strong>ó (Mafambura<br />

e Caxapura): na encruzilhada da identidade. In: Cadernos de Estudos lingüísticos 6. Campinas,<br />

p. 111-128.<br />

Dr. a Rosa Alice Cunha-Henckel, licenciada em Letras (UFPE / Recife – Brasil), Maître ès<br />

Lettres (Universidade de Poitiers – França), Dr. Phil. (Universidade de Bremen – Alemanha).<br />

Foi leitora de Português na Universidade de Gießen (Alemanha) de 1986 a 1992. Desde 1999 é<br />

leitora de Português na Friedrich-Schiller Universität Jena (Alemanha). Autora do livro Tráfego<br />

de palavras, Africanismos lexicais na obra de José Lins do Rego (2005, Editora Massangana)<br />

e de vários artigos sobre o tema.<br />

77


Anatol Rosenfeld (aus: Letras e leituras, Perspectiva/Edusp/Eda. da Unicamp 1994)


Annäherungen an die brasilianische Kultur:<br />

Anatol Rosenfelds<br />

frühe Beiträge zu den<br />

Staden-Jahrbüchern 1954-56<br />

Marcel Vejmelka<br />

Berlin / Gießen<br />

Resumo: Anatol Rosenfeld (1912-1973), na condição de judeu alemão,<br />

teve que refugiar-se no Brasil, em 1937, perseguido pelo<br />

nazismo. No exílio reconstruiu a sua vida pessoal e intelectual,<br />

convertendo-se num dos mais influentes críticos culturais,<br />

literários e de teatro deste país. Além disso, atuou como<br />

mediador destacado entre a cultura alemã e a brasileira. Um<br />

órgão central nesta atividade foi o próprio Staden-Jahrbuch,<br />

onde em 1954 Rosenfeld começou a publicar ensaios em<br />

alemão. Os três primeiros desses textos, que tratam de aproximar<br />

o leitor alemão a questões mais gerais da cultura e sociedade<br />

brasileiras, são analisados aqui como o primeiro gesto<br />

mediador do crítico transcultural, e situados no contexto de<br />

sua obra e da sua experiência do exílio.<br />

Abstract: As a German Jew, Anatol Rosenfeld (1912-1973) was forced<br />

by the Nazi persecution to escape to Brazil in 1937. In exile<br />

he reconstructed his personal and intellectual life and became<br />

one of Brazil’s most influential theorists on culture,<br />

literature and theater. Furthermore he was an active and<br />

extraordinary mediator between German and Brazilian culture.<br />

One of the central instruments for this purpose was the<br />

very Staden-Jahrbuch where Rosenfeld, from 1954 on, regularly<br />

published essays written in German. In his first three<br />

publications he tries to familiarize his German readers with<br />

more general questions of Brazilian culture and society. They<br />

are analyzed here as the first mediating gesture of this<br />

transcultural critic and situated within the context of his<br />

œuvre and of his exile experience.<br />

I. Stationen eines „brasilianischen Intellektuellen“<br />

Die Bedeutung <strong>und</strong> der Einfluss Anatol Rosenfelds im brasilianischen Geistesleben<br />

des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts sind von solchen Ausmaßen, <strong>das</strong>s sie im Gr<strong>und</strong>e keiner<br />

weiteren Erläuterungen bedürfen. Er gilt als geistiger Vater der vergleichen-<br />

79


80<br />

den Literaturwissenschaft in Brasilien (CARONE 1995, S. 38) 1 , sprachlich <strong>und</strong> stilistisch<br />

als ein herausragender Vertreter des brasilianischen Essays als „kritischer<br />

Form“ im Sinne Adornos (CHAVES 1995, S. 49), er vollzog strukturelle Analysen<br />

literarischer Werke vor dem französischen Strukturalismus <strong>und</strong> nahm in der Umsetzung<br />

der Lehren von Nicolai Hartmann <strong>und</strong> Roman Ingarden Dimensionen<br />

der Rezeptionsästhetik vorweg (CAMPOS 1995, S. 84), er prägte die brasilianische<br />

Reflexion zum Theater im Allgemeinen sowie zu seiner performativen Dimension<br />

im Besonderen (MAGALDI 1995, S. 100). Diese nur exemplarisch gemeinte Auflistung<br />

von bedeutenden Verdiensten mag verdeutlichen, vor welchem Hintergr<strong>und</strong><br />

die folgenden Überlegungen anzusiedeln sind.<br />

Zwar sind aufgr<strong>und</strong> der bis zur Verschlossenheit reichenden Diskretion Anatol<br />

Rosenfelds hinsichtlich seiner Vergangenheit (vgl. GUINSBURG 1995a, S. 155) nur<br />

wenige, verstreut <strong>und</strong> mündlich überlieferte Einzelheiten über den Lebensweg<br />

dieses deutschen Flüchtlings <strong>und</strong> Emigranten bekannt, doch dürften auch diese<br />

Angaben allgemeinen Bekanntheitsgrad besitzen. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e beschränke<br />

ich mich hier auf eine kurze Zusammenfassung.<br />

Der 1912 wahrscheinlich in Berlin geborene Anatol Rosenfeld besuchte dort<br />

in den 20er Jahren <strong>das</strong> Friedenauer Gymnasium <strong>und</strong> studierte ab 1931 an der<br />

Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität (der heutigen Humboldt-Universität). Seine<br />

begonnene Promotion in Germanistik musste er abbrechen <strong>und</strong> Deutschland<br />

1935 oder 1936 verlassen. Als allgemeiner Gr<strong>und</strong> für seine Flucht kann die von<br />

mehreren Autoren genannte Zuspitzung der Drangsalierung <strong>und</strong> Bedrohung der<br />

im nationalsozialistischen Deutschland lebenden Juden durch die Nürnberger<br />

Rassengesetze angesehen werden. Der langjährige Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong> Weggefährte<br />

Roberto Schwarz berichtet auch konkret davon, <strong>das</strong>s Rosenfeld während der<br />

Olympischen Spiele 1936 in Berlin auf der Straße ausländischen Besuchern auf<br />

Englisch eine Frage beantwortete, dabei von einem Spitzel beobachtet wurde<br />

<strong>und</strong> wegen der einsetzenden Untersuchung unter dem Verdacht der „Verbreitung<br />

von Greuelmärchen“ <strong>das</strong> Schlimmste befürchten musste (SCHWARZ 1987,<br />

S. 79f). Auch über die Wege seiner Flucht ist wenig bekannt. Die erste Station<br />

waren die Niederlande (ebd.), warum <strong>und</strong> wie genau er 1937 nach Brasilien<br />

kam, bleibt im Unklaren. 2 Ebenso hat sich Anatol Rosenfeld nie dazu geäußert,<br />

warum er nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht nach Deutschland zurück<br />

ging, obwohl dies laut Jacó Guinsburg seine Familie tat, die den Holocaust<br />

1. Der hier <strong>und</strong> in der Folge häufig zitierte Band Sobre Anatol Rosenfeld bietet eine sehr schöne<br />

<strong>und</strong> reichhaltige Sammlung von Portraits, Hommagen, Analysen <strong>und</strong> anderen Texten aus<br />

mehreren Jahrzehnten zu Leben <strong>und</strong> Werk Anatol Rosenfelds.<br />

2. So ist auch nicht geklärt, wie er 1937, als die von der Regierung Vargas verordneten (wenn<br />

auch nie vollkommen konsequent umgesetzten) Beschränkungen für die Aufnahme jüdischer<br />

<strong>Flüchtlinge</strong> bereits wirksam waren, als deutscher Jude an ein Visum für die Einreise<br />

nach Brasilien kam. Furtado Kestler erwähnt unter Bezug auf mündliche Mitteilungen von<br />

Carolina Bresslau Aust, <strong>das</strong>s Rosenfeld mit einem Touristenvisum eingereist sei <strong>und</strong> sich aus<br />

Angst vor der Ausweisung nach dessen Ablauf ins Hinterland zurückgezogen habe (FURTADO<br />

KESTLER 1992, S. 113). Folgt man Patrik von zur Mühlens historischem Abriss zum deutschsprachigen<br />

Exil in Brasilien, so lassen sich vielfältige Möglichkeiten wie die relativ leichte<br />

Einwanderung zum Zweck der Verdingung als Landarbeiter, die üblichen bürokratischen<br />

Schlupflöcher <strong>und</strong> Formen der Bestechung denken, über die hier nicht weiter spekuliert<br />

werden soll (vgl. VON ZUR MÜHLEN 1994, S. 11ff sowie LESSER 1994, S. 91 ff).


überlebt hatte (GUINSBURG 1995a, S. 158). 3 Welche auch immer seine Beweggründe<br />

gewesen sein mögen, Brasilien wurde ihm zur zweiten, zur neuen Heimat.<br />

Auch die Landessprache eignete er sich in Wort <strong>und</strong> Schrift nicht nur schnell an,<br />

sondern erreichte in ihr herausragenden Ausdruck <strong>und</strong> Stil (SCHWARZ 1987).<br />

Während der ersten Jahre in Brasilien verdingte er sich als Arbeiter auf einer<br />

Kaffeeplantage bei Campinas, danach verkaufte er als Handlungsreisender Krawatten<br />

in Mato Grosso (vgl. SCHWARZ 1987; ALMEIDA PRADO 1995). Osman Lins<br />

berichtet, <strong>das</strong>s er sogar <strong>das</strong> Angebot seines Arbeitgebers, Gesellschafter zu werden,<br />

ausschlug <strong>und</strong> sich mit dem Ersparten daran machte, sich den Weg „zurück“ in den<br />

Bereich der Literatur zu erschließen (LINS 1995, S. 31f.). Er schrieb Buchbesprechungen<br />

<strong>und</strong> Artikel zunächst vor allem für Publikationen der jüdischen Gemeinde<br />

<strong>und</strong> Vereine in São Paulo (GUINSBURG 1995b, S. 63f.), arbeitete aber zunächst<br />

bewusst nicht für die neu entstandenen deutschen Presseorgane (FURTADO<br />

KESTLER 1992, S. 113). 1956 schließlich wurde er auf Initiative von Antonio Candido<br />

mit der Sparte „deutschsprachige Literatur“ im von Décio de Almeida Prado geleiteten<br />

Kulturteil der Tageszeitung O Estado de São Paulo betraut <strong>und</strong> übte diese Funktion<br />

bis 1967 aus (vgl. CANDIDO 2005, ALMEIDA PRADO 1995). 1962-67 übernahm<br />

er auf Initiative des damaligen Direktors Alfredo de Mesquita eine Lehrtätigkeit an<br />

der Escola de Arte Dramática der Universidade (EAD) de São Paulo. Diese Zeit gilt<br />

sowohl im Leben <strong>und</strong> Werk Rosenfelds als auch in der Geschichte der EAD als<br />

besonders produktiv <strong>und</strong> prägend (MESQUITA 1995, S. 70f.).<br />

Im Rahmen der im Martius-Staden-Jahrbuch des vergangenen Jahres 2006 vorgestellten<br />

Analyse der Dialektik von kultureller Aneignung <strong>und</strong> Vermittlung im Werk<br />

von Otto Maria Carpeaux, der seine Heimat Österreich nach deren „Anschluss“ an<br />

<strong>das</strong> nationalsozialistische Deutschland verlassen musste <strong>und</strong> in Brasilien zu einem<br />

der einflussreichsten Literaturwissenschaftler des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts wurde (vgl.<br />

VEJMELKA 2006), habe ich diesen in eine Gruppe deutschsprachiger Intellektueller<br />

im brasilianischen Exil eingereiht, innerhalb derer Anatol Rosenfeld eine nicht weniger<br />

herausragende Position einnimmt. Dies gilt in zweifacher Hinsicht: Zum einen<br />

leistete Rosenfeld gr<strong>und</strong>legende <strong>und</strong> bis heute prägende Beiträge zur Rezeption<br />

deutschsprachiger Schriftsteller <strong>und</strong> vor allem Dramatiker sowie allgemein zur Literatur-<br />

<strong>und</strong> Theatertheorie in Brasilien; zum anderen vollzog er auf einzigartige Weise<br />

<strong>und</strong> in kaum vergleichbarem Umfang die Geste einer kulturellen Vermittlung in<br />

zwei Richtungen <strong>und</strong> Sprachen, auf Portugiesisch <strong>und</strong> auf Deutsch, von Deutschland<br />

nach Brasilien <strong>und</strong> insbesondere auch umgekehrt. 4<br />

3. Julieta de Godoy Ladeira äußert die allgemeine Vermutung, die Erfahrung der Vertreibung habe<br />

in Rosenfeld so stark nachgewirkt, <strong>das</strong>s sie den Wunsch nach einer Rückkehr oder Remigration<br />

nicht aufkommen ließen. „Zurückkehren? Daran dachte er [Rosenfeld] nicht. [...] Die Gründe, die<br />

ihn zum Weggehen gezwungen hatten, wogen wohl noch immer so schwer, <strong>das</strong>s sie jeden<br />

Wunsch nach Rückkehr ausschlossen.“ („Voltar? [Rosenfeld] não pensava nisso. [...] as razões que<br />

o forçaram a sair deveriam ainda pesar bastante, afastando qualquer desejo de retorno. [...]<br />

Assim não havia para onde ou por que voltar.“ GODOY LADEIRA 1995, S. 25)<br />

4. Aus diesem Gr<strong>und</strong> zählt Anatol Rosenfeld neben Otto Maria Carpeaux, Sérgio Buarque de<br />

Holanda, Vianna Moog <strong>und</strong> Mário de Andrade zu den brasilianischen Denkern mit biographischem<br />

oder thematischem Bezug zum deutschsprachigen Raum, deren Wirken im Rahmen<br />

des Forschungsprojekts „Brasilianische Intellektuelle: transkulturelle Dynamiken <strong>und</strong><br />

transdisziplinäre Essays“ unter Leitung von Prof. Ligia Chiappini am Lateinamerika-Institut<br />

der Freien Universität Berlin untersucht werden soll.<br />

81


82<br />

So lassen sich in Rosenfelds Lebenswerk zwei sehr deutliche Ausrichtungen feststellen,<br />

von denen eine, nämlich die der Vermittlung deutscher Kultur <strong>und</strong> Literatur<br />

nach Brasilien sowie deren Integration in <strong>das</strong> dortige literarische <strong>und</strong> kulturelle<br />

System, im Verlauf der Jahre immer stärker in den Vordergr<strong>und</strong> tritt <strong>und</strong> die wirkmächtigsten<br />

Dimensionen annimmt. Das prägnanteste Beispiel hierfür ist gewiss<br />

neben den zeitlebens verfolgten Untersuchungen zu Thomas Mann Rosenfelds immer<br />

intensivere Beschäftigung mit dem Theater, in deren Zuge seine Auseinandersetzung<br />

mit Bertolt Brecht vollkommen in einer innovativen Reflexion zum zeitgenössischen<br />

Theaterwesen in Brasilien aufgeht. Die zweite Ausrichtung betrifft die,<br />

nach der oben erwähnten Zurückhaltung in den frühen 50er Jahren hinsichtlich<br />

der deutschsprachigen Publikationen in Brasilien, dann einsetzende <strong>und</strong> systematisch<br />

betriebene Vermittlung der brasilianischen Kultur <strong>und</strong> Literatur – <strong>und</strong> auch<br />

hier im Verlauf der Jahre in immer größerem Umfang des Theaters – nach Deutschland.<br />

Zwar tritt diese Dimension notwendigerweise hinter die bis heute ungebrochene<br />

Bedeutung von Rosenfelds Beitrag zur brasilianischen Literaturwissenschaft<br />

zurück, dennoch schreibt er bis kurz vor seinem Tod regelmäßig auf Deutsch <strong>und</strong><br />

für ein deutschsprachiges Publikum über zeitgenössische <strong>und</strong> historische Aspekte<br />

des brasilianischen Kulturlebens. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> ist denn auch die von<br />

Izabela Maria Furtado Kestler bereits 1992 geäußerte Kritik – „Rosenfeld wird in<br />

keinem Nachschlagewerk [zum deutschsprachigen Exil in Brasilien] erwähnt, obwohl<br />

er zu einem der wichtigsten Literatur- <strong>und</strong> Kulturvermittler Brasiliens geworden<br />

ist“ (FURTADO KESTLER 1992, S. 113) – aufzugreifen <strong>und</strong> zu bestärken.<br />

Und gerade der zuvor genannte Punkt zu Rosenfelds Leistung im Sinne der<br />

kulturellen Vermittlung von Brasilien nach Deutschland ist Anlass für die dankbare<br />

Erwähnung einer kaum zufälligen Fügung. Denn Anatol Rosenfeld bediente<br />

sich für seine auf Deutsch <strong>und</strong> somit an ein deutschsprachiges Publikum gerichteten<br />

Untersuchungen zur brasilianischen Kultur <strong>und</strong> Literatur desselben<br />

Mediums wie vorliegender Beitrag. Von 1954 bis 1972 veröffentlichte er 13 Essays<br />

im damals noch Staden-Jahrbuch betitelten Organ des gleichnamigen Instituts,<br />

<strong>das</strong> somit <strong>das</strong> zentrale Medium für seine in die verlorene Heimat gerichtete<br />

vermittelnde Tätigkeit darstellt. 5<br />

Die Gesamtheit dieser Beiträge zum Staden-Jahrbuch könnte hier nicht angemessen<br />

gewürdigt <strong>und</strong> dargelegt werden, zu komplex <strong>und</strong> tiefgründig sind sowohl<br />

die interne Entwicklung des Denkens <strong>und</strong> Schreibens von Anatol Rosenfeld<br />

im Verlauf der von ihnen abgedeckten knapp drei Jahrzehnte als auch die von<br />

ihm behandelten Fragen <strong>und</strong> Gegenstände (Literatur, Theater in Schriftform <strong>und</strong><br />

als Aufführung, Film, Fußball, Rassismus <strong>und</strong> religiöser Synkretismus). Eine gewisse<br />

Einheit <strong>und</strong> Sonderstellung – wiederum sowohl im chronologischen wie im<br />

thematischen Sinne – nehmen dabei die drei ersten Beiträge zu den Staden-Jahrbüchern<br />

1954-56 ein, die sich nicht wie die späteren Essays mit einzelnen Autoren<br />

oder spezifischen Fragen des zeitgenössischen Theaters auseinandersetzen, son-<br />

5. Die einzelnen Beiträge wurden im Zuge der Publikation von Anatol Rosenfelds Schriften ins<br />

Portugiesische übersetzt <strong>und</strong> in verschiedene Bände aufgenommen. Insbesondere hat sich<br />

Jacó Guinsburg um die Herausgabe von Rosenfelds Werk verdient gemacht. Zuletzt erschienen<br />

2006 seine frühen Schriften in der Anthologie Anatol on the road (ROSENFELD 2006).


dern in Form sehr allgemeiner Zugänge drei charakteristische <strong>und</strong> bis heute aktuelle<br />

Aspekte der brasilianischen Kultur betrachten. Die Einheit dieser drei frühen<br />

Essays wird belegt <strong>und</strong> bekräftigt von der Entscheidung Jacó Guinsburgs <strong>und</strong><br />

Abílio Tavares’, sie in portugiesischer Übersetzung in einem eigenen Band zu veröffentlichen:<br />

Negro, macumba e futebol (Rosenfeld 1993a) 6 . Somit besitzen diese in<br />

den 50er Jahren des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts für ein deutschsprachiges Publikum im<br />

deutsch-brasilianischen Kulturdialog verfassten Texte noch knapp vier Jahrzehnte<br />

nach ihrer Entstehung ein mehr denn rein dokumentarisches Interesse für eine<br />

allgemeine brasilianische Leserschaft:<br />

Die Zusammenstellung dieser drei Studien in einem Band bietet dem<br />

Leser einerseits treffende – weniger als wissenschaftliche Ausführungen<br />

denn als Gesamtbetrachtungen abgefasste – Analysen der in den<br />

Blick genommenen Gegenstände, sie vermitteln ihm darüber hinaus<br />

eine Vorstellung von der guten soziologischen <strong>und</strong> politischen Ausrüstung,<br />

mit der Anatol H. Rosenfeld seine kritisch-ästhetischen Erk<strong>und</strong>ungen<br />

im Territorium der brasilianischen Kultur unternahm.<br />

(GUINSBURG/TAVARES 1993, S. 15-16) 7<br />

Diese in der Geste der interkulturellen Vermittlung <strong>und</strong> aus der transkulturellen<br />

Erfahrung von Exil <strong>und</strong> Emigration heraus entstandenen Essays „Die Situation<br />

der Farbigen in Brasilien“, „Macumba“ <strong>und</strong> „Das Fußballspiel in Brasilien“ sollen<br />

aus diesem Gr<strong>und</strong> im Folgenden einzeln vorgestellt <strong>und</strong> abschließend aus der<br />

Perspektive aktueller kulturwissenschaftlicher Ansätze kontextualisiert werden.<br />

II. „Die Situation der Farbigen in Brasilien“<br />

In diesem ersten, im Staden-Jahrbuch 1954 erschienenen Essay vergleicht Anatol<br />

Rosenfeld die Mechanismen <strong>und</strong> Konstellationen des Rassismus bzw. der<br />

Ausgrenzung der farbigen Bevölkerung in der brasilianischen <strong>und</strong> der US-amerikanischen<br />

Gesellschaft. Während in letzterer ein rigides Kastensystem mit einer<br />

eigentlich unüberwindlichen Farblinie herrsche, sei in Brasilien die Grenzziehung<br />

zwischen Schwarz <strong>und</strong> Weiß in die Schichtung der sozialen Klassen eingebettet<br />

<strong>und</strong> bedeutend durchlässiger. Dies spiegele sich historisch im Kontrast der unblutig<br />

durchgesetzten Abschaffung der Sklaverei in Brasilien durch die Lei Áurea von<br />

1888 gegenüber deren Ende durch den 1865 errungenen Sieg der Nordstaaten<br />

im US-amerikanischen Bürgerkrieg:<br />

Aus vielen Gründen verlief die Auflösung der Sklaverei in Brasilien auf<br />

friedliche Weise im Rahmen einer graduellen Entwicklung, die durch<br />

6. Die Essays tragen in dieser Ausgabe folgende Titel: „A situação <strong>das</strong> pessoas de cor no Brasil“<br />

(übersetzt von Erika Elisabeth Patsch), „Macumba“ (übersetzt von Jacó Guinsburg) <strong>und</strong> „O<br />

futebol no Brasil“ (übersetzt von Modesto Carone).<br />

7. „A conjugação destes três estudos em um único volume oferecerá ao leitor não só análises<br />

pertinentes dos assuntos focalizados – escritas menos à guisa de desenvolvimentos científicos<br />

do que de apanhados de conjunto – como uma idéia da sólida bagagem sociológica e<br />

política que sustentava as incursões crítico-estéticas de Anatol H. Rosenfeld no território<br />

cultural brasileiro.“<br />

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84<br />

die Lei Áurea von 1888 gleichsam bestätigt wurde, während in Nordamerika<br />

ein blutiger Bürgerkrieg dem Süden mit aller Schroffheit <strong>das</strong> Ende des<br />

Sklavensystems aufzwang <strong>und</strong> durch seine traumatische Wirkung Ursprung<br />

tiefer Ressentiments wurde. Diese graduelle Entwicklung fand ihren symbolischen<br />

Ausdruck in der Tatsache, <strong>das</strong>s gegenwärtig in Brasilien <strong>das</strong><br />

vorhandene „Farbkontinuum“, welches den „preto retinto“, „den kohlschwarzen<br />

Neger“, über unendlich viele Nuancen mit dem Weissen verbindet,<br />

sein Pendant gleichsam in der nuancierten Haltung des letzteren<br />

gegenüber dem ersteren hat, während in Nordamerika die weisse Bevölkerung<br />

durch einen schroffen Einschnitt von allen Farbigen getrennt ist,<br />

so hell ihre Tönung auch immer sein mag. (ROSENFELD 1954, S. 157)<br />

Rosenfeld führt diesen historischen Unterschied in der Gedankenlinie<br />

Gilberto Freyres auf die flexible <strong>und</strong> bewusst Vermischung fördernde Gr<strong>und</strong>anlage<br />

der portugiesischen Kolonisierung zurück. In der kolonialen Vergangenheit<br />

Brasiliens erkennt er somit die Ursachen sowohl für die im Vergleich zu<br />

den USA günstigere gesellschaftliche Position der Farbigen als auch für ihre<br />

strukturelle Benachteiligung in wirtschaftlicher, politischer <strong>und</strong> sozialer Hinsicht.<br />

Entsprechend genau seziert er denn auch die Überlagerungen <strong>und</strong> Verflechtungen<br />

einer ideologisch begründeten Betonung einer brasilianischen<br />

„Rassendemokratie“ <strong>und</strong> den zwar nur punktuell manifesten, latent aber strukturell<br />

existierenden „Voreingenommenheiten“ gegenüber Farbigen <strong>und</strong> Schwarzen:<br />

Tatsächlich ist die Haltung einer grossen Zahl weisser <strong>und</strong> „heller“<br />

Brasilianer den dunkleren Bevölkerungsschichten gegenüber in vielen<br />

Fällen nicht bis zur Phase kristallisierten Vorurteils gediehen: eher handelt<br />

es sich um <strong>das</strong>, was man „Voreingenommenheit“ nennen könnte.<br />

Ideologisch wird <strong>das</strong> Vorurteil gegen die Farbigen fast durchweg abgelehnt,<br />

<strong>und</strong> der Brasilianer pflegt sich mit Stolz dieser Vorurteilslosigkeit<br />

zu rühmen. (158)<br />

Auch hier wird der Vergleich mit den USA produktiv. Denn während dort die<br />

Vorurteile im engsten Wortsinne „rassisch“ begründet werden <strong>und</strong> „jeder Tropfen<br />

schwarzen Blutes“ einen Menschen zum „Schwarzen“ mache, richte sich in Brasilien<br />

eine Ablehnung gegen die sichtbaren körperlichen Merkmale, welche die Gleichsetzung<br />

von Schwarzen mit Sklaven aktualisieren, welche aber durch eine entsprechende<br />

soziale Stellung auch „überdeckt“ oder „übersehen“ werden könnten.<br />

Eng mit der eigenartigen Lagerung der Farbigenfrage, in ihrer Verbindung<br />

mit einer Klassen- <strong>und</strong> nicht einer Kastentrennung, hängt der<br />

Umstand zusammen, <strong>das</strong>s die Voreingenommenheit sich nicht gegen<br />

die Rasse des Farbigen als solche richtet, sondern gegen die „Sichtbarkeit“<br />

der Farbe oder anderer Merkmale, die für den früheren Sklavenstatus<br />

symbolhaft sind, wie vor allem Wollhaar <strong>und</strong> Wulstlippen. Die<br />

Sichtbarkeit des Symbols ist es, die den indirekten Reflex der Voreingenommenheit<br />

spielen lässt, nicht die Abstammung als solche. (ebd.)<br />

Diese Wahrnehmungsweise, die Rosenfeld als eher „quantitativ“ denn „quali-


tativ“ bezeichnet, bringe es mit sich, <strong>das</strong>s eben im Zusammenkommen verschiedenster<br />

Eigenheiten eines Menschen als sozialer Faktoren die negative Sichtbarkeit<br />

seiner Hautfarbe verschwinden oder zumindest gemildert werden könne: Je<br />

wohlhabender, erfolgreicher, gebildeter oder eleganter die Person, desto bereitwilliger<br />

<strong>und</strong> stärker werde sie als „weiß“ wahrgenommen <strong>und</strong> offiziell auch so<br />

klassifiziert. Diesen eigentümlichen Mechanismus der brasilianischen Gesellschaft<br />

illustriert er mit dem zeitgenössischen Sprichwort „Quem escapa de negro, branco<br />

é“, wohingegen in den USA die whiteness den absoluten Wert darstelle, an dem<br />

man gemessen würde <strong>und</strong> gemäß derer alle Abweichungen einen zum „Farbigen“<br />

stempelten (158). 8 Das in den USA zum Schlagwort gewordene passing als<br />

Aufstieg in eine von der weißen weiterhin getrennten schwarze Mittelschicht gestaltet<br />

sich somit in Brasilien anders – eben als „passar por branco“ – <strong>und</strong> sehe sich<br />

mit einer „Übergangszone“ zwischen den Ethnien konfrontiert (170).<br />

Historisch bestehe somit in Brasilien kein so krasser Gegensatz zwischen der nationalen<br />

Ideologie universeller Gleichheit <strong>und</strong> der real existierenden Diskriminierung<br />

wie in den USA, <strong>und</strong> dem entsprechend auch nicht <strong>das</strong> Bedürfnis (wie dort)<br />

nach einer kompensatorischen, rechtfertigenden Ideologie. Doch Rosenfeld analysiert<br />

diese brasilianische Zweischneidigkeit noch weiter <strong>und</strong> verdeutlicht, <strong>das</strong>s im<br />

Kern dieser scheinbaren Harmonie von gesellschaftlicher Realität <strong>und</strong> nationalem<br />

Projekt die geheime, heimliche Hoffnung ruhe, im Zuge der (wiederum im Gegensatz<br />

zu den die „Rassentrennung“ bevorzugenden USA) positiv besetzten ethnischen<br />

Vermischung schließlich eine „Aufweißung“ der Bevölkerung zu erreichen. Ähnlich<br />

zweischneidig sind für Rosenfeld die Auswirkungen dieser Dynamik, die wiederum<br />

eigene ideologische Dimensionen besitzt. Denn sie werde von der scheinbar nur<br />

geringfügig diskriminierten farbigen Bevölkerung derart verinnerlicht, <strong>das</strong>s sie die<br />

mit ihr verb<strong>und</strong>enen Vorurteile übernehme <strong>und</strong> somit perpetuiere.<br />

Das Fehlen einer Diskriminationen rechtfertigenden Ideologie schliesst<br />

freilich nicht aus, <strong>das</strong>s zahlreiche Stereotype als Splitter <strong>und</strong> Atome<br />

einer latenten, strengster Zensur unterliegenden Ideologie eine gewisse<br />

Verbreitung haben. [...] Die Stereotype tragen dazu bei, <strong>das</strong>s sich<br />

bei den Farbigen genau die Eigenschaften entwickeln, die ihnen in simplifizierender<br />

Verallgemeinerung zugeschrieben werden. Die sich subtil<br />

enthüllende Meinung über die Farbigen wird von diesen „introjiziert“,<br />

übernommen. Endlich kommt es soweit, <strong>das</strong>s sie nach dem Bilde leben,<br />

welches die Weissen sich von ihnen zu machen pflegen, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s<br />

sie so handeln, wie man es von ihnen erwartet. Auf diese Weise formt<br />

der Weisse den Farbigen nach dem Ebenbilde der Vorstellung, die er<br />

von ihm entworfen hat. (160)<br />

Schwarze müssten in dieser Konstellation einen ungleichen Kampf mit ihren<br />

weißen Mitbürgern um soziale Positionen <strong>und</strong> Chancen führen, was wiederum<br />

8. Ebenfalls in den 50er Jahren analysierte der US-amerikanische Anthropologe <strong>und</strong> Lateinamerikanist<br />

Charles Wagley diesen f<strong>und</strong>amentalen Unterschied im Umgang mit der Hautfarbe<br />

als ethnische <strong>und</strong>/oder soziale Kategorie – unter Einsatz des Begriffs der „social race“<br />

– in Mittelamerika <strong>und</strong> Brasilien gegenüber der strikten Trennung <strong>und</strong> absoluten Ethnisierung<br />

in den USA (vgl. WAGLEY 1968).<br />

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86<br />

dazu führe, <strong>das</strong>s die farbige Bevölkerung <strong>das</strong> Vorurteil verinnerliche, keine Fehler<br />

begehen zu dürfen <strong>und</strong> in allem besser <strong>und</strong> vorbildlicher als die Weißen ihrer<br />

sozialen Stufe sein zu müssen. Hinzu komme noch die bereits erwähnte Überlagerung<br />

von ethnischen <strong>und</strong> sozialen Trennlinien <strong>und</strong> der mit ihnen verb<strong>und</strong>enen<br />

Vorurteile, aufgr<strong>und</strong> derer sich in Brasilien keine ethnische Solidarität im Kampf<br />

um Zugang zum gesellschaftlichen Aufstieg herausbilden könne.<br />

Es ergibt sich sogar, <strong>das</strong>s gerade die Milde des Vorurteils, so günstig sie,<br />

verglichen mit Nordamerika, für die brasilianische Gesellschaft als Ganzes<br />

sein mag, der farbigen Bevölkerung nicht unbedingt zum Vorteil gereicht.<br />

Die Diskretion des Vorurteils lässt eine Solidarität unter den Farbigen<br />

nicht aufkommen <strong>und</strong> beraubt sie durch den dauernden Entzug<br />

aufsteigender Mulatten <strong>und</strong> Neger, die sich alsdann vollkommen mit den<br />

Weissen zu identifizieren suchen, gerade ihrer besten Elemente. (167)<br />

Diesen anhand der Figur des überkorrekten, in der übertriebenen Anpassung<br />

seine Unterwerfung ausdrückenden „mulato pernóstico“ (171) greifbaren<br />

Mechanismus illustriert Rosenfeld nun bezeichhnender Weise <strong>und</strong> unter Rückgriff<br />

auf die klassische Studie O negro no futebol brasileiro von Mário Filho aus<br />

dem Jahr 1947 anhand der Geschichte des Fußballs <strong>und</strong> des schwierigen <strong>und</strong><br />

umkämpften Einzugs der farbigen Spieler in den ursprünglich „europäischen“<br />

<strong>und</strong> elitären, daher „weißen“ Sport:<br />

Überdies muss der in den Mittelstand aufsteigende Farbige in einer Gesellschaft,<br />

die keine Kastentrennung kennt, mit dem Weissen um „einen<br />

Platz an der Sonne“ kämpfen [...]; <strong>und</strong> in diesem Kampf ist der Farbige<br />

natürlich in relativ ungünstigerer Position – er kämpft mit Zwölfunzenhandschuhen<br />

gegen einen Gegner mit Vierunzenhandschuhen. Brasilianischer<br />

ausgedrückt: er muss sich im Lebenskampf so benehmen, wie<br />

die ersten farbigen Fussballspieler im Kampf um den Ball. (167)<br />

Und <strong>das</strong> bedeutete oftmals, behutsamer zu spielen, den Ball nur mit fairen<br />

Mitteln zu erobern <strong>und</strong> in der Verteidigung auf Fouls zu verzichten, den weißen<br />

Gegenspieler dann „durchbrechen [zu] lassen <strong>und</strong> zurück[zu]bleiben“ (ebd.). Im<br />

letzten Extrem bringe diese Dynamik der „Milde“ <strong>und</strong> „Flexibilität“ des Rassismus in<br />

Brasilien einen verinnerlichten Selbsthass vor allem der sozial nicht aufgestiegenen<br />

der Schwarzen hervor (168), deren Spiegelbild auf der Gegenseite <strong>das</strong> die<br />

Konflikte ausblendende Ausweichen auf vermeintlich unverfängliche Bezeichnungen<br />

der Hautfarbe darstelle – etwa die Vorliebe für <strong>das</strong> Wort „moreno“ <strong>und</strong> die<br />

als „morena“ bezeichnete „dunkle weiße Frau“ als nationales Schönheitsideal –<br />

welches die bestehenden Vorurteile nur noch weiter verfestige. So ziehe sich durch<br />

die brasilianische Gesellschaft zwischen den Klassen <strong>und</strong> Hautfarben ein bis zur<br />

Hypersensibilität gesteigertes „epidermisches Feingefühl“:<br />

Angesichts der Sensibilität der Farbigen hat auch der Weisse eine spezifische<br />

Sensibilität entwickelt, <strong>und</strong> dieses epidermische Feingefühl hat<br />

sich in hohem Grade der Umgangskultur der bürgerlichen Klassen<br />

mitgeteilt. Charakteristisch ist die Tatsache, <strong>das</strong>s man die Wörter


„negro“ <strong>und</strong> „mulato“ vermeidet <strong>und</strong> auch „preto“ (schwarz) <strong>und</strong> „de<br />

cor“ (farbig) nicht gern verwendet. Statt dessen zieht man vor, zumal<br />

wenn man sich auf eine reale, selbst abwesende Person bezieht, „moreno“,<br />

„morena“ zu sagen – ein Ausdruck, der eigentlich brünett meint, jedoch,<br />

zum Allerweltswort geworden, alle möglichen Schattierungen der<br />

Hautfarbe einschliesst, wobei Variationen des Mienenspiels oder Zusätze<br />

wie „bem“ moreno (recht dunkel), „amorenado“ (angedunkelt) der<br />

genaueren Definition dienen. Eine solche Sachlage verrät die Anerkennung<br />

des Vorurteils <strong>und</strong> zugleich eine strenge Zensur. (169/170)<br />

Mit seinem abschließenden Ausblick – <strong>und</strong> man erinnere sich daran, <strong>das</strong>s Rosenfelds<br />

Text 1954 erschien, also kurz vor dem Erstarken des Civil Rights Movement in<br />

den USA im darauf folgenden Jahr mit dem Montgomery Bus Boycott –, <strong>das</strong>s die<br />

radikale <strong>und</strong> starre Rassentrennung in den USA wohl unvermeidlich zum offenen<br />

Konflikt führen würde (173), hatte er sicherlich Recht behalten. Ob seine Hoffnung,<br />

die nicht weniger radikale <strong>und</strong> ihrerseits komplexere Form der Diskriminierung<br />

in Brasilien könnte eine friedliche „Lösung“ finden (ebd.), sich noch<br />

bewahrheitet, bleibt bis heute offen. Seine kritische Betrachtung <strong>und</strong> Darstellung<br />

der brasilianischen Gesellschaft <strong>und</strong> Kultur anhand der Diskriminierung<br />

der farbigen Bevölkerung zeichnen dabei kein harmonisches Bild des Landes,<br />

wie es etwa der ungleich bekanntere <strong>und</strong> oft genannte deutschsprachige Flüchtling<br />

Stefan Zweig in seinem 1941 erschienenen Brasilien, ein Land der Zukunft 9<br />

tat. Doch sie beurteilen die angetroffenen Zustände <strong>und</strong> Phänomene auch nicht<br />

in bevorm<strong>und</strong>ender Haltung <strong>und</strong> mit der verzerrenden Brille eines deutsch<br />

<strong>und</strong>/oder europäisch geprägten Universalismus. Vielmehr erkennt man hinter<br />

dieser Reflexion einen von der eigenen Erfahrung von Verfolgung <strong>und</strong> Vertreibung<br />

geschärften Sinn für die im Innern einer Kultur wirkenden Kräfte <strong>und</strong> gezogenen<br />

Grenzen unter gleichzeitiger Betonung der darin trotz aller Probleme<br />

enthaltenen Chancen für Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft.<br />

Ein Gleichnis für den Aufstieg des Farbigen in Brasilien ist, wie Gilberto<br />

Freyre betont, sein schwer erkämpfter Erfolg im Fussballspiel, dieser<br />

nationalen Institution, die zunächst den Weissen vorbehalten war. Als<br />

Gleichnis mag auch die Vorliebe des Brasilianers für die „morena“<br />

angeführt werden – für die dunkle Schöne, auf die er stolz ist <strong>und</strong> die<br />

er in Lied <strong>und</strong> Schrift verherrlicht. Donald Pierson hebt hervor, <strong>das</strong>s<br />

9. Bereits in der Einleitung stellt Zweig diese sicherlich übertriebene, aufgr<strong>und</strong> der für ihn<br />

traumatischen Erfahrung eines im Grauen untergegangenen – von ihm als Welt von gestern<br />

(vgl. ZWEIG 1994) beschriebenen – Europas allerdings auch nachvollziehbare harmonische<br />

Wahrnehmung der brasilianischen Gesellschaft in den Vordergr<strong>und</strong>: „Nach europäischer<br />

Einstellung wäre zu erwarten, daß jede dieser Gruppen sich feindlich gegen die andere<br />

stellte, die früher Gekommenen gegen die später Gekommenen, Weiße gegen Schwarze,<br />

Amerikaner gegen Europäer, Braune gegen Gelbe, daß Mehrheiten <strong>und</strong> Minderheiten in<br />

ständigem Kampf um ihre Rechte <strong>und</strong> Vorrechte einander befeindeten. Zum größten Erstaunen<br />

wird man nun gewahr, daß alle diese schon durch die Farbe sichtbar voneinander<br />

abgezeichneten Rassen in vollster Eintracht miteinander leben <strong>und</strong> trotz ihrer individuellen<br />

Herkunft einzig in der Ambition wetteifern, die einstigen Sonderheiten abzutun, um möglichst<br />

rasch <strong>und</strong> möglichst vollkommen Brasilianer, eine neue <strong>und</strong> einheitliche Nation zu<br />

werden.“ (ZWEIG 1997, S. 13)<br />

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die „morena“ als der brasilianische Idealtyp zum Symbol einer Tendenz<br />

geworden ist, welche die Verschmelzung bejaht <strong>und</strong> welche in ihr<br />

gleichsam <strong>das</strong> Bindeglied zwischen der dunkleren <strong>und</strong> der helleren<br />

Bevölkerung sieht. Wenn auch die afrikanischen Züge nicht zu sehr<br />

durchschlagen dürfen <strong>und</strong> wenn auch in dieser Neigung unbewusst<br />

vielleicht noch die sexuelle Herrschaft des Weissen über die dunkle<br />

Sklavin nachklingt – selbst <strong>das</strong> Stereotyp, <strong>das</strong>s die Liebe der „morena“<br />

glühender sei als die der Weissen –, so kann man nicht umhin zu<br />

bemerken, <strong>das</strong>s der Brasilianer in diesem hellen Mestizentyp sich selbst<br />

repräsentiert sieht <strong>und</strong> also in ihm sich selbst liebt, stolz auf <strong>das</strong> große<br />

Experiment einer rassischen Toleranz, die, wenn sie nicht absolut ist,<br />

dennoch kaum ihresgleichen in der heutigen Welt findet. (173f.)<br />

III. „Macumba“<br />

Der Titel von Rosenfelds zweitem Beitrag zum Staden-Jahrbuch stellt den Leser<br />

gleich zu Beginn des Textes vor ein Problem, <strong>das</strong> wohl nur im Rückgriff auf die<br />

für Rosenfeld allgemein als charakteristisch geltende Ironie eine Auflösung findet.<br />

Denn Rosenfeld klärt zunächst den Titel-Begriff „Macumba“ <strong>und</strong> spezifiziert<br />

ihn aus der vielfältigen Bedeutung im allgemeinen Sprachgebrauch hin auf eine<br />

konkrete Form von synkretistischen, afro-brasilianischen religiösen Ritualen in<br />

Rio de Janeiro <strong>und</strong> in geringerem Maße São Paulo (ROSENFELD 1955, S. 125),<br />

um im Anschluss aber zu betonen, <strong>das</strong>s er in seiner Studie nicht darüber, sondern<br />

ausschließlich über den in Bahia beheimateten Candomblé sprechen werde.<br />

Den Titel „Macumba“, so seine (wohl augenzwinkernde, als verschlagen zu<br />

bezeichnende) Erklärung, habe er nur gewählt, weil Macumba <strong>das</strong> bekanntere<br />

Phänomen sei:<br />

Die folgenden Ausführungen behandeln lediglich <strong>das</strong> Ritual des<br />

Candomblé <strong>und</strong> die ihm zugr<strong>und</strong>eliegende Religion. Wenn der Titel<br />

„Macumba“ gewählt wurde, so geschah es deshalb, weil es <strong>das</strong> bekanntere<br />

<strong>und</strong> umfassendere Wort ist, <strong>das</strong> in einem sehr lockeren Sinn<br />

auch den Candomblé einschliesst. (ebd.)<br />

Doch schon bei der nun folgenden Beschreibung der historischen Entwicklung<br />

des Candomblé begegnet man wieder dem einfühlsamen <strong>und</strong> tiefgründigen<br />

Kulturvermittler. Rosenfeld zeichnet die synkretischen Dynamiken der Religion<br />

bereits in Afrika, dann im Zuge der von den Portugiesen bewusst eingesetzten<br />

Vermischung der Sklaven aus verschiedenen Völkern nach <strong>und</strong> betont, wie unangemessen<br />

eine Betrachtung oder gar Bewertung dieser religiösen <strong>und</strong> kultischen<br />

Welt nach vermeintlich universellen Gr<strong>und</strong>sätzen wäre:<br />

Ein schwerer Fehler wäre es auch, in die Vorstellungswelt des<br />

Candomblé ohne weiteres die abendländischen Denkstrukturen hineinzuinterpretieren<br />

<strong>und</strong> dieser proteischen, stark gefühlsbeladenen<br />

Gedankenwelt, die ihre eigenen Klassifizierungen <strong>und</strong> Kategorien hat,<br />

die aristotelische Logik unterzuschieben.


Hinzu kommt noch, <strong>das</strong>s dem inneren, primären Synkretismus abweichender<br />

afrikanischer Religionen ein äusserer, sek<strong>und</strong>ärer Synkretismus<br />

folgte, vor allem auf Gr<strong>und</strong> des Einflusses katholischer Auffassungen,<br />

die sich infolge des äusseren Drucks, neben indianischen <strong>und</strong><br />

spiritistischen Vorstellungen, besonders bemerkbar machen. (126)<br />

Vor diesem historischen Hintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> im Abgleich mit afrikanischen Ursprüngen<br />

<strong>und</strong> Vorformen erläutert Rosenfeld dann zunächst den Götterpantheon<br />

des Candomblé, benennt Entsprechungen <strong>und</strong> Identitäten der Gottheiten sowie<br />

ihre Verschiebungen <strong>und</strong> Veränderungen im Zuge des kulturellen Transfers von<br />

Afrika nach Brasilien (126ff).<br />

Danach fasst er die Formen <strong>und</strong> Funktionen der Kultstätten, der terreiros (130ff),<br />

zusammen, nennt die verschiedenen Institutionen <strong>und</strong> Aufgaben der Beteiligten<br />

(Pai-de-santo oder mãe-de-santo, axôgun, filhas-de-santo usw.) <strong>und</strong> schildert die<br />

Organisation des religiösen Lebens mit Ausbildung <strong>und</strong> Initiation etwa der filhasde-santo.<br />

Schließlich folgt eine eingehende Beschreibung der Zeremonie, die streckenweise<br />

narrative Züge annimmt. Dabei bleibt allerdings ungeklärt, ob Rosenfeld<br />

selbst ein- oder gar mehrmals terreiros in Bahia besuchte <strong>und</strong> dort abgehaltenen<br />

Zeremonien beiwohnte oder sich für seine Darstellung ganz auf Berichte<br />

Dritter stützt. Folgendes Textbeispiel mag einen Eindruck davon vermitteln:<br />

Der Tanz hat endlich rasende Formen angenommen, ohne jedoch zügellos<br />

zu sein. Die Masse ist wie von einem Rausch erfasst. Trunken<br />

von der hypnotischen Monotonie der Atabaques, verwirrt vom bunten<br />

Flitter des sich zum Paroxysmus steigernden Reigens, fast betäubt vom<br />

schweren Brodem der bahianischen Nacht, fühlen sich alle zu einer<br />

begeisterten Einheit verschmolzen. Unter den Anwesenden befinden<br />

sich Filhas anderer Candomblés, die bei den ihren Orixás gewidmeten<br />

Klängen fürchten, in einer fremden Umgebung in Verzückung zu geraten.<br />

Sie bitten um Wasser, <strong>das</strong>, von ihnen getrunken, den Sturz in den<br />

Gott verhindert. (136)<br />

Gerade im Hinblick auf die deutende Verbindung von Ritual, seiner darstellenden,<br />

performativen Dimension <strong>und</strong> den mythischen Tiefen kultureller Götterwelten<br />

erweist Rosenfeld sich als einfühlsamer <strong>und</strong> tiefgründiger Beobachter <strong>und</strong> Autor.<br />

Den Ablauf <strong>und</strong> die Gr<strong>und</strong>züge der Zeremonie des Candomblé mit dem Hineinfahren<br />

der Gottheiten in ihre Medien versteht er als Anrufung, Vergegenwärtigung<br />

<strong>und</strong> Verehrung der Götter, zugleich als Inszenierung <strong>und</strong> jeweils neue Nacherzählung<br />

der dem Glauben zugr<strong>und</strong>e liegenden Mythen.<br />

Denn sei es nun, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Tanzritual eine Darstellung der Göttergeschichte<br />

ist, die dramatische Aufführung des epischen Geschehens,<br />

<strong>das</strong>, in Urzeiten abgelaufen, nun zur feierlichen Gegenwart wird; sei<br />

es, <strong>das</strong>s die mythische Erzählung nichts ist als eine nachträgliche Interpretation<br />

des heftigen Gefühlsausbruchs, der motorischen Entladung,<br />

die, von der Gesellschaft gebändigt <strong>und</strong> geformt, zum symbolischen<br />

Ausdruck geworden ist: auf jeden Fall fordern Mythos <strong>und</strong> Ritual einander<br />

<strong>und</strong> eins ist mit dem andern auf’s innigste verschlungen. [...]<br />

89


90<br />

Indessen, es handelt sich nicht eigentlich um eine symbolische Darstellung.<br />

Vielmehr ist <strong>das</strong> Fest zugleich der Ursprung; es ist nicht nur<br />

Zelebrierung des Göttergeschehens, sondern ist zugleich dieses selbst.<br />

Das Symbol <strong>und</strong> <strong>das</strong> Symbolisierte sind eins. (137)<br />

Es ist also nicht exotistische, pittoreske Neugier oder Faszination, die Rosenfeld<br />

dazu veranlasst, dem Candomblé seine Aufmerksamkeit <strong>und</strong> einen Text zu widmen.<br />

Man erkennt im Zuge seiner schrittweisen Annäherung an diese religiöse<br />

<strong>und</strong> mythologische Welt, welche er dem Leser so auch Schritt für Schritt erschließt<br />

<strong>und</strong> näher bringt, immer <strong>das</strong> Bemühen, die einzelnen Aspekte <strong>und</strong> Angaben als in<br />

gesellschaftliche <strong>und</strong> kulturelle Gesamtzusammenhänge eingebettet zu verstehen. 10<br />

Man erkennt in Rosenfelds Beschreibung der ekstatischen Tänze bereits den wichtigen<br />

Hinweis, <strong>das</strong>s es sich dabei nicht um „Zügellosigkeit“ handelt, <strong>das</strong>s eben die<br />

Rituale des Candomblé sich nicht nur der „aristotelischen Logik“ entziehen, sondern<br />

auch nicht den oftmals mit ihnen verb<strong>und</strong>enen negativen Vorurteilen entsprechen,<br />

den – wenn man Rosenfelds Wortwahl aus dem vorangegangenen<br />

Essay aufgreifen möchte – „Voreingenommenheiten“ gegenüber als bedrohlich<br />

oder primitiv, Vernunft <strong>und</strong> Moral verletzend verstandenen Praktiken. Diesen Aspekt<br />

vertieft er nochmals zum Ende seiner Darstellung mit Überlegungen, die er der in<br />

den Candomblé eingeschriebenen ethischen Dimension widmet.<br />

Zudem beschränkt sich <strong>das</strong> Leben eines Candomblé nicht auf die Feste.<br />

Hinter allem steht ein eigentümliches Ethos. Je inniger der Gläubige<br />

dem Candomblé verb<strong>und</strong>en ist – eine Beziehung, deren niederster<br />

Grad durch die Lavagem-de-contas erworben wird –, desto größer die<br />

Verantwortung, die er übernimmt, die Tabus <strong>und</strong> Einhaltungen, die er<br />

sich auferlegen muss, die Verpflichtungen, die er den Göttern schuldet.<br />

Die Erhöhung <strong>und</strong> Stärkung des Seins durch die grössere Gottesnähe<br />

wird jeweils mit umso strengeren Opfern an Gemächlichkeit des<br />

Wandels, an lockerer Leichtigkeit des Lebens erkauft. Die Mächtigsten<br />

haben <strong>das</strong> härteste Dasein. (138)<br />

Auf der Gr<strong>und</strong>lage dieses internen Ethos erscheint der Candomblé als alternatives,<br />

kompensatorisches Gesellschaftsmodell, in dem alle Gläubigen, alle Teilnehmer<br />

an den Zeremonien zum einen ihre kulturelle <strong>und</strong> historische afro-brasilianische<br />

Identität aktualisieren <strong>und</strong> konsolidieren, zum anderen ihrer Gemeinschaft<br />

der von den Weißen diskriminierten, marginalisierten Farbigen die vitale<br />

Festigkeit verleihen, die nötig ist, damit sie in ihr jeweils ihre Räume <strong>und</strong> Positionen<br />

schaffen <strong>und</strong> finden können, die ihnen in der brasilianischen Gesellschaft als<br />

ganzer verwehrt werden (139).<br />

Damit ist eine unmittelbare Verbindung zwischen dieser anthropologisch <strong>und</strong><br />

religionshistorisch ausgerichteten Studie <strong>und</strong> der zuvor besprochenen Analyse<br />

der Diskriminierung der farbigen Bevölkerung in Brasilien hergestellt. Dieser zwei-<br />

10. In der folgenden Ausgabe des Staden-Jahrbuchs rezensiert Anatol Rosenfeld Henri-Georges<br />

Clouzots Le cheval des dieux, auf <strong>das</strong> er sich in weiten Teilen seines Essays stützt. In der<br />

Buchbesprechung wird außerdem deutlich, wie kritisch Rosenfeld mit seinen Quellen umgeht<br />

<strong>und</strong> die in ihnen enthaltenen Angaben überprüft (ROSENFELD 1956b).


te Essay erschließt sich sicherlich erst vollständig vor dem Hintergr<strong>und</strong> des vorangegangenen<br />

Beitrags zum Staden-Jahrbuch, dessen Analysen <strong>und</strong> Feststellungen<br />

er vertieft <strong>und</strong> konkretisiert. Nach der allgemeinen Darstellung der gesellschaftlichen<br />

Mechanismen der ethnisch-sozialen Diskriminierung bringt er durch die<br />

eingehende Vorstellung des afro-brasilianischen Candomblé auch eine positive<br />

<strong>und</strong> kulturell produktive Innenansicht dieses vom sich europäisch <strong>und</strong> weiß definierenden<br />

gesellschaftlichen Zentrum Brasiliens ausgeschlossenen Raumes.<br />

IV. „Das Fußballspiel in Brasilien“<br />

Gleiches gilt auch für den letzten der drei hier in den Blick genommenen Essays,<br />

der im Staden-Jahrbuch 1956 erschien. Anatol Rosenfelds kulturhistorisch<br />

ausgerichtete Studie zum brasilianischen Fußball ist ebenfalls alles andere als eine<br />

oberflächlich-exotisierende Apologie des „Landes des Fußballs“, sondern könnte<br />

unter anderem als kritischer Dialog mit Mário Filhos Klassiker zum Thema O Negro<br />

no Futebol Brasileiro gelesen werden (vgl. FILHO 1964), auf den er sich in weiten<br />

Teilen seiner Reflexion stützt, den er aber punktuell auch kritisch hinterfragt. Wie<br />

der starke Rekurs auf Mário Filho andeutet, den er im zuvor besprochenen Essay<br />

über die „Situation der Farbigen in Brasilien“ an entscheidender Stelle bereits<br />

hinzuzieht, geht Rosenfeld auch hier wieder auf die sozialen <strong>und</strong> politischen Dimensionen<br />

des Fußballs <strong>und</strong> damit auf die Benachteiligung <strong>und</strong> Marginalisierung<br />

der farbigen Spieler bzw. Bevölkerung in Brasilien ein.<br />

Zunächst aber bettet Rosenfeld <strong>das</strong> von ihm zu untersuchende Phänomen in<br />

den soziokulturellen Kontext Brasiliens ein <strong>und</strong> weist auf die Erkenntnismöglichkeiten<br />

einer kulturvergleichenden, kulturwissenschaftlichen Perspektive<br />

auf diese Sportart hin:<br />

Zumindest ebenso wichtig jedoch wie der Umstand, was ein Volk spielt,<br />

ist sicherlich der, wie es dieses Spiel betreibt, in welchen Formen es sich<br />

äußert <strong>und</strong> organisiert <strong>und</strong> welchen tieferen Bedürfnissen <strong>und</strong> Spannungen<br />

es eine Entlastung ermöglicht [...]. Eine knappe Darstellung einiger<br />

Aspekte des Fußballspiels als eines sozialen Phänomens ersten Ranges<br />

im brasilianischen Leben könnte manches zur Kenntnis der gegenwärtigen<br />

brasilianischen Gesellschaft beitragen. (ROSENFELD 1956a, S. 149)<br />

Darauf liefert Rosenfeld einen historischen Abriss des Fußballs im Lande, der<br />

vom Briten Charles W. Miller 1894 eingeführt wurde, als er im ersten englischen<br />

Sportverein von São Paulo, dem eigentlich dem Cricket gewidmeten São Paulo<br />

Athletic Club, eine Fußballmannschaft gründete. Der englische Sport ist zunächst<br />

also ein Elitesport, in Brasilien wird er vorrangig zur körperlich-moralischen Ertüchtigung<br />

<strong>und</strong> im Dienste des Patriotismus eingesetzt. Entgegen der anfänglichen Widerstände,<br />

die der Fußball in seinem Geburtsland England überwinden musste<br />

[...] waren in Brasilien gerade die Colégios sehr bald die Brutstätten<br />

von Fußballspielern: in Schulen wie den Colégios Militares, dem Ginásio<br />

Nacional, Alfredo Gomes, Abílio, Anglo-Brasileiro, war <strong>das</strong> Fußballspiel<br />

beinahe ein Pflichtfach. Die katholische Kirche, ein enorm wich-<br />

91


92<br />

tiger Faktor, scheint keinen wesentlichen Einspruch erhoben zu haben.<br />

Es muss sogar hervorgehoben werden, <strong>das</strong>s zahlreiche Patres zur Verbreitung<br />

des neuen Spiels entscheidenden Anstoß gaben. (151)<br />

Die ersten vornehmen Vereine gründen sich in großer Zahl, <strong>das</strong> Spiel wird zum<br />

Element der guten Gesellschaft <strong>und</strong> Instrument für die Pflege eines antikolonialen<br />

Nationalgefühls. Doch unaufhaltsam demokratisiert sich <strong>das</strong> Spiel, Angehörige<br />

der unteren <strong>und</strong> armen Schichten, Arbeiter <strong>und</strong> vor allem auch Schwarze erkämpfen<br />

sich schrittweise den Zugang zum Sport <strong>und</strong> den damit verb<strong>und</strong>enen<br />

sozialen Aufstieg. Der 1904 gegründete Bangu Athletic Club wirkte in dieser Hinsicht<br />

als Vorreiter, dessen Mannschaft sich erstmals systematisch aus Spielern aus<br />

der eigenen Arbeiterschaft vor Ort rekrutierte. Der Kampf um den Einzug der<br />

Massen in den Fußball war verflochten mit der Professionalisierung des Sports.<br />

Dieser Prozess prägte die brasilianischen Verbandsstrukturen <strong>und</strong> sorgte für tief<br />

greifende Umwälzungen:<br />

Die Entwicklung zum Berufsfußball in Brasilien ist ein klassisches Beispiel<br />

für die unentrinnbare Gravitation eines Ablaufs, der mit dem<br />

Spiel als einem Massenspektakel verb<strong>und</strong>en ist. Je größer die Mengen<br />

waren, die <strong>das</strong> Fußballspiel anzog, desto mehr hing die Beliebtheit <strong>und</strong><br />

Bedeutung eines Klubs von der Leistung seiner Fußballmannschaften<br />

ab. Diese wurden zum Schaufenster der Vereine, die, als gesellschaftliche<br />

<strong>und</strong> allgemein sportliche Institutionen, immer größere wirtschaftliche<br />

Interessen konzentrierten. Auf die „Klasse“ der Spieler Rücksicht<br />

zu nehmen – es wäre denn in einem rein sportlichen Sinne – wurde<br />

schließlich ein quichotteskes Unterfangen. (155)<br />

Auf diese Weise wurde die Geschichte des Fußballs sowohl auf dem Platz als auch<br />

hinter den Kulissen zu einem sehr charakteristischen <strong>und</strong> aussagekräftigen Abbild der<br />

allgemein in der Gesellschaft ablaufenden Machtkämpfe <strong>und</strong> Transformationen:<br />

Spielend stieg die niedere Klasse in die erste Division auf, <strong>und</strong> in diesem<br />

äußerst ernsten <strong>und</strong> erbitterten Spiel spiegelt sich ein sozialer<br />

Prozess von enormer Tragweite; ein Prozeß, der in vielen Gesellschaften<br />

<strong>und</strong> Perioden tatsächlich im Spiel <strong>und</strong> Wettkampf seinen entscheidenden<br />

Austrag gef<strong>und</strong>en hat. (ebd.)<br />

Im Zuge seiner Wandlung zu einem Massensport <strong>und</strong> Massenspektakel <strong>und</strong><br />

damit verb<strong>und</strong>enen wirtschaftlichen wie allgemein gesellschaftlichen Interessen<br />

wird der Fußball somit zu einem herausragenden Tor zum gesellschaftlichen Aufstieg<br />

ungeachtet der Herkunft oder Hautfarbe des Spielers. 11 Diese Transformation<br />

festigt sich schließlich mit der Professionalisierung des Sports 1933, auf welche<br />

in den folgenden Jahren erste internationale Karrieren brasilianischer Spieler (vor<br />

allem in Italien) einsetzen (vgl. dazu CALDAS 1997).<br />

11. Dieser Mechanismus ist nicht nur bis heute weiter wirksam, sondern hat mit der zunehmenden<br />

Kommerzialisierung <strong>und</strong> Globalisierung des Spiels noch systematischere Ausmaße angenommen.<br />

Siehe dazu die in dieser Hinsicht sehr gute Reportage „Die Spielerfabrik“ von<br />

Henrik Jönsson (JÖNSSON 2006) über die Jugendarbeit <strong>und</strong> Talentsuche in Brasilien.


Rosenfeld belegt die auf dieser Gr<strong>und</strong>lage ruhende Bedeutung des Fußballs in<br />

Brasilien mit zeitgenössischen Angaben zur Zahl der existierenden Vereine, der<br />

aktiven <strong>und</strong> professionellen Spieler, der Erträge <strong>und</strong> Umsätze der verschiedenen<br />

Ligen <strong>und</strong> Wettbewerbe. Konkret werden zwei wichtige Vereine vorgestellt, deren<br />

Entstehungsgeschichte <strong>und</strong> soziale Einbettung zugleich die soziokulturellen Kodierungen<br />

des Spiels exemplifizieren. Auf der einen Seite der 1902 gegründete<br />

<strong>und</strong> bis heute als vornehm <strong>und</strong> „weiß“ konnotierte Fluminense Football Club aus<br />

Rio de Janeiro, dem gegenüber der 1910 ins Leben gerufene Sport Club Corinthians<br />

Paulista in São Paulo als Verein der Massen, der Armen <strong>und</strong> Schwarzen gilt.<br />

Vor dem Hintergr<strong>und</strong> dieser beispielhaften Verortung der Vereine macht Rosenfeld<br />

die um die Anhängerschaft <strong>und</strong> Fan-Kultur herum gruppierte Begriffsfamilie<br />

„torcer, torcedor, torcida“ zum Ausgangspunkt für die Darstellung der Bedeutung<br />

des Fußballs als Spektakel der Massen <strong>und</strong> Projektionsfläche für soziale <strong>und</strong> lokale<br />

Identitäten, in deren Rahmen Vereine, Stadtviertel <strong>und</strong> Gesellschaftsschichten in<br />

eins gesetzt werden.<br />

Weit wichtiger waren die Torci<strong>das</strong>, insofern sie sich um Vereine bildeten,<br />

die, als Repräsentanten von Stadtteilen, oft auch soziale Unterschiede<br />

spiegelten. Daher die Erbitterung, mit der in Rio gewaltige<br />

Raufereien zwischen Torci<strong>das</strong> ausgetragen wurden, vor allem wenn ein<br />

aristokratischer Klub, der Pflichttabelle gehorchend, auf dem Felde<br />

eines Vorstadtvereins spielen mußte <strong>und</strong> obendrein siegte. (162)<br />

Hier unterscheidet Rosenfeld nochmals zwischen der sozio-geographischen<br />

Verteilung in Rio de Janeiro <strong>und</strong> der größeren sozialen Mobilität in der Arbeiter<strong>und</strong><br />

Einwandererstadt São Paulo, wo die Identifikation über den Fußball vor allem<br />

nationale Gruppierungen wie Italiener (Palestra Itália, später Palmeiras), Portugiesen<br />

(Portuguesa) oder „Brasilianer“ (Corinthians) widerspiegelte.<br />

Das erste nationale Idol des brasilianischen Fußballs ist in zweierlei Hinsicht<br />

Symbol für die trotz oder vielleicht auch gerade aufgr<strong>und</strong> aller interner Nuancierungen<br />

<strong>und</strong> Trennlinien wirksame integrative Kraft des Fußballs <strong>und</strong> die für Brasilien<br />

als Ganzes charakteristische Vermischung: Der Mulatte – genauer <strong>und</strong> innerhalb<br />

des von Rosenfeld im vorherigen Text analysierten Mechanismus der Wahrnehmung<br />

<strong>und</strong> Klassifizierung von Hautfarben der „helle Mulatte“ oder „moreno“<br />

– Arthur Friedenreich, Sohn eines deutschen Vaters <strong>und</strong> einer schwarzen Mutter,<br />

wird nach dem Gewinn der Südamerika-Meisterschaft 1919 zum fußballerischen<br />

Idol <strong>und</strong> Inbegriff des Spiels. Sein Erfolg ebnet den Weg für schwarze „Cracks“ wie<br />

Domingos da Guia <strong>und</strong> Leôni<strong>das</strong> da Silva (mit dem bedeutsamen Spitznamen<br />

Diamante Negro), welche wiederum in ihrer Eigenschaft als Vorzeigespieler die<br />

Widersprüchlichkeit des brasilianischen Selbstverständnisses verkörpern:<br />

Indessen, es waren vor allem Farbige, wie Domingos da Guia oder<br />

Leôni<strong>das</strong> da Silva, welche die höchsten Idole des ganzen brasilianischen<br />

Volkes geworden sind, nicht nur weil sie hervorragende Spieler<br />

waren, sondern weil sich in ihnen einer der höchsten ideologischen<br />

Werte Brasiliens verkörperte: der der Rassendemokratie, so<br />

schwer es auch halten mag, in allen Fällen die Wirklichkeit mit dieser<br />

Ideologie in Einklang zu bringen. (164)<br />

93


94<br />

Rosenfeld deutet dieses Phänomen erneut unter Rückgriff auf die Theorien<br />

Gilberto Freyres als „brasilianischen Mulattismus“, welcher einen genuin brasilianischen<br />

Fußballstil hervorgebracht habe <strong>und</strong> in dem in gewisser Weise die gesamte<br />

ethnisch-soziale Problematik <strong>und</strong> Geschichte des Landes zu erkennen sei.<br />

Leôni<strong>das</strong> da Silva war der genaue Vertreter dieses Stils, <strong>und</strong> wenn er<br />

zum Idol des ganzen brasilianischen Volkes wurde, <strong>das</strong> ja überwiegend<br />

europäischer Abstammung ist, so war es, weil es in ihm eine ihm wesentlich<br />

geistig-seelische Gebärde ausgedrückt sah, weil es selbst sich<br />

in ihm erhöht <strong>und</strong> in sensationeller Vollkommenheit wiedererkannte.<br />

Tiefe Ressentiments fanden in seinen Triumphen ihre Erlösung, <strong>und</strong><br />

<strong>das</strong> ganze Volk erlebte in ihm eine befreiende Macht. (165)<br />

Weiterhin dieser Interpretationslinie folgend erläutert Rosenfeld im Anschluss<br />

die vielfältigen Beziehungen des Fußballs mit anderen kulturellen Sphären wie<br />

dem Karneval <strong>und</strong> der von ihm zuvor dargestellten Macumba als alternativem<br />

Kulturraum der farbigen Bevölkerung. 12 Zu letzterem Punkt führt er aus, <strong>das</strong>s sowohl<br />

<strong>das</strong> Fußballspiel selbst als auch sein Umfeld in höchstem Grade ritualisiert<br />

<strong>und</strong> religiös aufgeladen seien.<br />

Das brasilianische Fußballspiel freilich gehört einer modernen Entwicklung<br />

völlig profanen Charakters an. Dennoch spürt man seine geheime<br />

Neigung, sich zu ritualisieren, sein Streben nach Sinnbereichen, die<br />

ihm nicht zuzukommen scheinen. Wo so tiefe Leidenschaften eingesetzt<br />

werden, wo so viel „auf dem Spiel steht“ <strong>und</strong> wo die Göttin<br />

Fortuna einen so entscheidenden Einfluß hat, ist dies kein W<strong>und</strong>er.<br />

Für eine ungeheure Torcida bedeutet der Sieg ihrer Mannschaft, der<br />

sich ja auf die ganze Gruppe überträgt, einen kollektiven Triumph,<br />

einen Zuwachs an Ehre <strong>und</strong> Macht <strong>und</strong> gleichzeitig eine Offenbarung<br />

des glücklichen Laufs der Dinge. (166)<br />

Der Fußball als eine Art Katharsis der von ihren Widersprüchen geprägten<br />

Gesellschaft, die auf dem Platz <strong>und</strong> in der Projektion auf <strong>das</strong> Spiel vorübergehend<br />

die Konflikte lösen oder auflösen kann, die sie in der Wirklichkeit unterschlägt<br />

oder verdrängt. Auch durch diesen Mechanismus ist der außerordentliche <strong>und</strong><br />

herausragende Aufstieg schwarzer Spieler zu „Cracks“ <strong>und</strong> Idolen erst möglich,<br />

da er in von vornherein festgelegten <strong>und</strong> nach außen klar abgeschlossenen Bahnen<br />

verläuft. Bezeichnend hierfür ist der Umstand, <strong>das</strong>s der Aufstieg dieser<br />

Ausnahmespieler durch den Fußball zunächst nur in wirtschaftlicher Hinsicht erfolgt,<br />

sich aber noch nicht sozial niederschlagen kann:<br />

Ein Irrtum wäre es, anzunehmen, daß der Fußballspieler als solcher<br />

infolge seines Prestiges als Crack im selben Maße auch gesellschaftliche<br />

Anerkennung fände. Dem Idol öffnen sich alle Tore, auch die der<br />

12. Den hohen Erkenntnisgrad dieser Wahrnehmung bestätigen die später aus dem Bereich der<br />

Soziologie heraus ausgeweiteten Untersuchungen Roberto DaMattas zum brasilianischen<br />

Fußball, in denen <strong>das</strong> Spiel <strong>und</strong> Spektakel zum Medium einer gesamtgesellschaftlichen<br />

Analyse wird (vgl. gr<strong>und</strong>sätzlich DAMATTA 1982).


Paläste; aber sein Nimbus gehört einer andern Region an als der gesellschaftlichen:<br />

es ist eben ein Nimbus, der die „außerordentliche“<br />

Situation des Spielers bezeichnet. (168)<br />

Ähnlich wie die Welt des Candomblé betrachtet <strong>und</strong> analysiert Rosenfeld<br />

die des Fußballs vor dem Hintergr<strong>und</strong> der f<strong>und</strong>amentalen Konfliktlinien der<br />

brasilianischen Gesellschaft <strong>und</strong> Kultur. In diesem frühen Essay macht er deutlich,<br />

<strong>das</strong>s die Bedeutung des Fußballs in Brasilien wie auch sein mittlerweile<br />

fest institutionalisierter Siegeszug um die Welt nicht angemessen erfasst werden<br />

können, wenn man seine gesellschaftlichen Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> kulturellen<br />

Implikationen nicht in Betracht zieht.<br />

V. Bewegungen des Wissens<br />

Anatol Rosenfeld unternimmt in den hier vorgestellten drei Texten den Versuch,<br />

nach ersten Schritten als brasilianischer Intellektueller den Lesern seiner<br />

Muttersprache <strong>und</strong> ehemaligen Heimat etwas über die Kultur zu vermitteln, in der<br />

er sich eine neue Existenz aufgebaut hat. Bemerkenswert ist hierbei, <strong>das</strong>s Rosenfeld<br />

von Beginn an einen ausgewogenen kritischen Blick bietet. Er übt also keinesfalls<br />

eine falsch verstandene Zurückhaltung des Gastes oder Geduldeten, nimmt<br />

aber auch nicht die selbstgefällige Perspektive eines überlegenen Fremden ein.<br />

Durch alle drei frühen Essays, die sich <strong>und</strong> ihre Leser anhand von charakteristischen<br />

<strong>und</strong> exemplarischen kulturellen Elementen <strong>und</strong> Aspekten des Landes an<br />

Brasilien annähern, zieht sich <strong>das</strong> Thema der tiefen Spaltung der Gesellschaft entlang<br />

der einander überlagernden ethnischen wie sozialen Trennlinien, <strong>das</strong> in „Die<br />

Situation der Farbigen in Brasilien“ als zentraler Gegenstand behandelt wird. Darin<br />

manifestiert sich ein aus heutiger Sicht kulturwissenschaftlich zu lesender Ansatz,<br />

dem deutschsprachigen Publikum in den 50er Jahren des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

die damals wie streckenweise noch heute so ferne, fremde <strong>und</strong> unbekannte brasilianische<br />

Realität näher zu bringen <strong>und</strong> zu vermitteln.<br />

Welche Umsicht Rosenfeld im Zuge dieser vermittelnden Aktivität anwandte,<br />

wird nochmals deutlicher, wenn man zunächst den Pioniercharakter seiner<br />

deutschsprachigen Essays zur brasilianischen Kultur bedenkt, die beim deutschsprachigen<br />

Publikum, auch <strong>und</strong> gerade bei der spezialisierten <strong>und</strong> universitären<br />

Leserschaft gr<strong>und</strong>legende Kenntnislücken zu schließen anbot <strong>und</strong> zum Dialog<br />

zwischen beiden Welten <strong>und</strong> Sprachen einlud. Es muss hier nicht weiter vertieft<br />

werden, welchen Nachholbedarf die verschiedenen Bereiche des Kultur-, Literatur-<br />

<strong>und</strong> Forschungsbetriebs in den deutschsprachigen Ländern in den 50er Jahren<br />

aufwiesen <strong>und</strong> wie schwierig <strong>und</strong> langwierig es sich erwies – <strong>und</strong> noch immer<br />

erweist –, diese Situation gr<strong>und</strong>legend zu ändern. 13 Man mag sich konkret im hier<br />

gegebenen Zusammenhang einen Eindruck davon verschaffen, wenn man die<br />

zwei postum erschienenen Rezensionen Rosenfelds im Staden-Jahrbuch 1973/74<br />

betrachtet, die einmal Dieter Wolls 1972 publizierte Studie zu Machado de Assis<br />

13. Ray-Güde Mertin etwa zog Mitte der 90er Jahre eine bis heute weitgehende Gültigkeit<br />

besitzende <strong>und</strong> ernüchternde Bilanz der Rezeption brasilianischer Literatur im deutschsprachigen<br />

Raum sowie der entsprechenden Brasilienstudien/Brasilianistik (MERTIN 1994).<br />

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96<br />

<strong>und</strong> Gustav Siebenmanns Untersuchung zur Rezeption der lateinamerikanischen<br />

Literatur aus dem selben Jahr besprechen. Zu Wolls für die deutsche Lusitanistik/<br />

Brasilianistik bis heute wegweisender Arbeit über Machado de Assis muss Rosenfeld<br />

einführend bemerken: „Mit ihr gesellt sich die deutsche Literaturwissenschaft<br />

[...] endlich in bedeutender <strong>und</strong> nachdrücklicher Weise den kritischen Werken<br />

französischer <strong>und</strong> nordamerikanischer Herkunft zu, die der Deutung des großen<br />

brasilianischen Dichters gewidmet sind“ (ROSENFELD 1973/74a, S. 170). Und nicht<br />

nur beweist Rosenfeld selbst im Lob für Dieter Wolls Einbeziehung einschlägiger<br />

internationaler Studien zum Autor seine eigene Belesenheit im Bereich der Literaturwissenschaft,<br />

auch schlägt er in der Lektüre eines deutschen Beitrags zur<br />

brasilian(ist)ischen Literaturwissenschaft den Bogen wieder zurück, um den kritischen<br />

Dialog zwischen beiden Wissenschaftskulturen in Gang zu setzen. Zu Gustav<br />

Siebenmanns gr<strong>und</strong>legender Arbeit zur Rezeption <strong>und</strong> Präsenz lateinamerikanischer<br />

Literatur im deutschen Sprachraum ist ebenfalls der erste Kommentar<br />

sehr aussagekräftig, wenn Rosenfeld die relativ geringe Präsenz brasilianischer<br />

Autoren <strong>und</strong> Werke in der Studie des hauptberuflichen Hispanisten bemerkt, welche<br />

wiederum den Stand der Brasilien gewidmeten Forschung beleuchtet<br />

(ROSENFELD 1973/74b, S. 171). Das von Siebenmann kritisch relativierte Bild<br />

einer allgemeinen Rezeption <strong>und</strong> Etablierung lateinamerikanischer Literatur im<br />

Gefolge des hispano-amerikanischen Booms der 60er <strong>und</strong> 70er Jahre bestätigt<br />

Rosenfeld <strong>und</strong> zitiert ausführlich die recht ernüchternden Zahlen, die Siebenmann<br />

zu brasilianischen Autoren angibt. Siebenmanns Hinweis auf die fehlende<br />

qualitative Kritik seitens des deutschen Literaturbetriebs ergänzt Rosenfeld abschließend<br />

um den auf eine fehlende systematische Kulturpolitik auch auf brasilianischer<br />

Seite (173).<br />

Es finden sich gegenüber diesen in den Bereich interkultureller <strong>und</strong> kulturpolitischer<br />

Fragen reichenden Überlegungen keine konkreten Stellungnahmen Rosenfelds<br />

zur deutschen Geschichte, Politik <strong>und</strong> Gesellschaft vor, während <strong>und</strong> nach<br />

dem Nationalsozialismus. Die überraschend wenigen zeitgeschichtlichen <strong>und</strong> aktuellen<br />

Bezüge zur ehemaligen Heimat werden immer über kulturelle, literarische <strong>und</strong><br />

philosophische Reflexionen vermittelt. Den engsten Bezug haben noch seine Betrachtungen<br />

zu Natur <strong>und</strong> Form des Faschismus 14 , die Hintergr<strong>und</strong>folie der Erfahrung<br />

des Nationalsozialismus lässt sich gewiss auch in seiner sensiblen Auseinandersetzung<br />

mit den rassistischen Dimensionen der brasilianischen Gesellschaft erkennen.<br />

In Brasilien mischt er sich ebenfalls nicht öffentlich in dezidiert politische Diskussionen<br />

ein, vorrangig auch aufgr<strong>und</strong> seiner immer prekären <strong>und</strong> potenziell bedrohten<br />

Situation als Ausländer, der etwa unter dem 1964 in Brasilien an die Macht<br />

gekommenen Militärregime seine Ausweisung hätte riskieren können.<br />

Eine Figur mit entscheidender biographischer, intellektueller wie symbolischer<br />

Relevanz für <strong>das</strong> Denken <strong>und</strong> Schreiben Rosenfelds bildet Thomas Mann,<br />

dessen Rekurs auf die ironische Distanz des Denkens gegenüber den Ideen Rosenfeld<br />

immer wieder reflektierte <strong>und</strong> nachvollzog. So ergeben sich neben den bio-<br />

14. Siehe dazu beispielsweise seine Essays zu Nietzsches Irrationalismus (ROSENFELD 1993b),<br />

Heideggers Existenzphilosophie (1993c) <strong>und</strong> zu den Mechanismen <strong>und</strong> Ursachen von Rassismus<br />

(1993d) <strong>und</strong> Faschismus (1993e).


graphischen Parallelen des Exils auch erhellende Parallelen im Umgang mit<br />

Deutschland als geliebter, verlorener, niemals zurück gewonnener Heimat sowie<br />

in letzter Konsequenz im Selbstverständnis des Intellektuellen zur ihn umgebenden<br />

Gesellschaft.<br />

So bezeichnete Rosenfeld den Essayisten Thomas Mann als Vorbild für seine<br />

eigene Essayistik, edierte er selbst eine Auswahl Mannscher Essays in portugiesischer<br />

Übersetzung, die postum veröffentlicht wurde (MANN 1988), <strong>und</strong> verfasste<br />

er eine Reihe von Texten über den Landsmann <strong>und</strong> Schicksalsgefährten im Exil,<br />

die verstreut <strong>und</strong> zuletzt in gesammelter Form erschienen. 15 Will man dieser von<br />

Rosenfeld selbst vorgegebenen Analogie noch einen Schritt weiter folgen, so<br />

kann man zugespitzt feststellen, <strong>das</strong>s Rosenfeld, der im Exil nicht die Bequemlichkeiten<br />

des bedeutendsten deutschen Schriftstellers seiner Generation genoss,<br />

sondern sich in einer vollkommen neuen Umwelt ein neues Leben aufbauen<br />

musste, dies im Unterschied zu seinem Vorbild auch im äußersten Sinne wörtlicher<br />

<strong>und</strong> konsequenter tat: Er begann sein Leben nochmals von vorne. Er brachte<br />

die in Berlin begonnene Promotion nicht zu Ende, knüpfte nicht an ihr an<br />

ebenso wenig wie an der unterbrochenen universitären Laufbahn. Stattdessen<br />

ging er nun den ungeb<strong>und</strong>enen Weg auf den neu erarbeiteten Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong><br />

mit neuen Zielen.<br />

„Jüdisches Exil <strong>und</strong> Flucht vor dem Nationalsozialismus sind deterritorialisierende<br />

Bewegungen Europas“ formuliert Ottmar Ette (2001, S. 563), im Zuge seiner<br />

Analyse von Arnold Stadlers Roman Feuerland (1992). Diese Aussage ist zu verstehen<br />

vor Ettes Überlegungen zur zirkulären Struktur dieses Romans (S. 553)<br />

<strong>und</strong> allgemein der europäischen Reiseliteratur mit ihrer wesentlichen Ausrichtung<br />

auf eine schließliche „Rückkehr zum Eigenen“ (S. 60ff), mit der sich<br />

der Kreis von Reise(bewegung) schließen kann. Thomas Manns Exil war sicherlich<br />

von Beginn an auf diese Rückkehr (wenn auch nicht nach Deutschland,<br />

so zumindest in die Alte Welt <strong>und</strong> die Welt der deutschen Sprache) ausgerichtet,<br />

als transitär gestaltet <strong>und</strong> inszeniert. Die Erfahrung Anatol Rosenfelds<br />

schließt diesen Kreis bewusst nicht; er speist „Europa“ in Gestalt seiner<br />

kulturellen Prägung <strong>und</strong> Bildung in die Kultur Brasiliens ein <strong>und</strong> lässt es – wie<br />

auch sich selbst – vom transkulturellen Prozess gegenseitiger Durchdringung<br />

erfassen <strong>und</strong> gestaltetet diesen aktiv mit.<br />

So ist seine Synthese der deutschen <strong>und</strong> europäischen kulturellen Erfahrung<br />

mit derjenigen der neuen Heimat nicht nur als Verbreitung der deutschen<br />

<strong>und</strong> somit Bereicherung der brasilianischen Kultur zu verstehen. Sie<br />

wirkt auf zwei Ebenen auch zurück in die „Alte Welt“, als Vermittlung brasilianischer<br />

Kultur <strong>und</strong> Literatur wie in den hier exemplarisch vorgestellten Beiträgen,<br />

aber gerade auch im am Fremden geschulten <strong>und</strong> von ihm veränderten<br />

Blick auf <strong>das</strong> Eigene, auf sich selbst.<br />

15. Bereits Rosenfelds erste Buchveröffentlichung Doze estudos von 1959 enthielt zwei Essays<br />

über Thomas Mann („Thomas Mann: ironia e mito“ <strong>und</strong> „Julia Mann da Silva Bruhns“, vgl.<br />

ROSENFELD 1959); im Band Texto/Contexto findet sich die Studie „Thomas Mann: Apolo,<br />

Hermes, Dioniso“ (vgl. ROSENFELD 1969); zuletzt erschien 1994 ein gänzlich Thomas Mann<br />

gewidmeter Band (ROSENFELD 1994).<br />

97


98<br />

Eine Reflexion Anatol Rosenfelds über Thomas Manns „Tonio Kröger“ <strong>und</strong> den<br />

für ihn immer wieder zentralen Topos des Dazwischen-Seins <strong>und</strong> der ironischen<br />

Distanz des Denkens bei Mann, der im hier zitierten Text aus dem Nachlass der<br />

bemerkenswerte Hinweis auf die eigene jüdische Daseinsbedingung beigegeben<br />

wird, mag diese Geste anschaulich machen:<br />

Somit befindet er sich „zwischen zwei Welten“, ist „in keiner von ihnen<br />

zu Hause“ <strong>und</strong> sieht sich „aus diesem Gr<strong>und</strong> gewissen Schwierigkeiten“<br />

gegenüber – eine Position, die sich in ihrem Dazwischen-Sein<br />

genau von dem Ausgangspunkt aller Wünsche <strong>und</strong> jeder ironischen<br />

Objektivität aus konstituiert. Denn wer vollkommen einer Welt angehört<br />

<strong>und</strong> von anderen Welten nichts wahrnimmt, kann niemals Sehnsucht<br />

empfinden oder sich „über den beiden“ befinden. (Genau diese<br />

ist die Position der Juden, wodurch sich ihre Ironie <strong>und</strong> ihr Getriebensein<br />

erklären.) (ROSENFELD 1994b, S. 113) 16<br />

Rosenfeld sieht – hier in einem ursprünglich im Diário Paulista vom 31. Juli<br />

1943 veröffentlichten Aufsatz – bei Mann die erotische Ironie als Ausdruck der<br />

ständigen Bewegung <strong>und</strong> des Begehrens im Denken, der nie vollkommen zu<br />

erreichenden Synthese zweier Liebender sowie von Mensch <strong>und</strong> Geistesmensch,<br />

Geist <strong>und</strong> Leben: „Es gibt nur den Wunsch, die Sehnsucht – Eros. Es<br />

gibt keine vollkommene Synthese. Es gibt nur den ewigen <strong>und</strong> unendlichen<br />

Weg. Das ist die Situation des Menschen: unterwegs sein.“ (ROSENFELD 1994c,<br />

S. 104f.) 17 Rosenfeld folgt Thomas Mann weiterhin in dem Verständnis, Deutschlands<br />

Unglück sei es, von dieser Spannung verschlungen <strong>und</strong> verführt worden<br />

zu sein (ebd.).<br />

Als Opfer dieses „Unglücks“, dessen Auswirkungen er auf eindrucksvolle Weise<br />

produktiv zu machen wusste, praktiziert Rosenfeld im besten Wortsinne der von<br />

Ottmar Ette geprägten <strong>und</strong> nachvollzogenen „Bewegungsfigur“ der Literatur<br />

(vgl. ETTE 2001) ein Lesen <strong>und</strong> Schreiben in Bewegung. Eine Bewegung des<br />

Geistes zwischen kulturellen Räumen <strong>und</strong> Modellen; Bewegung eines bereits<br />

selbst schon transkulturellen oder transkulturierten Schreibens, <strong>das</strong> sich innovativ<br />

<strong>und</strong> exemplarisch im Umgang mit der Gattung des Essays <strong>und</strong> den<br />

Dynamiken eines interkulturellen Dialogs niederschlägt. Aber auch eine Bewegung<br />

aus der Gewalt <strong>und</strong> dem Zwang von Flucht <strong>und</strong> Exil heraus, die überlagert<br />

wird von der freiwilligen Bewegung eines auf seiner Unabhängigkeit bestehenden<br />

Intellektuellen. Décio de Almeida Prado zeichnet ein bewegendes <strong>und</strong> zugleich<br />

sehr prägnantes Bild von Rosenfelds Neuanfang nach der Flucht <strong>und</strong><br />

den ersten Jahren des reinen Überlebens in Brasilien, ein Neubeginn, der in die<br />

16. „Destarte, encontra-se ‘entre dois m<strong>und</strong>os’, não estando ‘em casa em nenhum deles’, tendo<br />

‘em conseqüência certas dificuldades’ – uma posição que, em seu estar-no-meio, se constitui<br />

do ponto de partida exato de todos os anseios e de toda a objetividade irônica. Pois aquele<br />

que pertence totalmente a um m<strong>und</strong>o e nada percebe de outros não pode nunca sentir<br />

saudade ou estar ‘acima dos dois’. (Tal é precisamente a posição dos judeus, de onde se<br />

explica a sua ironia e a sua ansiedade.)“<br />

17. „O que há é apenas o desejo, a saudade – Eros. Não há síntese perfeita. Há apenas o<br />

caminho enterno e infinito. Esta é a situação do homem: estar em caminho.“


Geste des Vermittlers zwischen den Welten <strong>und</strong> Kulturen mündet; dessen Genügsamkeit<br />

bei seinem Tun darf allerdings nicht dazu verleiten, die von Antonio<br />

Candido so treffend herausgestellte, dieses Wirken antreibende <strong>und</strong> erfüllende<br />

„kritische Intelligenz im Kampf gegen die Irrationalität <strong>und</strong> Brutalität dieser Welt“<br />

(CANDIDO 2005: 46) <strong>und</strong> ihre f<strong>und</strong>amentale Bedeutung für unsere Welt zu<br />

verkennen. Bezeichnend, <strong>das</strong>s auch hier <strong>das</strong> Wort von der „Rückkehr“ auftritt,<br />

dabei allerdings keinen geographischen Ort der Rückkehr bezeichnet, sondern<br />

den kulturellen Raum der Literatur:<br />

Nachdem er die Hälfte der üblichen Immigrantenparabel durchlaufen<br />

hatte, die schmerzlichere Hälfte, nach der die Kurve anzusteigen begann,<br />

verließ er sie, um zu seinen Ursprüngen zurückzukehren. Er<br />

kehrte zu den Büchern, den Artikeln, den Privatst<strong>und</strong>en, zur journalistischen<br />

Arbeit zurück <strong>und</strong> wurde eine Art von Mittler zwischen<br />

der deutschen Kultur, die er so gut kannte, <strong>und</strong> der brasilianischen,<br />

die er zu lieben begann. Und niemals wollte er mehr sein als <strong>das</strong>.<br />

(ALMEIDA PRADO 1995, S. 16) 18<br />

Literatur<br />

ALMEIDA PRADO, Décio de (1995): Em memória de Anatol Rosenfeld. In: GUINSBURG / MARTINS<br />

FILHO (1995), S. 15-18.<br />

CALDAS, Waldenyr (1997): Brasilien. In: EISENBERG, Christiane (Hrsg.): Fußball, soccer, calcio. Ein<br />

englischer Sport auf seinem Weg um die Welt. München, S. 171-184.<br />

CAMPOS, Haroldo de (1995): Uma convergência textual. In: GUINSBURG / MARTINS FILHO (1995),<br />

S. 81-92.<br />

CANDIDO, Antonio (2005): Die Liebe zur Unabhängigkeit. In (Ders.): Literatur <strong>und</strong> Gesellschaft.<br />

Herausgegeben von Ligia Chiappini. Frankfurt am Main, S. 45-46.<br />

CARONE, Modesto (1995): Os Doze Estudos. In: GUINSBURG / MARTINS FILHO (1995), S. 35-38.<br />

CHAVES, Mauro (1995): Integridade e rigor, marcas de um mestre. In: GUINSBURG / MARTINS<br />

FILHO (1995), S. 47-51.<br />

DAMATTA, Roberto (1982): Esporte e sociedade: um ensaio sobre o futebol brasileiro. In: (Ders.)<br />

(Hrsg.): Universo do futebol. Esporte e Sociedade Brasileira. Rio de Janeiro, S. 19-42.<br />

ETTE, Ottmar (2001): Literatur <strong>und</strong> Bewegung. Raum <strong>und</strong> Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens<br />

in Europa <strong>und</strong> Amerika. Weilerswist.<br />

FILHO, Mário (1964): O negro no futebol brasileiro. (Seg<strong>und</strong>a edição). Rio de Janeiro.<br />

FURTADO KESTLER, Izabela Maria (1992): Die Exilliteratur <strong>und</strong> <strong>das</strong> Exil der deutschsprachigen Schriftsteller<br />

<strong>und</strong> Publizisten in Brasilien. Frankfurt am Main.<br />

GODOY LADEIRA, Julieta de (1995): O fim de um homem livre. In: GUINSBURG / MARTINS FILHO<br />

(1995), S. 23-27.<br />

GUINSBURG, Jacó (1995a): Traços para um retrato de Anatol. In: GUINSBURG / MARTINS FILHO<br />

(1995), S. 155-160.<br />

GUINSBURG, Jacó (1995b): O homem e o intelectual. In: GUINSBURG / MARTINS FILHO<br />

(1995), S. 63-66.<br />

GUINSBURG, Jacó / MARTINS FILHO, Plínio (Hrsg.) (1995): Sobre Anatol Rosenfeld. São Paulo.<br />

18. „Percorrida metade da parábola usual do imigrante, a metade mais penosa, quando começava<br />

a curva ascensional, abandonou-a para voltar às origens. Retornou aos livros, aos artigos, às<br />

aulas particulares, ao trabalho jornalístico, fazendo-se uma espécie de intermediário entre<br />

a cultura alemã, que conhecia tão bem, e a brasileira, que começava a amar. E jamais quis<br />

ser mais do que isso.“<br />

99


100<br />

GUINSBURG, Jacó / TAVARES, Abílio (1993): Negro, macumba e futebol. In: ROSENFELD (1993a),<br />

S. 15-16.<br />

JÖNSSON, Henrik (2006): Die Spielerfabrik. In: 11 Fre<strong>und</strong>e 53, S. 30-46.<br />

LESSER, Jeff H. (1994): Vom Antisemitismus zum Philosemitismus: Das wechselnde Bild deutschjüdischer<br />

Einwanderer in Brasilien 1935-1945. In: KOHUT, Karl / VON ZUR MÜHLEN, Patrik<br />

(Hrsg.): Alternative Lateinamerika: <strong>das</strong> deutsche Exil in der Zeit des Nationalsozialismus. Frankfurt<br />

am Main, S. 89-104.<br />

LINS, Osman (1995): Homenagem à memória do intelectual. In: GUINSBURG / MARTINS FILHO<br />

(1995), S. 29-34.<br />

MAGALDI, Sábato (1995): O crítico de teatro. In: GUINSBURG / MARTINS FILHO (1995), S. 99-104.<br />

MANN, Thomas (1988): Ensaios. Seleção de Anatol Rosenfeld. São Paulo.<br />

MERTIN, Ray-Güde (†) (1994): „Lusotropikalisch“: zur Rezeption brasilianischer Literatur in der deutschsprachigen<br />

Presse. In: SCHÖNBERGER, Axel / ZIMMERMANN, Klaus (Hrsg.): De orbis Hispani<br />

linguis litteris historia moribus: Festschrift für Dietrich Briesemeister zum 60. Geburtstag, Frankfurt<br />

am Main. Bd. 2, S. 1817-1824.<br />

MESQUITA, Alfredo (1995): Rosenfeld e a Escola de Arte Dramática. In: GUINSBURG / MARTINS<br />

FILHO (1995), S. 67-71.<br />

ROSENFELD, Anatol (1954): Die Situation der Farbigen in Brasilien. In: Staden-Jahrbuch 2, S. 155-174.<br />

ROSENFELD, Anatol (1955): Macumba. In: Staden-Jahrbuch 3, S. 125-140.<br />

ROSENFELD, Anatol (1956a): Das Fussballspiel in Brasilien. In: Staden-Jahrbuch 4, S. 149-170.<br />

ROSENFELD, Anatol (1956b): Rezension von Henri-Georges Clouzot: Le cheval des dieux (Paris: René<br />

Julliard 1951). In: Staden-Jahrbuch 4, S. 304-305.<br />

ROSENFELD, Anatol (1959): Doze estudos. São Paulo.<br />

ROSENFELD, Anatol (1969): Texto/Contexto. São Paulo.<br />

ROSENFELD, Anatol (1973/74a): Rezension von Dieter Woll: Machado de Assis, Die Entwicklung<br />

seines erzählerischen Werkes (Braunschweig 1972). In: Staden-Jahrbuch 21-22, S. 170-171.<br />

ROSENFELD, Anatol (1973/74b): Rezension von Gustav Siebenmann: Die neuere Literatur Lateinamerikas<br />

<strong>und</strong> ihre Rezeption im deutschen Sprachraum. (Berlin 1972). In: Staden-Jahrbuch 21-22, S.<br />

171-173.<br />

ROSENFELD, Anatol (1993a): Negro, macumba e futebol. São Paulo.<br />

ROSENFELD, Anatol (1993b): Nietzsche e o Irracionalismo. In: (Ders.): Texto/contexto II. São Paulo,<br />

S. 65-76.<br />

ROSENFELD, Anatol (1993c): Ressureição de Heidegger. In: (Ders.): Texto/contexto II. São Paulo, S.<br />

109-114.<br />

ROSENFELD, Anatol (1993d): O sentido do racismo. In: (Ders.): Texto/contexto II. São Paulo, S. 165-170.<br />

ROSENFELD, Anatol (1993e): As causas psicológicas do Nazismo. In: (Ders.): Texto/contexto II. São<br />

Paulo, S. 171-188.<br />

ROSENFELD, Anatol (1994a): Thomas Mann. São Paulo.<br />

ROSENFELD, Anatol (1994b): Thomas Mann, configurador do duvidoso. In: ROSENFELD (1994a), S.<br />

107-138.<br />

ROSENFELD, Anatol (1994c): Thomas Mann e a situação ambígua do homem. In: ROSENFELD<br />

(1994a), S. 101-106.<br />

ROSENFELD, Anatol (2006): Anatol on the road. São Paulo.<br />

SCHWARZ, Roberto (1987): Primeiros tempos de Anatol Rosenfeld no Brasil. In: (Ders.): Que horas<br />

são?. São Paulo.<br />

VEJMELKA, Marcel (2006): Dialektik der brasilianischen Literatur – kulturelle Aneignung <strong>und</strong> Vermittlung<br />

bei Otto Maria Carpeaux. In: Martius-Staden-Jahrbuch 53, S. 265-284.<br />

VON ZUR MÜHLEN, Patrik (1994): Exil in Brasilien. Die deutschsprachige Emigration 1933-1945. In:<br />

Exil in Brasilien. Die deutschsprachige Emigration 1933-1945. Eine Ausstellung des Deutschen<br />

Exilarchivs 1933-1945. Frankfurt am Main / Leipzig, S. 11-26.<br />

WAGLEY, Charles (1968): The Concept of Social Race in the Americas. In: (Ders.): The Latin American<br />

Tradition. Essays on the Unity and Diversity of Latin American Culture. New York / London, S. 155–174.<br />

ZWEIG, Stefan (1994): Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt am Main.<br />

ZWEIG, Stefan (1997): Brasilien, ein Land der Zukunft. Frankfurt am Main.


Anatol Rosenfeld<br />

Dr. Marcel Vejmelka ist Literaturwissenschaftler, Romanist <strong>und</strong> Lateinamerikanist mit<br />

Forschungsschwerpunkten im Bereich der Literatur- <strong>und</strong> Kulturtheorie <strong>und</strong> des Kulturtransfers.<br />

2004 Promotion am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin mit einer Dissertation<br />

über João Guimarães Rosa <strong>und</strong> Thomas Mann (Kreuzungen: Querungen, Berlin 2005);<br />

2007/08 Postdoc-Stipendiat des International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC)<br />

der Justus-Liebig-Universität Gießen mit einem Forschungsprojekt zu „Kulturellen Kartographien<br />

Lateinamerikas“. Mit Ligia Chiappini ist er Herausgeber des Bandes Welt des Sertão/Sertão<br />

der Welt. Erk<strong>und</strong>ungen im Werk João Guimarães Rosas (Berlin 2007).<br />

Agência Estado<br />

101


Ernst Feder (aus: Heute sprach ich mit…<br />

Tagebücher eines Berliner Publizisten 1926-1932, Stuttgart 1971)


„Die Blüte des Exils“:<br />

Ernst Feder <strong>und</strong> sein<br />

Brasilianisches Tagebuch<br />

Marlen Eckl<br />

Wien<br />

Resumo: Ernst Feder, jurista e editor, responsável pela área de política<br />

interior do Berliner Tageblatt por muitos anos, foi um dos<br />

jornalistas alemães mais prestigiosos e internacionalmente<br />

conhecidos, quando, em 1933, na condição de judeu e<br />

devido à sua convicção política, teve que deixar a Alemanha.<br />

Graças à ajuda do embaixador Luís Martins de Souza<br />

Dantas, chegou em 1941, depois de oito anos de exílio na<br />

França, com sua esposa Erna ao Rio de Janeiro. Em seu<br />

„Diário Brasileiro“ desenha um retrato detalhado do exílio<br />

alemão no Brasil. Na apresentação desse documento único,<br />

o foco deste artigo se dirige aos seguintes assuntos: o<br />

impacto da política do regime Vargas quanto às restrições<br />

de imigração e aos „suditos do eixo“; a alta reputação que<br />

Vargas tinha junto à população carente; o papel de Feder<br />

como mediador cultural entre Alemanha e Brasil e a função<br />

de Goethe neste contexto; a amizade do jornalista com<br />

Stefan Zweig e suas atividades nas organizações judaicas<br />

no Brasil. O objetivo do artigo é lembrar desse publicista,<br />

injustamente caído em esquecimento, e assim apreciar o<br />

seus méritos como cronista do exílio alemão no Brasil.<br />

Abstract: Ernst Feder, lawyer and long-standing political editor-inchief<br />

of the Berliner Tageblatt, was one of the most renowned<br />

and internationally well known German journalists,<br />

when he, in 1933, due to his Jewish origin and political<br />

view, had to leave Germany. With the help of the Brazilian<br />

ambassador Luís Martins de Souza Dantas, Feder and<br />

his wife Erna came to Rio de Janeiro in 1941 after an eightyear<br />

exile in France. In his “Brazilian Diary” he gives a detailed<br />

picture of the German exile in Brazil. Presenting this<br />

unique document, the article focuses on the following subjects:<br />

the impact of the policy of the Vargas-regime regarding<br />

the restrictions of immigration and the special regulations<br />

for the citizens of the Axis Powers; the high reputation<br />

of Vargas within the poor population; Feder’s role as<br />

cultural mediator between Germany and Brazil and the<br />

103


104<br />

function of Goethe in this context; the journalist’s friendship<br />

with Stefan Zweig and his activities in Jewish organizations<br />

in Brazil. The aim of the article is to remember this journalist<br />

unjustly forgotten nowadays and therefore appreciate his<br />

achievement as chronicler of the German exile in Brazil.<br />

„Ein bescheidener Meister“ – Der Demokrat <strong>und</strong> Journalist Ernst Feder<br />

Ernst Feder, der ehemalige, renommierte Redakteur des „Berliner Tageblatt“<br />

kam mit seiner Frau <strong>und</strong> der Feder als einzigem Hilfsmittel<br />

nach Brasilien. […] Ohne seine gr<strong>und</strong>sätzlichen Sorgen eines liberalen<br />

europäischen Denkers zu vergessen, wusste sich Ernst Feder dem amerikanischen<br />

Milieu anzupassen. Er ist interessiert <strong>und</strong> schreibt über<br />

Episoden <strong>und</strong> Probleme unseres Amerikas. […] Sein Observatorium<br />

[dies ist eine Anspielung auf seine Kolumne, die er unter dem Namen<br />

Spectator (lat. Zuschauer) schrieb] 1 ist ein kleines Apartment voller<br />

Bücher, aber sein Horizont ist die Welt. Wenn Sie eine Lektion des<br />

Lebens haben möchten, können Sie in seinen Büchern blättern oder<br />

diesen Vorkämpfer für die humanistische Sache besuchen, der der erste<br />

europäische Schriftsteller war, der auf die Gefahren des Nazismus<br />

aufmerksam gemacht hat: der einstige Chefredakteur einer der größten<br />

europäischen Zeitungen ihrer Zeit, ein standhafter Liberaler, ein<br />

bescheidener <strong>und</strong> milder Meister. 2 (BENITEZ 1946)<br />

So beschrieb der paraguayische Außenminister Juan Pastor Benitez 1946 den<br />

bekannten deutsch-jüdischen Berliner Publizisten in einem Artikel, den er „A flor<br />

do exílio“ (Die Blüte des Exils) nannte, <strong>und</strong> gab darin seine Bew<strong>und</strong>erung für<br />

diesen außergewöhnlichen Menschen zum Ausdruck, dem es nicht nur gelungen<br />

war, sich im fortgeschrittenen Alter zweimal ein neues Leben aufzubauen, sondern<br />

dies darüber hinaus auch noch einmal in einem Land <strong>und</strong> einer Kultur, die<br />

seiner europäischen Sozialisation so fremd waren. Dabei war dies keineswegs in<br />

Ernst Feders Lebensweg angelegt. 3<br />

Als viertes Kind von Salomon <strong>und</strong> Luise Feder (geb. Elkan) wurde er am 18.<br />

März 1881 in Berlin in eine zutiefst mit Deutschland verb<strong>und</strong>ene jüdische Familie<br />

1. Bei allen in die Zitate eingefügten eckigen Klammern handelt es sich um erläuternde Ergänzungen<br />

der Verfasserin.<br />

2. „Ernesto Feder, o prestigioso redator do ‚Berliner Tageblatt‘, de outrora, chegou ao Brasil em<br />

companhia da sua esposa e a pena como único recurso. [...] Ernesto Feder, sem esquecer<br />

suas preocupações doutrinarias de pensador liberal e europeu, soube adaptar-se ao meio<br />

americano. Interessa-se e escreve sobre episódios e problemas da nossa América. [...] Seu<br />

observatório é um pequeno apartamento cheio de livros, mas seu horizonte é o m<strong>und</strong>o. Se<br />

quiserdes receber uma lição dignificadora da vida […] podeis folhear seus livros ou visitar<br />

este paladino de causas humanas, que foi o primeiro escritor europeu que assinalou os<br />

perigos do nazismo: o antigo redator-chefe de um dos maiores jornais europeus de sua<br />

época, um liberal impenitente, um mestre simples e ameno.“<br />

3. Die biographischen Angaben zu Ernst Feder basieren im Wesentlichen auf FEDER 1971, S. 7-<br />

26 <strong>und</strong> FURTADO-KESTLER 1992, S. 78-81.


hineingeboren. Da sein Vater, Inhaber einer Hutfabrik, die die älteren Brüder nach<br />

dessen Tod übernahmen, ein regelmäßiger Leser des Berliner Tageblatts war, kam<br />

Feder bereits in jungen Jahren mit dem Presseorgan in Berührung, bei dem seine<br />

journalistische Karriere später ihren Höhepunkt erreichen sollte. Nach dem sehr<br />

gut bestandenen Abitur am Sophien-Gymnasium begann Feder an der Friedrich-<br />

Wilhelm-Universität (heutige Humboldt-Universität) ein Jura-Studium, welches<br />

er ebenso erfolgreich abschloss. Das Angebot, in eine bekannte Anwaltspraxis<br />

einzutreten, ausschlagend, machte sich Feder 1907 als Anwalt selbständig <strong>und</strong><br />

eröffnete eine eigene Praxis, in die er zu einem späteren Zeitpunkt Arthur Loewe<br />

als Sozius mit aufnahm. Ein Jahr später lernte er seine damals 15-jährige, zukünftige<br />

Frau Erna Zobel kennen. 1911 heirateten die beiden <strong>und</strong> bezogen eine großzügige<br />

Wohnung in der Leipziger Straße 103 (Ecke Friedrichstraße), in der sie bis zu<br />

ihrer Emigration wohnten.<br />

Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete sich Feder, der nie gedient hatte,<br />

freiwillig zum Kriegsgericht, bei dem er als Kriegsgerichtsrat tätig wurde. Hier<br />

lernte er Dr. Martin Cohn, einen der Inhaber des Berliner Tageblatts, kennen <strong>und</strong><br />

trat in engeren Kontakt mit dieser Zeitung. In jener Zeit nahm Feder auch Verbindung<br />

mit der neu gegründeten Europäischen Staats- <strong>und</strong> Wirtschaftszeitung auf.<br />

Schon vor dem Krieg hatte Feder begonnen, für die Zeitschrift Nation des liberalen<br />

Politikers Theodor Barth, dessen Stil <strong>und</strong> politische Haltung Feder stark<br />

beeinflussten, zu schreiben. Obwohl er nach dem Krieg seine Praxis weiterführte,<br />

wurden seine Beziehungen zu Journalisten zunehmend intensiver, fanden seine<br />

Artikel immer mehr Beachtung in der publizistischen Welt.<br />

Im Herbst 1919 bat ihn Theodor Wolff, der damalige Chefredakteur des Berliner<br />

Tageblatts, als Redakteur regelmäßig für die Zeitung zu arbeiten. Diese Tätigkeit<br />

führte zur Bekanntschaft mit vielen herausragenden Persönlichkeiten aus<br />

Politik, Wirtschaft, Kultur <strong>und</strong> Gesellschaft wie Wilhelm Abegg, Otto Braun, Rudolf<br />

Breitscheid, Paul Cassirer, Albert Einstein, Rudolf Hilferding, Thomas <strong>und</strong> Heinrich<br />

Mann, Max Osborn, Hugo Preuss, Hugo Simon, James Simon, Walther Rathenau,<br />

Fritz von Unruh <strong>und</strong> Stefan Zweig; einige davon traf er sowohl in Paris als<br />

auch in Rio de Janeiro wieder. Wenngleich er hauptsächlich für den innenpolitischen<br />

Teil schrieb, beauftragte Wolff ihn in den Jahren 1925/1926 mit der Berichterstattung<br />

über die Beitrittsverhandlungen Deutschlands mit dem Völkerb<strong>und</strong>.<br />

Mit diesem <strong>und</strong> anderen dienstlichen Aufträgen im Ausland machte er sich auch<br />

über Deutschland hinaus einen Namen <strong>und</strong> erhielt internationale Anerkennung.<br />

Aus dieser Zeit stammten auch die Kontakte, die sich später in der Emigration in<br />

Frankreich als sehr hilfreich erweisen sollten.<br />

In der Folge wurde er zum Präsidenten der Arbeitsgemeinschaft der deutschen<br />

Presse gewählt. Eine besondere Ehrung stellte für ihn seine Wahl zum ständigen<br />

Richter am Internationalen Ehrengerichtshof der Presse in Den Haag dar. In seinen<br />

Erläuterungen zum journalistischen Beruf in diesem Kontext betonte er die Bedeutung<br />

des Kriteriums der Diskretion in der publizistischen Tätigkeit <strong>und</strong> führte ferner<br />

aus: „Wir wissen, daß die Pressefreiheit, <strong>das</strong> kostbarste Kulturgut jedes modernen<br />

Staates, jetzt schon in den großen Ländern totgeschlagen, in den anderen hart bedrängt,<br />

daß dieses Gut nur verteidigt werden kann, wenn ihm <strong>das</strong> Korrelat der Selbstdisziplin<br />

verantwortungsbewußter Publizisten gegenübersteht“ (FEDER 1971, S. 15).<br />

105


106<br />

Diesem Verantwortungsgefühl sah sich Feder stets verpflichtet, <strong>und</strong> er sollte es<br />

auch nicht unter den widrigsten wirtschaftlichen Bedingungen während des Exils<br />

preisgeben. Diese Verantwortung war es auch, die seiner in den Artikeln geäußerten<br />

Meinung ein besonderes Gewicht verlieh <strong>und</strong> ihn zu einer wichtigen innenpolitischen<br />

Stimme in der Weimarer Republik werden ließ. Er selbst engagierte sich<br />

politisch in der Deutschen Demokratischen Partei, deren Vorsitzender der Ortsgruppe<br />

Berlin-Mitte er einige Jahre war. Bereits sehr früh aber nahm Feder <strong>das</strong> Abdriften<br />

der Partei nach rechts wahr <strong>und</strong> prangerte dies an. Der aus der Vereinigung<br />

mit der Volksnationalen Reichsvereinigung hervorgegangenen neuen Deutschen<br />

Staatspartei schloss er sich, wie viele andere jüdische Parteimitglieder des<br />

linken Flügels, nicht mehr an.<br />

„Finis Germaniae….“ – Der Exilant Ernst Feder<br />

Feder war ein typischer Vertreter der gebildeten bürgerlichen assimilierten<br />

jüdischen Oberschicht. Tief in der deutschen Kultur verwurzelt <strong>und</strong> eng mit dem<br />

deutschen Staat verb<strong>und</strong>en, blieb er doch zugleich ein aufrechter Jude, der dem<br />

Judentum nie den Rücken kehrte. So leistete er als scharfsinniger Beobachter der<br />

politischen Entwicklungen <strong>und</strong> Journalist seinen Beitrag zum Kampf um den Erhalt<br />

der Errungenschaften der jüdischen Emanzipation <strong>und</strong> die Bewahrung der<br />

demokratischen Staatsordnung der Weimarer Republik. Dieser Kampf erwies sich<br />

letztlich jedoch ungeachtet der Warnungen mancher klugen <strong>und</strong> weitsichtigen<br />

Köpfe wie Feder als vergeblich <strong>und</strong> der Nationalsozialismus trug den Sieg davon.<br />

Und als der Journalist am 30. Januar 1933 von einem amerikanischen Kollegen<br />

nach seinem Urteil der politischen Ereignisse gefragt wurde, antwortete er schlicht:<br />

„Finis Germaniae…“ (SILVEIRA 1943).<br />

Er war realistisch genug, die nötigen Konsequenzen zu ziehen, <strong>und</strong> sich nicht,<br />

wie zu Anfang der Großteil der deutschen Juden, der Illusion hinzugeben, <strong>das</strong>s<br />

alles nicht so schlimm werden würde. Bald nach Hitlers Machtübernahme floh<br />

Feder im September über die Schweiz nach Paris, <strong>das</strong> in den nächsten Jahren bis<br />

zum Sieg der deutschen Truppen im Juni 1940 zu einem wichtigen Zentrum der<br />

deutschsprachigen Emigration werden sollte. Mit Hilfe der alten Kontakte zu den<br />

französischen Kollegen <strong>und</strong> der Société d’histoire moderne et contemporaine, deren<br />

Mitglied Feder war, gelang es ihm, trotz der schwierigen Situation als freier Journalist<br />

beruflich neuerlich Fuß zu fassen. Er hielt Vorträge, u. a. an der Sorbonne-<br />

Universität <strong>und</strong> unterstützte durch seine Kontakte die Schaffung von Exilzeitungen,<br />

darunter <strong>das</strong> Pariser Tageblatt. Zudem nutzte er seine Beziehungen, um als Anwalt<br />

<strong>Flüchtlinge</strong>n <strong>und</strong> Exilanten behilflich zu sein <strong>und</strong> sich für deren Belange einzusetzen.<br />

In diesem Sinn gehörte er auch zeitweilig der 1933 gegründeten Hilfsorganisation<br />

Deutsche Kommission an (FRANKE, 2000, S. 187/188). Als die Feders 1938<br />

offiziell von Deutschland ausgebürgert wurden, war Frankreich bereits zu einer<br />

neuen Heimat für sie geworden.<br />

Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen jedoch wurde auch die mühsam<br />

neu aufgebaute Existenz in Paris abermals zunichte gemacht. Feders Besitz <strong>und</strong><br />

Wohnung wurden bald nach der Besetzung von Paris von den Nationalsozialisten<br />

konfisziert. Am meisten schmerzte ihn der Verlust seiner Bibliothek. Aber viel


wichtiger war, <strong>das</strong> eigene Leben zu retten, auch wenn dies bedeutete, <strong>das</strong>s man<br />

<strong>das</strong> geliebte Europa hinter sich lassen musste. Nach einer kurzen Internierung im<br />

Camp de la Braconne bemühte sich Feder, ein Visum für die USA für sich <strong>und</strong> seine<br />

Frau zu bekommen. Da die American Guild for Cultural Freedom aus verschiedenen<br />

Gründen nichts für ihn tun konnte, trat Feder mit Varian Fry in Marseille, der von<br />

dem Emergency Rescue Committee beauftragt worden war, europäischen Intellektuellen<br />

bei ihrer Flucht vor den Nationalsozialisten zu helfen, in Verbindung. Aber<br />

auch Fry standen aufgr<strong>und</strong> der von den USA festgelegten Einwanderungsquote<br />

nur begrenzte Möglichkeiten zur Verfügung, so <strong>das</strong>s er Feder nicht weiterhelfen<br />

konnte. Er empfahl ihm jedoch, den brasilianischen Botschafter Luís Martins de<br />

Souza Dantas aufzusuchen.<br />

Zwar besaß Brasilien äußerst restriktive Immigrationsbestimmungen, vor allem<br />

auch hinsichtlich jüdischer <strong>Flüchtlinge</strong>, die sogar so weit führten, <strong>das</strong>s die Vergabe<br />

von Visa an Personen „semitischer Herkunft“ ab 1937 nur unter sehr eingeschränkten<br />

Bedingungen erlaubt war <strong>und</strong> ab 1941 vollständig ausgesetzt wurde.<br />

Doch im Gegensatz zu vielen seiner diplomatischen Kollegen ließ Souza Dantas<br />

die menschliche Tragödie, die sich in jenen Monaten täglich vor den Auslandsvertretungen<br />

der außereuropäischen Staaten abspielte, nicht unberührt. Als eine<br />

Art „Don Quixote in der Finsternis“ setzte er sich über die inhumane Einwanderungspolitik<br />

seines Landes hinweg <strong>und</strong> stellte h<strong>und</strong>erten <strong>Flüchtlinge</strong>n ein<br />

Einreisevisum für Brasilien aus. Wie im Fall von Ernst <strong>und</strong> Erna Feder scheute er<br />

sich nicht, dabei auch auf Diplomatenvisa zurückzugreifen (KOIFMAN 2002, S.<br />

426/427). Außerdem gaben ihm Botschafter Souza Dantas <strong>und</strong> seine Botschaftsangestellten<br />

Medeiros de Paço <strong>und</strong> Antônio Dias Tavares Bastos mehrere an deren<br />

Verwandte, Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> an bekannte Journalisten gerichtete Referenzschreiben<br />

<strong>und</strong> Empfehlungsbriefe mit auf den Weg, die ihm den Neuanfang im<br />

fremden Land erleichtern sollten. So ausgerüstet kamen die Feders am 17. Juli<br />

1941 mit der Cabo de Hornos in Rio de Janeiro an. Noch am selben Tag begann<br />

Feder sein „Brasilianisches Tagebuch“, wie er es selbst nannte.<br />

„Heute sprach ich mit…“ – Der Tagebuchschreiber Ernst Feder<br />

Ernst Feder war ein überzeugter, gewissenhafter <strong>und</strong> regelmäßiger Tagebuchschreiber.<br />

Bis ins Jahr 1913 gehen die Teile seiner Tagebücher zurück, die erhalten<br />

geblieben sind. In einem abendlichen Ritual diktierte er seiner Frau die Erlebnisse,<br />

vor allem seine Begegnungen <strong>und</strong> Gespräche. 4 War Erna Feder krankheitsbedingt<br />

verhindert, führte er die Eintragungen handschriftlich alleine weiter. Wie sehr <strong>das</strong><br />

allabendliche Diktat den Eheleuten auch als Gedankenaustausch über den vergangenen<br />

Tag diente, zeigte sich in der Freude <strong>und</strong> Erleichterung, die Feder<br />

äußerte, wenn Erna nach einer längeren Pause ihre Rolle als Sekretärin wieder<br />

aufnahm. Der Stellenwert, den die Tagebücher für Feder besaßen, lässt sich an<br />

seiner Sorge ermessen, die er äußerte, als er sie in Frankreich zurücklassen musste,<br />

was fast dem Verlust eines Teils des eigenen Lebens gleichkam: „Alle früheren<br />

4. Nicht zufällig wählten Cécile Lowenthal-Hensel <strong>und</strong> Arnold Paucker bei der Herausgabe von<br />

Ausschnitten aus Feders Tagebüchern der Jahre 1926-1932 den Titel: Heute sprach ich mit…<br />

107


108<br />

Tagebücher, immerhin drei Jahrzehnte, ruhen im Pariser coffre-fort. Werden wir<br />

sie jemals wiedersehen?“ (FEDER 1971, S. 7). Ähnlich wie im Fall der Tagebücher<br />

von Thomas Mann <strong>und</strong> anderen Emigranten war <strong>das</strong> Schicksal von Feders<br />

Aufzeichnungen eng mit seinem eigenen verb<strong>und</strong>en. Es dauerte einige Jahre,<br />

bis der Journalist sie wieder zurückerhielt, denn dies geschah erst nach dem<br />

Zweiten Weltkrieg.<br />

Es gibt unterschiedliche Gründe, die Menschen dazu veranlassen, ein Tagebuch<br />

zu führen. Ernst Feder knüpfte an die Tradition des politischen Tagebuchs<br />

an, denn er war sich sehr wohl bewusst, <strong>das</strong>s er als innenpolitischer Redakteur des<br />

Berliner Tageblatts <strong>und</strong> als Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei über eine<br />

privilegierte Stellung nahe am Zeitgeschehen verfügte <strong>und</strong> mit wichtigen Personen<br />

verkehrte. Er repräsentiert daher den Typus „Tagebuchschreiber, der Zeitgeschehen<br />

bezeugen wollte, der ein Gespür für historische Augenblicke hatte, ohne<br />

dabei seine Zeugenschaft in den Vordergr<strong>und</strong> zu spielen“ (GÖRNER 1986, S. 18;<br />

Herv. im Text). Die Tagebücher bis zu seiner Emigration zeichnen denn auch mehr<br />

ein Bild von den Ereignissen um ihn herum, als <strong>das</strong>s sie Persönliches von ihm offen<br />

legen. Der Journalist selbst las gerne in ihnen nach; sei es, um sich gewisse Begebenheiten<br />

ins Gedächtnis zu rufen; sei es, um zu überprüfen, ob seine Einschätzung<br />

der Geschehnisse, wie er sie aus der Situation heraus getroffen hatte, mit den<br />

tatsächlichen Entwicklungen in der Folge übereingestimmt hatte. Die Bedeutung,<br />

die Feders Tagebüchern aufgr<strong>und</strong> dieser Zeugenschaft als historisches Dokument<br />

zukommt, lässt sich daran erkennen, <strong>das</strong>s sie von Wissenschaftlern für Untersuchungen,<br />

z. B. über <strong>das</strong> Berliner Tageblatt oder <strong>das</strong> Ende der Weimarer Republik als<br />

wichtige <strong>und</strong> unerlässliche Quelle herangezogen wurden. 5<br />

Der Bruch, den die Emigration im Leben der Feders darstellte, wird auch in<br />

den Tagebüchern sichtbar. „Diesen Bruch abzumildern oder gar zu überwinden,<br />

greift der Exilierte zur Feder. Die täglichen Eintragungen […] versichern ihm, daß<br />

die Katastrophe ihn nicht unempfindlich gemacht hat, daß er es nicht verlernt hat,<br />

nachzudenken <strong>und</strong> seine Überlegungen in Worte zu kleiden“ (SELLMER 1997, S.<br />

45). Die während des Exils in Frankreich <strong>und</strong> Brasilien geführten Tagebücher<br />

weisen andere Charakteristiken <strong>und</strong> Themenschwerpunkte auf. Als politisch interessierter<br />

Mensch gab Feder der Politik in seinen Tagesnotizen selbstverständlich<br />

weiterhin Raum. Die Vorgänge in Deutschland waren hierbei von vorrangiger<br />

Bedeutung, nicht nur, weil die Verb<strong>und</strong>enheit mit der Heimat durch die Auswanderung<br />

keineswegs geringer geworden war, sondern auch, weil die Entwicklungen<br />

nicht zuletzt auch Auswirkungen auf Frankreich <strong>und</strong> die Lage der dort<br />

weilenden deutschen Exilanten hatten. Gleichwohl traten nun zunehmend Beschreibungen<br />

der Schwierigkeiten beim Aufbau einer neuen Existenz <strong>und</strong> des<br />

sich Einfügens in <strong>das</strong> andere Lebensmilieu in den Vordergr<strong>und</strong>. In Frankreich<br />

waren jedoch die Voraussetzungen dafür für Emigranten noch vergleichsweise<br />

günstig. Das wohlbekannte <strong>und</strong> vertraute Paris empfanden sie als keine wirkliche<br />

5. Als Beispiel sei nur hingewiesen auf Gotthart Schwarz’ Werk Theodor Wolff <strong>und</strong> <strong>das</strong> „Berliner<br />

Tageblatt“. Eine liberale Stimme in der deutschen Politik 1906 – 1933 (Tübingen 1968) <strong>und</strong><br />

Bernd Sösemanns Abhandlung Das Ende der Weimarer Republik in der Kritik demokratischer<br />

Publizisten: Theodor Wolff, Ernst Feder, Julius Elbau, Leopold Schwarzschild (Berlin 1976).


Fremde, weil man dort viele der alten Fre<strong>und</strong>e, Bekannten <strong>und</strong> Kollegen, die<br />

Deutschland ebenfalls hatten verlassen müssen, wieder sah <strong>und</strong> weil man die<br />

französische Sprache beherrschte. Indem Feders Tagebücher aus jener Zeit neben<br />

der Schilderung der persönlichen Situation auch ausführlich auf <strong>das</strong> Schicksal<br />

anderer Emigranten <strong>und</strong> die Stimmung in diesen Kreisen eingehen, stellen sie<br />

ebenso wie für die Jahre der Weimarer Republik <strong>und</strong> die Innensichten in <strong>das</strong><br />

Berliner Tageblatt auch für <strong>das</strong> deutschsprachige Exil in Paris <strong>und</strong> die dort entstandene<br />

Exilpresse ein wichtiges Werk dar. Nicht ohne Gr<strong>und</strong> sah auch Julia Franke<br />

in ihnen eine exemplarische Darstellung des Alltags in der „neuen Heimat“ <strong>und</strong><br />

setzte Feder als Chronist ein, der den Leser mit seinen Erfahrungen <strong>und</strong> Eindrücken<br />

durch <strong>das</strong> Buch begleitet <strong>und</strong> ihm einen authentischen Einblick in die<br />

deutsch-jüdische Emigration in Paris vermitteln soll. 6<br />

Was für die französische Exilzeit zutrifft, gilt umso mehr für <strong>das</strong> „Brasilianische<br />

Tagebuch“, wobei seine Bedeutung als historisches Dokument eine vielfach höhere<br />

ist. Denn anders als im Fall des Pariser Exils ist die Anzahl der Selbstzeugnisse<br />

dieser Art für die deutschsprachige Emigration nach Brasilien relativ gering. Hinzu<br />

kommt, <strong>das</strong>s Feder wie schon in Paris auch in Rio de Janeiro vielen Emigranten<br />

von seiner journalistischen Arbeit in Berlin her bekannt war <strong>und</strong> darüber hinaus<br />

schon bald über weit reichende Kontakte zu einflussreichen, brasilianischen Politikern<br />

<strong>und</strong> Intellektuellen verfügte. Er diente deshalb vielen seiner Schicksalsgenossen<br />

als Vertrauensperson <strong>und</strong> Gesprächspartner in diesem für alle so fremden<br />

Land, wussten sie doch um seine Integrität <strong>und</strong> erhofften Rat <strong>und</strong> Hilfe von<br />

ihm. Feders „Brasilianisches Tagebuch“ spiegelt infolgedessen <strong>das</strong> Panorama der<br />

gesamten deutschsprachigen Emigration wider <strong>und</strong> ist daher eine Quelle einzigartigen<br />

Wertes, der leider bis jetzt in dieser Hinsicht noch keine Aufmerksamkeit<br />

zuteil wurde. Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, die 15 Jahre <strong>und</strong><br />

mehr als 2000 Seiten umfassenden Tagebücher aus der Brasilienzeit in der gesamten<br />

Brandbreite ihres Themenspektrums vorzustellen. Aus diesem Gr<strong>und</strong> sollen<br />

nur einige bezeichnende Aspekte zur Sprache kommen, die dem Leser ein Bild<br />

von Feders Neuanfang dort sowie den Problemen <strong>und</strong> Herausforderungen, mit<br />

denen sich die deutschen Emigranten in dem südamerikanischen Land konfrontiert<br />

sahen, vermitteln können.<br />

Zeugnis eines Neuanfangs – Feders „Brasilianisches Tagebuch“<br />

Zauberhaft ist der Anblick, wie in der dunklen Nacht <strong>das</strong> Schiff in<br />

majestätischer Ruhe in die riesige Baia de Guanabara hingleitet, während<br />

sich die zauberhafte, unwirklich scheinende Illumination der Tausende<br />

<strong>und</strong> Tausende [sic] von elektrischen Lampen rechts <strong>und</strong> links<br />

entfaltet. Es ist als ob die Riesenstadt sich auf unseren Empfang vorbereitet<br />

hat, <strong>und</strong> unwahrscheinlich ist der Gedanke, <strong>das</strong>s hier Nacht um<br />

Nacht sich ohne jede Einschränkung solch ein Lichterglanz von Bergen<br />

6. Vgl. FRANKE 2000. Walter F. Peterson hat für seine Untersuchung The Berlin liberal press in<br />

Exile: a history of the Pariser Tageblatt - Pariser Tageszeitung, 1933 – 1940 (Tübingen 1987)<br />

ebenfalls auf Feders Tagebücher zurückgegriffen.<br />

109


110<br />

<strong>und</strong> Inseln unterbrochen, alles kaum zu erkennen, geisterhaft verwischt,<br />

sowie überhaupt alles naturhaft <strong>und</strong> geisterhaft erscheint, ohne <strong>das</strong>s die<br />

Menschenhand <strong>und</strong> <strong>das</strong> Menschenwerk sichtbar wird. „Das also ist die<br />

berühmte Praia da Copacabana“, ist die einzige Erinnerung, die eine lange,<br />

gleichmäßig elegante Lichterkette weckt. Der Commissario […] erklärt<br />

einigen Damen die Einzelheiten des Ufers, den unverkennbaren<br />

Pao de assucar [sic] hervorhebend. […] Im Tageslicht scheint die Geisterwelt<br />

<strong>und</strong> ihr Glanz alltäglich, aber kaum fallen die ersten Sonnenstrahlen<br />

auf die Stadt mit den langen Quais, den Hochhäusern, den Bergen,<br />

dem Inselzauber, als der zweite unvergessliche Eindruck uns wird.<br />

(FEDER, Tagebücher Bd. 15, 17.07.1941) 7<br />

Feder war nicht der einzige, der von der Schönheit Rio de Janeiros überwältigt<br />

war <strong>und</strong> seine erste Wahrnehmung davon festhielt, mit der auch sein „Brasilianisches<br />

Tagebuch“ beginnt. In vielen Schriften von Emigranten lassen sich<br />

ähnliche Beschreibungen finden. Feder war bei seinem Eintreffen in Brasilien<br />

keineswegs dort völlig unbekannt. Schon zwei Tage danach erschienen in den<br />

zwei großen Zeitungen, dem Correio da Manhã <strong>und</strong> dem Globo, ein Artikel bzw.<br />

Interview mit dem Journalisten. Einige der anderen <strong>Flüchtlinge</strong> erfuhren auf<br />

diesem Weg von Feders Ankunft in Rio de Janeiro <strong>und</strong> setzten sich daraufhin<br />

mit ihm in Verbindung, wie der Bankier <strong>und</strong> Mäzen Hugo Simon, den er schon<br />

im Pariser Exil wieder getroffen hatte <strong>und</strong> der sich seit Februar 1941 in Rio befand.<br />

(Simon, der mit seiner Frau in Brasilien unter Decknamen eingereist war,<br />

lebte aus Angst vor einer drohenden Abschiebung durch die brasilianischen<br />

Behörden weiterhin unter dem neuen Namen Hubert Studenic <strong>und</strong> ging in der<br />

Verheimlichung seiner wahren Identität sogar soweit, <strong>das</strong>s seine Töchter vorgeben<br />

mussten, nicht mit ihren Eltern verwandt zu sein). Daher dauerte es nicht<br />

sehr lange, <strong>und</strong> Feder stand erneut in Verbindung mit zahlreichen Emigranten;<br />

um nur ein paar bekanntere zu nennen: Richard Lewinsohn, Paul Frischauer,<br />

Richard Katz, Hans Klinghoffer, Wolfgang Hoffmann-Harnisch, Nobert Geyerhahn<br />

<strong>und</strong> Leopold Stern.<br />

Hatte er in Paris auf die Hilfe seiner französischen Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Kollegen<br />

vertrauen können, so gestaltete sich der Neuanfang in Brasilien erheblich schwieriger,<br />

obgleich er dem immerhin schon 60-jährigen Feder durch die großzügigen,<br />

mitgebrachten Referenzen <strong>und</strong> Empfehlungsschreiben erleichtert wurde.<br />

Denn sie machten ihn mit einflussreichen Persönlichkeiten bekannt, die ihm<br />

wiederum zu weiteren, wichtigen <strong>und</strong> hilfreichen Kontakten verhalfen <strong>und</strong> die<br />

Türen wichtiger Institutionen öffneten. Zu seinem in kürzester Zeit aufgebauten<br />

Netzwerk gehörten u. a. der Dichter <strong>und</strong> Diplomat Ribeiro Couto, der die Bezeichnung<br />

des Brasilianers als „homem cordial“ (herzlichen Menschen) prägte,<br />

zu dieser Zeit im Palácio Itamaraty tätig <strong>und</strong> ein Mitglied der Academia Brasileira<br />

de Letras (ABL) war, der Journalist <strong>und</strong> Leiter der Associação Brasileira de Imprensa<br />

(ABI) Herbert Moses, der Präsident des brasilianischen P.E.N.-Clubs Claudio de<br />

7. Verweise auf die Tagebücher im Folgenden kurz mit „TB“. Die Verfasserin dankt dem Leo<br />

Baeck Institute, New York, für die Erlaubnis, die von ihr verwandten Zitate aus Feders unveröffentlichtem<br />

„Brasilianischen Tagebuch“ publizieren zu dürfen.


Souza, der Direktor des Arquivo Nacional Vilhena de Moraes, der Direktor des<br />

Instituto Nacional do Livro Augusto Meyer (ebenfalls ein Mitglied der ABL) <strong>und</strong><br />

die Journalisten Samuel Wainer (Diretrizes), Candido Campos (A Notícia),<br />

Raim<strong>und</strong>o de Magalhães (A Noite), Luís Guimarães Filho (A Gazeta; ebenfalls ein<br />

Mitglied der ABL), Oswaldo Souza e Silva (Ilustração Brasileira), Cassiano Ricardo<br />

(ebenfalls ein Mitglied der ABL) sowie Mucio Leão (A Manhã), José Pires do Rio<br />

<strong>und</strong> João Macdowell (Jornal do Brasil).<br />

Diese Bekanntschaften ebneten ihm den Weg in <strong>das</strong> brasilianische Pressewesen;<br />

doch <strong>das</strong>s Feder nach nur zwei Monaten in Brasilien, genauer am 07. September,<br />

mit Hilfe eines Artikels über Columbus im Jornal do Brasil den, wie er es nannte,<br />

„Einzug in die große brasilianische Presse“ (TB Bd. 15, 07.09.1941) vollziehen<br />

konnte, ist auch seiner Hartnäckigkeit zuzuschreiben. Denn andere Emigranten<br />

wiesen Feder schon in den ersten Tagen darauf hin, <strong>das</strong>s man in Brasilien sehr viel<br />

Geduld haben, beharrlich sein <strong>und</strong> mehrmals zu den Leuten hingehen müsse.<br />

Und Feder machte in der Tat diese Erfahrung; besonders mit Herbert Moses, der<br />

sich zwar hilfsbereit zeigte, ihn jedoch oft vertröstete. Nicht umsonst schrieb Frank<br />

Arnau, der österreichische Schriftsteller <strong>und</strong> Journalist, dem es dank Moses’ Unterstützung<br />

gelang, bald nach seiner Ankunft in Rio in den Zeitungen zu publizieren,<br />

in seinem Brasilienbuch über den brasilianischen Pressezaren: „Sein Hauptwort:<br />

‚Sem falta – amanhã‘ – Also: ‚Gewiß – morgen!‘ “ (ARNAU 1956, S. 189)<br />

Es war ein viel versprechender Anfang für Feder, auf den regelmäßige Veröffentlichungen<br />

in mehreren anderen Zeitungen folgten. Bald war er erneut voll<br />

journalistisch tätig. Obwohl er sofort anfing, Portugiesisch zu erlernen, sollte es<br />

noch ein Jahr dauern, bis er es sich zutraute, selbst die eigenen Artikel in der<br />

fremden Sprache zu verfassen. Aufgr<strong>und</strong> der geringen Entlohnung – Frank Arnau<br />

gibt in seinem Buch an, <strong>das</strong>s die Bezahlung für einen Artikel meist nur zwischen 5<br />

bis 10 U$ betrug – war es jedoch sehr mühsam, den Lebensunterhalt als Journalist<br />

zu verdienen. Der folgende Auszug aus der Eintragung vom 13.01.1942 steht stellvertretend<br />

für viele andere Tage <strong>und</strong> veranschaulicht die Odyssee, die Feder<br />

oftmals durch die verschiedenen Redaktionen bewältigen musste:<br />

1. Noite [gemeint ist die Zeitung], Raim<strong>und</strong>o Magalhães, dem ich den<br />

Principe Galante zurückbringe, gibt mir mit Widmung seinen „Judeu“<br />

<strong>und</strong> „Carlota“ […].<br />

2. Livraria mit Nelson gibt mir 2 Übersetzungen [von Feders Artikeln],<br />

die ich mit ihm durchgehe (doch immer allerlei zu verbessern,<br />

manchmal versteht er <strong>das</strong> Französische nicht, manchmal nicht<br />

den Gedanken) 2 neue übergeben.<br />

3. bei Vogel [der Zahnarzt, bei dem sich Feder einer langwierigen Behandlung<br />

unterzog], gibt mir <strong>das</strong> neue [Gebiss] […].<br />

4. DIP [Departamento de Imprensa e Propaganda]: der Mulatte Dr.<br />

Pedro Timoteo verspricht mir die Korrespondentenkarte für heute<br />

um 5. Als ich wiederkomme, macht er erst formelle Einwendungen<br />

[...], telefoniert dann aber doch mit dem Chef, ich gehe hinunter,<br />

soll sie morgen bekommen, bitte Magalhães, sie an sich zu nehmen.<br />

5. Biblioteca Nacional: 3 Bücher über Gérard de Nerval durchgesehen<br />

111


112<br />

6. Guimaraes [A Gazeta]: Artikel kam wieder nicht, führt es auf Desorganisation<br />

wegen neuen Formats zurück, lässt mir Honorar auszahlen!<br />

7. Mucio Leão [A Manhã]: beglückwünsche ihn zu den Heine-Publikationen,<br />

erzähle ihm Allerlei [sic] darüber, will ihn zur vollständigen Übersetzung<br />

veranlassen. Nächsten Sonntag soll Meyerbeer kommen.<br />

8. Macdowell [Jornal do Brasil]: Montesquieu[-Artikel] überreicht. Er:<br />

„Die Lage in Europa ist schlecht, sogar von Deutschland.” Pires möchte<br />

nicht, <strong>das</strong>s die ausländischen Mitarbeiter hervortreten, deshalb keine<br />

Clichés [sic]. Ich: „Meine Themen sind doch sehr harmlos.“<br />

9. Don [sic] Oswaldo [Ilustração Brasileira]: wird Pagini[-Artikel] nächste<br />

Februarnummer bringen, uns mal in Petropolis besuchen.<br />

(TB Bd.15, 13.01.1942)<br />

Die Eintragung deutete schon an, <strong>das</strong>s die Situation für die Deutschen in Brasilien<br />

aufgr<strong>und</strong> der politischen Entwicklungen schwieriger werden sollte. Bereits<br />

in den ersten Begegnungen im Juli 1941 verheimlichten die brasilianischen Journalisten<br />

Feder nicht, <strong>das</strong>s er es als Deutscher schwer haben würde, da <strong>das</strong> Misstrauen<br />

gegenüber den Deutschen groß sei, oft würden sie als fünfte Kolonne<br />

angesehen. Ferner erfuhr er bald, <strong>das</strong>s die Presse nicht frei war. Pires do Rio erklärte<br />

es so: „Wir müssen Rücksicht nehmen 1. auf den Staat, 2. auf die Kirche, 3. wenn<br />

dann noch Platz ist, auf <strong>das</strong> allgemeine Wohl“ (TB Bd.15, 20.08.1941). Nach dem<br />

Kriegseintritt der USA <strong>und</strong> während der Dritten Außenministerkonferenz panamerikanischer<br />

Staaten, die vom 15. bis 28. Januar 1942 in Rio de Janeiro stattfand<br />

<strong>und</strong> in deren Folge Brasilien am 29. Januar die diplomatischen Beziehungen<br />

zu Deutschland abbrach, wurde die Vorsicht der Zeitungen noch größer. Das<br />

Jornal do Brasil teilte Feder am 20. Januar mit, <strong>das</strong>s man die Veröffentlichung<br />

seiner Artikel einstelle, da man keinen deutschen Namen in der Zeitung haben<br />

wolle, er aber weiterhin seine Bezüge erhalten werde.<br />

Obgleich diesem Erscheinungsverbot neben politischen Gründen auch die<br />

Verhaftung des Neffen des Zeitungseigentümers unter dem Verdacht der Spionage<br />

für Deutschland zugr<strong>und</strong>e lag, wurde der Journalist dadurch direkt mit der<br />

Verschärfung der Politik gegenüber den „súditos do eixo“, den Angehörigen der<br />

Achsenmächte, konfrontiert, die nun als „Feindbürger“ <strong>und</strong> Gefahr für nationale<br />

Sicherheit angesehen wurden. Ungeachtet der Tatsache, <strong>das</strong>s die meisten Emigranten,<br />

die vor dem Nationalsozialismus geflohen waren, vom Dritten Reich längst<br />

ausgebürgert worden <strong>und</strong> somit als staatenlos anzusehen waren, wurden sie davon<br />

nicht ausgenommen. Denn, wie ein Angestellter des Justizministeriums Feder<br />

erläuterte, wurde die Ausbürgerung aller deutschen Juden von Brasilien nicht<br />

anerkannt, „da ein auf Rassengr<strong>und</strong>sätzen beruhendes Gesetz gegen die Gr<strong>und</strong>auffassung<br />

Brasiliens verstoße“ (TB Bd.15, 06.05.1942). Diese „Gleichbehandlung“<br />

ging gar soweit, <strong>das</strong>s es zur Verhaftung von Emigranten kam, die zusammen mit<br />

deutschstämmigen Nazi-Sympathisanten in eigens dafür eingerichtete Lager auf<br />

der Ilha <strong>das</strong> Flores unter unwürdigen Bedingungen festgehalten wurden. 8 Zudem<br />

8. So wurde z. B. der Sohn des bekannten Düsseldorfer Künstlers Wolf Sopher, Klaus Sopher,<br />

bald nach seiner Ankunft in Brasilien verhaftet <strong>und</strong> auf der Ilha <strong>das</strong> Flores zwei Jahre festgehalten.<br />

Vgl. ECKL 2005, S. 166.


hatten die Exilanten, deren wirtschaftliche Situation ohnehin meist prekär war,<br />

unter Berufsverboten, die vor allem die freien Berufe betrafen, zu leiden; so etwa<br />

auch ein guter Fre<strong>und</strong> Feders, Paul Rosenstein. Obwohl dem berühmten Berliner<br />

Urologen <strong>und</strong> Chirurgen von Seiten des Präsidenten Vargas die Zulassungserlaubnis<br />

als Arzt zugesichert worden war <strong>und</strong> er überdies gute Verbindungen zu<br />

ranghohen Politikern besaß, sollte es ihm lange Jahre verwehrt bleiben, in Brasilien<br />

als Arzt <strong>und</strong> Forscher tätig werden zu können. 9 Verglichen mit Rosenstein war<br />

Feder in einer glücklicheren Lage, auch wenn in jenen Monaten die journalistische<br />

Tätigkeit schwieriger wurde. Er schrieb weiterhin für die Basler Nationalzeitung,<br />

für die er kurze Zeit nach seiner Ankunft in Rio als Brasilien-Korrespondent<br />

zu arbeiten begonnen hatte, aber auch für den New Yorker Aufbau <strong>und</strong> <strong>das</strong> in<br />

Buenos Aires angesiedelte Argentinische Tageblatt. Auch erhielt er Anfragen von<br />

den Presseorganen der deutsch-jüdischen Gemeinden in Rio de Janeiro <strong>und</strong> São<br />

Paulo, von Aonde Vamos? bzw. der Crônica Israelita.<br />

Die Erschwerung seiner Arbeit war nicht die einzige Auswirkung der Politik des<br />

Vargas-Regimes, mit der Feder in Brasilien in Berührung kam. Aufgr<strong>und</strong> der unorthodoxen<br />

Art der Visumsvergabe von Souza Dantas – der von sich sagte, <strong>das</strong>s er,<br />

nach eigenen Angaben, dabei folgendermaßen vorging: „Ich, bevor ein diplomatisches<br />

Visum zu geben, fragte: Sind Sie Jude. Wenn nein, gebe ich keins“ (sic; TB<br />

Bd. 16, 23.08.1945) – hatten Erna <strong>und</strong> Ernst Feder unendliches Glück gehabt. Sie<br />

waren sich dessen sehr bewusst, <strong>und</strong> Feder sollte jede Gelegenheit nutzen, seiner<br />

Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen <strong>und</strong> auf die Verdienste dieses außergewöhnlichen<br />

Botschafters <strong>und</strong> seiner Kollegen Bastos <strong>und</strong> Medeiros de Paço hinzuweisen,<br />

„die in dieser Wüste von Traurigkeit, Depression <strong>und</strong> Angst eine Oase der<br />

Ruhe, des Friedens <strong>und</strong> des Vertrauens in die Zukunft zu schaffen wussten. Meine<br />

Brasilianer von Vichy, warum? Weil ich es hauptsächlich ihnen verdanke, <strong>das</strong>s ich<br />

heute im freien Amerika frei atmen kann“ (FEDER 1944). 10<br />

Nicht in Vichy, sondern in Rio de Janeiro lernten die Feders die fatalen Folgen<br />

der restriktiven Einwanderungsbestimmungen der brasilianischen Regierung kennen,<br />

als sie versuchten, die Einreisegenehmigung für Feders Bruder <strong>und</strong> Ernas<br />

Eltern zu erwirken. Im August 1942 erhielt Feder ein Telegramm von Souza Dantas<br />

mit der Nachricht seines Bruders Arthur, <strong>das</strong>s die Nationalsozialisten <strong>das</strong> Vichy-<br />

Regime aufforderten, alle deutschen <strong>Flüchtlinge</strong> an sie auszuliefern, <strong>und</strong> sie deshalb<br />

in großer Gefahr seien. Feder setzte seinen brasilianischen Bekannten umgehend<br />

<strong>das</strong> Problem auseinander <strong>und</strong> leitete mit ihrer Hilfe, die sie ihm bedingungslos<br />

zusagten, die notwendigen Schritte ein. Er musste indessen feststellen, <strong>das</strong>s es<br />

die brasilianischen Behörden meisterhaft verstanden, Anträge solcher Art, die<br />

sich auf die Einreise nicht erwünschter Personen (in diesem Fall Juden) bezogen,<br />

zu verschleppen, indem sie z. B. die Papiere nicht weiterleiteten oder sich gegen-<br />

9. Vgl dazu auch ROSENSTEIN 1954, S. 292/293, FEDER 1950a <strong>und</strong> ECKL 2005, S. 296. Erst 1949<br />

erhielt er einen Forschungsauftrag der B<strong>und</strong>esuniversität von Rio de Janeiro. Aus einer Berufung<br />

<strong>und</strong> Anstellung am Instituto Oswaldo Cruz wurde trotz Zusagen nichts.<br />

10. „[…], que souberam criar nesse deserto de tristeza, de depressão e de angustias uma<br />

[sic] oasis de calma, de serenidade e de confiança no futuro. Meus brasileiros de Vichy, por<br />

que? Porque se hoje estou respirando livremente na livre America, é a eles principalmente<br />

que o devo.“<br />

113


114<br />

seitig die Zuständigkeit zuschoben. Selbst einflussreiche Leute, die sich durch die<br />

Fürsprache von Feders Bekannten der Angelegenheit annehmen wollten, wie z. B.<br />

Alexandre Marcondes Filho (Arbeits- <strong>und</strong> Justizminister), Aristides Malheiros<br />

(Staatssekretär im Arbeitsministerium), Geraldo Mascarenhas (Privatsekretär von<br />

Getúlio Vargas) <strong>und</strong> João Neves da Fontoura (Nachfolger von Souza Dantas),<br />

konnten oder wollten nichts ausrichten. Unermüdlich suchte Feder die verschiedenen<br />

Ministerien <strong>und</strong> den Präsidentensitz auf <strong>und</strong> reichte zahlreiche Anträge<br />

<strong>und</strong> Gesuche ein. Alles vergebens:<br />

Nachmittags wieder Catete [d.i. Palácio do Catete, der Sitz des Präsidenten<br />

Vargas]. […] Die Situation ist die folgende: Außer den früheren Sachen:<br />

1. mein Gesuch an Außenministerium, abgelehnt wegen Einspruchs des<br />

Justizministeriums<br />

2. meine 1. Eingabe an den Präsidenten, mit negativem Bescheid des Justizministeriums<br />

zum Catete zurückgelangt <strong>und</strong> dort ohne Lösung lagernd<br />

(Eingabe 11.06.1942) schweben noch<br />

3. meine 2. Eingabe an den Präsidenten Ende August<br />

4. Ernas Eingabe vom 23. September<br />

5. Telegramm der drei Akademiker [gemeint sind die Mitglieder der Academia<br />

Brasileira de Letras Cassiano Ricardo, Ribeiro Couto <strong>und</strong> Múcio Leão] an<br />

Luiz Vergara [weiterer Sekretär von Vargas] vom 30. September.<br />

Wie ich nun mehr feststelle wurde die Eingabe zu 3 am 3. September, <strong>das</strong><br />

Telegramm zu 5 am 27. Oktober dem Justizministerium überwiesen, während<br />

die von so vielen Seiten so energisch befürwortete Eingabe vom 4.<br />

September überhaupt noch nicht zum Catete gelangt ist! Sich also wohl<br />

noch im Guanabara befindet oder verschw<strong>und</strong>en ist. (TB Bd. 15, 11.11.1942)<br />

Trotz Feders Hartnäckigkeit, mit der er die Angelegenheit verfolgte, sollte es<br />

schließlich bis Juli 1946 dauern, bis Erna Feder ihre Mutter (der Vater war inzwischen<br />

verstorben <strong>und</strong> Arthur Feder zog es vor, in den USA einen Neuanfang zu<br />

versuchen) wohlbehalten in Rio in Empfang nehmen konnte. Obgleich es auch<br />

einige wenige Fälle gab, in denen es jüdischen Hitler-<strong>Flüchtlinge</strong>n gelang, Verwandte<br />

aus dem vom Krieg erschütterten Europa in <strong>das</strong> sichere Brasilien zu holen,<br />

mussten die meisten ähnliche Erfahrung wie Feder machen <strong>und</strong> verloren<br />

dabei ihre Liebsten, die dem Nazi-Terror zum Opfer fielen.<br />

Die brasilianische Bevölkerung bekam von den Nöten der Emigranten wenig<br />

mit. Getúlio Vargas wurde von vielen als „pai dos pobres“ (Vater der Armen) verehrt<br />

<strong>und</strong> genoss gerade in der ärmeren Bevölkerung großes Ansehen. Wie weit<br />

dieses manchmal ging, musste Feder in einer Auseinandersetzung mit der Hausangestellten<br />

Alice erfahren. Zu welchen Missverständnissen es in diesem Kontext<br />

auch aufgr<strong>und</strong> von Mentalitätsunterschieden kommen konnte, macht Feders<br />

Tagebucheintragung deutlich:<br />

Schwerer Konflikt mit Alice, gerade am heutigen Geburtstag des Präsidenten<br />

Getulio. Sie ist tief entrüstet <strong>und</strong> ganz aufgewühlt, weil ich<br />

gestern meinen Artikel aus dem Malho entheftete <strong>und</strong> <strong>das</strong> übrige Heft<br />

mit dem Bild des Präsidenten zum Licho [sic] warf (ich legte es zu dem<br />

übrigen Papier, <strong>das</strong> sie immer verkauft). Sie hat <strong>das</strong> ganze Heft mit


nach Haus genommen. Ich sei zwar viel gebildeter als sie <strong>und</strong> stehe über<br />

ihr, aber <strong>das</strong> hätte ich nie tun dürfen, ich, der ich hier in Brasilien lebe<br />

<strong>und</strong> hier mein Brot verdiene. Sie habe auch mit anderen Personen gesprochen,<br />

die mehr verstehen als sie, <strong>und</strong> die auch ihrer Ansicht sind.<br />

Dona Erna ist uma santa [eine Heilige], für sie tut sie alles, sonst wäre<br />

sie sofort zur Delegacia gegangen <strong>und</strong> ich säße heute nicht hier. Mit mir<br />

ist sie fertig. Gegen dieses tief verletzte Gefühl nutzen alle Argumente<br />

nichts, zumal sie sie gar nicht anhört. (TB Bd. 15, 19.04.1943)<br />

Wie sehr Feder dieses Erlebnis beschäftigte, ist anhand der Ausführlichkeit zu<br />

erkennen, mit der er die Begebenheit im Tagebuch aufgezeichnet hat. Denn im<br />

Allgemeinen ging er, von für ihn wichtigen oder interessanten Gesprächen oder<br />

besonderen Vorkommnissen abgesehen, bei der Wiedergabe seines Tagesablaufes<br />

selten genauer ins Detail, die Eintragungen sind eher im Protokollstil gehalten.<br />

Aber dieser Zusammenstoß mit der Hausangestellten ließ ihn nicht unberührt. Die<br />

Gründe dafür waren vielschichtig. Als sachlicher Analytiker der politischen Verhältnisse,<br />

als der er jahrelange in Berlin tätig gewesen war, musste ihn <strong>das</strong> große<br />

Maß an Emotionalität in Alices Reaktion befremden. Auch die tiefe Verehrung,<br />

die sie dem Diktator zuteil werden ließ, war für Feder, der diesen Dingen eher<br />

rational gegenüberstand, nicht nachvollziehbar, ebenso wenig die Tatsache, <strong>das</strong>s<br />

sie <strong>das</strong> abgedruckte Foto von Vargas behandelte, als sei es eine Ikone <strong>und</strong> die<br />

Missachtung der Aufnahme als eine persönliche Beleidigung verstand. Tiefer als<br />

dieses Missverständnis, <strong>das</strong> auch auf Mentalitätsunterschieden – Europäer neigen<br />

gemeinhin zu einer zurückgenommenen Emotionalität, während Brasilianer<br />

oft gefühlsbestimmt agieren – beruht, musste ihn jedoch die Erinnerung<br />

daran getroffen haben, welche schutzlose Stellung er als Emigrant besaß. Denn<br />

indirekt deutete Alice nicht nur an, <strong>das</strong>s Feder als Emigrant, der in Brasilien<br />

Zuflucht gef<strong>und</strong>en hatte, dem brasilianischen Staat den nötigen Respekt <strong>und</strong><br />

seine Dankbarkeit erweisen müsse, sondern auch, <strong>das</strong>s ein vermeintliches Fehlverhalten<br />

seinerseits weit reichende Folgen haben könnte. Da dem Journalisten<br />

der Fall der deutsch-jüdischen Kommunistinnen Olga Benario <strong>und</strong> Elisa<br />

Ewert bekannt war, die Vargas beide an die Gestapo ausgeliefert hatte <strong>und</strong> die<br />

nach der Rückkehr nach Deutschland ins KZ kamen <strong>und</strong> dort starben (vgl. dazu<br />

MORAIS 2004), wusste er, welche Tragweite eine Anzeige bei der Delegacia für<br />

ihn als Emigrant haben konnte. Auch wenn Alice in ihren Vorwürfen auf Feders<br />

gefährdete Position anspielte, gab sie zugleich klar zu verstehen, <strong>das</strong>s sie ihre<br />

gesellschaftliche Stellung kannte <strong>und</strong> <strong>das</strong>s Feder als Europäer, obwohl Emigrant,<br />

über ihr stand, da sie indigener Abstammung war.<br />

Feder war es wichtig, die Gefühle der Hausangestellten zu achten, auf sie einzugehen<br />

<strong>und</strong> die Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Nicht weil die Gefahr<br />

durch eine eventuelle Anzeige aufgetaucht war, sondern weil er Alice als<br />

Mensch <strong>und</strong> ihre brasilianische Mentalität respektierte <strong>und</strong> auf sie eingehen wollte.<br />

So hielt er auch die abendliche Beilegung des Konflikts fest: „Alice versöhnt<br />

durch Exemplar completo [ein vollständiges Exemplar] der Getulio-Nummer des<br />

Malho <strong>und</strong> allgemeines Anstoßen mit portugiesischem Wein auf <strong>das</strong> Geburtstagskind“<br />

(TB Bd. 15, 19.04.1943).<br />

115


116<br />

Goethe in den Tropen – Der Kulturvermittler Ernst Feder<br />

Während Feder in den ersten beiden Jahren in Rio de Janeiro in seinen Artikeln<br />

vorwiegend ausschließlich kulturelle Themen behandelte, so trat er ab Juni<br />

1943 als der politische Journalist, als der er sich in Europa einen Namen gemacht<br />

hatte, in Erscheinung. Unter dem Pseudonym „Spectator“ durfte er in einer regelmäßigen<br />

Kolumne namens „Assim fala o radio de Berlim“ auch tagespolitische<br />

Geschehnisse aufgreifen <strong>und</strong> seine Ansichten dazu äußern. Damit wurde er auch<br />

in Brasilien als politische Stimme bekannt <strong>und</strong> so erfolgreich, <strong>das</strong>s ihm sein guter<br />

Fre<strong>und</strong> Baptista Pereira empfahl, „die ‚Assim fala‘ als Buch herauszugeben <strong>und</strong> <strong>das</strong><br />

schon jetzt im Auge zu behalten“ (TB Bd. 15, 17.09.1943). Dies ermöglichte ihm,<br />

auch wieder mehr Artikel in den anderen brasilianischen Zeitungen zu publizieren<br />

<strong>und</strong> verbesserte seine finanzielle Situation, die in diesen Monaten mit begrenzter<br />

journalistischer Tätigkeit sehr prekär gewesen war.<br />

Jedoch hatte er diese Zeit zu nutzen gewusst, um sein Buchprojekt über Begegnungen<br />

der Großen der Welt voranzutreiben. Bevor er sie 1944 in Rio de<br />

Janeiro in portugiesischer Sprache unter dem Titel Diálogos dos grandes do m<strong>und</strong>o<br />

veröffentlichen konnte, war es ihm gelungen, einige der Kapitel in verschiedenen<br />

Zeitungen zu publizieren. 11 Die Idee dazu war ihm im November 1941 gekommen:<br />

„Idee ‚Encontros‘ zu schreiben, interessante Begegnungen aus Literatur <strong>und</strong> Geistesgeschichte“<br />

(TB Bd. 15, 03.11.1941). Geprägt von der Erfahrung des Nationalsozialismus<br />

wollte er „die Ideen der Freiheit, der Würde <strong>und</strong> der Selbstverantwortlichkeit<br />

der Persönlichkeit in großen Figuren der Vergangenheit sichtbar“<br />

machen (FEDER 1950b, S. 10). Am Ende vereinigte Feder 16 Begegnungen,<br />

die Richard Dyck August Strindbergs Historischen Miniaturen <strong>und</strong> Stefan Zweigs<br />

Sternst<strong>und</strong>en der Menschheit gleichsetzte. Was Dyck als elegante Huldigung an die<br />

neue Heimat Brasilien ansah, nämlich <strong>das</strong>s Feder „Thomas Jefferson in Nimes mit<br />

einem brasilianischen Studenten zusammentreffen oder den bedeutenden brasilianischen<br />

Diplomaten Ruy Barbosa bei der Haager Konferenz über die konventionelle<br />

Diplomatie der Grossmächte triumphieren lässt“ (DYCK 1950), geschah<br />

nach Feders eigenen Angaben, „um durch die Erinnerung an historische Gestalten<br />

der letzten Jahrh<strong>und</strong>erte eine Art geistiges Band zwischen der Neuen <strong>und</strong><br />

Alten Welt zu knüpfen, […] um mir die Anpassung an <strong>das</strong> neue ‚Klima‘ durch die<br />

Verlebendigung des kulturellen Austausches zwischen den beiden Kontinenten<br />

zu erleichtern“ (FEDER 1950b, S. 9). In diesem Sinne entwickelte er auch ein<br />

weiteres Buchprojekt mit dem Instituto do Livro unter der Leitung von Augusto<br />

Meyer, <strong>das</strong> ihm als zusätzliche Verdienstquelle diente, als er in Zeitungen nur sehr<br />

eingeschränkt publizieren konnte. „Verabrede mit diesem ein Diccionario Biografico<br />

[sic; Biographisches Lexikon] aller Persönlichkeiten des Auslands, die nach Brasilien<br />

kamen oder mit ihm in Verbindung standen, zu machen. […] Honorar gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

25 Cruzeiro die Seite von 400 Worten, kann im Sonderfall erhöht werden“<br />

(TB Bd. 15, 16.02.1943). Feder war jedoch die Wechselseitigkeit in der Kulturvermittlung<br />

sehr wichtig. So wie er für die Zeitungen in Rio vorwiegend deutsche<br />

oder europäische Sujets wählte, so berichtete er für die Baseler Nationalzeitung,<br />

11. In Deutschland erschien <strong>das</strong> Werk erst sechs Jahre später. Vgl. FEDER 1950b.


<strong>das</strong> Argentinische Tageblatt oder den Aufbau von politischen Ereignissen in Brasilien<br />

oder erörterte kulturelle brasilianische Themen.<br />

Ein Thema, über <strong>das</strong> er sowohl in deutschen wie brasilianischen Medien schrieb<br />

<strong>und</strong> unter verschieden Aspekten beleuchtete, war „Goethe <strong>und</strong> Brasilien“. Er betonte<br />

wiederholt, <strong>das</strong>s Brasilien <strong>das</strong> Land wäre, welches den Dichter außerhalb<br />

Europas am meisten interessiert hatte. Feder sprach von Goethes Begegnung mit<br />

dem Botaniker Carl Friedrich Philipp von Martius, der ihm von seiner zusammen<br />

mit dem Naturwissenschaftler Johann Baptist Ritter von Spix unternommenen<br />

Expedition in Brasilien von 1817 bis 1820 berichtete. Von ihm ließ sich Goethe die<br />

große Brasilienkarte erklären, die er in seiner Kartensammlung besaß. Brasilien<br />

fand bis zu seinem Tod <strong>das</strong> Interesse des Dichters, wie Feder schrieb: „Es begleitete<br />

ihn so, fast bis zum letzten Atemzug, die Vision dieses Brasiliens, <strong>das</strong> ihn so anzog<br />

<strong>und</strong> wo er sich, nach seiner Aussage im Essay über die ‚Palmen‘ von Martius, wie<br />

anwesend <strong>und</strong> zu Hause fühlte“ (FEDER 1951) 12 . Er diskutierte dieses Thema auch<br />

mit den anderen Emigranten. Der Dichter wurde zu einer Integrationsfigur, weil<br />

er für viele Hitler-<strong>Flüchtlinge</strong> eine geistige Heimat darstellte. Er diente ihnen, die<br />

es unfreiwillig in <strong>das</strong> tropische Land verschlagen hatte, als eine Art nachträgliche<br />

Legitimation ihrer Anwesenheit dort, da sein Interesse eine lange Tradition der<br />

geistigen Verb<strong>und</strong>enheit mit Brasilien bezeugte.<br />

Es war ihm ein Anliegen, die Kultur <strong>und</strong> die Mentalität des Zufluchtlandes, in<br />

<strong>das</strong> ihn <strong>das</strong> Schicksal gebracht hat, zu verstehen <strong>und</strong> möglichst viel darüber zu<br />

erfahren. Aus diesem Gr<strong>und</strong> nahm er begierig jede Lektüre-Empfehlung an, die er<br />

von den neuen brasilianischen Bekannten oder auch von anderen Exilanten bekam.<br />

Auf diese Weise kam er bald in Berührung mit bereits damaligen oder späteren<br />

Klassikern der brasilianischen Literatur wie z. B. Gonçalves Dias, Castro Alves,<br />

Olavo Bilac, Raim<strong>und</strong>o Correia, Machado de Assis, Joaquim Nabuco, José Lins<br />

do Rego, Euclides da Cunha, Gilberto Amado <strong>und</strong> Manuel Bandeira sowie mit<br />

den Werken des Historikers Pedro Calmon, des Wirtschaftshistorikers Roberto<br />

Simonsen, des Soziologen Gilberto Freyre <strong>und</strong> des Historikers Sergio Buarque de<br />

Holanda. Einige dieser Autoren sollte Feder im Laufe seiner Brasilienjahre persönlich<br />

kennen lernen. Für sein vorbehaltloses Interesse an der brasilianischen Kultur<br />

<strong>und</strong> Geschichte zollten ihm die brasilianischen Intellektuellen große Anerkennung<br />

<strong>und</strong> nahmen ihn in ihre Kreise auf, in denen der deutsche Journalist ein<br />

sehr geschätzter Gesprächspartner wurde. Vielleicht auch, weil er den Gedankenaustausch<br />

<strong>und</strong> die Debatten mit anderen vermisste, die ihm in Berlin <strong>und</strong> später<br />

Paris so viel Freude bereitet hatten, besuchte er häufig die Veranstaltungen der<br />

Academia Brasileira de Letras <strong>und</strong> deren Tee-Nachmittage. Dabei knüpfte der Journalist<br />

neue hilfreiche Kontakte <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>schaften:<br />

Nachmittags zur Academia, wo der Engländer Toy (hiesige Leiter der<br />

Cultura Anglo-Brasileira, Hauptwerk Verdi) über [die] lateinische Basis<br />

der englischen Sprache [einen Vortrag] hält. Claudio de Souza präsidiert<br />

zwischen englischem Botschafter <strong>und</strong> Botschafter [Afrânio de] Melo Fran-<br />

12. „Acompanhava-o assim quase até o ultimo alento a visão deste Brasil que tanto o atraía e<br />

onde, seg<strong>und</strong>o sua afirmação no ensaio sobre as ‚Palmeiras‘ de Martius, se sentia como que<br />

presente e em casa.“<br />

117


118<br />

co, dem ich meinen Wunsch ankündige, über seine Commissão im Instituto<br />

Nacional zu sprechen. Macht mich mit Baptista Pereira [dem Schwiegersohn<br />

von Rui Barbosa] bekannt, der über die Beziehungen des Tupi zur<br />

orientalischen Sprache (von Varnhagen behandelt) in der Biblioteca<br />

Nacional arbeitet <strong>und</strong> mich dort mit einigen Beamten bekannt machen<br />

will. [Fortunat] Strowski ist noch da, [Max] Fischer, dann Miguel Osorio<br />

de Almeida [Professor, Leiter des Instituto Oswaldo Cruz], seit einem Monat<br />

aus USA zurück […] Leben in USA ungeheuer teuer, Krieg macht sich<br />

überall bemerkbar. Verschiedenen werde ich vorgestellt, der unvermeidliche<br />

[Leopold] Stern <strong>und</strong> [Raul de] Azevedo. […] Der Vortrag war schwach<br />

besucht. [Samuel] Malamud [der von Stefan Zweig benannte Verwalter<br />

seines brasilianischen Nachlasses] meinte, Rio sei eine Stadt nur para as<br />

senhoras e os funcionarios [für Damen <strong>und</strong> Beamte], wer sonst kann zu<br />

Vorträgen <strong>und</strong> Konzerten um 5 Uhr gehen? (TB Bd. 15, 24.06.1942)<br />

Obwohl sich Feder um Anschluss in der Oberschicht von Rio bemühte <strong>und</strong> die<br />

Begegnungen <strong>und</strong> Unterhaltungen mit brasilianischen Bekannten immer mehr<br />

Raum in den Eintragungen einnahmen, hielt er selbstverständlich den Kontakt<br />

mit den anderen Emigranten aufrecht. Mit ihnen tauschte er sich über die Kriegsereignisse<br />

in Europa <strong>und</strong> vor allem die Folgen der Politik gegen die Angehörigen<br />

der Achsenmächte aus. Immer wieder kamen Verhaftungen aus unterschiedlichsten<br />

Gründen zur Sprache. „Langenbachs <strong>und</strong> Kalischer […] erzählen den Fall<br />

eines Reisenden Bielschowski, der, im Staate São Paulo zur Weiterfahrt salvo<br />

conduto [Passierschein, den alle „Feindbürger“ für eine Reise beantragen mussten]<br />

verlangend, verhaftet <strong>und</strong> mit allen möglichen eixistas [Angehörigen der Achsenmächte]<br />

zusammen eingesperrt wird.“ „Koch-Weser [d. i. der ehemalige Reichsinnenminister<br />

<strong>und</strong> Reichsjustizminister der Weimarer Republik, der sich im Landesinneren<br />

von Paraná, in Rolândia, eine Existenz als Kaffeepflanzer aufzubauen<br />

versuchte] war neulich 1 St<strong>und</strong>e verhaftet, weil er auf der Straße deutsch sprach“<br />

(TB Bd. 15, 02.05.1942; 04.11.1943). Auf diese Weise erfuhr Feder nach <strong>und</strong> nach<br />

von anderen <strong>Flüchtlinge</strong>n, die ebenfalls in Brasilien Zuflucht gef<strong>und</strong>en hatten<br />

<strong>und</strong> von denen er viele im Laufe der Zeit persönlich treffen sollte, wie u. a. Ulrich<br />

Becher mit seiner Frau Dana Roda-Roda, Johannes Hoffmann, Johannes Schauff,<br />

Max Hermann Maier, sein Berliner Anwaltskollege Willy Althertum (die drei letzteren<br />

gehörten ebenfalls zu den Rolândia-Siedlern).<br />

Interessanterweise suchte Feder den Kontakt zu den österreichischen Kollegen<br />

Frank Arnau <strong>und</strong> Otto Maria Carpeaux nicht, die schon seit 1939 in Brasilien<br />

<strong>und</strong> zu jener Zeit, als er in Rio eintraf, bereits erfolgreich als Journalisten tätig<br />

waren. In seinen Tagebüchern ist lediglich von sehr seltenen zufälligen Begegnungen<br />

<strong>und</strong> dem einen oder anderen Artikel von ihnen, der Feders Aufmerksamkeit<br />

erregte, die Rede. So registriert er im Februar/März 1944 die Polemik zwischen<br />

Carpeaux <strong>und</strong> dem französischen Schriftsteller Georges Bernanos, der als streitbarer,<br />

konservativer Katholik ebenfalls vor dem Nationalsozialismus nach Brasilien<br />

geflohen war. Im Rahmen der literarischen Debatte, die Carpeaux durch einen<br />

schonungslosen Nekrolog auf Romain Rolland unter den Intellektuellen ausgelöst<br />

hatte, wandte sich Bernanos scharf „gegen Carpeaux’ Infragestellung der bra-


silianischen ‚Gallomanie‘“ (PFERSMANN 1993, S.143) <strong>und</strong> scheute sich dabei nicht<br />

vor antisemitischen Ausfällen. Feder entschied sich, dagegen einen Artikel für<br />

Aonde Vamos? zu schreiben, mit dem er seine ständige Mitarbeit an dieser Zeitschrift<br />

einleitete (TB Bd. 16, 15.02.1944).<br />

„Tod im Paradies“ – Feders Fre<strong>und</strong>schaft zu Stefan Zweig<br />

Von allen Bekanntschaften, die er in Brasilien machte, von allen Fre<strong>und</strong>schaften,<br />

die er knüpfte oder von neuem aufnahm, war es die mit Stefan Zweig, die ihn<br />

auf tragische Weise über seine journalistische Tätigkeit hinaus berühmt werden<br />

ließ. Während seiner Arbeit als Publizist noch immer die gebührende Anerkennung<br />

verwehrt geblieben ist – eine nähere Untersuchung des journalistischen<br />

Lebenswerks oder eine Biographie Feders bilden bis heute ein Desiderat der Forschung<br />

– , findet man seinen Namen in allen Stefan Zweig-Biographien. Denn <strong>das</strong><br />

Ehepaar Feder verbrachte mit dem Schriftsteller <strong>und</strong> seiner Frau Lotte deren<br />

letzten Lebensabend. Stefan Zweig gehört zu den verhältnismäßig wenigen Namen,<br />

die sich von Anfang bis zum Ende wie ein roter Faden durch <strong>das</strong> „Brasilianische<br />

Tagebuch“ ziehen. Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, auf alle<br />

Aspekte der Beziehung Feders zu dem berühmten Autor <strong>und</strong> die Nachwirkungen<br />

des Selbstmordes einzugehen. Es kann nur ein kleiner Eindruck der Bedeutung<br />

der Fre<strong>und</strong>schaft vermittelt werden. Als ein wichtiges <strong>und</strong> kontinuierliches Thema<br />

in den Tagebüchern darf es jedoch nicht gänzlich unerwähnt bleiben.<br />

Schon bald nach seiner Ankunft in Rio wurde Feder mit dem Gerücht konfrontiert,<br />

Stefan Zweig wäre für Brasilien – Ein Land der Zukunft, <strong>das</strong> kurz zuvor erscheinen war,<br />

bezahlt worden. Als aufmerksamen Journalisten konnte Feder auch nicht die „Kampagne“<br />

entgehen, die der Correio da Manhã Anfang August gegen <strong>das</strong> Werk startete.<br />

Ich erörterte mit ihnen [einigen brasilianischen Bekannten] die seltsame<br />

Campagne, die der Correio da Manhã seit einiger Zeit gegen Stefan Zweigs<br />

über alle Massen propagiertes Buch führt. Schon 4 Artikel! […] Alles <strong>das</strong><br />

ist so nebensächlich, teilweise falsch <strong>und</strong> unsinnig <strong>und</strong> stets gehässig, <strong>das</strong>s<br />

irgendeine Intrige (gegen Verlag? gegen Regierung, gegen Z.s Fre<strong>und</strong>e?)<br />

dahinter steckt. (TB, Bd. 15, 08.08.1941; vgl. dazu auch DINES 2006)<br />

Zum ersten persönlichen Treffen der beiden kam es jedoch erst im Dezember<br />

in Petrópolis, wohin sich die Feders <strong>und</strong> Stefan <strong>und</strong> Lotte Zweig wie so viele<br />

Cariocas vor der unerträglichen Hitze in der Hauptstadt geflüchtet hatten. Sie<br />

begannen sich regelmäßig zu treffen. Mit außergewöhnlicher Ausführlichkeit<br />

hielt Feder die Gespräche fest; gleichsam so, als ob er geahnt hätte, welche<br />

Bedeutung diese Aufzeichnungen einmal erlangen würden. Obwohl die schrecklichen,<br />

aktuellen Kriegsereignisse in Europa selbstverständlich <strong>das</strong> beherrschende<br />

Gesprächsthema darstellten, so wurde doch auch manche Begebenheit erzählt,<br />

die sich zu Friedenszeiten zutragen hatte:<br />

Charakteristisch für [die] deutsche Mentalität kleine Anekdote [sic]<br />

vom 60. Geburtstag [Gerhart Hauptmanns]. Sammy Fischer nahm Zweig<br />

mit zu einem kleinen Diner im Kaiserhof, wo Hauptmann nach 2stündiger<br />

Rede ganz verdurstet eintraf. „Vor allem 1 Glas Bier.“ „Bedaure<br />

119


120<br />

sehr, hier wird kein Bier serviert, wenn Sie sich in die Bar bemühen<br />

wollen“, worauf der gefeierte Dichter sich gehorsam zur Bar verfügte,<br />

während Zweig meinte: „Zum Donnerwetter! Wenn in Italien bei solcher<br />

Gelegenheit d’Annunzio einen Affen gewünscht hätte, hätte man<br />

ihm den in den Festsaal gebracht.“ (TB Bd. 15, 24.01.1942)<br />

Immer wiederkehrende Worte in Feders Gesprächsnotizen bezüglich des Gemütszustandes<br />

des Schriftstellers sind „Pessimismus“, „pessimistisch“ oder „tief deprimiert“.<br />

Aber nicht nur die dramatische Entwicklung in seiner alten Heimat bedrückte<br />

Zweig sehr, auch der Wandel, den Brasilien seit seinem letzten Besuch<br />

vollzogen hatte, stimmte ihn nachdenklich:<br />

[Zweig] findet Brasilien vollkommen verändert, Geld hineingeströmt,<br />

jetzt aller Luxus zu haben, <strong>das</strong> Minderwertigkeitsgefühl gegenüber allem<br />

Fremden, auch Argentinien, durch betonten Nationalismus, der<br />

alles Neu-Erreichte auf Getúlio Vargas zurückführt, ersetzt. Das niedere<br />

Volk findet er so angenehm, sehr ehrlich, 9/10 aller Häuser bleiben<br />

unverschlossen (?). […] Brasilien wird durch die rasche Umwandlung<br />

viel vom Besten verlieren, die Hochhäuser werden zur Kindereinschränkung<br />

führen. In Rio mag er nicht leben, kennt zu viele Leute,<br />

die er nicht wiedererkennt. Übertriebene, veraltete Höflichkeitsformen:<br />

Visitenkarten, Einsteigen in den Wagen. (TB Bd. 15, 30.12.1941)<br />

Neben diesen ernsten Themen nutzten Feder <strong>und</strong> Zweig ihr Beisammensein,<br />

um sich über die eigene schriftstellerische Arbeit auszutauschen. Feder ließ Zweig<br />

am Entstehungsprozess der Begegnungen teilhaben. Dieser prägte Feders Werk<br />

durch seine Anregungen, so schlug Zweig vor, eine Begegnung zwischen<br />

Montaigne <strong>und</strong> Tasso darzustellen (TB Bd.15, 05.02.1942), welche Feder in sein<br />

Buch mit aufnahm. Auch der gewählte Titel „Begegnungen“ geht auf einen Vorschlag<br />

von Stefan Zweig zurück (TB Bd. 15, 22.06.1943; der vollständige Titel lautet<br />

Begegnungen. Die Großen der Welt im Zwiegespräch). Zweig seinerseits legte<br />

dem Journalisten die Schachnovelle vor <strong>und</strong> bat um ein rückhaltloses Urteil. Er<br />

war sehr froh über Feders kritische Anmerkungen. Mehr als einmal betonte Lotte,<br />

wie gut Zweig diese Art von Gesprächen täte.<br />

Am 21.02.1942 luden Lotte <strong>und</strong> Stefan Zweig die Feders zu sich ein, um über<br />

die Eindrücke des Karnevals, dem beide Ehepaar kurz zuvor in Rio beigewohnt<br />

hatten, zu sprechen. 13 Als man gegen Mitternacht auseinander ging, ahnten Erna<br />

<strong>und</strong> Ernst Feder nicht, <strong>das</strong>s es ein Abschied für immer sein sollte, obwohl Feder<br />

die geistige Abwesenheit Zweigs, der mit seinen Gedanken woanders zu sein schien,<br />

<strong>und</strong> der düstere Schatten, der über der Unterhaltung gelegen hatte, aufgefallen<br />

war. Die böse Vorahnung, <strong>das</strong>s Zweig vielleicht Selbstmord begehen könnte, wie<br />

Feder am Morgen des 23.02.1942 notierte, wurde wenige St<strong>und</strong>e später als schreckliche<br />

Wahrheit bestätigt. Die tiefe Betroffenheit, die der Journalist darüber empfand,<br />

äußert sich auch in seiner heftigen Reaktion auf <strong>das</strong> respektlose Verhalten<br />

13. Da dieser Abend durch zahlreiche Artikel Feders <strong>und</strong> deren Nacherzählungen in Zweig-<br />

Biographien bekannt ist, wird an dieser Stelle nicht näher darauf eingegangen. Vgl. dazu<br />

FEDER 1942; 1943; 1950b; 1968 sowie DINES 2006.


von Paul Frischauer <strong>und</strong> Leopold Stern, die neben Zweigs Verleger Koogan <strong>und</strong><br />

weiteren Bekannten wie Claudio de Souza <strong>und</strong> Gabriela Mistral sowie der Presse<br />

zu Zweigs kleinem Bungalow geeilt waren. Selten findet man in Feders Tagebuch<br />

eine solch scharfe Verurteilung seiner Mitmenschen:<br />

Widerwärtig wie sich dann Frischauer <strong>und</strong> Stern, zwei ekelhafte Schmeißfliegen<br />

an einer schönen Blume, der anliegenden Abschrift des New Yorker<br />

Testaments bemächtigen <strong>und</strong> dies durchstöbern […] Und Frischauer,<br />

<strong>das</strong> rauchende Schwein, der […] nur darüber nachsinnt, welchen Nutzen<br />

er zweckmäßigerweise aus der Affaire [sic] ziehen könne […] „Ich war<br />

immer gegen die falsche Bescheidenheit“, meint F., in Bezug auf <strong>das</strong> Häuschen,<br />

da er ja persönlich für Hochstapelei ist. (TB Bd. 15, 23.02.1942)<br />

Das Staatsbegräbnis, mit dem die brasilianische Regierung dem berühmten<br />

Schriftsteller die letzte Ehre erweisen wollte, bewegte ihn ebenfalls sehr, da die<br />

Feierlichkeiten offenbarten, <strong>das</strong>s dieser Tod keinen unberührt ließ <strong>und</strong> die Trauer<br />

um den großen Verlust alle einte:<br />

[…] die ganze Stadt unter dem Eindruck der Feierlichkeit. […] Während<br />

die Wagen durch die Stadt rollen […], schließen spontan alle Geschäfte.<br />

Auf dem Friedhof die Fülle so stark, <strong>das</strong>s wenig zu sehen <strong>und</strong> zu hören,<br />

ein ergreifendes Bild, diese Menge, die alle Schichten, Rassen <strong>und</strong> Klassen<br />

umfasst <strong>und</strong> sichtlich ergriffen ist. (TB Bd. 15, 24.02.1942)<br />

Das Thema Stefan Zweig begleitete den Journalisten Feder noch viele Jahre.<br />

Da er als seriöse Stimme <strong>und</strong> integre Persönlichkeit galt, wurde er vielfach gebeten,<br />

sich zu Stefan Zweig <strong>und</strong> insbesondere dessen Zeit in Brasilien zu äußern.<br />

Über die Jahre hinweg veröffentlichte er zahlreiche Artikel in Brasilien, Argentinien,<br />

den USA <strong>und</strong> nach dem Krieg auch in Deutschland <strong>und</strong> Österreich. Schon<br />

1947 zählte er 32 Artikel in seiner Sammlung (TB Bd. 17, 27.03.1947). Die Erinnerung<br />

an diesen Schriftsteller aufrechtzuerhalten, war ihm ein wichtiges Anliegen.<br />

Daher schrieb er nicht nur zu einschlägigen Gedenkdaten wie Zweigs Geburtstag<br />

oder Todestag Artikel. Als Samuel Wainer Feder, der einmal wieder einen Zweig-<br />

Beitrag in der Redaktion abgab, einen ewigen Fre<strong>und</strong> Zweigs nannte, erwiderte<br />

Feder, <strong>das</strong>s er eben „nicht zu denjenigen [gehöre], die vergessen“ (TB Bd. 15,<br />

21.05.1943). 14 In diesem Sinn setzte er sich 1953/1954 für eine Neu-Auflage von<br />

Zweigs Brasilien – Ein Land der Zukunft in Brasilien ein, jedoch ohne Erfolg.<br />

Auch privat blieb Stefan Zweig in seinem Leben stets präsent, da er gleich von<br />

drei Seiten aufgesucht wurde. Zweigs Verleger weihte ihn in seine Meinungsverschiedenheiten<br />

mit dem Erben Manfred Altmann, Lottes Bruder, ein. Victor<br />

Wittkowski, ein junger mittelloser Schriftsteller, den Zweig in Rio getroffen hatte,<br />

nachdem die beiden bereits in Europa miteinander korrespondiert hatten, <strong>und</strong><br />

dem Zweig die Sichtung seines literarischen Nachlasses testamentarisch übertragen<br />

hatte, bat Feder wiederholt um juristischen Rat. Denn sowohl Koogan als<br />

auch Altmann wussten ihm diese Arbeit zu erschweren, weil sie mit Zweigs Entscheidungen<br />

nicht einverstanden waren. Und schließlich wollte Friderike Zweig,<br />

14. „Não so [sic] daqueles que esquecem“.<br />

121


122<br />

die erste Frau des Schriftstellers, Feders Urteil zu Zweigs Gemützustand <strong>und</strong> dessen<br />

Leben <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>en in Brasilien sowie ebenfalls juristische Hilfe gegenüber<br />

Koogan, der ihr die von Zweig für sie bestimmten Autographen lange Zeit nicht<br />

zukommen ließ. Sie blieb in regelmäßigem Briefkontakt mit Feder, der so über die<br />

Entwicklungen in der Stefan-Zweig-Forschung informiert wurde.<br />

Eine schwierige Mission – Feders Engagement für die jüdische Sache<br />

Nicht nur Victor Wittkowski <strong>und</strong> Friderike Zweig fanden in Feder einen<br />

verlässlichen Ratgeber <strong>und</strong> Vermittler. Auch andere Emigranten schätzten ihn<br />

sehr wegen seiner Neutralität <strong>und</strong> f<strong>und</strong>ierten Meinung sowie seines großen Wissens.<br />

Immer häufiger wurde er um Hilfe <strong>und</strong> Rat gebeten. Auch die deutschjüdische<br />

Gemeinde Congregação Israelita Paulista (CIP) wandte sich an ihn, als<br />

sie 1947 einen unparteiischen <strong>und</strong> erfahrenen Außenstehenden benötigte für<br />

die Beurteilung der Frage eines Zusammenschlusses mit anderen jüdischen Institutionen<br />

zu einer Gesamtvertretung aller Juden von São Paulo. Im Januar<br />

1945 hatte sie Feder erstmals nach São Paulo eingeladen <strong>und</strong> ihm auf diese<br />

Weise die Möglichkeit gegeben, dortige Literaten <strong>und</strong> Künstler kennen zu lernen<br />

wie Mario de Andrade <strong>und</strong> Lasar Segall, mit dem er in der Folge einen<br />

regelmäßigen Umgang pflegte. Später sollte durch dessen Frau Jenny, eine geborene<br />

Klabin, noch die Verbindung mit den ‚brasilianischen Rothschilds‘ hinzukommen<br />

15 . Der Journalist wurde damals auch in die dortigen Emigrantenkreise<br />

eingeführt. Dieser Besuch war der Auftakt für einen Austausch <strong>und</strong> persönlichen<br />

Kontakt mit den leitenden Mitgliedern der CIP Luiz Lorch, Ernst Koch <strong>und</strong><br />

Alfred Hirschberg, einem ehemaligen Berliner Anwaltskollegen, so <strong>das</strong>s die erwähnte<br />

Anfrage der CIP nichts Außergewöhnliches darstellte. Feder erfüllte diese<br />

Aufgabe erfolgreich <strong>und</strong> empfahl sich damit für eine leitende Stelle bei der brasilianischen<br />

Vertretung der Hilfsorganisation American Jewish Joint Distribution<br />

Committee, die er Anfang 1947 antrat, ohne jedoch ganz auf den Journalismus<br />

zu verzichten. 16 Dabei wurde Feder mehr als einmal Zeuge des großen Grabens,<br />

der zwischen den Zionisten <strong>und</strong> dem JOINT, zwischen Ost- <strong>und</strong> Westjuden vorhanden<br />

war. In São Paulo ging dieser sogar so weit, <strong>das</strong>s „sich die deutschen<br />

Juden oftmals weigerten, Unterstützung von Hilfsorganisationen anzunehmen,<br />

die von Osteuropäern geleitet wurden.“ (LESSER 1995, S. 137) 17 . Feder geriet<br />

manchmal zwischen die scheinbar unversöhnlichen Lager <strong>und</strong> musste doch<br />

versuchen, die Fronten aufzubrechen <strong>und</strong> zu vermitteln. Wie bei allen Tätigkeiten<br />

steckte er seine ganze Energie in diese Aufgabe. Nach fast zwei Jahren musste<br />

er jedoch erkennen, <strong>das</strong>s er mit der Aufgabe allein gelassen wurde:<br />

Im JOINT vor- <strong>und</strong> nachmittags gearbeitet, ohne rechte Lust, mit einer<br />

one man’s show [sic] ist die Sache doch nicht zu machen. […] Kam<br />

15. „Die Klabins haben hier die Rolle der Rothschilds übernommen“ (TB Bd. 15, 30.04.1942).<br />

16. Schon während des Pariser Exils hatte Feder einen Auftrag des JOINT übernommen (FRANKE<br />

2000, S. 105/106).<br />

17. „[...] os judeus alemães muitas vezes recusavam-se a aceitar ajuda de organizações<br />

assistenciais opera<strong>das</strong> por leste-europeus.“


neulich 1 Brief richtig bei mir an, der lediglich […] Dr. Ernst Feder<br />

adressiert war, so erhalte ich heute einen Brief […] zugestellt, der an<br />

den JOINT Rio adressiert war <strong>und</strong> dessen Adresse die Post mit „c/o<br />

Ernesto Feder“ nebst Wohnung kompletiert [sic; Eindeutschung des<br />

port. Verbs „completar“ – vervollständigen.] hatte. Die Welt identifiziert<br />

mich mit dem JOINT <strong>und</strong> ich möchte raus. (TB Bd. 18, 13.08.1948)<br />

Obgleich diese Feststellung sehr gut verdeutlichte, zu welcher Bekanntheit<br />

<strong>und</strong> welchem Ansehen es der deutsch-jüdische Journalist neben seinem journalistischen<br />

Wirken auch mit dieser Arbeit in Brasilien gebracht hatte, zeigte sie zugleich<br />

auch, wie kräftezehrend die zusätzliche Bürde für den immerhin 67-jährigen<br />

Feder war. Tatsächlich gab er Ende 1948 die Stelle beim JOINT auf.<br />

In selbem Jahr hatte er außerdem vergeblich versucht, eine große Feier<br />

anlässlich von Goethes 200. Geburtstag in Rio de Janeiro zu veranstalten, zu der<br />

Fritz von Unruh als Festredner aus den USA kommen sollte (was aus verschiedenen<br />

Gründen scheiterte; Feder selbst hielt letztlich die Festrede). Danach widmete<br />

er sich nur noch dem Journalismus. Sehr früh nahm er Kontakt zu den ersten<br />

diplomatischen Vertretern der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland auf. Nachdem er am<br />

25.06.1938 ausgebürgert (FRANKE 2000, S. 232) <strong>und</strong> später in Brasilien als staatenlos<br />

anerkannt worden war, wurde 1953 seinem Antrag auf Änderung des Status<br />

seiner Nationalität von staatenlos in deutsch stattgegeben. Noch im selben<br />

Jahr reiste er zusammen mit seiner Frau auf Kosten der deutschen Regierung,<br />

welche ihm ebenfalls 1953 <strong>das</strong> große Verdienstkreuz (TB Bd. 23, 01.04.1953) verlieh<br />

18 , erstmals in die alte Heimat zurück. 1958, nachdem Ernas Mutter im Alter<br />

von 86 Jahren in Rio gestorben war, entschlossen sich Erna <strong>und</strong> Ernst Feder auf<br />

die persönliche Aufforderung von B<strong>und</strong>espräsident Theodor Heuss, aber auch<br />

aus ges<strong>und</strong>heitlichen Gründen nach Deutschland zurückzukehren, wo sie sich<br />

wieder in Berlin, ihrer beider Heimatstadt, niederließen <strong>und</strong> Feder weiterhin publizistisch<br />

tätig war. Als er aber 1964 dort verstarb, war er sowohl in seiner Heimat<br />

Deutschland als auch im Exilland Brasilien so gut wie vergessen 19 . Mit seinem<br />

„Brasilianischen Tagebuch“ jedoch hat „der Demokrat […], der aufrechte Mensch,<br />

der geraden Hauptes durch den Dschungel der Hitler-Welt einherschritt, rein <strong>und</strong><br />

unberührt von allem Schmutz der feindlichen Gosse“ (ROSENSTEIN 1951, S. 2) der<br />

Nachwelt ein einzigartiges Zeugnis des deutschen Exils 1933-1945 <strong>und</strong> brasilianischer<br />

Zeitgeschichte der Jahre 1941-1958 vermacht.<br />

Archivalische Quellen<br />

FEDER, Ernst: Tagebücher. Bd. 15 (1941-1943); Bd. 16 (1944-1945); Bd. 17 (1946-1947); Bd. 18 (1948);<br />

Bd. 21 (1951) <strong>und</strong> Bd. 23 (1953). Ernst Feder Collection. AR 7040. Leo Baeck Institute. New York.<br />

ROSENSTEIN, Paul (1951): Mein lieber, guter alter Fre<strong>und</strong> Ernst Feder. Manuskript der Rede anlässlich<br />

des 70. Geburtstags von Ernst Feder, 18.03.1951. In: Ernst Feder Collection. AR 7040. Leo Baeck<br />

Institute. New York<br />

18. 1953 erhielt auch Getúlio Vargas einen Verdienstorden der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland<br />

(Sonderstufe des Großkreuzes).<br />

19. Nur wenige deutsche Zeitungen nahmen davon Notiz. Erna Feder lebte noch bis zu ihrem Tod<br />

1973 in Berlin.<br />

123


124<br />

Literatur<br />

ARNAU, Frank (1956): Der verchromte Urwald. Frankfurt am Main.<br />

BENITEZ, Juan Pastor (1946): A flor do exílio: Ernesto Feder e Fabrice Polderman. In: O Jornal, Rio<br />

de Janeiro, 14.03.1946.<br />

DINES, Alberto (2006): Tod im Paradies. Die Tragödie des Stefan Zweig. Frankfurt am Main.<br />

DYCK, Richard (1950): Weltgeschichte in Schattenrissen. In: Aufbau. New York, 29.12.1950.<br />

ECKL, Marlen (Hg.) (2005): „…auf brasilianischem Boden fand ich eine neue Heimat“. Autobiographische<br />

Texte deutscher <strong>Flüchtlinge</strong> des Nationalsozialismus 1933-1945. Remscheid.<br />

FEDER, Ernst (1942): Recordações Pessoais. In: Azevedo, Raul de: Vida e morte de Stefan Zweig.<br />

Sonderausgabe der Zeitschrift Aspectos. Rio de Janeiro, S. 128/129.<br />

FEDER, Ernst (1942): Recordando Stefan Zweig. In: Ebd., S. 132-134.<br />

FEDER, Ernst (1943): My Last Conversations with Stefan Zweig. In: Books Abroad. Norman, Oklahoma<br />

17 (1), S. 3-9.<br />

FEDER, Ernst (1944): Os brasileiros em Vichy. In: Aonde Vamos? Rio de Janeiro, 11.05.1944.<br />

FEDER, Ernst (1946): Dentro da Alemanha. In: Diario de Notícias. Rio de Janeiro, 06.01.1946.<br />

FEDER, Ernst (1948): Goethe in Rio. In: Allgemeine Zeitung. Mainz, 09.08.1948.<br />

FEDER, Ernst (1948): Sabia Goethe o português? In: Jornal do Brasil. Rio de Janeiro, 28.08.1948.<br />

FEDER, Ernst (1949): Goethe e o novo m<strong>und</strong>o. In: Diário de Notícias. Rio de Janeiro, 28.08.1949.<br />

FEDER, Ernst (1950a): Ein grosser Arzt <strong>und</strong> Lehrer. Paul Rosenstein wird 75 Jahre alt. In: Aufbau. New<br />

York, 28.07.1950.<br />

FEDER, Ernst (1950b): Begegnungen. Die Großen der Welt im Zwiegespräch. Esslingen, S. 197-210.<br />

FEDER, Ernst (1951): Mapas do Brasil na Casa de Goethe. In: Diário Carioca. Rio de Janeiro, 09.09.1951.<br />

FEDER; Ernst (1968): Stefan Zweigs letzte Tage. In: Arens, Hanns (Hg.): Stefan Zweig. Im Zeugnis<br />

seiner Fre<strong>und</strong>e. München / Wien, S. 174-186.<br />

FEDER, Ernst (1971): Heute sprach ich mit…Tagebücher eines Berliner Publizisten 1926-1932. Herausgegeben<br />

von Cécile Lowenthal-Hensel <strong>und</strong> Arnold Paucker. Stuttgart.<br />

FRANKE, Julia (2000): Paris - eine neue Heimat? Jüdische Emigranten aus Deutschland 1933-1939.<br />

Berlin.<br />

FURTADO KESTLER, Izabela Maria (1992): Die Exilliteratur <strong>und</strong> <strong>das</strong> Exil der deutschsprachigen Schriftsteller<br />

<strong>und</strong> Publizisten in Brasilien. Bern / Frankfurt am Main / New York.<br />

GÖRNER, Rüdiger (1971): Das Tagebuch. München / Zürich.<br />

KOIFMAN, Fábio (2002): Quixote nas trevas – o embaixador Souza Dantas e os refugiados do nazismo.<br />

Rio de Janeiro.<br />

LESSER, Jeffrey (1995): Brasil e a questão judaica. Imigração, Diplomatia e Preconceito. Rio de Janeiro.<br />

MORAIS; Fernando (2004): Olga. Companhia <strong>das</strong> Letras. São Paulo.<br />

PETERSON, Walter F. (1987): The Berlin liberal press in Exile: a history of the Pariser Tageblatt - Pariser<br />

Tageszeitung, 1933 – 1940. Tübingen.<br />

PFERSMANN, Andreas (1993): Carpeaux vs Bernanos. Eine literarische Fehde im brasilianischen<br />

Exil. In: Austriaca, (18), S. 137-150<br />

ROSENSTEIN, Paul (1954): Narben bleiben zurück. Die Lebenserinnerungen des großen jüdischen Chirurgen.<br />

Bad Wörishofen.<br />

SELLMER, Izabela (1997): “Warum schreibe ich <strong>das</strong> alles?”. Zur Rolle des Tagebuchs für deutschsprachige<br />

Exilschriftsteller 1933-1945. Bern / Frankfurt am Main / New York.<br />

SILVEIRA, Joel (1943): Eu vi nascer o nazismo! In: Diretrizes, Rio de Janeiro, 28.01.1943.<br />

TUCCI CARNEIRO, Maria Luiza (2001): O anti-semitismo na era Vargas. Fantasmas de uma geração<br />

1930-1945. São Paulo.<br />

ZWEIG, Stefan (1990): Brasilien. Ein Land der Zukunft. Frankfurt am Main.<br />

Marlen Eckl, M. A., studierte Komparatistik, Judaistik <strong>und</strong> Jura. Oktober 2005 Herausgabe<br />

der Anthologie „…auf brasilianischem Boden fand ich eine neue Heimat.“ Autobiographische<br />

Texte deutscher <strong>Flüchtlinge</strong> des Nationalsozialismus 1933-1945 (Remscheid). 2004-<br />

2006 Übersetzung der Stefan Zweig-Biographie von Alberto Dines ins Deutsche. (Tod im<br />

Paradies. Die Tragödie des Stefan Zweig. Frankfurt am Main 2006). Zurzeit absolviert sie <strong>das</strong><br />

Doktoratsstudium am Institut für Geschichte der Universität Wien zum Thema: Deutsche<br />

Exilliteratur in Brasilien.


Von deutschen Juden zu<br />

jüdischen Brasilianern:<br />

<strong>Flüchtlinge</strong> <strong>und</strong> <strong>das</strong> <strong>‚Aushandeln</strong>‘<br />

nationaler Identitäten in São Paulo<br />

in der Zeit von 1933-1945<br />

Jeffrey Lesser<br />

Atlanta<br />

Resumo: As novas identidades étnicas dos judeus, construí<strong>das</strong> no<br />

Brasil no século XX, foram o resultado de processos tanto<br />

internos como externos. A etnicidade judaico-brasileira<br />

era ao mesmo tempo subnacional e supranacional e possibilitava<br />

a diferenciação interna do grupo, permitindo<br />

porém ao mesmo tempo, desde uma visão externa, a reconcepção<br />

da realidade heterogênea dos imigrantes<br />

numa ficção de cultura comum. No decorrer do tempo, a<br />

identidade pós-migratória tornou-se uma criação consciente<br />

e propositada mesmo se a nova etnicidade nunca<br />

existiu antes da migração. No Brasil, refugiados judeus alemães<br />

(como diferenciados de judeus poloneses e judeus<br />

sírios) criaram sinagogas, agências de ajuda e escolas,<br />

mesmo quando esses exilados se tornaram parte de uma<br />

etnicidade judaico-brasileira mais ampla. Enquanto a separação<br />

desses judeus do grupo dominante poderia se<br />

originar nas diferenças de língua ou de atitudes perante o<br />

casamento, esta situação também compreendia experiências<br />

internas compartilha<strong>das</strong>, p. ex. com relação à alimentação,<br />

ao trabalho ou a hábitos no vestir. Estava em constante<br />

fluxo e, portanto, meu artigo rejeita a idéia de<br />

etnicidade baseada no esquema insider / outsider.<br />

Abstract: The new Jewish ethnic identities constructed in Brazil in<br />

the twentieth century were the result of both internal and<br />

external processes. Jewish-Brazilian ethnicity was both suband<br />

supra-national and allowed for internal group difference<br />

even while permitting outsiders to remake the reality of<br />

immigrant heterogeneity into the fiction of common culture.<br />

Over time, post-migration identity became a conscious<br />

and purposeful creation even when the new<br />

ethnicity never existed prior to migration. In Brazil, Ger-<br />

125


126<br />

man-Jewish refugees (as differentiated from Polish-Jews or<br />

Syrian-Jews) created synagogues, aid agencies and schools<br />

even as these same exiles became part of a broader Jewish-<br />

Brazilian ethnicity. While Jewish separation from the dominant<br />

group may have been based on differences such as<br />

language or attitudes towards marriage, it also contained<br />

internal shared experiences regarding things like food,<br />

work and clothing. It was also in constant flux and thus my<br />

article rejects the insider/ outsider idea of ethnicity.<br />

I. Der Rahmen des Geschehens<br />

Jede Art ethnischer Beharrung ist ein bemerkenswertes Phänomen. Denn<br />

interne (politische, Generations- u. a.) Konflikte, die Beziehungen zur<br />

Mehrheits-Gesellschaft <strong>und</strong> internationale Faktoren schaffen konstante Wechselwirkungen;<br />

<strong>das</strong> Verhandeln von Gruppenidentitäten <strong>und</strong> die Akzeptanz<br />

unzähliger Variablen, die sich ständig verändern, sind die Norm. Dieses<br />

Ineinanderspiel der Kräfte lässt sich deutlich erkennen bei der Entstehung<br />

der Gemeinschaft deutsch-jüdischer <strong>Flüchtlinge</strong> in den 1930er Jahren in<br />

Brasilien, einer Gruppe, die danach trachtete, sich in die weiße Elite der dortigen<br />

Gesellschaft zu integrieren, <strong>und</strong> dabei ihren Unterschied zu den osteuropäischen<br />

Juden akzentuierte, die früher gekommen waren.<br />

Das allgemeine Muster der jüdischen Immigration nach Brasilien<br />

beeinflusste notwendigerweise die Wege, auf denen sich dort eine spezifisch<br />

deutsch-jüdische Identität herausbildete <strong>und</strong> angefochten wurde. Wenngleich<br />

einige Juden schon während der Kolonialzeit nach Brasilien gekommen waren,<br />

so fand die Entstehung einer Gemeinschaft im heutigen Sinn erst im späten<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>ert statt, als Juden aus Nordafrika sich während der Zeit des<br />

Kautschuk-Booms in Amazonien ansiedelten. Darauf folgten im frühen 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

eine bedeutende Zahl von osteuropäischen Juden, die sich in landwirtschaftlichen<br />

Gemeinschaften in Südbrasilien ansiedelten, die dort von der<br />

Jewish Colonization Association des Barons Maurice de Hirsch gegründet worden<br />

waren. Die landwirtschaftlichen Kolonien waren zwar ein Fehlschlag, doch<br />

die Migration dieser Juden in Brasiliens Großstädte bereitete den Weg für eine<br />

umfangreiche ost-europäische, vor allem polnische Einwanderung in den<br />

1920er <strong>und</strong> 30er Jahren. Tatsächlich kamen in manchen dieser Jahre fast 13<br />

Prozent aller Juden, die Europa verließen, nach Brasilien, <strong>das</strong> damit für<br />

die jüdische Umsiedlung zu einem der wichtigsten Länder in der Welt<br />

wurde (s. LESSER, 1991; 1994).<br />

Diese Migrationsmuster waren merklich verschieden von denjenigen in den<br />

USA, Argentinien <strong>und</strong> Kanada, wo die im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert aus Zentraleuropa<br />

eingewanderten Juden eine Gemeinschaftsbasis schufen, gegen die alle später<br />

Zugewanderten dann anliefen. Ein Historiker z. B. hat die Juden im Buenos<br />

Aires des späten 19. Jahrh<strong>und</strong>erts beschrieben als „refined Western European<br />

businessmen who were heirs to the Emancipation [and] generally committed


to the tenets of German reform and its concern for dignified services, sermons<br />

in the vernacular and the termination of rules that tended to make Jews appear<br />

different” (SOBEL 1945, S. 121). Solche Kommentare träfen auch für die USA<br />

<strong>und</strong> Kanada zu. Für die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts lässt sich<br />

sagen, <strong>das</strong>s die interne Hegemonie im Leben dieser Gemeinschaften in allen<br />

drei Ländern durch eine deutsch-jüdische Basis bestimmt wurde. Für Brasilien<br />

dagegen sind solche Kennzeichnungen nicht zutreffend, denn dort waren<br />

es die osteuropäischen Juden, die nach der Russischen Revolution kamen,<br />

welche die jüdische Kultur in formal-politischer Hinsicht beherrschten.<br />

Die fast zehntausend deutsch-jüdischen <strong>Flüchtlinge</strong> (siehe Tabelle 1), die<br />

zwischen 1933 <strong>und</strong> 1941 nach Brasilien kamen, hatten vieles mit den Eliten<br />

der Bevölkerung dieses Landes gemeinsam, doch teilten sie andererseits in<br />

nur minimalem Umfang Erfahrungen mit den schon in Brasilien lebenden<br />

Juden. So fühlten sie sich in dieser Gruppe nicht von innen her willkommen,<br />

sondern wurden ironischerweise innerhalb der jüdischen Gemeinschaft erneut<br />

zu Outsidern. Dies <strong>und</strong> <strong>das</strong> Bild Brasiliens in Deutschland als <strong>das</strong> eines<br />

‚rückständigen‘ Landes hilft zu erklären, warum die deutschen Juden bis in<br />

die späten 1930er Jahre aktiv demotiviert wurden, nach Brasilien einzuwandern,<br />

also noch lange nachdem die Emigration der vor dem Nazi-Regime<br />

Fliehenden eingesetzt hatte.<br />

Als deutsche Juden in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre dann begannen,<br />

nach Brasilien einzuwandern, integrierten sie sich rasch in die Kultur der<br />

dortigen Ober- <strong>und</strong> oberen Mittelschicht, in deren Sicht sich Brasiliens wirtschaftliche<br />

<strong>und</strong> soziale Probleme als <strong>das</strong> ‚Verschulden‘ der unteren Klassen<br />

darstellten. Dieser Diskurs verband sich leicht mit deutschen Vorurteilen über<br />

Brasilien <strong>und</strong> lieferte den <strong>Flüchtlinge</strong>n eine kulturelle Einstellung, welche diejenige<br />

der nationalen Elite widerspiegelte, in die sie sich bald eingliedern sollten.<br />

Auch andere Faktoren halfen den <strong>Flüchtlinge</strong>n, leicht in die oberen Klassen<br />

hineinzuschlüpfen. Anders als in den USA, wo die langsame Akkumulation<br />

von Kapital bei den jüdischen Immigranten zu deren Eintritt in die expandierende<br />

Mittelschicht führte, bedeutete <strong>das</strong> Fehlen gerade dieser Mittelschicht<br />

in Brasilien, <strong>das</strong>s jegliche Kapitalakkumulation viele <strong>Flüchtlinge</strong> sofort in die<br />

Schicht der oberen 25-30% der Bevölkerung springen ließ, die nicht mittellos<br />

war. Und schließlich erachteten viele in der brasilianischen Elite die Zentraleuropäer<br />

als die wünschenswertesten unter allen Einwanderern. Stadtkulturell<br />

geprägte <strong>und</strong> sozial relativ assimilierte deutsche Juden mit einem Klassenhintergr<strong>und</strong><br />

qualifizierter <strong>und</strong> leitender Berufe gelangten so, zumindest theoretisch,<br />

mit einem Sprung in die oberen Reihen der brasilianischen Gesellschaft,<br />

selbst wenn sie mittellos eintrafen. Da die deutschen Juden ja nur fünfzig<br />

Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei nach Brasilien kamen, wurde ihnen<br />

(wie zuvor den jüdischen Einwanderern aus Osteuropa) schon allein aufgr<strong>und</strong><br />

ihrer Hautfarbe ein sozialer Status zuteil. Industrialisierung <strong>und</strong> Urbanisierung<br />

in Verbindung mit dem Schema ‚rassischer‘ Unterscheidung wirkten ja<br />

dahingehend, Menschen dunkler Hautfarbe in den untersten Rängen der ökonomischen<br />

<strong>und</strong> sozialen Pyramide zu halten <strong>und</strong> half den deutschen Juden,<br />

außerordentlich schnell auf der gesellschaftlichen Leiter emporzukommen.<br />

127


128<br />

Tabelle 1<br />

Jüdische Emigration aus Deutschland <strong>und</strong> jüdische Immigration nach Brasilien<br />

1933-1941<br />

Zahl der<br />

jüdischen<br />

Emigranten<br />

aus<br />

Deutschland<br />

Zahl der<br />

deutschjüdischen<br />

Emigranten<br />

nach Brasilien<br />

Anteil der deutschjüdischen<br />

Emigration<br />

nach Brasilien an<br />

jüdischer Emigration<br />

aus Deutschland in %<br />

1933 37.000 363 0,9 10,9<br />

1934 23.000 835 3,6 22,0<br />

1935 21.000 357 1,7 20,0<br />

1936 25.000 1.772 7,0 51,8<br />

1937 23.000 1.315 5,7 65,6<br />

1938 40.000 445 3,7 63,0<br />

1940 15.000 1.033 6,8 27,2<br />

1941 8.000 408 5,1 3,7<br />

TOTAL 270.000 9.427 3,4 40,3<br />

Quellen: ROSENSTOCK 1956, S. 377; STRAUSS 1980, S. 326; Hebrew Immigrant Aid Society (HIAS-<br />

Brasil), Folder 1: Rapport d’activité pendant la periode 1933-1943 – Les juifs dans l’histoire du<br />

Brésil. YIVO-Archiv, New York.<br />

II. Der Blick auf Brasilien<br />

Anteil deutscher<br />

Juden an<br />

jüdischer<br />

Immigration nach<br />

Brasilien in %<br />

Brasilien geriet zuerst in die Aufmerksamkeit der zentraleuropäischen Juden<br />

im Jahre 1822, als <strong>das</strong> Land ein von Portugal unabhängiges Kaiserreich wurde.<br />

Damit endete die offizielle Verfolgung von Juden, obgleich die Katholische Kirche<br />

weiterhin ihre Herrschaft behielt <strong>und</strong> Nicht-Katholiken die öffentliche Ausübung<br />

ihres Glaubens untersagt war. Die Einengung der religiösen Freiheit ließ allerdings<br />

schon in den späteren Jahren des Kaiserreichs nach, um die Einwanderung von<br />

Protestanten zu fördern, <strong>und</strong> obwohl der Zensus von 1872 keine jüdischen Einwohner<br />

verzeichnete, waren vielleicht um die zweitausend Juden im Zuge der<br />

allgemeinen Einwanderung aus Europa ins Land gekommen, hauptsächlich in<br />

die Hauptstadt Rio de Janeiro. In der Tat wurde Dom Pedro II., Brasiliens Kaiser<br />

von 1841-1889, oft als Philosemit bezeichnet, wegen seiner Übersetzungen hebräischer<br />

liturgischer Dichtung ins Französische <strong>und</strong> wegen seiner Reisen ins Heilige<br />

Land. Doch <strong>das</strong> judaistische Interesse übertrug sich nicht auf ein Interesse an<br />

gegenwärtigen Juden, <strong>und</strong> <strong>das</strong> transitäre Wesen der jüdischen Geschäftsgemeinschaft<br />

führte lediglich zur Entstehung weniger gemeinschaftlicher Institutionen,<br />

darunter vor allem Friedhöfe (WOLF 1979).<br />

Für die meisten Europäer, die Juden eingeschlossen, war Brasilien in der zweiten<br />

Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts ein weit entfernter <strong>und</strong> eher abschreckender Ort.<br />

Und tatsächlich wurde <strong>das</strong> erste Projekt geplanter jüdischer Einwanderung nach<br />

Brasilien im Jahre 1881 aus Mangel an Interesse auch niemals zu Ende geführt. 1<br />

1. Siehe The American Israelite (Cincinnati), 18 March 1881, S. 300.


Ein Jahrzehnt später wurden ernsthaftere Gedanken an eine massive Ansiedlung<br />

verwandt, als Zar Nikolaus II. im Zuge seines ‚Russifizierungs‘-Plans alle<br />

Juden aus Moskau vertrieb, ein Plan, bei dem die Zwangspraxis der Russisch-<br />

Orthodoxen Religion eine wichtige Komponente darstellte. Dies hatte zur Folge,<br />

<strong>das</strong>s in Deutschland die Führer der jüdischen Gemeinschaften, die fürchteten,<br />

<strong>das</strong>s die russischen Juden sich unter ihnen ansiedeln <strong>und</strong> damit den unter Napoleons<br />

Emanzipationsdekret so verheißungssvoll begonnen Akkulturationsprozess<br />

beeinträchtigen könnten, nun darangingen, alternative Orte für die Ansiedlung<br />

dieser <strong>Flüchtlinge</strong> ausfindig zu machen. Sie gründeten rasch <strong>das</strong> Deutsche Zentralkomitee<br />

für die russischen Juden <strong>und</strong> schickten Oswald Boxer, einen Wiener<br />

Journalisten <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong> des Zionistenführers Theodor Herzl, nach Brasilien,<br />

um dort Möglichkeiten für die Neuansiedlung der russischen Juden als Landwirte<br />

zu erk<strong>und</strong>en. Vorstellungen von einer ‚Rückkehr aufs Land‘, die damals<br />

unter jüdischen Intellektuellen in Europa beliebt waren, verleiteten manche aus<br />

dem Zentralkomitee dazu, zu ignorieren, <strong>das</strong>s die meisten der Moskauer Juden<br />

städtische Handelsleute waren <strong>und</strong> keine Landwirte. Ohne Rücksicht auf diese<br />

Schwierigkeit erstattete Boxer dem Komitee, nachdem er São Paulo <strong>und</strong> Rio<br />

besucht hatte, im Mai 1891 einen enthusiastischen Bericht. Die hohen Hoffnungen<br />

wurden zerschlagen, als eine Reihe politischer Wechsel – im Zuge des Wandels<br />

vom Kaiserreich zur Republik – <strong>das</strong> Deutsche Zentralkomitee davon Abstand<br />

nehmen ließ, Immigranten nach Brasilien zu schicken. Der säkulare Charakter<br />

der neuen brasilianischen Republik <strong>und</strong> <strong>das</strong> Ende aller legalen sozialen Unterschiede<br />

aufgr<strong>und</strong> von Religionszugehörigkeit ließ die vielen Ängste hinsichtlich<br />

der Sicherheit des Lebens in Brasilien nicht geringer werden. Solche Ängste<br />

wurden zudem bestätigt, als Oswald Boxer 1892 in Rio de Janeiro am Gelbfieber<br />

starb (FALBEL 1988, S. 18).<br />

Während Brasilien in den vierzig Jahren nach Boxers Tod dem deutsch-jüdischen<br />

Bewusstseinshorizont eher fern blieb, bewirkte eine Reihe von Faktoren,<br />

darunter der Wandel des Brasilienbildes sowie restriktive Einwanderungspolitiken<br />

in anderen amerikanischen Republiken, <strong>das</strong>s seit Anfang der 1920er Jahre aber<br />

osteuropäische Juden in großer Zahl dort einwanderten. Die osteuropäischen<br />

Juden waren in Brasilien wirtschaftlich erfolgreich, doch ihre wachsende Präsenz<br />

ließ konservative Eliten eine zunehmend virulente antisemitische Kampagne anstimmen,<br />

die ihren offensten Ausdruck in den frühen 1930er Jahren fand, gerade<br />

zu der Zeit, als deutsche Juden begannen, Brasilien als ein Auswanderungsziel in<br />

Betracht zu ziehen.<br />

Trotz der Tatsache, <strong>das</strong>s in den 1920er <strong>und</strong> 1930er Jahren in allen amerikanischen<br />

Ländern eine Zunahme an Quotenreglungen <strong>und</strong> restriktiver Einwanderungsgesetze<br />

zu verzeichnen war, am deutlichsten in den USA, Argentinien<br />

<strong>und</strong> Kanada, sahen deutsche Juden Brasilien selten als einen Zufluchtsort an,<br />

selbst als ihre Situation in Deutschland sich verschlechterte. Tatsächlich sahen<br />

die meisten deutschen Juden vor 1936 Brasilien als ein Land der Unruhe <strong>und</strong> des<br />

Elends. Den gängigen Vorstellungen zufolge, mangelte es in Brasilien an<br />

Schulbildungsmöglichkeiten, <strong>und</strong> es galt als ein Land von Revolutionen <strong>und</strong> Diktaturen<br />

(INMAN 1939, S. 183). <strong>Flüchtlinge</strong> mit white-collar-Berufen befürchteten,<br />

vielleicht gezwungen zu sein, sich als Arbeiter verdingen zu müssen <strong>und</strong> keine<br />

129


130<br />

Chance zu haben, Gr<strong>und</strong>besitz oder ein Haus zu erwerben. Dieses Bild von<br />

Brasilien gelangte über einige Zeit hinweg zur Entfaltung. Auf einer Konferenz<br />

zum Thema <strong>Flüchtlinge</strong>, die 1928 in Buenos Aires stattfand, wurde insbesondere<br />

Brasilien sowie Lateinamerika allgemein als eine blue-collar-Region porträtiert,<br />

die für deutsch-jüdische Händler, Geschäftsleute <strong>und</strong> Akademiker<br />

unattraktiv sei. Haim Avni zufolge warnte <strong>das</strong> Korrespondenzblatt des Berliner<br />

Zentralbüros für jüdische Auswanderung die deutschen Juden vor den Gefahren<br />

einer Auswanderung nach Südamerika (AVNI 1985, S. 89). Das Bild<br />

war so negativ, <strong>das</strong>s zwischen 1933 <strong>und</strong> 1936, als die Auswanderung aus<br />

Deutschland am höchsten war, die Juden in der Regel eher in die USA, nach<br />

Kanada, Palästina oder Argentinien gingen als nach Brasilien, <strong>das</strong> fast keine<br />

Einreisebeschränkungen für jene hatte, die aus Zentraleuropa kamen, selbst<br />

bei solchen mit bescheidenem Kapitalbesitz.<br />

Dr. Arthur Ruppin, ein deutscher Jude, der Ende 1935 Südamerika besuchte,<br />

um dessen Potenzial für eine Ansiedlung deutscher Juden zu erk<strong>und</strong>en,<br />

zeichnete ein regelrechtes Schreckensbild von Brasilien. Ruppin, ein engagierter<br />

Zionist <strong>und</strong> später der erste Professor für Jüdische Soziologie an der Hebrew<br />

University in Jerusalem, publizierte seinen Bericht in der hebräischen Presse in<br />

Jerusalem, in fünf Artikeln in der Berliner Jüdischen R<strong>und</strong>schau, im Londoner<br />

Jewish Chronicle <strong>und</strong> später auch als Buch. Das Potenzial für ein deutsch-jüdisches<br />

Leben in Brasilien war Ruppin zufolge gering. Osteuropäische Juden<br />

seien erfolgreich gewesen, denn sie arbeiteten als „salesmen on the installment<br />

system [who] go from house to house like peddlers in order to find customers,<br />

and it seems that the German Jews cannot very well compete in that respect<br />

with the East European Jews.“ Die 2000 deutschen Juden, die vor Oktober<br />

1935 nach Brasilien eingewandert waren, hätten Schwierigkeiten, eine gewünschte<br />

Arbeit zu finden. Diese Immigranten seien „ignorant of the needs of<br />

the country and belong mostly to the commercial class. While skilled workers<br />

and artisans fo<strong>und</strong> remunerative work very quickly, this was much more difficult<br />

for the business people, who had at first to content themselves with subordinate<br />

and poorly paid positions.“ 2 Ruppin vergaß zu erwähnen, <strong>das</strong>s deutsche Juden<br />

es oft ablehnten, Unterstützung von Hilfsorganisationen anzunehmen, die von<br />

Osteuropäern geleitet wurden. Von den 835 deutschen Juden z. B., die 1935<br />

nach Brasilien immigrierten, fanden nur 494 den Weg zur lokalen HICEM (einer<br />

jüdischen Vereinigung für Flüchtlingshilfe), obwohl die Organisation für<br />

75% der Arbeitssuchenden eine Stelle fand. 3 Doch welches immer auch die<br />

Gründe waren, bis zum Jahr 1935 sahen sich deutsche Juden wenig veranlasst<br />

nach Brasilien zu emigrieren.<br />

Die brasilianischen Gesetze schienen es ihnen auch durchaus schwer zu machen,<br />

wie sie dies allen Ausländern in freien Berufen taten. Diejenigen mit europäischen<br />

Diplomen durften ihren Beruf nicht ausüben, <strong>und</strong> eine Gruppe von<br />

2. Jewish Chronicle (London), Supplement of April 1936, S. iv-vi.<br />

3. Rapport de l’administration centrale au Conseil d’Administration – 1935, S. 197. Archiv der<br />

Jewish Colonization Association, London.


Immigranten berichtete, <strong>das</strong>s die Prüfung zur Anerkennung eines ausländischen<br />

Arztdiploms so schwierig sei, <strong>das</strong>s „none - except a single dentist - is so far known<br />

to have passed“ (HIRSCHBERG 1945, S. 37). Vielen deutsch-jüdischen Ärzten<br />

war es nicht möglich, Approbationen zu erhalten, <strong>und</strong> sie wichen auf andere<br />

Berufe aus. Andere taten sich mit Brasilianern zusammen, um offiziell in freien<br />

Sparten der Medizin zu arbeiten, während sie unter der Hand als Arzt tätig waren.<br />

Belege dafür finden sich in der Zeitung Crônica Israelita, publiziert von der<br />

deutsch-jüdischen Congregação Israelita Paulista (CIP), wo eine Fülle von Annoncen<br />

erschienen, in denen jüdische Immigranten medizinische Dienste anboten<br />

(HIRSCHBERG 1976). Doch waren außerlegale Arbeitsmöglichkeiten begrenzt,<br />

<strong>und</strong> Ruppin kam zu dem Schluss, <strong>das</strong>s „even in the event of relaxations in<br />

the legal immigration restrictions in the near future the economic prospects for<br />

German Jews, unless they have a capital of at least £1,000, are limited.“ 4<br />

Arthur Ruppin glaubte, <strong>das</strong>s Brasilien niemals mehr als die 835 deutschen<br />

Juden aufnehmen würde, die 1934 dort lebten. Er irrte sich: Um 1936 war bereits<br />

die doppelte Anzahl ins Land gekommen <strong>und</strong> stellte damit einen wachsenden<br />

Anteil an der gesamten jüdischen Einwanderung nach Brasilien. Viele, die<br />

vor 1936 kamen, waren junge Leute, ledige oder erst kurz verheiratete, die später<br />

ihre Eltern oder Verwandten mittels sog. cartas de chamada nachholten,<br />

amtlicher Formulare, die es den in Brasilien Ansässigen erlaubten, für ihre Verwandten<br />

die Überfahrt im Voraus zu bezahlen, wenn sie eine Erklärung, für deren<br />

Unterhalt aufzukommen, mit eidesstattlicher Versicherung leisteten, die zuerst<br />

von der Polizei des jeweiligen Wohnortes bewilligt werden musste, um dann<br />

von der Einwanderungsabteilung des Ministeriums für Arbeit, Industrie <strong>und</strong><br />

Handel legalisiert zu werden. 5<br />

Erst nach den Nürnberger Gesetzen, verb<strong>und</strong>en mit den wachsenden Schwierigkeiten<br />

zur Einreise in die bevorzugten Zielländer, kam es dazu, <strong>das</strong>s deutsche<br />

Juden in größerer Zahl nach Brasilien zu emigrieren begannen. Doch gerade<br />

als die politischen Veränderungen in Zentraleuropa die Juden bewusst werden<br />

ließen, <strong>das</strong>s eine Emigration vielleicht <strong>das</strong> einzige Mittel zum Überleben war,<br />

begannen allerdings anti-jüdische Einstellungen in Brasilien sich formell zu<br />

immigrationsfeindlichen Politiken zu verdichten. Jüdische Organisationen in<br />

Europa, die ein Jahr zuvor noch von einer Emigration nach Brasilien abgeraten<br />

hatten, begannen indessen, nun <strong>Flüchtlinge</strong> dorthin zu leiten. Brasilien als<br />

Aufnahmeland der Jüdischen Auswanderung aus Deutschland, ein privat publiziertes<br />

Buch, animierte dazu, indem es die Einreisebestimmungen erklärte <strong>und</strong> die<br />

Möglichkeiten der sozialen Akkulturation <strong>und</strong> wirtschaftlichen Integration für<br />

Deutsche <strong>und</strong> deutsche Juden beschrieb (FRANKENSTEIN 1936). Diese Gruppen<br />

suchten auch den Kontakt zur brasilianischen Regierung, um bei ihr eine<br />

liberalere Haltung zur jüdischen Immigration zu erwirken. Doch in der Regel<br />

wurden ihre Ersuche abgewiesen.<br />

4. Jewish Chronicle (London), Supplement of April 1936, S. vi.<br />

5. Jewish Colonization Association, Bureau de Rio de Janeiro affilié à la HIAS-JCA-EMIGDIRECT,<br />

Bericht für <strong>das</strong> Jahr 1932. Séance du Conseil d’administration (16. März 1933), S. 243-44.<br />

Archiv der Jewish Colonization Association, London.<br />

131


132<br />

III. Die Kolonie bei Resende<br />

Ein bezeichnendes Beispiel für den Konflikt der gegenseitigen Ansichten <strong>und</strong><br />

Einstellungen, sowohl zwischen deutschen <strong>und</strong> osteuropäischen Juden als auch<br />

zwischen brasilianischen Eliten <strong>und</strong> Juden allgemein, bietet der 1936 von der<br />

Jewish Colonization Association (JCA) unternommene Versuch, eine neue landwirtschaftliche<br />

Kolonie zu gründen, die der brasilianischen Regierung die Einwanderer<br />

liefern sollte, die sie wollte – Landwirte. Es sei daran erinnert, <strong>das</strong>s auch<br />

die JCA sich teilweise deshalb gebildet hatte, um dahin zu wirken, <strong>das</strong>s jüdische<br />

<strong>Flüchtlinge</strong> aus Osteuropa in amerikanische Länder (<strong>und</strong> nach außerhalb Zentraleuropas)<br />

übersiedelten; ihre Funktion nun als Vermittler bei der Suche nach<br />

Siedlungsräumen für deutsche Juden war also neu.<br />

Kein Immigrationsplan wurde sorgfältiger ausgearbeitet als derjenige, der eine<br />

deutsch-jüdische Landwirtschaftskolonie bei Resende schaffen sollte, etwa 190 km<br />

westlich von Rio de Janeiro gelegen. Im Juli 1936 erwarb die JCA dort ein 2000 ha<br />

großes Landstück, stattete die Kolonie mit allem Nötigen aus <strong>und</strong> fand zudem wirkliche<br />

Landwirte, die dort siedeln wollten (MILGRAM 1990). Das Projekt wurde in Rücksprache<br />

mit dem brasilianischen Landwirtschaftsminister durchgeführt, der eingeladen<br />

wurde, <strong>das</strong> Areal zu inspizieren. Die JCA plante die Rekrutierung von solchen<br />

<strong>Flüchtlinge</strong>n aus Deutschland, für die es möglich sein dürfte, „obtain admission into<br />

the country […within] the Brazilian immigration restrictions“ 6 Mit einer bei einer Bank<br />

in Rio de Janeiro hinterlegten Bürgschaft garantierte die JCA, <strong>das</strong>s keine der 137<br />

vorgeschlagenen Familien den öffentlichen Finanzen zur Last fallen würde, <strong>und</strong> den<br />

Betreffenden gelang es sogar, sich von der Nazi-Regierung Zeugnisse über moralische<br />

Tauglichkeit <strong>und</strong> Befähigung zu verschaffen. 7 Der Segen des Landwirtschaftsministers<br />

veranlasste die Einwanderungsbehörde zur Bewilligung der Visa, die jedoch –<br />

zu aller Erstaunen – nie eintrafen. Wie es scheint, erbat sich der Außenminister, als er<br />

von der Einwanderungsbehörde informiert wurde, mehr Informationen. In der Annahme,<br />

<strong>das</strong> Ersuchen des Außenministers sei ein verdecktes Zeichen von Opposition,<br />

leitete die Einwanderungsbehörde die Angelegenheit dem Arbeitsminister zu, der die<br />

Bewilligung aufhob, ohne die JCA jemals zu informieren. 8<br />

Opposition gegen die organisierte Ansiedlung von Juden bei Resende konnte<br />

man in allen Reihen der Regierung finden. So glaubte Labienne Salgado dos Santos,<br />

ein Diplomat, z. B. nicht an „die Aufrichtigkeit der Organisation [der JCA] oder die<br />

Beständigkeit der Kolonie, wenn sie in der Hand von Juden bleibt.“ 9 Filinto Müller,<br />

6. Rapport de l’administration centrale au Conseil d’Administration – 1937, S. 66. Arquivo Histórico<br />

Judaico Brasileiro, São Paulo.<br />

7. Rapport sur l’activité de la JCA (Dez. 1936 – Jan. 1937). Séance du Conseil d’administration<br />

(30. Februar 1937) I, S. 131; Sir Osmond d’Avigdor Goldsmid (London) an den Under-Secretary<br />

of State (London) 29 April 1937. Séance du Conseil d’administration (29. Juni 1937) I, S. 113.<br />

Archiv der Jewish Colonization Association, London.<br />

8. Mr. Coote (Rio de Janeiro) an <strong>das</strong> British Foreign Office (London) 23. September 1937. FO 371/<br />

2060 A 6925/78/6. Public Records Office, London.<br />

9. Note von Labienne Salgado dos Santos über Inconvenientes da Emigração Semita, beigefügt<br />

zu Ciro de Freitas Vale (Bucharest) an Aranha, 12. September 1938, Maço 10.561 (741).<br />

Arquivo Histórico Itamaraty, Rio de Janeiro.


Chef der B<strong>und</strong>espolizei, opponierte gegen alle Pläne der Jewish Colonization<br />

Association, vor allem nachdem er den Brief eines JCA-Angestellten an die<br />

Pariser Hauptstelle der Organisation abgefangen hatte, woraus hervorging,<br />

<strong>das</strong>s die JCA regelmäßig Schmiergelder an Beamte der Einwanderungsbehörden<br />

zahle, um jüdische <strong>Flüchtlinge</strong> mit einem Touristenvisum in Brasilien<br />

einreisen zu lassen. 10 Oliveira Vianna, Ideologe des Arierkults <strong>und</strong> Jurist mit<br />

enger Verbindung zum Präsidenten Vargas sowie damals auch Berater des<br />

Arbeitsministers, verwies als Argument für die Ablehnung der Visa auf die<br />

wenigen Kolonisten, die in der ebenfalls von der JCA organisierten Kolonie<br />

Quatro Irmãos verblieben waren (MILGRAM 1990, S. 585). Dulphe Pinheiro<br />

Machado, Generaldirektor des Departamento Nacional de Povoamento (DNP<br />

– Nationales Siedlungsamt), der mit Kolonisierungsfragen betreuten Behörde<br />

des Arbeitsministers, beklagte sich über „Juden […] <strong>und</strong> andere parasitäre<br />

Elemente, die ethnische Minoritäten bilden <strong>und</strong> in den Nationen, in denen<br />

sie leben, die Ruhe stören.“ 11<br />

Im Dezember 1936 informierte der Arbeitsminister Agamenon Magalhães<br />

die Jewish Colonization Association darüber, <strong>das</strong>s „the immigration of Jews to<br />

the property acquired […] at Rezende would not be permitted.“ 12 Es wurde<br />

kein offizieller Gr<strong>und</strong> angegeben, da diese Politik aus Furcht vor negativen<br />

diplomatischen Rückwirkungen verdeckt gehalten wurde. Klagen über „antisemitischen<br />

Faschismus“ veranlassten den britischen Botschafter Sir Hugh<br />

Gurney dazu, die Angelegenheit gegenüber dem Präsidenten Getúlio Vargas<br />

zur Sprache zu bringen, der „fully recognizes the desirability of admitting<br />

agriculturists, particularly those with capital.“ 13 Aber dennoch wurden die<br />

Visa nicht bewilligt. Andere begannen bald, Druck auf Brasilien auszuüben.<br />

Leo S. Rowe, Direktor der Pan-American Union (die 1948 zum ständigen Sekretariat<br />

der Organisation Amerikanischer Staaten wurde) bat den brasilianischen<br />

Botschafter Oswaldo Aranha eindringlich darum, in dieser Sache einen<br />

„very great service which will be greatly appreciated“, zu tun. 14 Die US-<br />

Regierung griff in die Auseinandersetzung mit ein, nachdem sie festgestellt<br />

hatte, <strong>das</strong>s die neue Kolonie für Juden, deren Visa abgelaufen waren, die<br />

Möglichkeit eines legalen Aufenthalts schaffen könnte. 15 Die diplomatischen<br />

10. Brief von Filinto Müller an Francisco Campos, 5. Februar 1938. Maço 10.561 (741). Arquivo<br />

Histórico Itamaraty, Rio de Janeiro.<br />

11. Dulphe Pinheiro Machado, 9 Januar 1937. PRCNE-Serie Intercambio Comércial, Lata 174-No.<br />

468-1936. Arquivo Nacional, Rio de Janeiro.<br />

12. Hugh Gurney (British Embassy-Rio de Janeiro) an Anthony Eden (Principal Secretary of State-<br />

London), 31. Dezember 1936. FO 371/20604 A78/78/6, S. 15-17. Public Records Office, London.<br />

13. Gurney (Rio de Janeiro) an Mr. Troutbeck (London), 1. April 1937. FO 371/20604 A2910/78/6;<br />

R.G. Gahagon (Foreign 0ffice-London) an Sir Osmond d’Avigdor Goldsmid (London), 27, April<br />

1937. FO 371/20604 A2910/78/6. Public Records Office, London.<br />

14. Leo S. Rowe (Washington) an Aranha (Rio de Janeiro,) 5. April 1937. OA 37.04.05. Centro de<br />

Pesquisa e Documentação de História Contemporânea do Brasil, F<strong>und</strong>ação Getúlio Vargas,<br />

Rio de Janeiro.<br />

15. Memorandum des Department of State zum Gespräch zwischen Alfred Houston, Laurence<br />

Duggan and Mr. Manning (Division of American Republics), 16. Februar 1938. 832.52 Germans/<br />

10 LH. National Archives and Record Administration, Washington.<br />

133


134<br />

Versuche waren jedoch vergebens. Visa für Juden seien, dem Außenminister<br />

zufolge, einfach „not in accord with the present interests of the country.“ 16<br />

Nach mehr als zwei Jahren diplomatischen Drucks von britischer <strong>und</strong> USamerikanischer<br />

Seite gab die Regierung allerdings doch nach. Anfang April 1938<br />

konnte schließlich eine Kolonie bei Resende eröffnet werden, nur war diese verschieden<br />

von der anfänglich konzipierten. Die Siedler waren schon in Brasilien<br />

ansässig <strong>und</strong> dort ‚naturalisiert‘, d. h. eingebürgert, es waren keine neuen Einwanderer<br />

wie ursprünglich geplant. Mithin wurde die Eröffnung der Kolonie hochgespielt<br />

als ein Beispiel dafür, wie ausländische Bauern mit harter Landarbeit zu „guten“<br />

Brasilianern werden konnten. Ernani do Amaral Peixoto, der Interventor, d. h.<br />

an Gouverneursstelle amtierende Beamte im B<strong>und</strong>esstaat Rio de Janeiro, besuchte<br />

die Kolonie, <strong>und</strong> was er dabei als „sehr angenehm“ 17 empfand, mag die Tatsache<br />

gewesen sein, <strong>das</strong>s dort nämlich faktisch wenige Juden lebten. Die nichtjüdischen<br />

Einwohner der Stadt Resende stimmten bei <strong>und</strong> hielten eine Messe zu<br />

Ehren der Kolonisten. 18 Eine offizielle Pressemitteilung zur Eröffnung der Kolonie<br />

strich die humanitären Aspekte heraus, die diese Eröffnung des „rein brasilianischen<br />

Projekts“ möglich gemacht hätten. Keine brasilianischen Steuergelder, so<br />

betonte die Regierung, seien investiert worden, <strong>und</strong> obwohl „die Kolonie dreißig<br />

Familien Platz bietet, […] sind bis jetzt nur fünfzehn dort.“ 19 Der ursprüngliche Plan,<br />

in der Kolonie 137 Familien anzusiedeln, blieb dabei unerwähnt wie auch die<br />

Tatsache, <strong>das</strong>s schon für achtzig Familien Häuser gebaut worden waren.<br />

Der Besuch Amaral Peixotos in Resende wurde in den Nachrichten recht groß<br />

aufgemacht: Die meisten Zeitungen in Rio de Janeiro berichteten darüber, O<br />

Carioca sowie der Correio da Manhã sogar auf der Titelseite. 20 Doch wenn der<br />

Besuch des Politikers eine passende Gelegenheit zur Propaganda für <strong>das</strong> Regime<br />

war, so verschaffte im Mai 1938 <strong>das</strong> Kommen des Präsidenten Getúlio Vargas selbst<br />

auch der Jewish Colonization Association <strong>und</strong> der brasilianischen jüdischen Gemeinschaft<br />

eine Chance zur publizitären Selbstdarstellung. 21 Das Wochenblatt Idishe<br />

Presse widmete der Geschichte eine ganze Ausgabe, <strong>und</strong> der Diário de Notícias<br />

titelte: „Die Juden kehren aufs Land zurück.“ 22 Während die beim Präsidentenbesuch<br />

erwartete Besichtigung der Felder, eines Kolonistenhauses <strong>und</strong> einer Schule<br />

ansonsten ereignislos verliefen, wurde eine kurze, vielleicht erf<strong>und</strong>ene Begegnung<br />

mit einem Jungen bedeutsam. Vargas, der im Hinblick auf <strong>das</strong> Fremde so-<br />

16. Coote (Rio de Janeiro) an <strong>das</strong> British Foreign Office (London), 23. September 1937. FO 371/<br />

2060 A 6925/78/6. Public Records Office, London.<br />

17. Diário Oficial - Estado do Rio de Janeiro, 6. April 1938.<br />

18. Interview von Denise Simanke mit Heinz Lewinsky. Archiv für História Oral des Instituto<br />

Cultural Judaico Marc Chagall, Porto Alegre.<br />

19. Diário Oficial - Estado do Rio de Janeiro, 6. April 1938.<br />

20. O Carioca <strong>und</strong> Correio da Manhã, jeweils 6. April 1938; A Lyra (Resende), 7 April 1938, A<br />

Opinião (Resende), 9. April 1938.<br />

21. Exposição <strong>das</strong> demarches feitas pela JEWISH COLONIZATION ASSOCIATION junto ao Governo<br />

Brasileiro, com o propósito de trazer imigrantes agricultores para sua Fazenda de Rezende,<br />

Estado do Rio. PRRE. Box 27.586, Document 185660-1938. Arquivo Nacional, Rio de Janeiro.<br />

22. Idishe Presse (Imprensa Israelita - Rio de Janeiro), 8. Juli 1938; Diário de Notícias (Rio de<br />

Janeiro), 19. Oktober 1938.


wohl Hoffnung auf Assimilierung als auch Misstrauen zeigte, fragte den Jungen<br />

ohne erkenntlichen Gr<strong>und</strong>: „Bist du Ungar?“ – „Nein, Herr,“ antwortete der Junge,<br />

„ich bin Brasilianer.“ 23<br />

Konfuse Vorstellungen von Juden äußerten sich reichlich in den Presseberichten<br />

zur Eröffnung der Kolonie. In den meisten Fällen allerdings spiegelten sie<br />

eine Sicht ‚des Juden‘ sowohl als positiv für die Entwicklung wie auch als negativ<br />

für die brasilianische Gesellschaft wieder. Das Portrait eines Kolonisten im Diário<br />

de Notícias, <strong>das</strong> unzutreffend mit „Sohn eines Berliner Bankiers“ überschrieben<br />

war, leitete die Leser gleichzeitig zu traditionellen antisemitischen Assoziationen<br />

von reichen Juden <strong>und</strong> der Hoffnung, <strong>das</strong>s dieser Reichtum seinen Weg nach<br />

Brasilien finden möge. 24 Die Zeitung A Noite in Rio de Janeiro nannte die Kolonie<br />

„eine kleine Heimat für solche ohne Heimat“, indem sie dabei andeutete, <strong>das</strong>s<br />

Juden niemals Brasilianer werden könnten <strong>und</strong> <strong>das</strong>s Resende ein Staat im Staate<br />

sei. 25 Dies wurde verstärkt durch konstante Verweise auf die „Fazenda dos Judeus“.<br />

In der Regierung teilte man diese Ansichten <strong>und</strong> de facto wurden keinen <strong>Flüchtlinge</strong>n<br />

Visa erteilt, um sich in Resende anzusiedeln. Als die JCA 1939 eine Gruppe<br />

zur Begutachtung der Kolonie entsandte, kommentierte einer der Besucher: „It is<br />

sad and significant to see the new houses fully furnished, on small vegetable, dairy<br />

and fruit farms, fenced and equipped, standing empty and deteriorating.“ 26<br />

Der Versuch der Jewish Colonization Association nach den Regeln zu spielen<br />

<strong>und</strong> die Gunst der Regierung wiederzuerlangen, war ein Fehlschlag, doch die<br />

Weigerung des Vargas-Regimes, jüdischen Landwirten Visa zu bewilligen, deutet<br />

auf einige Punkte, die erhellenswert sind: Vorgefasste Ansichten ließen viele<br />

Politiker die Vorstellung verwerfen, <strong>das</strong>s Juden Landwirte sein könnten. Gleichzeitig<br />

sahen selbst diejenigen, die an die Wirksamkeit landwirtschaftlichen Trainings<br />

von <strong>Flüchtlinge</strong>n glaubten, in der Aufnahme dieser Gruppe sowohl politische<br />

als auch kulturelle Gefahren. Jüdische Immigranten, selbst wenn sie Landwirte<br />

waren, wurden nicht als brauchbare Ackerbauern angesehen, sondern als<br />

unerwünschte Juden.<br />

IV. Selbst- <strong>und</strong> Fremdbilder<br />

Trotz des Widerstands gegen die jüdische Einwanderung im Fall Resende kamen<br />

doch viele deutsche Juden nach Brasilien. Und tatsächlich half diese neue<br />

Präsenz deutscher Juden der bereits etablierten osteuropäischen Gemeinschaft<br />

in ihrem Kampf gegen den Antisemitismus. Der bildungs- <strong>und</strong> besitzbürgerliche<br />

Hintergr<strong>und</strong> der Neuankömmlinge wurde nämlich als weniger unerwünscht angesehen,<br />

obgleich ihre Ansiedlung in städtischen Gebieten in Widerspruch zur<br />

brasilianischen Einwanderungspolitik stand, die ja auf Landwirte ausgerichtet war.<br />

Nativisten, die in der brasilianischen Politik nach 1930 eine kritische Rolle vertra-<br />

23. A Noite (Rio de Janeiro), 30. Juni 1938.<br />

24. Diário de Notícias (Rio de Janeiro), 19. Oktober 1938.<br />

25. A Noite (Rio de Janeiro), 30. Juni 1938.<br />

26. Bericht von Mr. Tracy Phillips – 13. Januar 1939. Séance du Conseil d’administration (6. Mai<br />

1939) II. Archiv der Jewish Colonization Association, London.<br />

135


136<br />

ten, lenkten ihre Ressentiments oft gegen osteuropäische Juden, die als unproduktiv<br />

galten (da sie allgemeiner Ansicht nach nur hausieren gingen) <strong>und</strong> zudem<br />

nicht wirklich als Weiße. Die Stellung der deutschen Juden jedoch war weniger<br />

klar. Sie waren in hohem Maße staatsbürgerlich gesinnt, sprachen dieselben Sprachen<br />

wie andere nicht-jüdische Einwanderergruppen in Brasilien <strong>und</strong> waren<br />

politisch gemäßigt oder konservativ. Deutsche Juden galten auch als hoch gebildet,<br />

qualifiziert <strong>und</strong> als Immigranten, die Kapital für Investitionen mitbrachten,<br />

was tatsächlich oft der Fall war. So kommentierte der nicht-jüdische Herbert V.<br />

Levy, seinerzeit ein junger Journalist (<strong>und</strong> später B<strong>und</strong>esabgeordneter aus São<br />

Paulo sowie Generaldirektor der Finanzzeitung Gazeta Mercantil) in seinem Buch<br />

Problemas actuaes da Economia Brasileira (1934), durch Deutschlands antisemitische<br />

Kampagne biete sich Brasilien „die Gelegenheit, die Besten in den Künsten,<br />

den Natur- <strong>und</strong> Geisteswissenschaften, der Wirtschaft zu empfangen“, <strong>und</strong> in allen<br />

Bereichen kultureller Aktivität seien die deutschen Juden „von unschätzbarem<br />

Wert für den Fortschritt <strong>und</strong> die kulturelle Entwicklung“(LEVY 1934, S. 104).<br />

Es ist ein ironischer Umstand, <strong>das</strong>s, während die etablierte osteuropäisch-jüdische<br />

Gemeinschaft <strong>das</strong> gängige Bild von den deutschen Juden für den Kampf<br />

gegen den Antisemitismus einsetzte, die deutschen Juden selbst sich dagegen<br />

aktiv von allem absetzten, was ihnen als die unter ihrem Niveau stehende Kultur<br />

dieser Gemeinschaft osteuropäischer Herkunft galt. 27 Dies, glaubten sie, würde<br />

verhindern können, <strong>das</strong>s sie von den Nativisten negativ eingestuft würden, welche<br />

<strong>das</strong> Hausieren <strong>und</strong> den kollektiven Zusammenhalt der osteuropäischen Juden<br />

attackierten. Die deutschen <strong>Flüchtlinge</strong> entstammten in der Tat einer europäischen<br />

industriellen Kultur, die vielen Brasilianern der Mittel- <strong>und</strong> Oberklasse<br />

ein Vorbild zur Nachahmung war. Deutsch-jüdische Organisationen legten zudem<br />

Wert auf Erteilung von Portugiesischunterricht an ihre Mitglieder, was selbst<br />

Nativisten schwerlich kritisieren konnten. Sie schufen gleichzeitig Einrichtungen,<br />

die insbesondere auf die Förderung eines deutschen sozialen <strong>und</strong> kulturellen<br />

Lebens ausgerichtet waren, <strong>und</strong> unter den <strong>Flüchtlinge</strong>n gab es selten ein Nachlassen<br />

der Bindungen zur deutschen Hochkultur (LESSER 1989). Herbert Caro,<br />

ein aus Berlin stammender Jurist, der die Israelitisch-Brasilianische Gesellschaft für<br />

Kultur <strong>und</strong> Wohltätigkeit (SIBRA) zu gründen half, übersetzte Thomas Mann (der<br />

ebenfalls aus Deutschland flüchtete) <strong>und</strong> Hermann Hesse für die Editora do Globo,<br />

dem großen Verlagshaus, unter dessen Titeln sich auch eine Menge antisemitischer<br />

Schriften aus Europa fanden (CARO 1986, S. 48).<br />

Die ‚jüdische Frage‘ wurde zunehmend komplizierter, als eine große Zahl solcher<br />

zentraleuropäischen <strong>Flüchtlinge</strong> nach Brasilien kam. Eine Reihe einflussreicher<br />

Brasilianer begann nun, ohne die Beschränkungen preisgeben zu wollen, gleichzeitig<br />

eine fortgesetzte oder erweiterte jüdische Immigration zu unterstützen. Keiner<br />

jedoch schlug vor, aufgr<strong>und</strong> humanitärer Prinzipien eine völlig offene Politik<br />

zu gewähren. Wie in einigen Fällen der Nazi-Politik, wo gewisse Juden in ihren<br />

Positionen geduldet wurden, solange sie wirtschaftlich ‚nützlich‘ waren, argumentierten<br />

einige Diplomaten <strong>und</strong> Journalisten, <strong>das</strong>s nur vermögenden oder qualifizierten<br />

<strong>Flüchtlinge</strong>n die Einreise erlaubt werden solle. Die gut etablierte Zeitung<br />

27. Interview des Verfassers mit Rabbi Fritz Pinkuss in São Paulo am 19. August 1986.


Correio da Manhã in Rio de Janeiro publizierte Leitartikel zugunsten einer Zunahme<br />

jüdischer Präsenz, unter Verweis darauf, <strong>das</strong>s „[...] der große Exodus von jüdischen<br />

Arbeitern aus Deutschland […] alle ihre technischen, industriellen <strong>und</strong> vor<br />

allem landwirtschaftlichen Fertigkeiten ins Land bringen würde.“ 28 Ildefonso Falcão,<br />

der Brasilianische Konsul in Köln, wendete sich vertraulich an den Außenminister<br />

Afrânio de Mello Franco hinsichtlich der Möglichkeiten für die Erteilung von Immigranten-Visa<br />

an Deutsche „semitischer Rasse, die öffentliche Positionen bekleidet<br />

haben oder in freien Berufen tätig gewesen sind.“ 29 Zusammen mit ihren beruflichen<br />

Kompetenzen, so dachte Falcão, würden die Juden „einen Teil ihres Kapitals<br />

mitbringen, aufgr<strong>und</strong> einer besonderen Lizenz vonseiten der deutschen Regierung.“<br />

Er gelangte zu seinem Schluss nicht ohne äußeren Anlass: Die jüdischen<br />

Direktoren einiger von Deutschlands großen Industrien, darunter die Schürman<br />

<strong>und</strong> Tietz A. G. (Möbel) <strong>und</strong> die Ludolph Marx Gruppe, waren mit förmlichen<br />

Vorschlägen an den Konsul herangetreten, ähnliche Betriebe in São Paulo <strong>und</strong><br />

Rio de Janeiro zu errichten. 30<br />

Der starke Sinn für <strong>das</strong> ‚Deutsche‘, der einerseits Teil der deutsch-jüdischen<br />

Kultur war <strong>und</strong> zudem durch den Status, den es in Brasilien einbrachte, betont<br />

wurde, führte auch zur Entstehung einer sehr charakteristischen <strong>und</strong> separaten<br />

deutsch-jüdischen religiösen Sphäre. Die deutschen Juden folgten im Allgemeinen<br />

der liberalen Tradition des Gottesdienstes, einer Form, die aus der Emanzipation<br />

Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts erwachsen war <strong>und</strong> auf der Idee gründete, <strong>das</strong>s<br />

Juden religiös zu Hause <strong>und</strong> in der Öffentlichkeit Staatsbürger sein sollten. Die<br />

liberale Tradition (Einheitsgemeinde), die auch in der Landessprache geführte<br />

Gottesdienste einschloss, wurde von vielen osteuropäischen Juden, die die traditionelle<br />

Form des Gottesdienstes beibehielten, als unangemessen angesehen.<br />

Es war in den größeren Städten, wo es zur Organisation der ersten deutschjüdischen<br />

Religionsgemeinden in ausgedehnterem Rahmen kam. Obgleich von<br />

deutschen Juden mit ähnlichem soziokulturellem Hintergr<strong>und</strong> geschaffen,<br />

beeinflussten die Unterschiede zwischen den jeweils bestehenden jüdischen Gemeinschaften<br />

die Art <strong>und</strong> Weise, wie diese neuen Organisationen wirkten. In Porto<br />

Alegre gründete die deutsch-jüdische Gemeinschaft im Juli 1939 die bereits<br />

erwähnte Israelitisch-Brasilianische Gesellschaft für Kultur <strong>und</strong> Wohltätigkeit (SIBRA)<br />

aufgr<strong>und</strong> der Überzeugung „innerhalb des Kreises derjenigen Juden, die Deutsch<br />

sprechen, <strong>das</strong>s dort ein hinreichendes Interesse besteht, ein soziales <strong>und</strong> kulturelles<br />

Zentrum zu schaffen.“ 31 Von den ersten 200 Mitgliedern der SIBRA stammten<br />

mehr als 75 Prozent aus Deutschland <strong>und</strong> ca. ein Drittel der restlichen Personen<br />

aus Österreich oder Ungarn. 32 Anders als andere deutsch-jüdische Vereinigun-<br />

28. Oscar Messias Cardoso: A Emigração Israelita Através do M<strong>und</strong>o. Correio da Manhã, 27.<br />

August, 1933.<br />

29. Ildefonso Falcão an Afrânio de Mello Franco, 27. Juni 1933. EC/191/558/Reservado/1935/<br />

Annexo. Maço 10.561 (741). Arquivo Historico Itamaraty, Rio de Janeiro.<br />

30. Ibd.<br />

31. Interview des Verfassers mit Bernhard Wolff in Porto Alegre am 21. Juli l986.<br />

32. Em Memória dos sócios falecidos e seus familiares, l936-l986. Bernhard Wolff-Archiv<br />

(Porto Alegre).<br />

137


138<br />

gen in Brasilien wurde die SIBRA in fußläufiger Entfernung zum traditionellen<br />

osteuropäisch-jüdischen Stadtviertel Bom Fim errichtet. Diese Wahl ist insofern<br />

bedeutsam, als sie die Vermutung nahe legt, <strong>das</strong>s die deutschen Juden in Porto<br />

Alegre – vielleicht wegen der geringeren Größe der Stadt <strong>und</strong> der jüdischen Bevölkerung<br />

– hofften, eine vereinte Gemeinde zu schaffen (vgl. LESSER 1989). Anders<br />

als in São Paulo <strong>und</strong> Rio de Janeiro, wo Reibungen zwischen deutschen<br />

Juden <strong>und</strong> früher eingewanderten osteuropäischen Juden sich steigerten, kam<br />

es in Porto Alegre zu einer Integration zwischen deutschen Juden <strong>und</strong> Mitgliedern<br />

der osteuropäischen Gemeinschaft, die sich dann der SIBRA anschlossen.<br />

Der Wunsch zur Schaffung einer vereinten jüdischen Gemeinde in Porto Alegre<br />

bedeutete jedoch kein Nachlassen der Bindungen an die deutsche Hochkultur,<br />

selbst unter denen, die vor dem NS-Regime geflohen waren.<br />

Anders als die SIBRA, wurde die jüdische Kongregation von São Paulo<br />

(Congregação Israelita Paulista – CIP) geschaffen „zu dem ausdrücklichen Zweck,<br />

die individuelle Adaptierung <strong>und</strong> <strong>das</strong> kollektive Überleben“ zu fördern<br />

(HIRSCHBERG 1976, S. 17). Die CIP wurde im Oktober 1936 eingeweiht, als<br />

erstmals ein junger Rabbi aus Heidelberg geschickt wurde, der die hohen<br />

Festtagsgottesdienste für die deutschen Juden in der Stadt halten sollte. Innerhalb<br />

eines Jahres war Rabbi Fritz Pinkuss gänzlich nach São Paulo übergesiedelt,<br />

um die CIP aufbauen zu helfen, deren Gebäude weit entfernt vom traditionellen<br />

Viertel der osteuropäischen Juden, Bom Retiro, errichtet wurde.<br />

Die CIP versuchte in aggressiver Weise ein deutsch-jüdisches religiöses <strong>und</strong><br />

soziales Leben wiederaufzubauen <strong>und</strong> betrieb aktiv eine Trennung von der<br />

bestehenden jüdischen Gemeinschaft. 33 Im Jahr 1938 schuf der Vorstand der<br />

CIP die Avanhandava-Pfadfindergruppe, die zum pädagogischen ‚Schlüssel‘<br />

bei der Erziehung der jüdischen Jugend wurde, ausgerichtet auf eine brasilianische<br />

Elitekultur (CYTRYNOWICZ / ZUQUIM 1999, S. 25).<br />

Alle deutsch-jüdischen Gemeindeorganisationen förderten nachdrücklich <strong>das</strong><br />

Erlernen des Portugiesischen. Dies beruhte auf dem Glauben der meisten deutschen<br />

Juden, von denen viele einen großbürgerlichen Hintergr<strong>und</strong> besaßen,<br />

<strong>das</strong>s jemand gleichzeitig ein guter Jude <strong>und</strong> ein guter Staatsbürger sein könnte.<br />

Die Beherrschung des Portugiesischen half der deutsch-jüdischen Gemeinschaft,<br />

sich sozial <strong>und</strong> ökonomisch zu integrieren. Die Integration geschah auch im Politischen,<br />

<strong>und</strong> die enge Beziehung zwischen Führern dieser Gemeinschaft <strong>und</strong> brasilianischen<br />

Politikern beeinflusste oft in positiver Weise die Einstellung der Regierung<br />

gegenüber den jüdischen <strong>Flüchtlinge</strong>n.<br />

V. Schlussbetrachtung<br />

Für die meisten deutschen Juden, war der Kampf, im überseeischen Refugium<br />

die nationale <strong>und</strong> ethnische Identität zu bewahren, eine komplexe Herausforderung.<br />

Diese Erfahrung im ausländischen Umfeld war eine Erfahrung der beständigen<br />

Unterscheidung <strong>und</strong> Abgrenzung, sei es von nicht-jüdischen Deutschen oder<br />

von anderen jüdischen Gemeinschaften. Die neue ‚Heimat‘ war für deutsche Ju-<br />

33. Interview des Verfassers mit Rabbi Fritz Pinkuss in São Paulo am 19. August l986.


den nicht dieselbe wie für die energischen Staatspatriotismus bezeugenden deutschen<br />

Nicht-Juden, die früher eingewandert waren. Vielmehr war es bei diesen<br />

<strong>Flüchtlinge</strong>n nun genau ihre ‚Deutschheit‘, die von vielen in der brasilianischen<br />

Elite als positiv gesehen wurde. Deutsche Juden konnten z. B. deutsche Literatur<br />

pflegen als Ausdruck sowohl der Bewahrung ihrer kulturellen Wurzeln als auch<br />

ihrer Zugehörigkeit zur kultivierten brasilianischen Elite.<br />

Während die Lebenssituationen deutscher Juden <strong>und</strong> Nicht-Juden in ganz<br />

Lateinamerika sehr verschieden waren, bietet der brasilianische Fall noch eine<br />

besondere Wendung der Geschichte. Anders als bei anderen Beispielen aus amerikanischen<br />

Ländern, fanden deutsch-jüdische <strong>Flüchtlinge</strong> in Brasilien keine<br />

zentraleuropäische Basis vor: Dort lag die Macht in der Gemeinschaft eher bei den<br />

osteuropäischen Juden, die sowohl aggressive Jiddischisten als auch Zionisten<br />

waren. Dieser Mangel an institutioneller Stärke auf deutsch-jüdischer Seite veränderte<br />

die Bedingungen für kulturelle Allianzen, da die <strong>Flüchtlinge</strong> rasch erkannten,<br />

<strong>das</strong>s eine Integration in die lokale Elitekultur ihnen zahlreiche Vorteile verschaffte.<br />

Deutsch-jüdische Führer arbeiteten hart daran, ihren Status als Weiße,<br />

als Bürgerliche <strong>und</strong> ihr ‚Europäertum‘ zu behaupten, <strong>und</strong> in vielerlei Hinsicht<br />

waren sie dabei erfolgreich. Als Brasilien 1938 versuchte, seine Tore zu schließen,<br />

kamen Juden dennoch weiterhin ins Land: Tatsächlich manipulierten die führenden<br />

Akteure in der jüdischen Gemeinde Brasiliens erfolgreich die Ansichten <strong>und</strong><br />

Vorstellungen, so <strong>das</strong>s viele aus Europa flüchtende Juden in der öffentlichen<br />

Wahrnehmung als akzeptable ‚deutsche Juden‘ rekonzipiert wurden. Fast zehntausend<br />

jüdische <strong>Flüchtlinge</strong> kamen zwischen 1938 <strong>und</strong> 1942 nach Brasilien, wo<br />

ihnen <strong>das</strong> Heim im Ausland zu einer brasilianischen Heimat wurde.<br />

(Übersetzung aus dem Englischen: Rainer Domschke)<br />

Literatur<br />

AVNI, Haim (1985): Patterns of Jewish Leadership in Latin America during the Holocaust. In:<br />

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juventude. São Paulo.<br />

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LESSER, Jeffrey (1991): Jewish Colonization in Rio Grande do Sul, 1904-1925. São Paulo.<br />

LESSER, Jeffrey (1994): Welcoming the Undesirables: Brazil and the Jewish Question. Berkeley.<br />

139


140<br />

LESSER, Jeffrey (1989): Diferencias regionales en el desarrollo histórico de las comunidades judeobrasileñas<br />

contemporáneas: San Pablo y Porto Alegre. In: Estudios Migratorios Latinoamericanos<br />

4 (1). Buenos Aires, S. 71-84.<br />

LESSER, Jeffrey (1989): Historische Entwicklung <strong>und</strong> regionale Unterschiede der zeitgenössischen<br />

brasilianisch-jüdischen Gemeinden: São Paulo <strong>und</strong> Porto Alegre. In: SCHRADER, Achim /<br />

RENGSTORF, Karl H. (Hrsg.): Europäische Juden in Lateinamerika. St. Ingbert, S. 361-377.<br />

LEVY, Herbert V. (1934): Problemas actuaes da economia brasileira. São Paulo.<br />

MILGRAM, Avraham (1990): A Colonização Agrícola a Refugiados Judeus no Brasil, 1936-1939. In:<br />

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RUPPIN, Artur (1938): Los Júdios de America del Sur. Buenos Aires.<br />

ROSENSTOCK, Werner (1956): Exodus 1933-1939: A Survey of Jewish Emigration from Germany. In:<br />

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SOBEL, Louis H. (1945): Jewish Community Life in Latin America In: American Jewish Year Book<br />

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STRAUSS, Herbert A. (1980): Jewish Emigration from Germany: Nazi Policies and Jewish Responses<br />

(I). In: Leo Baeck Institute Yearbook XXV. London, S. 313-358.<br />

WOLFF, Egon / WOLFF, Frieda (1979): Os Judeus nos Primórdios do Brasil-República – visto<br />

especialmente pela documentação no Rio de Janeiro. Rio de Janeiro.<br />

Prof. Dr. Jeffrey Lesser ist Winship Distinguished Research Professor of the Humanities<br />

<strong>und</strong> Direktor des Tam Institute for Jewish Studies an der Emory University (Atlanta, USA).<br />

Er ist Spezialist in brasilianischer Geschichte <strong>und</strong> seine Forschungen konzentrieren sich auf die<br />

Themen Ethnizität, Immigration <strong>und</strong> Identität. Sein Buch Negotiating National Identity:<br />

Minorities, Immigrants and the Struggle for Ethnicity in Brazil (Durham 1999) erhielt den<br />

Best Book Prize der Brasiliensektion der Latin American Studies Association; sein Welcoming<br />

the Undesirables: Brazil and the Jewish Question (Berkeley 1994) den Best Book Prize des<br />

New England Council on Latin American Studies. Beide Bücher sind auch in portugiesischer<br />

Übersetzung erschienen als Negociando a Identidade Nacional: Imigrantes, Minorias<br />

e a Luta pela Etnicidade no Brasil (São Paulo 2001) <strong>und</strong> O Brasil e A Questão Judaica (Rio<br />

de Janeiro 1995). Sein neuestes Buch, A Discontented Diaspora: Japanese-Brazilians and<br />

the Meanings of Ethnic Militancy wird im Dezember 2007 herauskommen.


Imigração no Brasil e na Alemanha:<br />

contextos, conceitos, convergências<br />

Sérgio Costa<br />

São Paulo / Flensburg<br />

Resümee: Der Artikel vergleicht die politischen Diskurse <strong>und</strong> Praktiken,<br />

die sich in der Zeit des Zweiten Weltkriegs in Brasilien<br />

im Rahmen der „Nationalisierungs-Kampagne“ auf die Einwanderer<br />

richteten, mit den Bemühungen zur „Integration“<br />

von Migranten in Deutschland heute. Indem der Autor<br />

über einige historische <strong>und</strong> strukturelle Unterschiede<br />

hinaussieht, erkennt er wichtige Ähnlichkeiten zwischen<br />

diesen beiden Kontexten. In beiden Fällen wird den Immigranten<br />

eine schwache Identifikation mit den „nationalen<br />

Werten“ zugeschrieben, wobei der Staat versucht, diesem<br />

angeblichen Mangel durch disziplinierende <strong>und</strong>/oder<br />

assimilationistische Maßnahmen entgegenzuwirken.<br />

Abstract: The article compares discourses and policies directed to<br />

immigrants in Brazil during the „nationalization campaign“<br />

in the time of the Second World War with efforts for „integrating“<br />

immigrants in contemporary Germany. Looking<br />

beyond some historical and structural differences, the author<br />

identifies important similarities between these two<br />

contexts. In both cases immigrants are supposed to have a<br />

low identification with the „national values“ and the State<br />

tries to correct this alleged deficit using disciplinary and/or<br />

assimilationist measures.<br />

Quando se comparam os movimentos migratórios de europeus rumo à América<br />

Latina até a primeira metade do Século XX com as migrações recentes intra-européias<br />

e de outros continentes para a Europa no período pós-guerra constatam-se,<br />

como é de se esperar, diferenças estruturais importantes. No primeiro caso, se trata,<br />

f<strong>und</strong>amentalmente de uma ruptura radical nas biografias individuais e familiares, já<br />

que a migração implicava a perda quase sempre definitiva dos vínculos mais efetivos<br />

com a terra natal, visitada não mais que pela memória e revista apenas nas raras<br />

cartas de amigos e parentes, recebi<strong>das</strong> depois <strong>das</strong> várias semanas necessárias para<br />

a travessia transatlântica. Atualmente, as novas possibilidades de comunicação e<br />

transporte permitem que os imigrantes sigam mantendo laços estreitos com seus<br />

países de origem, constituindo redes de interação que, de algum modo, aproximam,<br />

socialmente, territórios geograficamente distantes. 1<br />

1. Esses novos contextos foram pesquisados em detalhe, entre outros, por Pries (1996, 2001,<br />

veja também COSTA 2006b) que, a partir do exame da migração de trabalhadores mexicanos<br />

141


142<br />

Para além dessas distinções estruturais, observam-se iniludíveis similitudes entre<br />

os discursos e políticas volta<strong>das</strong> para a imigração na Europa contemporânea e<br />

na América Latina dos anos 1930 e 1940. Tais interseções estão corporifica<strong>das</strong> nos<br />

conceitos de assimilação e integração, o primeiro adotado na América Latina, e,<br />

o seg<strong>und</strong>o preferido no contexto europeu atual. Malgrado as diferenças de ênfase,<br />

ambos conceitos e as políticas concretas a eles associa<strong>das</strong> remetem à afirmação<br />

de um identidade nacional que coincide (ou deve coincidir) com as fronteiras<br />

territoriais de cada país. Essa identidade nacional deve, seg<strong>und</strong>o seus defensores,<br />

ter precedência sobre as preferências culturais <strong>das</strong> minorias imigrantes,<br />

não se descartando medi<strong>das</strong> de incentivo ou de caráter disciplinador volta<strong>das</strong><br />

para a garantir o reconhecimento por todos do primado da identidade nacional.<br />

A idéia de integração, ainda que plenamente dominante nas discussões políticas<br />

e no discurso dos meios de comunicação sobre os imigrantes, vem sendo<br />

contestada no debate europeu sobretudo por novas contribuições empíricas e<br />

teóricas dedica<strong>das</strong> ao estudo da cultura e <strong>das</strong> identidades culturais. Conforme<br />

essa crítica, os partidários <strong>das</strong> políticas de integração baseiam-se num conceito<br />

territorial e nacionalista de cultura, sem levar em conta que as identidades contemporâneas<br />

não reproduzem, necessariamente, os vínculos com as fronteiras de<br />

um Estado-nacional determinado. No centro dessa crítica está a idéia de que as<br />

diferenças culturais são fluí<strong>das</strong> e voláteis e se articulam de acordo com as possibilidades<br />

de reconhecimento ofereci<strong>das</strong> pelo entorno social e não por meio da<br />

reprodução atávica dos vínculos de pertença a uma nacionalidade determinada.<br />

O presente artigo discute as diferenças e semelhanças entre o contexto latinoamericano<br />

na primeira metade do Século XX e a Europa contemporânea, a partir<br />

dos exemplos do Brasil e da Alemanha. As duas primeiras seções são dedica<strong>das</strong> ao<br />

estudo, respectivamente, da política de nacionalização no Brasil e da política de<br />

integração na Alemanha, considerando-se, em ambos casos, os antecedentes<br />

históricos que explicam a adoção de tais políticas. A terceira seção coteja esses<br />

dois contextos, buscando, ainda, indicar algumas linhas para a discussão crítica<br />

de políticas migratórias de caráter nacionalista.<br />

1. Brasil: racismo, mestiçagem, assimilação2 O processo moderno de constituição do auto-entendimento da nação brasileira<br />

é marcado por percalços variados, além de inflexões importantes na forma<br />

de auto-representar a identidade nacional. A transição do Império à República ao<br />

final do Século XIX é marcada, nos planos da reflexão intelectual e dos discursos<br />

políticos, pela pesada influência do racismo científico, recebido da Europa e, mais<br />

para os Estados Unidos, identificou a formação dos chamados espaços sociais transnacionais.<br />

Estes „são entendidos como novos ‚contextos sociais de interpenetração‘ (Elias). Tais contextos<br />

são espacial-geograficamente difusos e ‚de-localizados‘ e constituem, simultaneamente,<br />

um espaço social transitório que representa tanto uma importante estrutura de referências<br />

para posições e posicionamentos sociais quanto define a práxis de vida cotidiana, os projetos<br />

biográficos-(profissionais) e as identidades <strong>das</strong> pessoas, para além do contexto <strong>das</strong><br />

sociedades nacionais“ (PRIES 1996, p. 467, esta e to<strong>das</strong> as citações de textos em alemão<br />

foram traduzi<strong>das</strong> livremente pelo autor para o português).<br />

2. Essa seção retoma algumas passagens que estão aprof<strong>und</strong>a<strong>das</strong> no capítulo 6 de COSTA 2006a.


tarde dos Estados Unidos. Nesse contexto, os ideólogos f<strong>und</strong>adores da nação<br />

brasileira se viam confrontados com a dificuldade de conciliar os postulados da<br />

superioridade racial e intelectual do tipo humano de pele clara e identificado<br />

com a origem européia, com a realidade da população brasileira, caracterizada<br />

pela ampla variedade de tipos físicos e colorações de pele 3 .<br />

É sob o marco desse imaginado dilema que se constrói aquilo que se reconhecia,<br />

conforme os padrões da época, como as primeiras reflexões científicas sobre<br />

o processo de formação nacional (SCHWARCZ 1993; COSTA 2002; HOFBAUER<br />

2006). Aqui, se organizam, desde muito cedo, duas formas distintas de interpretar<br />

e aplicar, ao caso brasileiro, os novos achados da ciência racista internacional. A<br />

primeira dessas vertentes tem como seu principal expoente o médico legista<br />

Raim<strong>und</strong>o Nina Rodrigues (1862-1906) que, através de suas investigações na<br />

região do Recôncavo Baiano, buscava f<strong>und</strong>amentar sua resistência à constituição<br />

de „famílias interraciais“ 4 . A seg<strong>und</strong>a vertente, f<strong>und</strong>ada, inicialmente, sobre os<br />

trabalhos do jurista e crítico literário Sylvio Romero (1851-1914), defendia que a<br />

mescla de tipos físicos variados levaria ao branqueamento paulatino da população,<br />

vislumbrando aí as possibilidades da „regeneração racial“ dos brasileiros. De<br />

cada um desse conjunto de idéias decorriam, como se mostra abaixo, avaliações<br />

distintas do papel dos imigrantes na constituição da população.<br />

Nina Rodrigues acompanhava de perto as pesquisas da antropologia criminal<br />

italiana, capitaneada por Cesare Lombroso (1836-1909) e buscava, assim, estabelecer<br />

os nexos entre o desenvolvimento moral e o grau de „progresso biológicoracial“<br />

de cada uma <strong>das</strong> diferentes „raças“. Decorrem daí as posições de Nina<br />

Rodrigues no contexto do debate penal e jurídico da época: para ele, qualquer<br />

projeto de igualdade jurídica e política dos indivíduos pertencentes às diferentes<br />

„raças“ ignoraria o fato elementar de que, independentemente da vontade individual,<br />

negros encontravam-se impossibilitados biologicamente de atingir o grau de<br />

maturidade moral dos brancos, fato que inviabilizava sua integração, sem distinções,<br />

como cidadãos, portadores dos mesmos direitos e deveres dos brancos. Seguindo<br />

tal argumentação, Nina Rodrigues reivindicava que a imputabilidade penal<br />

fosse atribuída com base no grau de desenvolvimento biológico-moral do indivíduo.<br />

3. Por ocasião da proclamação da República, o Brasil contava com cerca de 14.333.000 habitantes,<br />

distribuídos, conforme o censo de 1890, da seguinte maneira: indígenas 440.000, brancos<br />

6.302.000, pretos 2.098.000, pardos 5.934.000. No período entre 1851-1960, o Brasil recebeu<br />

aproximadamente: 1.732.000 imigrantes provindos de Portugal, 1.619.000 da Itália, 694.000<br />

originários da Espanha, 250.000 da Alemanha, 229.000 do Japão (cf. PENA et al. 2000). Entre<br />

1551 e 1860 aportaram no Brasil cerca de 4.029.800.000 africanos escravizados, mais de<br />

40% dos pouco mais de 10 milhões de africanos trazidos para o conjunto <strong>das</strong> Américas no<br />

âmbito do tráfico negreiro (ver ALENCASTRO 2000, p. 69).<br />

4. As referências ao substantivo raça e aos adjetivos dele derivados, além de expressões<br />

correlatas como ariano, mestiço, degeneração ou regeneração racial reproduzem aqui o<br />

vocabulário dos debates da época. Já, há alguns anos, a pesquisa genética mostrou que, do<br />

ponto de vista biológico, não há elementos que possibilitem agrupar traços fenotípicos<br />

como a cor da pele, o tipo de cabelo, o formatos do nariz, etc. em grupos raciais distintos<br />

geneticamente. No uso que se faz, ainda hoje, dessas expressões, se trata de classificações<br />

culturais arbitrárias que, como se sabe, podem, em virtude do preconceito existente,<br />

apresentar conseqüências importantes para a distribuição <strong>das</strong> oportunidades sociais, bem<br />

como para as relações cotidianas (COSTA 2006a).<br />

143


144<br />

Ainda que defendesse que alguns „mestiços“ pudessem escapar ao desígnio<br />

da „degeneração“, Nina Rodrigues não acreditava que a imigração de europeus,<br />

acompanhada do sucessivo „mestiçamento“, poderia ser a solução para o „problema<br />

racial“ brasileiro. Não apoiava, por isso, os apelos de alguns de seus contemporâneos<br />

por uma imigração „regeneradora <strong>das</strong> raças“ no Brasil, a qual somada<br />

à presença dos portugueses levaria, em algumas gerações, ao completo branqueamento<br />

da população:<br />

Não acredito na unidade ou quasi unidade ethnica, presente ou futura<br />

da população brazileira, admitida pelo Dr. Sylvio Romero: não acredito<br />

na futura extensão do mestiço luso-africano a todo territorio do<br />

paiz: considero pouco provavel que a raça branca consiga fazer dominar<br />

o seu typo em toda a população brazileira. (NINA RODRIGUES<br />

1938 [1894], p. 126)<br />

Os trabalhos de Nina Rodrigues renderam no Brasil continuações em campos<br />

como a antropologia e a medicina legal, levando a que intelectuais importantes<br />

da vida nacional como Oscar Freire, Afrânio Peixoto e Artur Ramos se alinhassem<br />

em torno da chamada Escola Nina Rodrigues. Não obstante, esses seguidores<br />

buscaram, às vezes com mais, outras vezes com menos êxito, emancipar a tradição,<br />

inaugurada por Nina Rodrigues, de sua herança racista (CORRÊA 1998;<br />

HOFBAUER 2006).<br />

De fato, as idéias do autor só viriam a ser subscritas em toda sua plenitude,<br />

déca<strong>das</strong> mais tarde, pelo pesquisador nazista Heinrich Krieger (1940), para quem<br />

Nina Rodrigues foi o único pensador brasileiro a aceitar a evidência de que são<br />

necessárias intervenções legais que garantam o tratamento diferenciado no plano<br />

político e jurídico <strong>das</strong> várias „raças“. Em sua reconstrução do debate em torno<br />

do racismo científico no Brasil, Krieger se mostra enfático em condenar to<strong>das</strong> as<br />

vertentes que preconizavam a „mistura de raças“, insistindo no risco da degeneração<br />

e afirmando que a mistura não levaria a um paulatino branqueamento, mas<br />

a um rápido escurecimento da população. Discordava, por isso, de qualquer política<br />

assimilacionista que buscasse aproximar, física e culturalmente, descendentes<br />

de europeus e os demais brasileiros. Condenava, particularmente, a integração<br />

dos descendentes de alemães, pois de tal maneira estaria se „atacando um capital<br />

racial imprescindível e insubstituível“ (p. 48). No lugar de promover a integração<br />

dos alemães no seio da comunidade nacional, o projeto de Krieger envolvia uma<br />

política racial que permitisse a „formação e preservação de uma classe dirigente<br />

de brancos“ (p. 53). A essa camada branca deveria caber a condução do país e a<br />

implementação de uma política racial rígida que impedisse o „mestiçamento“.<br />

Sylvio Romero era um sôfrego leitor da bibliografia racista publicada na Europa<br />

e principalmente na Alemanha, acompanhando com especial interesse os trabalhos<br />

de Ernst Haeckel (1834-1919). Sua crença na superioridade dos brancos<br />

era inarredável, mas não era genérica. Ele buscava penetrar os meandros do<br />

racismo científico e dedicava longos trechos de seu trabalho a explicar a seus<br />

adversários a distinção entre branquicéfalos e dolicocéfalos e as razões da superioridade<br />

da „raça ariana“. O fascínio pelos „arianos“ não conhecia medi<strong>das</strong>. Admirava<br />

o „genial Bismarck“ e acreditava que a Alemanha prestava um serviço à


humanidade através de sua investida colonial na África 5 (ROMERO 1906, p. 271s).<br />

Sua defesa da „mistura racial regeneradora“ f<strong>und</strong>ava-se na crença de que qualquer<br />

perspectiva de futuro para a nação brasileira precisava enfrentar o problema<br />

no que entendia ser sua raiz última, qual seja, a fonte biológica – era preciso, numa<br />

palavra, branquear a população. Para tanto, seria necessário encontrar formas de<br />

impedir que os descendentes de europeus e os alemães, em particular, se encerrassem<br />

em grupos étnicos fechados, mas ao contrário, se espalhassem por todo o<br />

país, distribuindo seu „capital eugênico“ pelas diferentes regiões. Ele chega mesmo<br />

a propor um conjunto de medi<strong>das</strong> para forçar o convívio dos imigrantes<br />

alemães e seus descendentes com os demais brasileiros, de sorte a desencorajar<br />

os „quistos étnicos“, apressar o branqueamento e ainda afastar qualquer aventura<br />

separatista. As iniciativas sugeri<strong>das</strong> por Romero iam desde a proibição do uso da<br />

língua alemã até o estacionamento de tanques de guerra nos portos próximos às<br />

áreas de concentração de população germânica (ROMERO 1906, p. 323s).<br />

Mais tardiamente, já nos anos 1920 a 1940, Oliveira Vianna (1883-1951) retomaria<br />

a idéia da mestiçagem branqueadora, podendo ser tratado, sob tal aspecto,<br />

como um continuador explícito da obra de Sylvio Romero. Oliveira Vianna (1933)<br />

estuda em detalhe a distribuição geográfica dos diversos „grupos raciais“ que<br />

constituem a população brasileira, mostrando, através de projeções demográficas,<br />

que o branqueamento paulatino da população era fato iniludível, assente em dois<br />

processos combinados, ambos questionáveis: a imigração e a tendência dos imigrantes<br />

e seus descendentes de se casar com brasileiros, de um lado e a<br />

fec<strong>und</strong>idade maior dos brancos, por outro.<br />

A influência do racismo científico sobre os autores e discursos f<strong>und</strong>adores da<br />

nação só perderia seu ímpeto nos anos 1930 com a consolidação da ideologia<br />

nacionalista que recusava as hierarquias racistas e celebrava as virtudes do Brasil<br />

como „cadinho de raças e culturas“. Sem dúvida, o sociólogo e antropólogo<br />

Gilberto Freyre (1900-1987) é a expressão-síntese dessa nova maneira de representar<br />

a nação. Seguidor do antropólogo judeu-alemão, radicado nos Estados<br />

Unidos, Franz Boas, Freyre reconstrói a formação da nação brasileira desde a<br />

colônia (Freyre 1999 [1933]) mostrando como se verifica, nesse processo, a cons-<br />

5. Sylvio Romero, juntamente com seu estreito colaborador Tobias Barreto (1839-1889), constituía<br />

o núcleo duro da germanofilia no âmbito da chamada Escola do Recife. O fascínio de Tobias<br />

Barreto pela cultura alemã era inigualável. Irritava-o a obsessão dos brasileiros pela França,<br />

cunhando a máxima: „A Alemanha ensina a pensar – a França ensina a escrever“ (Cf. OBER-<br />

ACKER Jr. 1990, p. 274). Aprendeu alemão como auto-didata e, além de monografias, chegou<br />

a editar uma revista alemã em Recife „Der deutsche Kämpfer“, da qual era possivelmente um<br />

dos únicos leitores. Escrevia em alemão numa linguagem culta e em prosa fluente, conforme<br />

testemunham os textos originais, republicados em edição bilingue (BARRETO 1990 [1876]). Os<br />

problemas só apareciam no momento da comunicação verbal: „tão somente na sua pronúncia,<br />

não chegou a vencer, como auto-didata, uma estranha acentuação, de tal modo que os alemães<br />

tinham suas dificuldades em entendê-lo“ (OBERACKER Jr. 1990, p. 269). Polemista, acumulou<br />

mais desafetos que amigos, despediu-se do m<strong>und</strong>o doente e miserável, proferindo do leito<br />

de morte seu último pedido: „Erguei-me! Quero morrer como um soldado prussiano!“ (cf.<br />

ibid., p. 277). A abnegação de Tobias Barreto teve seu reconhecimento: emprestou seu nome<br />

à sua cidade natal e é ainda patrono de uma cadeira da Academia Brasileira de Letras, aquela<br />

ocupada por José Sarney que, na presidência da república, prefaciou a reedição <strong>das</strong><br />

Monografias em Alemão de Tobias Barreto (1990 [1876]), destacando serem suas idéias<br />

„avança<strong>das</strong> para o seu tempo e contemporâneas da nossa época“.<br />

145


146<br />

tituição de uma „brasileiridade“ como amálgama bem-sucedido dos três grupos<br />

f<strong>und</strong>adores da nação: indígenas, portugueses e africanos. Fato ainda pouco estudado<br />

no pensamento de Freyre e no discurso da mestiçagem por ele defendido<br />

são suas conseqüências xenófobas. Com efeito, a brasileiridade mestiça concebida<br />

por Freyre acaba por impor o “abrasileiramento” dos imigrantes e seus descendentes,<br />

a partir do modelo de nação assente na unidade idiomática:<br />

Seria absurdo admitirmos ao neo-brasileiro, o direito de florescer, em<br />

grupos macissos ou compactos, à parte da cultura básica e essencial do<br />

Brasil que é a luso-brasileira e a do sentimento e fórmas christãs. Seria<br />

absurdo reconhecermos no polonez ou no allemão ou no japonez o<br />

direito de aqui viver, em taes grupos, hostil ou simplesmente alheio à<br />

lingua portugueza. Por um lado, não me parece acertado exigir de qualquer<br />

neo-brasileiro naquellas condições o abandono absoluto e<br />

immediato de to<strong>das</strong> as suas tradições, de todos os seus estylos provincianos<br />

de vida (<strong>das</strong> suas provincias de origem, a grande maioria delles<br />

sendo gente do campo), de suas comi<strong>das</strong>. Valores, tantos desses,<br />

necessarios para conservar o moral daquelles neo-brasileiros na sua<br />

phase de transição de m<strong>und</strong>os velhos para um m<strong>und</strong>o novo; valores,<br />

tambem, que poderão ser incorporados com vantagem à nossa cultura<br />

e à nossa vida. Na propria conservação dos idiomas nativos pelos colonos<br />

não vejo mal nenhum mas vantagem para o Brasil, no caso de idiomas<br />

do rico conteudo cultural do allemão ou do italiano, uma vez – este<br />

é ponto que é preciso tornar bem claro – que taes idiomas se conservem<br />

não como substitutos mas como accessorios da lingua tradicional,<br />

geral e nacional do Brasil que é a lingua portugueza. O neo-brasileiro<br />

que ignora a lingua portugueza ou a conheça e não encontre nella o seu<br />

meio principal de expressão é um brasileiro incompleto, necessitado de<br />

integrar-se na nossa vida e na cultura brasileira. (FREYRE 1942)<br />

No plano político, a ideologia nacionalista da mistura de raças e culturas defendida<br />

por Freyre encontra sua materialização mais acabada na Campanha de<br />

Nacionalização implementada por Getúlio Vargas, a partir de 1938.<br />

A Campanha se encontrava vinculada a um programa mais amplo que<br />

visava a consolidar a „nacionalidade brasileira“, conforme a concepção do<br />

Ministro da Educação varguista, Gustavo Capanema. O programa incluía a<br />

constituição de um sistema escolar nacional unificado em torno do uso regular<br />

e padronizado da língua portuguesa, assim como a disseminação de<br />

supostos valores nacionais, os quais na prática compreendiam „o ufanismo<br />

verde-amarelo, a história mitificada dos heróis e <strong>das</strong> instituições nacionais e<br />

o culto às autoridades [além da] [...] ênfase no catolicismo do brasileiro, em<br />

detrimento de outras formas [considera<strong>das</strong>] menos legítimas de religiosidade“<br />

(SCHWARTZMAN et alii 1984, p. 141).<br />

Como parte desse programa nacionalizante, as ações que recebem em seu<br />

conjunto o nome de Campanha da Nacionalização foram desencadea<strong>das</strong> pelo<br />

Ministério da Guerra em janeiro de 1939 e eram volta<strong>das</strong> para „anular os inconvenientes<br />

da existência de núcleos, que não se diluem no nosso meio mas,


ao contrário, procuram se fortalecer, conservando as características dos países<br />

originais [...] [D]e todos os elementos radicados no nosso país, os mais bemorganizados<br />

são os alemães, devido ao isolamento em que procuram viver,<br />

transmitindo aos seus descendentes língua, costumes, crença, mentalidade,<br />

cultura e patriotismo“ (ofício do Ministério da Guerra, apud SCHWARTZMAN<br />

et alii 1984, p. 141).<br />

A campanha de nacionalização envolvia um esforço interministerial bastante<br />

amplo, incluindo ações nos campos da educação, da política imigratória e no plano<br />

propriamente militar. Além da unificação do currículo, a nacionalização no plano<br />

educacional envolvia a estatização do ensino básico com a desapropriação <strong>das</strong><br />

chama<strong>das</strong> escolas estrangeiras, nasci<strong>das</strong>, a propósito, do esforço <strong>das</strong> comunidades<br />

de imigrantes de suprir, historicamente, a inexistência de escolas públicas nas chama<strong>das</strong><br />

áreas de colonização estrangeira (vide FIORI 2003). Do ponto de vista legal<br />

e jurídico, as medi<strong>das</strong> adota<strong>das</strong> indicam a clara inflexão na forma de tratamento<br />

dos imigrantes que passavam a ser vistos, sobretudo, pela ótica da segurança nacional.<br />

Assim, criam-se mecanismos para permitir a triagem mais adequada daqueles<br />

que poderiam fixar residência no Brasil e para facilitar a expulsão dos considerados<br />

indesejados, tornando-se, ao mesmo tempo, mais rígidos os critérios para a naturalização<br />

de estrangeiros. Conforme o próprio „auto-retrato“ do governo Vargas, sistematizado<br />

por Capanema, os imigrantes haviam sido vistos, desde sua chegada,<br />

apenas sob a ótica da „necessidade do braço estrangeiro“, descuidando-se dos<br />

aspectos culturais e políticos implicados na imigração:<br />

Pode dizer-se que até 1930 o problema imigratório no Brasil foi tratado<br />

com erro f<strong>und</strong>amental: confiou-se demasiado na capacidade de absorção<br />

da etnia brasileira e não se cogitou de evitar a formação de núcleos<br />

coloniais com predominâncias raciais estrangeiras muito acentua<strong>das</strong>.<br />

Em consequência da formação dessas ‚colônias‘ mais ou menos homogêneas,<br />

os países emigratórios de política imperialista começaram a exportar,<br />

com os seus nacionais, as doutrinas que estes deveriam transmitir<br />

aos filhos e netos, para impedir a sua assimilação ao novo meio e,<br />

assim, facilitar futuras campanhas de anexação territoriais [...]. Daí o<br />

sentido primordial da nova legislação que pode resumir-se em poucos<br />

postulados: rigorosa seleção dos elementos estrangeiros que venham<br />

colaborar com nossa economia; sua localização, principalmente, na agricultura<br />

e nas indústrias agrícolas; composição de colônias heterogêneas<br />

do ponto de vista racial, com predominância do elemento brasileiro;<br />

distribuição de cotas imigratórias às várias nacionalidades, na proporção<br />

de sua capacidade de assimilar-se; finalmente, promoção de to<strong>das</strong><br />

as demais medi<strong>das</strong> que facilitem a fixação do imigrante no meio brasileiro.”<br />

(Arquivo Capanema, cf. SCHWARTZMAN 1983, p. 109) 6<br />

6. O próprio Vargas segue a mesma linha de interpretação ao se referir, em 1940, ao isolamento<br />

dos descendentes de alemães:<br />

„Dir-se-á que custaram muito a assimilar-se à sociedade nacional, a falar nossa língua. Mas<br />

a culpa não foi deles, a culpa foi dos governos que os deixaram isolados na mata, em<br />

grandes núcleos, sem comunicações“ (apud SCHWARTZMAN et alii 1984, p. 157).<br />

147


148<br />

No plano militar, coube às Forças Arma<strong>das</strong> no âmbito da campanha da nacionalização,<br />

a ação local voltada para impor através do envio e da presença de<br />

tropas federais nas regiões densamente povoa<strong>das</strong> por imigrantes, o primado da<br />

lealdade à pátria brasileira. Um minucioso relato de um capitão de infantaria (NO-<br />

GUEIRA 1947), enviado no escopo da campanha à cidade de Blumenau, permite<br />

vislumbrar, em detalhe, a amplitude <strong>das</strong> medi<strong>das</strong> disciplinadoras adota<strong>das</strong> pelos<br />

militares, as quais afetam absolutamente todos os âmbitos da vida cotidiana. As<br />

ações relata<strong>das</strong> pelo oficial centram-se, sobretudo, na obrigatoriedade do uso do<br />

idioma português, no combate ao associativismo de cunho étnico e na imposição<br />

do reconhecimento dos símbolos nacionais como as datas comemorativas, o<br />

hino e a bandeira 7 . Assim, o Capitão descreve, por exemplo, como o interventor<br />

federal mandou fechar mais de cem escolas em todo o Vale do Itajaí, „to<strong>das</strong> particulares,<br />

regi<strong>das</strong> por professores estrangeiros, os quais às vezes nem sabiam falar a<br />

língua pátria e por isso mesmo foram proibidos de exercer o magistério“ (p. 46s),<br />

ou como o „pernicioso jornal“ Der Urwaldbote, publicado em alemão e que, seg<strong>und</strong>o<br />

ele, chegava a tirar 85.000 exemplares diários, é fechado pelos militares (p.<br />

99s). Descreve também como a sociedade de ginástica (p. 101), a sociedade de<br />

atiradores (p. 80), as casas comerciais (p. 106) e as festividades existentes (p. 102-<br />

104) são aboli<strong>das</strong> ou refuncionaliza<strong>das</strong> para atender aos objetivos da nacionalização.<br />

Mostra também como, no âmbito dos espaços de convívio e circulação de<br />

pessoas (farmácia – p. 82s, repartições públicas – p. 87s, hospitais – p. 90, mensagens<br />

comerciais – p. 73s), vão sendo criados constrangimentos para o uso do<br />

idioma alemão 8 .<br />

Ainda que não constasse dos objetivos explícitos da campanha de nacionalização,<br />

observa-se nas ações locais dos militares descritas pelo capitão Alencar<br />

Nogueira um esforço de modificar ou abolir atividades, nas quais as relações de<br />

gênero assumiam um formato distinto do que os militares consideravam corresponder<br />

ao padrão brasileiro. Assim, o militar condena o fato de que, entre a<br />

7. O relato do capitão não faz referência direta à repressão <strong>das</strong> atividades religiosas não<br />

católicas, nem ao associativismo diretamente ou indiretamente ligado às igrejas, destacando,<br />

ainda, as boas relações entre os „ministros religiosos“ católicos e evangélicos. Essa<br />

parcimônia no tratamento <strong>das</strong> questões liga<strong>das</strong> à igreja apresenta consonância com o fato<br />

de que o governo federal não podia prescindir inteiramente do apoio <strong>das</strong> igrejas ao esforço<br />

de nacionalização (SCHWARTZMAN et alii 1984, p. 163s). No relato do capitão, há a descrição<br />

de apenas um caso de prisão e envio à capital federal de um professor que se recusara a<br />

adotar o „idioma nacional“. Sabe-se, contudo, que os casos de repressão individual direta<br />

eram freqüentes (ver RAMBO 1997a, 1997b sobre a repressão no Rio Grande do Sul).<br />

8. Vale mencionar o exemplo dos chamados fonogramas que eram uma espécie de telegrama<br />

transmitido por telefone, identificado pelos militares como „precioso instrumento para<br />

auxiliar a campanha de nacionalização“:<br />

„Um oficial designado pelo comandante, durante vários dias esteve nos escritórios [da<br />

Companhia Telefônica Catarinense], em contacto direto com os empregados e logo saía a<br />

fórmula adequada: todos os fonogramas traziam carimbada uma frase apropriada: ‚Aprenda<br />

e fale sempre a língua nacional‘. Além disso, nos telefonemas inter-urbanos, quando o<br />

chamado era feito em alemão, a telefonista insistia: ‚Fale a língua nacional para ser atendido‘ “<br />

(NOGUEIRA 1947, p. 113).<br />

No caso do serviço de correios, adotam-se providências semelhantes, carimbando-se em<br />

toda a correspondência destinada a Blumenau e às demais cidades do Vale do Itajaí „[...]<br />

com tinta lilás, a célebre frase do general Müller, ilustre militar catarinense: ‚Quem nasce no<br />

Brasil ou é brasileiro ou é traidor‘ “ (NOGUEIRA 1947, p. 113).


„elite social“ dos descendentes de alemães, separar-se e casar-se novamente era<br />

costume plenamente aceito, enfatizando, ainda, o perigo representado pelo fato<br />

de que, nas sociedades esportivas, „até as senhoras praticavam regularmente a<br />

educação física“ (p. 101, ver também p. 41). Estranha também que, nos bailes,<br />

„não são necessárias apresentações protocolares, nem permissões do esposo para<br />

que uma senhora conceda um contra-dansa [sic] a qualquer cidadão“ (p. 82). O<br />

conservadorismo do capitão com respeito às questões de gênero encontrava-se<br />

em plena consonância com a política mais ampla de formação da nacionalidade,<br />

capitaneada por Gustavo Capanema. Em várias manifestações públicas, programas<br />

de governo e projetos de lei, o principal formulador da ideologia varguista<br />

buscava assegurar que a mulher não extrapolasse seus papéis de mãe e esposa, de<br />

sorte a garantir a estabilidade do núcleo familiar. Assim, seu Plano Nacional de<br />

Educação de 1937 propõe um currículo de ensino médio especial para meninas<br />

entre 12 e 18 anos e que se destinava a prepará-las para a „vida no lar“. De forma<br />

similar, o estatuto da família, também idealizado por Capanema, determinava em<br />

seu artigo 13 que „às mulheres será dada uma educação que as torne afeiçoa<strong>das</strong><br />

ao casamento, desejosas da maternidade, competentes para a criação dos filhos<br />

e capazes da administração da casa“ (SCHWARTZMAN et alii 1984, p. 112). O<br />

artigo 14, por sua vez, definia que „não poderão as mulheres ser admiti<strong>das</strong> senão<br />

aos empregos próprios da natureza feminina, e dentro dos estritos limites da convivência<br />

familiar“ (ibid., ver também MARTINEZ-ECHAZÁBAL 1998) 9 .<br />

O argumento geralmente utilizado para legitimar e justificar uma campanha<br />

de nacionalização tão extensa e intensiva é da ordem da segurança nacional.<br />

Isto é, ao buscar reprimir os laços dos imigrantes, sobretudo alemães, com a<br />

pátria de origem e buscar fortalecer, entre esses, a lealdade ao Brasil, a campanha<br />

se prestaria a conter o avanço <strong>das</strong> idéias e <strong>das</strong> organizações partidárias<br />

nacional-socialistas nas regiões de concentração de imigrantes 10 . Essa justificativa,<br />

entretanto, encontra, hoje, cada vez menos respaldo nos estudos sobre a<br />

imigração alemã, os quais mostram que o chamado perigo nazista no sul do<br />

Brasil foi claramente inflado e exagerado com o fim explícito de justificar a repressão<br />

sobre os descendentes de alemães. Ainda que não seja tese consensual,<br />

é amplamente aceita entre os historiadores do período a assertiva de que o<br />

objetivo principal da campanha não era outro senão dif<strong>und</strong>ir a ideologia nacio-<br />

9. Curiosamente, as supostas diferenças entre a mulher brasileira e alemã são usa<strong>das</strong> por<br />

Maack (Os alemães no sul do Brasil: o ponto de vista alemão, 1939, apud SCHWARTZMAN et<br />

alii 1984, p. 159), quando busca justificar, como porta-voz dos descendentes de alemães, o<br />

fato de que estes preferiam os casamentos com descendentes de alemães:<br />

„Como os filhos de colonos alemães cedo descobriram a relutância da mulher brasileira em<br />

se dispor ao trabalho físico, foram forçados a procurar esposas tão dispostas ao trabalho<br />

quanto eles. Daí a maior parte dos casamentos se fazerem quase que exclusivamente entre<br />

alemães ou pessoas de origem alemã ou mais raramente, com colonos poloneses e italianos,<br />

os quais também não tinham relutância ao trabalho.“<br />

10. O temor ao „perigo alemão“ já havia se manifestado por ocasião da Primeira Guerra M<strong>und</strong>ial,<br />

quando foram registrados ataques a sociedades recreativas e a estabelecimentos comerciais<br />

de teuto-brasileiros e escolas e jornais „estrangeiros“. As medi<strong>das</strong> adota<strong>das</strong> pelo Estado<br />

foram, contudo, muito menos abrangentes que aquelas adota<strong>das</strong> duas déca<strong>das</strong> depois.<br />

Assim, após o fim da Primeira Guerra, os clubes, jornais e escolas teuto-brasileiros puderam,<br />

rapidamente, se reestruturar e até aprof<strong>und</strong>ar suas atividades (SEYFERTH 2003, p. 53ss).<br />

149


150<br />

nalista do Estado Novo e „aculturar“ e „assimilar“ os imigrantes à nacionalidade<br />

brasileira, nos termos como a identidade nacional era definida no governo Vargas<br />

(ver SEYFERTH 1997). Assim, Rambo (1997a, 1997b), ao analisar os relatórios que<br />

documentam toda a investigação da polícia do Rio Grande do Sul sobre o tema,<br />

mostra que o „perigo nazista“ se restringia a algumas poucas pessoas e organizações<br />

identifica<strong>das</strong> e conheci<strong>das</strong> da polícia e não a um tipo de preferência política<br />

definida pela pertença étnica 11 :<br />

A maioria dos episódios continha, de fato, um potencial de periculosidade<br />

nada desprezível. Todos eles, contudo, se limitavam a grupos<br />

ou circunstâncias perfeitamente localiza<strong>das</strong> e identifica<strong>das</strong>. A polícia<br />

tinha instrumentos para neutralizá-los em sua ação. De outra parte,<br />

oitenta a noventa por cento da população de teuto-brasileiros encontrava-se<br />

fora do alcance e da influência exercida pelos postos<br />

avançados do nazismo. (RAMBO 1997b, p. 111)<br />

Também Geertz (1998, p. 12) mostra que, mesmo no caso de Santa Catarina,<br />

onde „os integralistas efetivamente venceram na quase totalidade dos municípios<br />

típicos de colonização alemã nas eleições municipais de 1936“, não se constata<br />

uma identificação expressiva da população com o nazismo. Isto é, o apoio ao<br />

integralismo pode ser explicado por razões de ordem interna da política brasileira<br />

e não pela identificação imediata pelos eleitores descendentes de alemães entre<br />

nazismo e integralismo. 12<br />

Apesar de sua extensão e intensidade, a campanha da nacionalização<br />

não levou ao desaparecimento da etnicidade teuto-brasileira que, conforme<br />

constata com acuidade Seyferth (1994, p. 23) „se atualizou, mantendo alguns<br />

identificadores culturais e descartando outros“. F<strong>und</strong>amentalmente,<br />

observa-se que o ataque à infra-estrutura comunicativa que permitia a preservação<br />

do uso da língua conforme a norma culta levou ao abandono do<br />

idioma ou ao recurso à „variedade dialetal local“, a qual podia prescindir dos<br />

meios de transmissão da cultura letrada como jornais, livros, etc., então proibidos<br />

(ALTENHOFEN 2004, p. 84). Destituídos do idioma, os teuto-brasileiros<br />

elevam a procedência como o traço identificatório f<strong>und</strong>amental. Desde en-<br />

11. A interpretação de Seyferth (2003, p. 55ss) sobre o vínculo entre os teuto-brasileiros e o<br />

nazismo parece particularmente esclarecedora. Mesmo reconhecendo a intensa atividade dos<br />

diretórios do NSDAP no sul do Brasil, a autora mostra que a influência nazista não altera o<br />

princípio f<strong>und</strong>amental de constituição da etnicidade teuto-brasileira f<strong>und</strong>ada na lealdade ao<br />

vínculo cultural com a Alemanha e à lealdade de cidadania ao Brasil, país tratado como pátria<br />

(Heimat). Recusavam, assim, a tratar o Brasil como país-anfitrião (Gastland), conforme esperava<br />

o nacional-socialismo dos Volksdeutschen (membros do povo alemão) que viviam no Brasil.<br />

12. Salta aos olhos que em todo o minucioso relato do Capitão Alencar Nogueira sobre as ações<br />

militares no Vale do Itajaí não há nenhuma prova f<strong>und</strong>amentada de vínculo direto da<br />

população-alvo da campanha com o nazismo. As acusações do capitão são basea<strong>das</strong><br />

unicamente no fato de que a população falava alemão o que, para ele, provava sua inclinação<br />

para o nacional-socialismo. A descrição abaixo referente a uma visita dos militares a um<br />

jardim de infância é, nesse sentido, exemplar:<br />

„Muitos dos garotinhos não falavam uma só palavra em lingua portuguesa, demonstração<br />

eloquente de que tanto em casa como na escola, encontravam um ambiente favorável ao<br />

desenvolvimento do nazismo“ (NOGUEIRA 1947, p. 115).


tão, „a ‚origem‘ alemã é a qualidade étnica f<strong>und</strong>amental, etnocentricamente<br />

associada a um ethos do trabalho simbolizado pela colonização” (SEYFERTH<br />

1994, p. 23, ver também SEYFERTH 2002).<br />

Várias déca<strong>das</strong> após a campanha de nacionalização, a presença de descendentes<br />

de imigrantes principalmente no Sul do Brasil ganhou, hoje, novos significados<br />

e novas formas de tratamento político. Assim, ao lado do explícito apoio do<br />

Estado à recuperação e reinvenção de festividades de caráter étnico (FLORES<br />

1997), busca-se, atualmente, através da combinação de esforços de organizações<br />

não governamentais articula<strong>das</strong> transnacionalmente e de governos locais, estaduais<br />

e diferentes ministérios estimular o multilinguismo no país, no sentido de<br />

rejuntar, pelo menos em parte, os cacos deixados pela era <strong>das</strong> políticas nacionalistas<br />

(OLIVEIRA 2005).<br />

2. Alemanha contemporânea:<br />

discriminação, Leitkultur, integração<br />

Diferentemente do padrão brasileiro de constituição nacional, seg<strong>und</strong>o o<br />

qual, espelhando o modelo francês, o que unifica a nação é o projeto comum de<br />

futuro, o princípio de pertença inscrito no auto-entendimento da nação alemã,<br />

é referido ao passado. Ou seja, a nação, seguindo a origem romântica sobre a<br />

qual está assente, é concebida, na história alemã, como o povo unificado pela<br />

cultura e pela ancestralidade comuns. Desse modo, a nação vai sendo construída<br />

imaginariamente como ligadura idealizada, capaz de reconciliar a natureza<br />

individual idiossincrática de cada um de seus membros com o coletivo<br />

nacional, supostamente predestinado à vida em comunidade (ver GIESEN 1999,<br />

p. 178). Esse tipo de construção simbólica da nação, ao não prever a possibilidade<br />

de incluir membros não portadores da ancestralidade alemã, acarreta, ao<br />

longo da história, um conjunto importante de conseqüências para a coexistência<br />

entre „nacionais“ e imigrantes e seus descendentes. As dificuldades, como se<br />

mostra abaixo, podem ser observa<strong>das</strong> tanto no âmbito <strong>das</strong> relações cotidianas<br />

quanto <strong>das</strong> políticas de imigração.<br />

Ainda que a literatura sobre imigrantes na Alemanha se concentre, de forma<br />

geral, no período pós-guerra, a história da imigração e <strong>das</strong> políticas imigratórias<br />

começa muito antes disso. Assim, em 1910 já trabalhavam no chamado Reino da<br />

Alemanha 1,26 milhões de trabalhadores estrangeiros, provenientes f<strong>und</strong>amentalmente<br />

de regiões da Polônia, Austria-Hungria e Rússia, o que fazia do país importante<br />

empregador de trabalhadores estrangeiros. Não obstante, prevalece no<br />

período anterior à Primeira Guerra M<strong>und</strong>ial, a política de contratação de trabalhadores<br />

por tempo limitado e para setores específicos, enquanto a saída de emigrantes,<br />

em on<strong>das</strong> sucessivas, funcionava como „válvula social“, na medida em<br />

que permitia que, nos momentos de baixa performance econômica e de crescimento<br />

<strong>das</strong> taxas de desemprego, parte da população afetada deixasse o país,<br />

evitando crises sociais de maior amplitude (cf. HA 2003, p. 67).<br />

No período subseqüente, o movimento de imigrantes na Alemanha é determinado,<br />

f<strong>und</strong>amentalmente, pelas guerras. Assim, durante a Primeira Guerra, órgãos<br />

públicos e empresas priva<strong>das</strong> recorrem amplamente ao trabalho compulsó-<br />

151


152<br />

rio de estrangeiros, mantidos em regime de semi-escravidão. No período entreguerras,<br />

o perfil dos imigrantes se modifica radicalmente, uma vez que há um forte<br />

declínio da contratação de trabalhadores estrangeiros e um dramático crescimento<br />

de fugitivos e asilados políticos provenientes, sobretudo, <strong>das</strong> regiões que<br />

formariam a União Soviética.<br />

Durante a Seg<strong>und</strong>a Guerra, estima-se que a Alemanha chegou a contar com 10<br />

milhões de trabalhadores forçados na economia de guerra, os quais em parte deveriam<br />

suprir a saída dos „membros do povo alemão“ (Volksdeutschen), enviados sistematicamente<br />

para o Leste europeu com o objetivo de ocupação da região. As<br />

conseqüências da Seg<strong>und</strong>a Guerra para os movimentos populacionais perduram<br />

após o fim do conflito e até pelo menos 1950, período em que cerca de 12 milhões<br />

de sobreviventes dos campos de concentração, prisioneiros de guerra e outros<br />

„desplaçados“ buscam (re)encontrar seu lugar de residência (OLTMER 2005).<br />

Com a divisão da Alemanha no período pós-guerra, desenvolvem-se duas<br />

histórias distintas da imigração. A República Democrática Alemã, além de asilados<br />

políticos reduz o recrutamento de estrangeiros a migrantes de uns poucos países,<br />

basicamente, Polônia, Vietnã e Moçambique, sendo que o total de imigrantes em<br />

todo o período de existência da Alemanha socialista não chega a ultrapassar a<br />

casa dos 1% do total da população. Eram, basicamente, imigrantes temporários,<br />

tratados como trabalhadores individuais vinculados a uma unidade de produção<br />

específica e sobre os quais pesava uma rígida disciplina e um duríssimo controle<br />

do Estado. Eram impedidos, por exemplo, de mudar sua ocupação ou mesmo<br />

de constituir família: quando uma estrangeira engravidava „prevaleciam como<br />

alternativas ou o aborto ou a deportação“ (BADE / OLTMER 2004).<br />

A República Federal Alemã se vê envolvida nos anos que se seguem à Seg<strong>und</strong>a<br />

Guerra, inicialmente, com a absorção de milhões de „desplaçados“, deportados<br />

e fugitivos políticos, entre esses, mais de 3 milhões de alemães orientais que<br />

buscaram asilo na Alemanha capitalista até 1961, quando, então, é construído o<br />

Muro de Berlim como forma de conter a perda de população pelo país socialista.<br />

A partir de meados da década de 1950, com a retomada do crescimento econômico,<br />

tem início a política de recrutamento de mão de obra estrangeira, através de<br />

acordos bilaterais com os países dos quais saíam os trabalhadores, quais sejam: Itália<br />

(1955), Espanha e Grécia (1960), Turquia (1961), Marrocos (1963), Portugal (1964),<br />

Tunísia (1965), Iugoslávia (1968). Os imigrantes que ingressaram no país, no âmbito<br />

de tal política de recrutamento, eram tratados como trabalhadores temporários<br />

(Gastarbeiter), esperando-se que esses regressassem a seu país de origem, tão logo<br />

deixassem de ser necessários para a economia alemã ou pudessem ser substituídos<br />

por nova leva de contratados, num idealizado sistema de rotação.<br />

Não obstante, tal rotatividade não se dá na forma esperada, de sorte que a<br />

maior parte dos Gastarbeiter permanece no país, juntando-se a eles, mais tarde, os<br />

demais membros da família que, porventura, tivessem ficado no país de origem<br />

(REISSLANDT 2005). Esse sistema de recrutamento de trabalhadores estrangeiros<br />

torna-se objeto de pesa<strong>das</strong> críticas, <strong>das</strong> quais se destacam duas.<br />

A primeira crítica diz respeito à preferência da Alemanha pelos imigrantes europeus<br />

e a recusa explícita ou velada de imigrantes provenientes da Ásia e da<br />

África. Schönwälder (2004) estuda os debates políticos que acompanham a defi-


nição <strong>das</strong> diretrizes imigratórias até o começo dos anos 1970, destacando, por<br />

exemplo, como no caso da contratação de trabalhadores portugueses, temendose<br />

a vinda de trabalhadores <strong>das</strong> colônias portuguesas, informa-se às autoridades<br />

de Portugal que „German employers were not interested in dark-skinned workers“<br />

(p. 250). A orientação racista dos agentes estatais responsáveis pelo recrutamento,<br />

explícita nesse caso, era na maior parte <strong>das</strong> vezes enunciada de modo menos<br />

evidente, conforme constata Schönwälder (2004, p. 250):<br />

Non-Europeans in particular were seen as potential permanent immigrants.<br />

But it is also hardly deniable that the ideas about the mentalities,<br />

character, life style, attitude to work etc. of Asians and Africans in<br />

general played a part in such reasoning and that their assumed characteristics<br />

were seen as incompatible with German values and patterns<br />

of life. The common term ‚Afro-Asians‘ itself illustrates how people<br />

of rather different origins were merged in one category which was<br />

then ascribed particular characteristics.<br />

A seg<strong>und</strong>a crítica ao sistema de recrutamento dos Gastarbeiter está relacionada<br />

com o foco exclusivamente econômico da política adotada, gerando o<br />

paradoxo celebrizado na frase irônica do escritor suíço Max Frisch: „Nós queríamos<br />

trabalhadores mas recebemos pessoas“ (apud ANNAN 2004, p. 14s). Ou<br />

seja, a lógica do sistema dos Gastarbeiter era contratar braços para responder à<br />

demanda de um mercado de trabalho em expansão, sem qualquer política<br />

orientada para promover o bem estar do imigrante (HA 2003). A orientação<br />

utilitarista e economicista da política migratória, de alguma maneira defendida<br />

ainda hoje na Alemanha, têm conseqüências extremamente danosas para os<br />

próprios imigrantes e suas famílias e para o conjunto da sociedade alemã, na<br />

medida em que projeta um modelo de sociedade, no qual todos estão integrados<br />

ao sistema econômico como trabalhadores e consumidores, mas uma parcela<br />

significativa da população está excluída, por definição do sistema político e<br />

dos sistemas de interação e convivência social da sociedade majoritária. Voltaremos<br />

a esse ponto mais adiante.<br />

Em 1973, a recessão econômica motivada pela crise do petróleo leva o governo<br />

alemão a suspender a política pública de recrutamento de trabalhadores. Desde<br />

então, os imigrantes que entram no país são, f<strong>und</strong>amentalmente, familiares dos imigrantes<br />

vindos nas fases anteriores, asilados políticos, trabalhadores contratados individualmente,<br />

além, obviamente, da imigração não legalizada, sobre a qual não há<br />

cifras precisas. 13 A tabela 1 abaixo fornece um quadro da evolução absoluta e proporcional<br />

da população estrangeira na Alemanha nas últimas déca<strong>das</strong>, enquanto a tabela<br />

2 indica a composição por país de origem da população de imigrantes.<br />

13. Cabe também destaque aos portadores da cidadania alemã que viviam nas antigas repúblicas<br />

soviéticas e nos demais países do leste europeu e que se mudam para a Alemanha com a<br />

derrocada do socialismo. Ainda que não constem nas estatísticas como estrangeiros, esses<br />

chamados „Spätaussiedler“ enfrentam, muitas vezes, problemas de incorporação à sociedade<br />

alemã semelhantes àqueles enfrentados pelos demais imigrantes. No período de 1987 a<br />

1999, o número de imigrantes que entram no país na condição de „Spätaussiedler“ chega a<br />

2,7 milhões ().<br />

153


154<br />

Fonte: Statistisches B<strong>und</strong>esamt, Ausländerregister e B<strong>und</strong>esamt für Migration <strong>und</strong> <strong>Flüchtlinge</strong><br />

* População estrangeira se refere aqui a habitantes que, independentemente do local de<br />

nascimento, não possuem a nacionalidade alemã.<br />

**O salto demográfico no período em 1981 e 1991 se deve à reunificação <strong>das</strong> duas Alemanhas<br />

em 1990.<br />

*** A queda absoluta e relativa do número de população estrangeira entre 2001 e 2005 é<br />

atribuída a mudanças na forma de apuração dos dados e não a um efetivo declínio no número<br />

de estrangeiros.<br />

Tabela 2<br />

Composição da população estrangeira por nacionalidade e<br />

local de nascimento – República Federal da Alemanha, 2005<br />

País da<br />

nacionalidade<br />

Nascidos na Alemanha<br />

(em mil habitantes)<br />

Tabela 1<br />

População total e estrangeiros na República Federal da Alemanha<br />

em anos selecionados<br />

Ano População total População estrangeira Participação de<br />

(em mil habitantes) (em mil habitantes)* estrangeiros (em %)<br />

1951 50809 506 1,0<br />

1961 56175 686 1,2<br />

1971 61503 3439 5,6<br />

1981 61719 4630 7,5<br />

1991** 80275 5882 7,3<br />

2001 82440 7319 8,9<br />

2005*** 82438 6756 8,2<br />

Nascidos fora da Alemanha<br />

(em mil habitantes)<br />

Total (em mil<br />

habitantes)<br />

Turquia 604 1160 1764<br />

Itália 162 379 541<br />

Sérvia e Montenegro 123 370 493<br />

Polônia 14 313 327<br />

Grécia 85 224 310<br />

Outros países 397 2923 3320<br />

Total 1385 5371 6756<br />

Fonte: Statistisches B<strong>und</strong>esamt, Ausländerregister e B<strong>und</strong>esamt für Migration <strong>und</strong> <strong>Flüchtlinge</strong><br />

O crescimento do número de imigrantes ao longo <strong>das</strong> déca<strong>das</strong> de 1960 e 1970<br />

indicado na Tabela 1 motiva, a partir de meados dos anos 1970, e mais efetivamente<br />

ao longo dos anos 1980, um crescente debate público e no âmbito <strong>das</strong><br />

esferas governamentais em torno da presença dos imigrantes no país, abrindo<br />

espaço para discursos nacionalistas e políticas protecionistas visando restringir o


acesso de estrangeiros ao mercado de trabalho alemão. Assim, tanto o governo<br />

liberal-democrata no começo dos anos 1980, quanto o governo democrata-cristão<br />

do Chanceler Helmut Kohl, a partir de 1983, buscam manter e ampliar as<br />

diretrizes restritivas da política migratória, basea<strong>das</strong> f<strong>und</strong>amentalmente na „manutenção<br />

da suspensão do programa de contratações, na restrição à entrada de<br />

familiares de imigrantes e no fomento da disposição de retorno dos imigrantes [a<br />

seus países de origem]“ (REISSLANDT 2005).<br />

Até os anos 1990, faltava, portanto, qualquer sinalização política clara de que<br />

os imigrantes eram benvindos no país e que poderiam, de algum modo, ser integrados<br />

política, cultural e simbolicamente à uma nação, cujo laço de pertença<br />

primordial não fosse mais a ancestralidade. Timidamente, tal possibilidade começa<br />

a despontar em alguns dos debates políticos dos anos 1990 que, espelhando as<br />

discussões e políticas de reconhecimento multicultural verifica<strong>das</strong> particularmente<br />

no Canadá e, na Europa, no Reino Unido e nos Países Baixos, busca construir e<br />

valorizar a imagem da Alemanha como nação multicultural (LEGGEWIE 2004). O<br />

apelo ao país multicultural, contudo, nunca chegou a se tornar hegemônico,<br />

enfrentando a resistência tanto dos partidos e movimentos notoriamente de direita,<br />

quanto do próprio conjunto de forças do centro do espectro político. Para<br />

a direita, a Alemanha não podia e não pode perder suas características etnoculturais,<br />

devendo, para tanto, simplesmente renunciar aos imigrantes 14 .<br />

Mais ao centro, vai se articulando o projeto que se tornaria hegemônico, qual<br />

seja, aquele que enfatiza a necessidade da „integração dos estrangeiros“ e de sua<br />

conversão a valores apresentados como constitutivos da nação e do Estado alemães,<br />

basicamente: o respeito à constituição, o dever de enviar os filhos à escola<br />

e a igualdade de direitos entre homens e mulheres.<br />

O campo de debates e ações concretas que se articula em torno da idéia de<br />

integração não é homogêneo ou uniforme, contendo em seu interior desde setores<br />

que defendem claras políticas assimilacionistas até setores mais moderados<br />

que acreditam que a integração de imigrantes é compatível com um certo grau<br />

de atendimento de deman<strong>das</strong> de natureza etno-culturais. Entre os usos mais<br />

assimilacionistas da idéia de integração, encontram-se os que defendem que a<br />

adaptação dos imigrantes à cultura hegemônica alemã (deutsche Leitkultur) deve<br />

representar, em última instância, o critério para definir se um estrangeiro pode ou<br />

não permanecer no país (ver OBERNDÖRFER 2001). Ainda que o discurso da<br />

„Leitkultur“ tenha perdido seu apelo político, parece-me que o padrão de „política<br />

14. Esse desejo ficou expresso de forma trágica e triste nos atentados contra os centros de<br />

triagem de candidatos a asilo político dos anos 1992-1993 em cidades da antiga Alemanha<br />

oriental e que contaram com o apoio tácito ou explícito de boa parte da população local. Ao<br />

mesmo tempo, contudo, os ataques covardes aos candidatos a asilo foram repudiados por<br />

sucessivas passeatas e manifestações públicas, as quais representaram a maior mobilização<br />

cívica da Alemanha do pós-guerra até então (BÖCKER / THRÄNHARDT 2003).<br />

Um exemplo recente de como a imagem do país „racial“ e etnicamente homogêneo persiste<br />

entre a direita alemã foi proporcionado pelo Partido Nacional-Democrático da Alemanha<br />

(NPD) na véspera da Copa do M<strong>und</strong>o de Futebol em 2006. Em um de seus cartazes, o partido<br />

exibia o tronco do jogador negro Patrick Owomoyela, com o uniforme da seleção acompanhado<br />

dos dizeres: „Branco – cor não apenas do uniforme. Por uma equipe verdadeiramente NACIONAL“<br />

(„Weiß - nicht nur eine Trikotfarbe - Für eine echte NATIONAL-Mannschaft“; taz 01/04/06).<br />

155


156<br />

de integração“ que vem sendo implementado, hoje, é, conforme se mostra abaixo,<br />

bastante tributário da idéia de que existe uma cultura nacional hegemônica, à<br />

qual o estrangeiro deve procurar se integrar.<br />

A coalizão verde-socialdemocrata que governou o país entre 1998 e 2005,<br />

procurou, conforme seus próprios termos, produzir uma inflexão positiva no debate<br />

sobre imigração, propondo o pleno reconhecimento de que a Alemanha é,<br />

hoje, um Einwanderungsland, isto é, um país claramente marcado pela presença<br />

de imigrantes (WENGELER 2006) 15 . Algumas medi<strong>das</strong> importantes foram<br />

introduzi<strong>das</strong> nesse período, sendo a principal delas a mudança nas regras para a<br />

concessão da cidadania alemã. Abandona-se, nesse momento, o princípio do „ius<br />

sanguinis“ em favor do direito de solo, isto é, desde janeiro de 2000, crianças que<br />

nascem na Alemanha, filhos de pais de estrangeiros e cuja mãe ou pai vive no país<br />

há pelo menos 8 anos, passam a ser portadoras da nacionalidade alemã.<br />

Para além <strong>das</strong> mudanças planeja<strong>das</strong> pelo governo, foi o 11 de setembro de<br />

2001 que produziu a inflexão real nos discursos e, de algum modo, nas políticas<br />

volta<strong>das</strong> para a imigração na Alemanha. Depois dos atentados nos Estados Unidos,<br />

organizados e executados com o apoio da célula terrorista de Hamburgo,<br />

medos e paranóias latentes se tornaram públicos, produzindo on<strong>das</strong> de franca<br />

xenofobia e de hostilidade aberta contra os imigrantes, sobretudo os muçulmanos<br />

(ATES 2006). Desse modo, o temor da Überfremdung, isto é, da sobreestrangeirização<br />

da Alemanha, e o apelo por um maior controle social sobre os<br />

estrangeiros, tornaram-se eixos f<strong>und</strong>amentais do debate em torno da imigração:<br />

Entre uma ordem claramente baseada nos direitos de cidadania e os<br />

defensores de uma formação estatal restritiva, autoritária e com ênfase<br />

na segurança, a tendência é que o pêndulo pese para a seg<strong>und</strong>a direção.<br />

(TRAUTMANN 2006, p. 149)<br />

O clamor por mais segurança e mais controle sobre os estrangeiros apresentou<br />

impactos evidentes sobre as políticas de imigração e integração adota<strong>das</strong> a<br />

partir desse período. Assim por um lado, cresceu a vigilância sobre os imigrantes,<br />

principalmente muçulmanos, verificando-se que tanto a polícia quanto o organismo<br />

de monitoramento e proteção do Estado de Direito (Verfassungsschutz), criado<br />

no pós-guerra como anteparo a uma eventual ameaça à ordem pela direita<br />

nacionalista, vem dedicando parte importante de seus esforços à fiscalização da<br />

população e <strong>das</strong> organizações muçulmanas, mesmo aquelas com objetivos claramente<br />

compatíveis com os princípios constitucionais (SCHIFFAUER 2006).<br />

No plano <strong>das</strong> políticas de integração propriamente ditas, adota-se um conjunto<br />

de medi<strong>das</strong> com o fim explícito de disciplinar as preferências culturais dos<br />

15. O reconhecimento político da condição da Alemanha como Einwanderungsland é, em face<br />

dos próprios desenvolvimentos demográficos, tardio, já que, dada a composição etária da<br />

população de imigrantes em relação à população autóctone, to<strong>das</strong> projeções indicam um<br />

aumento rápido e crescente da chamada população com Migrationshintergr<strong>und</strong>, ou seja<br />

com histórico de imigração conforme a expressão politicamente correta cunhada para<br />

caracterizar pessoas cuja mãe e/ou cujo pai não nasceu na Alemanha e/ou não possui a<br />

nacionalidade alemã. Entre as crianças menores de 5 anos residentes na Alemanha, 32% do<br />

total apresentam histórico de imigração, cifra que chega a mais de 60% em cidades maiores<br />

como Nuremberg, Frankfurt sobre o Meno e Stuttgart (SPIEWAK 2007).


imigrantes, fortalecendo a identificação desses com a „cultura alemã“ e os supostos<br />

„valores políticos nacionais“. Exemplos desse tipo de política são os chamados<br />

cursos de integração, cuja freqüência é obrigatória para quem deseja se naturalizar<br />

ou receber certos benefícios do Estado social. Nesses cursos, ensina-se a língua<br />

alemã e aspectos da vida, da história e da cultura do país, conforme expresso<br />

na própria legislação que os regulamenta:<br />

O curso se presta a:<br />

1. Aquisição de conhecimentos suficientes da língua alemã [...].<br />

2. Transmissão de conhecimentos cotidianos como também conhecimentos<br />

sobre a ordem legal, a cultura e a história na Alemanha, em especial<br />

também dos valores do Estado democrático da República Federal<br />

da Alemanha e dos princípios do Estado de Direito, igualdade de tratamento,<br />

tolerância e liberdade religiosa.<br />

(Integrationsverordnung, B<strong>und</strong>esgesetzblatt, ano 2004, parte I no. 68,<br />

publicado em Bonn em 17 de dezembro 2004).<br />

De forma similar, os discursos políticos e a simbologia que recobrem a atuação<br />

dos governos federal e estaduais no campo da imigração e integração, vêm sendo<br />

igualmente pautados pela idéia do primado da cultura nacional e da língua<br />

alemã. Assim, por exemplo, na chamada Primeira Cúpula Nacional da Integração<br />

(Nationaler Integrationsgipfel) que reuniu a Chanceler Merkel e lideranças <strong>das</strong><br />

organizações de imigrantes, agentes da economia, dos meios de comunicação e<br />

outras organizações civis em julho de 2006, decidiu-se que se elaboraria um programa<br />

que coordenasse as diversas ações na área da integração, dando ao programa<br />

o nome de Plano Nacional de Integração (Nationaler Integrationsplan) 16 .<br />

Também nos pronunciamentos <strong>das</strong> autoridades responsáveis pelo relacionamento<br />

com imigrantes, a ênfase no nacional está sempre presente, definindo-se a priori o<br />

que se entende efetivamente por nacional. Vale aqui, como exemplo, a posição do<br />

Secretário do Interior da Bavária, Günter Beckstein:<br />

Quando culturas distintas convivem, existe o perigo do surgimento de<br />

sociedades paralelas. Nesse caso há a grande ameaça de que a vida<br />

comum se torne uma vida de uns contra os outros. Eu me reporto<br />

aqui aos exemplos da sociedade americana com suas black cities e<br />

Chinatows, mas também aos Banlieus na França e aos subúrbios ingleses<br />

[...]. Quando falo de cultura hegemônica [Leitkultur], não me refiro<br />

ao conceito que causa mal-entendido [...]. Nós temos na Alemanha<br />

16. A seg<strong>und</strong>a cúpula nacional da integração que teve lugar em julho de 2007 teve seu prestígio<br />

arranhado pela recusa de quatro organizações representantes dos imigrantes turcos em tomar<br />

parte no evento. A recusa buscava dar forma ao repúdio <strong>das</strong> organizações à nova legislação<br />

contra estrangeiros aprovada pouco antes da conferência e que determina que „esposas que<br />

queiram se juntar a seus maridos turcos residentes na Alemanha têm que ter pelo menos 18<br />

anos e saber pelo menos 200 a 300 palavras de alemão“ (DROBINSKI 2007, p. 2). A intenção do<br />

legislador com o dispositivo é inibir o casamento arranjado e impedir que as imigrantes, por não<br />

saber alemão, fiquem isola<strong>das</strong> e indefesas diante da opressão masculina. As organizações<br />

representantes de imigrantes, contudo, consideram que a legislação fere a constiuição e é<br />

etnicamente discriminatória, na medida em que, por exemplo, „americanos e japoneses estão<br />

excluídos <strong>das</strong> regras mais duras de imigração de suas cônjuges.“ (PRANTL 2007, p. 11).<br />

157


158<br />

não só que observar a ordem legal-formal, mas também a ordem de<br />

valores que é a base da primeira ordem. (Zeitonline 41/2005)<br />

Também a ênfase no aprendizado da língua alemã é, muitas vezes, exagerado,<br />

sugerindo-se o abandono da língua materna, como fez, recentemente o Ministro<br />

do Interior Wolfgang Schäuble em diálogo público com um jovem pai turcoalemão,<br />

residente em Berlim. O Ministro se mostra interessado em saber porque o<br />

jovem escolheu uma mulher da Turquia para se casar e aconselha que juntamente<br />

com a esposa, que ainda não falava alemão, abrissem mão do idioma turco na<br />

comunicação com a filha:<br />

O Senhor tem que cuidar agora para que sua esposa aprenda direito o<br />

alemão e fale alemão com sua filha. (DIE ZEIT, Leben, 31/05/2007)<br />

Esse tipo de definição prévia do que é o ‚nacional‘ e quem são os seus portadores<br />

e a sugestão de que falta disposição dos estrangeiros para se ‚integrar‘, que têm<br />

lugar na política institucionalizada, encontra correspondência na cobertura dos<br />

meios de comunicação de massa de questões liga<strong>das</strong> à imigração. Predominam<br />

na cobertura, conforme mostra o estudo detalhado de Eder/Rauer/Schmidtke<br />

(2004), a identificação dos imigrantes com situações-problema (desemprego, fracasso<br />

escolar) e a indicação de que a insuficiente integração decorre da baixa<br />

identificação do imigrante com os valores da sociedade nacional.<br />

Conforme os autores esse tipo de representação, ao invés de proporcionar a<br />

efetiva integração, afasta os imigrantes da sociedade majoritária, na medida em<br />

que os torna mero objeto no lugar de sujeito da política e cristaliza as fronteiras<br />

simbólicas que separam os incluídos e os excluídos da comunidade nacional. No<br />

lugar de grupos estanques separados por linhas identificatórias rígi<strong>das</strong>, a integração<br />

precisaria ser pensada, conforme os autores, como um processo dinâmico de<br />

negociação política, no qual a definição do que é a pertença e o nacional não são<br />

definidos de antemão, mas no âmbito <strong>das</strong> próprias interações sociais:<br />

Integração não deveria mais ser pensada como um processo unilateral<br />

de adaptação e internalização dos parâmetros que valem na sociedade<br />

majoritária. Cabe, na verdade, conectar a auto-percepção dos imigrantes,<br />

suas construções identitárias e orientações para a ação com<br />

as exigências e expectativas defini<strong>das</strong> e comunica<strong>das</strong> pela sociedade<br />

majoritária. A idéia que f<strong>und</strong>a os modelos de integração predominantes<br />

e que postula a existência de formas de identidade coletivas relativamente<br />

estáveis e defini<strong>das</strong> pela tradição, não faz jus ao fato de que<br />

identidade é sempre o resultado de processos públicos de negociação.<br />

(EDER et alii 2004, p. 273s).<br />

3. À guisa de conclusão: convergências e indagações<br />

As diferenças entre as políticas volta<strong>das</strong> para imigração no Brasil dos anos<br />

1930 e 1940 e a Alemanha contemporânea são seguramente gigantescas e provêm<br />

não só da distância cronológica entre os dois contextos visitados, mas também<br />

da própria natureza distinta <strong>das</strong> dinâmicas de constituição da nação nos dois


países. Só mesmo uma comparação sistemática dos dois contextos que fosse baseada<br />

em estudo muito mais aprof<strong>und</strong>ado que a aproximação sumária feita no presente<br />

artigo, poderia indicar, efetivamente, onde se encontram as diferenças e<br />

similitudes entre os dois contextos.<br />

Não obstante, saltam aos olhos algumas convergências, que não deixam de<br />

ser irônicas, na medida em que, no contexto brasileiro, os alemães eram objeto de<br />

algumas <strong>das</strong> políticas nacionalizantes que seus compatriotas buscam, hoje,<br />

implementar na Alemanha. Gostaria de destacar, particularmente, dois pontos<br />

comuns entre as políticas migratórias no Brasil e na Alemanha, a saber: i) a crença<br />

no primado da identidade nacional como eixo articulador da integração e ii) a<br />

utilização <strong>das</strong> relações de gênero como critério de diferenciação entre o nós (a<br />

nação) e eles (os imigrantes, genericamente).<br />

Tanto a campanha da nacionalização brasileira quanto as medi<strong>das</strong> de<br />

integração adota<strong>das</strong> atualmente na Alemanha estão basea<strong>das</strong> na idéia de que<br />

existe um conjunto de valores e formas de vida que emana da história nacional<br />

para constituir a identidade nacional, entendida como o cimento simbólico que<br />

une os diferentes indivíduos que fazem parte da nação. O elemento mais visível<br />

desse substrato cultural correspondente à nação seria o idioma comum a ser<br />

reconhecido por todos os que desejam fazer parte da nação ou residir no âmbito<br />

dos limites territoriais do Estado-nação em questão. A justificativa para a importância<br />

da aquisição do idioma no caso da campanha de nacionalização é meramente<br />

simbólico-afetiva, isto é, esquecer o idioma de origem representaria a prova<br />

da adesão e sua lealdade à nova pátria. No caso alemão, usa-se adicionalmente<br />

o argumento da igualdade de oportunidades, isto é, quem não sabe o ‚idioma<br />

nacional‘ teria mais dificuldade de se integrar ao mercado de trabalho, interagir<br />

com o entorno social, etc. – argumento, diga-se, nem sempre plausível 17 . Tanto no<br />

caso brasileiro, como no caso alemão, o aprendizado do novo idioma não é<br />

apresentado como ganho cultural adicional, mas como imposição e, muitas vezes,<br />

como substitutivo para a língua materna.<br />

Também em ambos os casos, os imigrantes são apresentados nos discursos<br />

públicos como ameaça à segurança, aos valores e aos modos de vida nacionais<br />

(ver GHADBAN 2003). Nessas representações os imigrantes aparecem, de forma<br />

genérica e indiferenciada, como um bloco mais ou menos homogêneo, onde<br />

diferenças individuais pouco contam. To<strong>das</strong> essas circunstâncias operam não em<br />

favor da integração, entendida como um crescente processo de interpenetração<br />

e interação entre grupos de pessoas que se apresentam como separa<strong>das</strong>. Ao contrário:<br />

separam, por completo, aquilo que supostamente se quer juntar.<br />

Algo similar se dá com as construções de gênero. Essas são utiliza<strong>das</strong> como<br />

17. O exemplo do conselho do ministro do interior ao jovem turco mencionado acima é expressivo.<br />

Nada indica que uma criança, que aprendesse alemão com a mãe não fluente no idioma<br />

poderia ter melhores oportunidades sociais que uma criança que aprendesse turco com a<br />

mãe turca e, mais tarde, na escola, alemão. Sobretudo quando, como é o caso, o local de<br />

residência é o bairro de Kreuzberg em Berlim, região habitada por uma expressiva população<br />

de origem turca e onde boa parte do comércio e da prestação de serviços requer o idioma<br />

turco, as chances da criança bilingüe seriam obviamente maiores e não menores que as<br />

chances da criança monoglota no alemão, preferida pelo ministro.<br />

159


160<br />

marca identitária, de sorte a fazer dos padrões observados no grupo definido<br />

como ‚o outro da nação‘, a prova mesma de que não pertencem à comunidade<br />

nacional. No Brasil, são as relações igualitárias verifica<strong>das</strong> entre homens e mulheres<br />

de descendência alemã que supostamente os fariam diferentes da nação. Na<br />

Alemanha contemporânea, ocorre o inverso, ou seja, supõe-se que a igualdade<br />

de oportunidades para ambos os gêneros é traço que define a nacionalidade<br />

alemã e dificulta a integração, sobretudo, dos muçulmanos, já que esses estariam<br />

impedidos, por suas convicções religiosas, de reconhecer homens e mulheres<br />

como portadores dos mesmos direitos. O que não se leva em conta, nessa forma<br />

de argumentar, é que a igualdade entre homens e mulheres não é traço étnico do<br />

‚povo alemão‘, mas conquista política <strong>das</strong> lutas feministas que se encontra inscrita<br />

na constituição do país e na legislação européia, tendo, portanto, efeito vinculante<br />

para todos que vivam no território da União Européia. Há, portanto, mecanismos<br />

efetivos para impor o respeito à igualdade de homens e mulheres a todos, independentemente<br />

<strong>das</strong> supostas preferências culturais de grupos determinados.<br />

De todo modo, na forma como vêm sendo conduzida, as políticas que deveriam<br />

promover a igualdade de gênero entre a população muçulmana têm servido,<br />

na maior parte dos casos, para estigmatizar as muçulmanas e aumentar a opressão<br />

sobre elas. Assim, quando se proíbe as professoras primárias, como acontece<br />

em alguns estados federados da Alemanha, de cobrir suas cabeças com o véu<br />

muçulmano, mesmo quando estas declaram utilizá-lo por vontade e arbítrio próprios,<br />

não se está produzindo igualdade de oportunidades, mas restringindo a<br />

liberdade individual e o acesso às oportunidades sociais 18 .<br />

Cabe, por fim, destacar que as políticas de assimilação no Brasil e de integração<br />

na Alemanha têm em comum o fato de partirem de uma noção de cultura como<br />

totalidade homogênea e da idéia de que a identidade étnica individual é uma<br />

entidade que existe, independentemente <strong>das</strong> situações efetivas de contato social.<br />

Isto é, os formatos de políticas de assimilação ou integração planejados têm como<br />

premissa a idéia de que alguém que possa ser identificado como alemão ou descendente<br />

de alemão, no caso brasileiro, ou como turco ou descendente de turco<br />

na Alemanha, apresentará invariavelmente um conjunto de preferências culturais<br />

e disposições para se comportar conforme um modelo próprio a essas unidades<br />

culturais: a identidade alemã, a identidade turca. Contra essa concepção,<br />

autores como Hall (1992), Gilroy (2001, 2004, 2005) e Pieterse (2004, 2007) vêm<br />

defendendo um conceito dinâmico de cultura, o qual descarta tanto a homogeneidade<br />

<strong>das</strong> culturas nacionais quanto a referência à identidade étnica como<br />

um estoque prévio de disposições e preferências culturais. Conforme essa noção<br />

dinâmica de cultura, as identidades culturais são formas provisórias e contingentes<br />

de articulação de uma determinada posicionalidade circunstancial no bojo<br />

de uma relação particular. Isto é, a identidade individual e do grupo não é pré-<br />

18. O primeiro levantamento representativo sobre o tema preparado pela F<strong>und</strong>ação Konrad<br />

Adenauer, ligada ao partido democrata-cristão, mostra que a expressiva maioria <strong>das</strong><br />

muçulmanas investiga<strong>das</strong> declara portar o véu exclusivamente por vontade própria e que<br />

não percebem o hábito como reprodução da opressão masculina. Não obstante, se sentem<br />

como cidadãs de seg<strong>und</strong>a classe na Alemanha, não por conta da opressão religiosa, mas<br />

pela discriminação contra estrangeiras e estrangeiros (DIE ZEIT 14/09/2006).


política, mas sim definida a partir <strong>das</strong> informações e possibilidades de reconhecimento<br />

comunica<strong>das</strong> pelo entorno social, num momento determinado e diante<br />

de uma situação específica.<br />

As alusões a identidades culturais nacionais, religiosas, regionais, etc. contam<br />

na medida em que constituem formas estabeleci<strong>das</strong> e socialmente dif<strong>und</strong>i<strong>das</strong> de<br />

organização discursiva de um repertório complexo e muito variado de atitudes,<br />

formas de comportamento, disposições morais, etc. Nesse sentido, referências,<br />

por exemplo, a turcos, brasileiros, alemães, muçulmanos, europeus têm importância<br />

para o convívio intercultural não porque definem a priori disposições identitárias<br />

coletivas e individuais que necessariamente se reproduzirão, como uma programação<br />

cultural inescapável, nas situações efetivas de interação, mas sim porque<br />

pré-determinam expectativas <strong>das</strong> partes e obrigam os envolvidos a se posicionar<br />

em relação a elas. Nesse sentido, as políticas nacionalistas de assimilação como<br />

aquelas que se verificaram no Brasil ou de integração como aquelas que vêm<br />

sendo observa<strong>das</strong> na Alemanha, operam como sistemas de referências externas<br />

que podem levar os grupos que supostamente deveriam integrar, a, reativamente,<br />

buscar petrificar as fronteiras culturais que os definem como grupo. Isto é, quando<br />

os sinais externos indicam o risco da estigmatização e conotação negativa <strong>das</strong><br />

marcas culturais atribuí<strong>das</strong> ao grupo, os laços internos são fortalecidos e as barreiras<br />

identitárias que supostamente deveriam ser atenua<strong>das</strong> são, na verdade,<br />

recria<strong>das</strong>, recodifica<strong>das</strong> e fortaleci<strong>das</strong>. Conforme mostrado, assim se deu no caso<br />

dos teuto-brasileiros que, mesmo perdendo sua vida associativa e seu idioma – o<br />

que seguramente representou uma perda para todo o país –, reconstituíram sua<br />

etnicidade através de outros marcadores identitários. Em que medida o mesmo<br />

pode estar se dando na Alemanha, sobretudo com relação à população muçulmana<br />

– permanece ainda uma questão aberta.<br />

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Prof. Dr. Sérgio Costa se formou em Ciências Econômicas e Sociologia pela Universidade<br />

Federal de Minas Gerais e obteve o doutorado e a livre docência em sociologia pela<br />

Universidade Livre de Berlim. É pesquisador do Centro Brasileiro de Análise e Planejamento<br />

(CEBRAP, São Paulo) e, atualmente, professor visitante da Universidade de Flensburg,<br />

Alemanha (2006-2007). Suas áreas de pesquisa, publicação e atuação profissional são<br />

sociologia política, sociologia comparativa e teoria social contemporânea. Seus temas de<br />

especialização são democracia e diferenças culturais, racismo e anti-racismo, movimentos<br />

sociais e política transnacional.<br />

163


Muro de Berlim, Alemanha, 2002<br />

Foto: Adri Felden/Argosfoto; incluída na exposição itinerante Berlim, Berlin, exibida em 2006 em<br />

São Paulo (Instituto Martius-Staden), Valinhos, Sto. André, Florianópolis, em 2007 em Apucarana.


Bahnhof Zoo<br />

„Nós sempre teremos Berlim“<br />

(Estação Ferroviária<br />

Central em Berlim, ao lado<br />

do Jardim Zoológico)<br />

Porque os trens estão<br />

fugindo de Berlim e as pessoas<br />

querem chegar sem sair, elas se<br />

beijam. Meninos, meninas,<br />

meninos/meninas, meninas/<br />

meninos se babam e se lambem<br />

às cãibras. E se puxam sem<br />

pular nas portas que fecham<br />

esmagando biscoitos e bengalas.<br />

Os cães emocionados<br />

enforcam-se nas correntes. Os<br />

perus dos sanduíches incham<br />

nos traficantes. Bufam locomotivas<br />

impacientes. Não há apito<br />

que faça parar as despedi<strong>das</strong>.<br />

Pan<strong>das</strong>, jacarés e falcões<br />

chacoalham as grades, enquanto<br />

carregadores solitários<br />

encoxam bagagens.<br />

(Berlim Ocidental<br />

Alemanha – 1998)<br />

Os turcos<br />

Fernando Bonassi<br />

São Paulo<br />

Textos escritos durante o período de vigência da bolsa de artes do DAAD, em 1998.<br />

Quando Suleyman pousou em<br />

Berlim o muro já tinha desaparecido.<br />

Chegou ofegando de tanto<br />

correr daquela aldeia onde se<br />

tropeça na entrada e se cai<br />

depois da saída. Na época pensou<br />

que os alemães falavam sózinhos<br />

porque era o seu jeito de pensar.<br />

Não tinha visto muitas pessoas até<br />

então, mas sabia que poderiam<br />

ser muito diferentes de um lugar<br />

pro outro. Agora, no seu trailer<br />

de donners, procura se vigiar.<br />

Vendendo os sanduíches mais<br />

baratos de Kreuzberg, já sabe que<br />

a Alemanha não está falando<br />

sozinha porque pensa, mas que é<br />

quase o contrário disso.<br />

(Berlim Ocidental<br />

Alemanha 1998)<br />

Despojos de guerra<br />

O pai de Karin foi preso bem no dia 7 de maio de 1945. Ela tinha seis<br />

meses. Os soviéticos queriam a forra de Leningrado sem vergonha e o<br />

mandaram pra Sos’va. Ninguém soube o que ele fez, a ponto de envergar<br />

to<strong>das</strong> as unhas pra sempre. No dia em que ele voltou, 10 anos depois, com os<br />

últimos prisioneiros que Adenauer foi buscar em Moscou, a mãe de Karin<br />

tinha ido drenar pântanos perto de Oth-Marschen. Quando Karin viu aquele<br />

homem parado na porta, foi logo oferecendo um prato de comida, pois era o<br />

certo de fazer com estranhos na época. (Hamburgo – Alemanha – 1998)<br />

165


166<br />

Um caminhão de coisas<br />

Eduardo está morando à beira de um dos maiores anéis viários de<br />

Berlim. O final e começo de quatro ou cinco rodovias enovelam-se<br />

bem embaixo da sala. Por isso mudou-se pra lá, sublocando os dois<br />

outros cômodos. Há um corredor que leva aos quartos, direto da<br />

porta de entrada. Assim, mal vê as pessoas que vivem na casa. Toda<br />

noite, ao chegar do trabalho, sai pra varanda e senta-se na poltrona<br />

que passa os dias sob sol e chuva. Há tempos esse móvel deixou de ser<br />

„apenas encardido“. Eduardo fica ali, tomando sopa de copinho,<br />

deixando aqueles caminhões de coisas encherem sua cabeça.<br />

(Berlim Ocidental – Alemanha – 1998)<br />

Intriga internacional<br />

Tensão no Aeroporto de Hamburgo. Esquadrão de bombas<br />

interdita Terminal 4 com 6 cães farejadores, 85 homens, 12 Opel<br />

Astra com 1 mês de uso e 9 caminhões de bombeiros. O fluxo é<br />

interrompido até Alsterkrugchaussee, onde 3 UTIs móveis ficam de<br />

motor ligado. Fitas amarelas e vermelhas estendi<strong>das</strong> em toda área.<br />

Policiais bilíngües evacuam turistas. Atrás do escudo blindado, um<br />

agente ajoelha-se e aponta detetor de metais pras 2 malas<br />

abandona<strong>das</strong>. Quando o velho distraído e de sorvete na mão<br />

aparece pra buscá-las, todos querem matá-lo... de mentirinha.<br />

(Hamburgo – Alemanha – 1998)<br />

São Petersburgo 1998<br />

Durante o cerco de Leningrado, Yuri gostava do inverno por<br />

três razões: parava os alemães, alguma coisa chegava pela trilha do<br />

Ladoga congelado e os cadáveres deixavam de feder. Enquanto<br />

esperavam por isso, a mãe de Yuri lhe dava um cinto pra chupar.<br />

Era uma época em que as pessoas morriam tanto que estavam<br />

sempre se despedindo. Yuri e sua mãe também comeram outras<br />

coisas que não eram exatamente de comer... mas ele não quer falar<br />

sobre seu pai. O que importa é que pelo menos os dois sobraram e<br />

hoje Yuri nem liga que suas calças fiquem caindo.<br />

(Colonia – Alemanha – 1998)


História da fotografia alemã<br />

No dia quinze de agosto de mil novecentos e sessenta e um, o<br />

soldado da então República Democrática da Alemanha, Hans<br />

Conrad Schumann, nascido na Seg<strong>und</strong>a Guerra M<strong>und</strong>ial, sai<br />

correndo de Berlim Oriental, cruza a chamada „terra de ninguém“,<br />

solta o fuzil, põe o pé direito na cerca de arame farpado que logo<br />

virará muro, é fotografado pra História, pisa com pé esquerdo em<br />

Berlim Ocidental, à época Alemanha Federal, sorri, é abraçado e<br />

continua correndo até o dia vinte de junho de mil novecentos e<br />

noventa e oito, quando enforca-se no jardim de casa, em Kipfenberg,<br />

já Alemanha Reunificada.<br />

(Berlim Ocidental/Berlim Oriental<br />

Alemanha – 1998)<br />

A margaridinha<br />

O que está faltando?<br />

Se Klaus e Andrea começam bem o dia, é quase certo que não<br />

vão chegar do mesmo modo até a noite. Em alguma daquelas<br />

dezesseis ou dezessete horas que permanecem acordados, qualquer<br />

coisa desconhecida que parte de um ofende o outro<br />

insuportavelmente e vice-versa. Começam a conversar sobre cores<br />

de tulipas, cartões de crédito, filosofias pessoais baratas ou<br />

refina<strong>das</strong> e, num seg<strong>und</strong>o, pronto... tudo azeda. Claro que jamais<br />

houve qualquer gesto violento entre eles. Nem um tapa, empurrão,<br />

nada. Klaus e Andrea querem saber se é isso que está faltando.<br />

(Iserlohn – Alemanha – 1998)<br />

Werner está há dois dias no banheiro de sua casa em Wilmersdorf.<br />

Com uma lanterna na mão, foca uma certa margaridinha do azulejo, a<br />

meia altura do chão. Os azulejos são cobertos com essas<br />

margaridinhas, de forma que manter a atenção bem naquela já está<br />

lhe dando dor de cabeça. Ele tem certeza que ela se move quando<br />

não está vendo. Como ninguém o estava levando a sério, resolveu<br />

tirar a coisa a limpo. Não pode sair pra nada. Se for pegar comida na<br />

cozinha ou mesmo uma lata de cerveja, ele tem certeza que a maldita<br />

margaridinha vai mudar de lugar.<br />

(Berlim Ocidental – Alemanha – 1998)<br />

167


168<br />

Snow Board<br />

Há tanta gente se acabando na região de Hintertux que ninguém<br />

mais acredita em acidente. Em Munique os pais desesperados trancam<br />

seus filhos, quebram e incendeiam as pranchas. É verdade que snow<br />

board nunca matou assim na Alemanha. Pra piorar, os cadáveres<br />

congelam enrodilhados nas árvores, dando maior trabalho à polícia.<br />

Legistas garantem que trata-se de fato inédito. Um inquérito é aberto em<br />

cima do outro sem fim... mas simplesmente não se consegue descobrir o<br />

que está fazendo os moleques lançarem-se <strong>das</strong> montanhas desse jeito.<br />

(Munique – Alemanha – 1997)<br />

Meus caros amigos<br />

Jasper está entregando<br />

pizzas com a 250. Malu<br />

aprende alemão a frases<br />

vistas. Marcelo arrumou um<br />

namorado economista. Marc<br />

não quer mais pintar quadros<br />

sem coisas pulando pra fora<br />

da tela. Osvaldo tem uma<br />

coreografia pronta e agora<br />

tenta convencer bailarinos a<br />

trabalharem de graça.<br />

Adriana demitiu-se.<br />

Suleyman finalmente comprou<br />

mostarda americana<br />

pros sanduíches. Christian<br />

conseguiu a tradução russa<br />

do Pequeno Príncipe. Lore<br />

está se desintoxicando e<br />

acabou com os meus<br />

Lexotans. Preciso comprar<br />

chinelos, passar Minâncora<br />

nas espinhas e ter mais<br />

paciência.<br />

(Berlim Ocidental<br />

Alemanha – 1998)<br />

Mentindo sinceramente<br />

William comprou um álbum<br />

cheio de fotografias no mercado<br />

de pulgas de Münster. Pagou<br />

120 marcos, mas até pagaria<br />

mais. Aquilo era „um verdadeiro<br />

documento“. Depois começou a<br />

tentar entender quem era<br />

quem: casou pares abraçados,<br />

matou velhos que desapareciam<br />

no meio e fez <strong>das</strong> senhoras<br />

<strong>das</strong> últimas páginas, aquelas<br />

meninas <strong>das</strong> primeiras. Agora<br />

mostra o álbum e diz que são<br />

seus próprios antepassados. Pra<br />

cada um inventa uma história.<br />

Afinal todos acabam inventando<br />

uma história e, dessa forma,<br />

pelo menos William acredita<br />

estar mentindo sinceramente.<br />

(Münster<br />

Alemanha – 1998)


Cinderela<br />

Jacira mora em Suape. Müller mora em Donauwörth. Jacira<br />

tem apenas 15 anos, mas já é puta velha. Müller tem apenas 32 anos<br />

mas já está cansado de procurar mulher. Jacira põe foto no book<br />

de uma agência de viagens no centro de Recife. Müller tira duas<br />

semanas de férias na fazenda do pai. A foto de Jacira é copiada e<br />

viaja por cima do Atlântico. Müller escolhe a foto em Stuttgart.<br />

Müller e mais 120 homens vêm num vôo charter, desde Frankfurt.<br />

Jacira vai encontrar Müller no hotel. Eles têm cinco dias acertados.<br />

No sexto se casam e vão pra Baviera plantar batata.<br />

(Munique – Alemanha – 1998)<br />

Vacas Distraí<strong>das</strong><br />

Moritz está remetendo uma carta muito bem circunstanciada à<br />

companhia de eletricidade da Alemanha, especificamente ao setor<br />

de energia eólica. Além da exposição de motivos, dividida em,<br />

introdução, os fatos, as conseqüências e conclusão, segue anexo<br />

relatório da produção anual de leite <strong>das</strong> sete vacas holandesas<br />

desde 1995. É que depois que começaram a instalar esses enormes<br />

ventiladores a beira da sua fazenda em Delmenhorst, elas estão<br />

dando menos 890 mililitros por cabeça/dia e ele tem certeza que<br />

essas malditas pás giratórias estão distraindo seus bichos.<br />

(Dortm<strong>und</strong> – Alemanha – 1998)<br />

Energia Elétrica<br />

Maximiliam cresceu sob o signo da energia elétrica, ou falta dela.<br />

Durante a Guerra as luzes eram apaga<strong>das</strong> bem no momento em<br />

que mais se precisava. Bombardeiros não perderiam a chance.<br />

Quando os Russos fecharam Berlim, com as hidrelétricas do outro<br />

lado... bem, só de madrugada. Todos aproveitavam freneticamente<br />

aquelas duas horas passando roupa ou ouvindo rádio. Agora que a<br />

conta está incluída no aluguel do apartamento, deixa to<strong>das</strong> as luzes<br />

acesas. Só não sabe dizer se é pra compensar o tempo perdido, ou<br />

porque, depois de velho, ficou com medo de escuro.<br />

(Berlim Oriental – Alemanha – 1998)<br />

169


170<br />

Cena brasileira<br />

(2007)<br />

É o cruzamento<br />

da pressa com a falta<br />

de tempo. O encontro<br />

do ser com o<br />

nada; o entroncamento<br />

da fome de<br />

passar com a vontade<br />

de correr. E subitamente<br />

pára. É quase<br />

nada. O cidadão se<br />

aproxima lentamente<br />

do semáforo fechado.<br />

O outro se aproxima<br />

lentamente do<br />

farol aberto. É um sinal<br />

para os dois. Um<br />

que pousa o pé contra o acelerador, fazendo quatrocentos cavalos turbinados<br />

mamarem petróleo no motor niquelado. O outro com essa fome que não é de<br />

hoje e nem sabe de onde vem. Uma falta de carne, de gordura, de óleo. Comeria<br />

os quatrocentos cavalos grelhados, com pão e molho vinagrete. Há entre eles um<br />

alarme teleguiado por emissões de on<strong>das</strong> curtas, que haverá de informar um<br />

„sinistro em andamento“ na empresa de „segurança“. A empresa de segurança<br />

contratada é longe. Num lugar sinistro perto de onde o outro mora, quando vai<br />

pra casa. Um mora com o conforto <strong>das</strong> cercas eletrifica<strong>das</strong>; o outro com a luz<br />

cortada por falta de pagamento. Tem documento sim. Qualquer bandido tem. O<br />

cidadão também. Ninguém é melhor que ninguém, em tese. Tese mesmo nenhum<br />

deles fez, que um e outro não estão preocupados, ou pensando, nessas coisas.<br />

Quanto a „ter mesmo“, um, de todo modo, tem bem mais que o outro. Se vê pelas<br />

carcaças: uma blindada na estrutura sobre pneus reforçados na cintura, a outra,<br />

um esqueleto de osso duro espetado e esmagado contra os muros do m<strong>und</strong>o. Na<br />

cabeça, cabelos alisados e tratados ou abandonados pra crescer enroscados à<br />

bel prazer. Genericamente são iguais. A lei é para todos, mas nem todos têm como<br />

servir-se dos tribunais de injustiça. Os dois lados são ambos, mas são contrários,<br />

estão apontados quando se encontram. Um se acredita intocável escondido em<br />

seu automóvel, o outro apostando de peito aberto na crença do corpo fechado.<br />

Não têm o que dizer e não se falam. De um lado o cidadão faz que não, abanando<br />

a mão como quem não quer comprar nem doar o que quer que seja. O outro não<br />

está pedindo, mas mandando, ou exigindo, o que pensa que é seu. Há uma arma<br />

no meio do caminho. Um tem muito o que lembrar, outro quer mais é esquecer. A<br />

blindagem da cabine é de nível dois. A arma nas mãos do outro é de nível três. Os<br />

técnicos não estão ali para dizer se o nível é baixo, alto ou quem é melhor que o<br />

outro nessa história. Cada vida vale a mesma tristeza. Seria um drama patético,<br />

Foto: Guilherme Nascimento


não fosse trágico desfecho anunciado, pois é bom avisar desde logo que esse é<br />

um caso de vida ou morte, por mais que tentemos evitá-las. Pode até ser que um<br />

tente esconder seu calibre por trás de flores murchas, brinquedos importados de<br />

povos escravizados ou mesmo fabricados pelo outro, tranqüilo em seu carro do<br />

ano. Ele não acha que é com ele, por mais que o outro aponte aquela coisa<br />

indubitável na direção hidráulica em que se encontra. Ele disfarça e faz que não.<br />

O outro diz que sim, ainda que o primeiro não o ouça. Que ele quer aquele relógio<br />

dourado no pulso do outro, já que ele mesmo só tem uma fitinha do Bonfim que<br />

teima em ficar pregada atrasando os seus desejos. O outro olha as horas, preocupado<br />

nos compromissos. O compromisso do outro é com o „agora mesmo“.<br />

Aquele sentado pensa em investir alguma coisa pra ter um pouco mais depois,<br />

quando estiver descansando. Mas isso não vai acontecer.<br />

Não haverá mais esse tempo quando, por exemplo, o outro pressiona<br />

o gatilho...<br />

Apesar de não querer, o fato é que ele sente um frio na espinha com o barulho<br />

esquisito na vidraça estilhaçada, depois um calor agudo na testa enrugada de<br />

preocupações inadiáveis e, agora, inaudíveis. Porque fica surdo, depois fica cego<br />

e morre em poucos seg<strong>und</strong>os, agarrado ao seu Rolex.<br />

A procedência do referido relógio é desconhecida até pelos parentes que o<br />

receberam de herança. O outro sumiu.<br />

Fim<br />

Fernando Bonassi nasceu em São Paulo, em 1962. É roteirista de cinema e TV, dramaturgo,<br />

cineasta e escritor de diversas obras, entre elas Um Céu de Estrelas; Subúrbio; Crimes<br />

Conjugais; 100 Histórias Colhi<strong>das</strong> na Rua; O Amor é Uma Dor Feliz; Uma Carta Para Deus;<br />

Vida da Gente; O Céu e o F<strong>und</strong>o do Mar; 100 Coisas; Declaração Universal do Moleque<br />

Invocado e São Paulo/Brasil, estes últimos ambos finalistas do Prêmio Jabuti nos seus anos<br />

de lançamento. Em 2003 publicou a novela Prova Contrária e em 2005 o romance O Menino<br />

que se Trancou na Geladeira, ambos pela Editora Objetiva. É co-roteirista de filmes como Os<br />

Matadores (de Beto Brant); Através da Janela (de Tata Amaral); Castelo Ra Tim Bum (de<br />

Cao Hamburguer); Carandiru (de Hector Babenco – Prêmio TAM do Cinema Brasileiro para o<br />

melhor roteiro adaptado de 2003); Garotas do ABC (de Carlos Reichenbach), Cazuza (de<br />

Sandra Werneck – Prêmio TAM do Cinema Brasileiro para o melhor roteiro adaptado de 2004).<br />

Em 2006 é co-autor, com o cineasta chinês Yu Lik Way, do roteiro da co-produção Brasil/China<br />

Plastic City. No teatro, destacam-se as montagens de Preso Entre Ferragens (dirigida por<br />

Eliana Fonseca); Apocalipse 1,11 (em colaboração com o Teatro da Vertigem); Três Cigarros e<br />

a Última Lasanha (com Renato Borghi e direção de Débora Dubois); Souvenirs (dirigida por<br />

Márcio Aurélio); Arena Conta Danton com a Cia. Livre de Teatro e a encenação do fragmento<br />

Estilhaços de São Paulo, no espetáculo Megalopolis do Theater der Klänge (Stuttgart,<br />

Alemanha). Tem diversos prêmios como roteirista no Brasil e no exterior, além de obras literárias<br />

adapta<strong>das</strong> para o cinema e textos em antologias na França, Estados Unidos e Alemanha. O<br />

romance Subúrbio teve os direitos comprados pelo Deutsches Schauspielhaus de Hamburgo.<br />

A adaptação teatral estreou no dia 04 de abril de 1998. Nesse mesmo ano, foi vencedor da bolsa<br />

do Künstlerprogramm do DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst). Desde 1997 é<br />

colunista do jornal Folha de São Paulo.<br />

171


Käthe Kollwitz: A Marcha dos Tecelões (Weberzug; 1897)<br />

Renina Katz: Retirantes (xilogravura, do álbum Antologia Gráfica, 1948-56)<br />

Autvis, Brasil, 2007


Käthe Kollwitz e<br />

o meio artístico brasileiro:<br />

recepção e ressonância<br />

Eliana de Sá Porto De Simone<br />

Heidelberg<br />

Resümee: Das Werk der Käthe Kollwitz hat weit über den deutschsprachigen<br />

Raum hinaus gewirkt. In Brasilien fand schon<br />

1933 die erste Begegnung damit statt, anlässlich einer Ausstellung<br />

in dem Clube dos Artistas Modernos in São Paulo.<br />

Im selbem Jahr verfasste der Kunstkritiker Mário Pedrosa<br />

den Essay As tendências sociais da arte e Käthe Kollwitz. Beides<br />

zusammen, Ausstellung <strong>und</strong> Essay, entfalteten eine<br />

beachtliche Wirkung auf die brasilianische Kunstszene<br />

wegen eines zunehmenden Interesses am sozialen Charakter<br />

der Kunst <strong>und</strong> einer Aufwertung der Graphik. Es<br />

war zu dieser Zeit, <strong>das</strong>s die erste Generation moderner<br />

graphischer Künstler begann, sich in Brasilien zu entwikkeln.<br />

Diese Tendenzen <strong>und</strong> Einflüsse sind im Werk von<br />

Künstlern wie Lívio Abramo (1903-1992), Carlos Scliar<br />

(1920-2001) <strong>und</strong> Mário Gruber (*1927) zu erkennen sowie<br />

bei Renina Katz (*1926), deren Arbeit thematisch <strong>und</strong><br />

ästhetisch vielleicht am auffälligsten durch Käthe Kollwitz<br />

geprägt worden ist.<br />

Abstract: The repercussion of Käthe Kollwitz’ oeuvre has far overreached<br />

the German-speaking world. In Brazil, the first<br />

contact with it occurred yet in 1933, on the occasion of<br />

an exhibition in the Clube dos Artistas Modernos in São<br />

Paulo. In the same year the art critic Mário Pedrosa wrote<br />

the essay As tendências sociais da arte e Käthe Kollwitz.<br />

Both, the exhibition and the essay, displayed a considerable<br />

effect on the Brazilian art scene due to an increasing<br />

interest in the social character of art and a valorization of<br />

graphic arts. It was during this time that the first generation<br />

of modern graphic artists began to evolve in Brazil.<br />

These tendencies and influences can be recognized in<br />

the oeuvre of artists like Lívio Abramo (1903-1992), Carlos<br />

Scliar (1920-2001) and Mário Gruber (*1927) as well as in<br />

Renina Katz (*1926), whose work has possibly been influenced<br />

most noticeably by Käthe Kollwitz in terms of thematic<br />

and aesthetic figuration.<br />

173


174<br />

Introdução<br />

Pontos de aproximação entre a arte alemã e o meio brasileiro já se fizeram<br />

notar desde o século XIX, seja através da ação dos chamados „artistas viajantes<br />

ou itinerantes“ (como ficaram conhecidos os artistas que acompanharam as expedições<br />

científicas alemãs e austríacas da primeira metade do século XIX), seja<br />

através da ação direta de artistas atuantes no Brasil como August Müller (1815-<br />

1883), Johann Georg Grimm (1846-1887) ou Thomas Driendl (1849-1916).<br />

No início do século XX, artistas do modernismo também tiveram importantes<br />

pontos de tangência com a arte alemã. Para Anita Malfatti, por exemplo, os anos<br />

da estadia em Berlim foram decisivos para sua formação, onde entre outros, estudou<br />

com o artista Lovis Corinth (1858-1925). A passagem de Emiliano Di Cavalcanti<br />

pelo atelier de Georg Elpons (1865-1939) em São Paulo, embora de maneira menos<br />

central, também demonstra essa questão. Lasar Segall (1891-1957), nascido<br />

na Lituania e naturalizado brasileiro em 1927, viveu vários anos na Alemanha e<br />

trouxe ao Brasil uma bagagem artística fortemente ligada ao Expressionismo, particularmente<br />

à vertente do movimento Die Brücke, de Dresden, do qual o artista<br />

fora um dos f<strong>und</strong>adores.<br />

Uma circunstância peculiar caracteriza a recepção e a ressonância da obra de<br />

Käthe Kollwitz no Brasil, iniciada nos anos 30 do século XX, pois não houve contato<br />

direto entre os artistas brasileiros e a artista alemã. Assim, a divulgação de sua<br />

obra pelos intelectuais Mário Pedrosa, Mário de Andrade e Flávio de Carvalho,<br />

determinou importante fonte de inspiração e estímulo para os jovens artistas que<br />

se dedicavam à então recém „redescoberta“ arte da gravura, que notadamente<br />

priorizava a inspiração social. Entre esses artistas destacam-se Lívio Abramo (1903-<br />

1992), Carlos Scliar (1920-2001) e Renina Katz (1926), que por várias vezes declararam<br />

a admiração por Käthe Kollwitz e o impacto que sua obra causara sobre<br />

suas carreiras artísticas. Outro importante fator para a divulgação da obra de<br />

Käthe Kollwitz no Brasil, foram as exposições de suas obras em São Paulo e no Rio<br />

de Janeiro, também ocorri<strong>das</strong> na década de 30: no Rio organizada pelo galerista<br />

alemão Theodor Heuberger e em São Paulo por Flávio de Carvalho, diretor do<br />

Clube dos Artistas Modernos.<br />

Neste sentido, esse trabalho procurará circunscrever os três aspectos da repercussão<br />

da obra de Käthe Kollwitz, como veremos intrinsecamente interligados<br />

entre si: as exposições, a ação dos intelectuais e finalmente seus efeitos sobre a<br />

produção artística brasileira.<br />

As exposições em São Paulo e no Rio de Janeiro.<br />

A ação de Theodor Heuberger, Flávio de Carvalho,<br />

Mário Pedrosa e Mário de Andrade<br />

No Brasil, a emergência da preocupação social na arte coincidiu com a época<br />

da Revolução de 1930 e o período que imediatamente a antecedeu, abrangendo<br />

as crises políticas da década de 1920, agrava<strong>das</strong> pela crise econômica<br />

m<strong>und</strong>ial de 1929. O governo Vargas, apesar <strong>das</strong> iniciais medi<strong>das</strong> socializantes,<br />

assumia feições cada vez mais centralizadoras e autoritárias, revelando um cla-


o alinhamento com os regimes nazista e fascista, que culminaram com a criação<br />

do „Estado Novo“, em 1937, eliminando toda e qualquer liberdade política;<br />

em consequência disso, iniciou-se um período de dissoluções de partidos, proibição<br />

da imprensa livre, prisões e exílios de artistas e intelectuais. Graciliano<br />

Ramos em Memórias do Cárcere e Jorge Amado em Subterrâneos da Liberdade<br />

descreveram suas experiências sob a repressão da ditadura Vargas. O estado de<br />

São Paulo, palco da revolução constitucionalista de 1932, teve papel particularmente<br />

importante no desenvolver deste quadro de agitação político-social, como<br />

bem descreve Mário Pedrosa:<br />

Da década de 1920 para a de 1930, grandes acontecimentos políticos<br />

sacudiram o Brasil [...] e São Paulo se tornou o ponto nevrálgico da<br />

revolução [...]. Em nenhum outro Estado da Federação, o processo de<br />

transformação política e social foi mais acentuado do que na terra de<br />

Piratininga. As convulsões ali foram maiores e terminaram com a revolta<br />

da burguesia e pequena burguesia paulistas, em nome da<br />

reconstitucionalização geral e da autonomia do Estado. A divisão de<br />

classes, já num sentido moderno, foi maior em São Paulo. Se<br />

Higienópolis, o bairro aristocrático, era hostil ao novo poder revolucionário,<br />

o Brás, proletário, era favorável... se foi Higienópolis que fez a<br />

Semana de Arte Moderna em 1922, foram Cambuci e adjacências que<br />

fizeram a Família Artística Paulista na outra etapa. Se o local em que se<br />

realizou a Semana foi o majestoso foyer do Teatro Municipal, a sede da<br />

Família [Artística Paulista] era uma sala do Edifício Santa Helena, no<br />

Largo da Sé, onde desde 1933 se localizava a maior parte dos Sindicatos<br />

operários criados com a revolução. (PEDROSA 1975, p. 40)<br />

Nesse contexto, as exposições de Käthe Kollwitz no Rio e em São Paulo (1930<br />

e 1933) e a divulgação de sua obra por Mário Pedrosa, Mário de Andrade e Flávio<br />

de Carvalho, com ênfase em seus aspectos político-sociais, determinaram importante<br />

fonte de inspiração e estímulo para os artistas que se dedicavam à recém<br />

„redescoberta“ arte da gravura.<br />

No Rio de Janeiro houve duas exposições de gravuras em 1930 e em 1933,<br />

organiza<strong>das</strong> pelo galerista alemão Theodor Heuberger, radicado no Brasil desde<br />

1924, „[...] grande animador cultural a articular o meio artístico brasileiro com a<br />

música, as artes decorativas e as artes plásticas alemãs“ (AMARAL 1981). A mostra<br />

de 1930, uma coletiva denominada Exposição de Livros e Artes Gráficas, foi apresentada<br />

na Biblioteca Nacional no Rio de Janeiro e posteriormente enviada a São<br />

Paulo, para o Escritório Comercial Alemão; esta exposição reunia aquarelas, desenhos<br />

e principalmente gravuras dos mais representativos artistas alemães, desde<br />

a geração da passagem do século, como Max Liebermann e Lovis Corinth, até<br />

os nomes dos expressionistas mais arrojados como Otto Dix, Georg Grosz, Erik<br />

Heckel, Oskar Kokoschka e Karl Schmidt-Rottluff, além de representantes da<br />

Bauhaus, como Willi Baumeister e Johannes Itten. Entre os expositores constava<br />

também Käthe Kollwitz. Apesar de ter certamente representado o primeiro contato<br />

do público brasileiro com a mais avançada arte alemã, a exposição não teve<br />

aparentemente grande eco; os únicos comentários sobre a mostra são de Mário<br />

175


176<br />

de Andrade, que a ela dedica um curto artigo no Diário Nacional, e do artista Lívio<br />

Abramo (1903-1992), que menciona entusiasticamente seu primeiro contato com<br />

a obra de Käthe Kollwitz e de artistas expressionistas (ABRAMO 1983). Sob o título<br />

Artes gráficas Mário de Andrade comenta elogiosamente „o estado de perfeição<br />

em que se encontram as artes gráficas na Alemanha“; mais adiante menciona<br />

ainda „edições de luxo e gravuras“ e apesar de referir-se „aos ilustradores Slevogt<br />

e Orlik“, e a „Georg Grosz, que é um gênio“, o autor não se detém longamente<br />

sobre o assunto, tampouco comenta obras em particular de nenhum dos artistas<br />

participantes, ressaltando, por fim, a superioridade francesa no campo gráfico<br />

(ANDRADE 1930 in ANCONA LOPEZ 1976, p. 253-255). A obra de Käthe Kollwitz<br />

só recebeu sua atenção na mostra que se realizaria três anos mais tarde.<br />

Dedicada exclusivamente à obra de Käthe Kollwitz, a exposição de 1933 foi<br />

mostrada inicialmente na Galeria Heuberger, localizada na avenida Rio Branco,<br />

no Rio de Janeiro. Desde 1930, Theodor Heuberger dirigia a Associação Pró-Arte,<br />

por ele f<strong>und</strong>ada, que entre outras atividades culturais, organizava anualmente<br />

um salão de artes plásticas. A Pró-Arte teve „o mérito de ser a primeira que apresentou<br />

ao público brasileiro os trabalhos de Käthe Kollwitz“, seg<strong>und</strong>o comenta em<br />

seu primeiro número o articulista de Base, uma revista dedicada à arte, técnica e<br />

pensamento, publicada no Rio, num artigo intitulado Exposição Käthe Kollwitz em<br />

São Paulo. O artigo, de apenas uma página, traz três reproduções de xilogravuras<br />

da artista: um auto-retrato, além de Viúva I, do ciclo Guerra (1922/23), e Desempregados,<br />

do ciclo Proletariado. O texto é curto mas demostra, apesar da terminologia<br />

um tanto ingênua, uma apreensão acurada em relação ao aspecto social da<br />

obra da artista, além do conhecimento de sua difícil situação devido à perseguição<br />

sofrida por ela sob o regime nazista.<br />

A exposição teve um grande sucesso; e não há de admirar, porque<br />

com Käthe Kollwitz tem a humanidade uma artista que desenha com<br />

prof<strong>und</strong>a observação as faltas mais importantes de nosso universo. É<br />

este o mérito de Käthe Kollwitz, de não desenhar naturezas mortas,<br />

porém, vendo com os olhos abertos tudo que a circ<strong>und</strong>a. Faz ver a<br />

vida dos oprimidos.<br />

Käthe Kollwitz nascida em 1867, vive no norte de Berlim, num bairro<br />

pobre, onde seu marido pratica seu ofício de médico. Não é por acaso<br />

que ela mora num bairro pobre, mas lhe pesaria a consciência, se não<br />

estivesse junto aos pobres, se não tomasse parte nos seus sofrimentos.<br />

Assim sendo, vê-se nas suas obras, as quais são desenha<strong>das</strong> com fortes<br />

traços penetrativos, quase masculinos, sempre a vida dos pobres: os<br />

sem trabalho, mulheres grávi<strong>das</strong>, fome, guerra, revolta, morte.<br />

Por este motivo é ela hoje em dia um dos mártires do movimento<br />

político alemão. Käthe Kollwitz combatente pela humanidade nós vos<br />

saudamos! (KOLLWITZ 1933, p. 9)<br />

No início de 1933, a Pró-Arte assinava um acordo com o Clube dos Artistas<br />

Modernos (CAM), de São Paulo, que previa „intercâmbio de sócios na freqüentação<br />

<strong>das</strong> sedes, intercâmbio e auxílio dos artistas, intercâmbio de exposições“ (ALMEIDA<br />

1976). Como um primeiro resultado deste intercâmbio foi enviada a São Paulo a


mostra de Käthe Kollwitz. Em seu curto período de vida (f<strong>und</strong>ado em novembro<br />

de 1932 e fechado pela polícia cerca de um ano mais tarde) o CAM cumpriu o<br />

papel de forum de arte e inteligência. O artista e intelectual Flávio de Carvalho,<br />

dirigia o clube, incutindo-lhe um cunho inovador e combativo que marcaria<br />

época na cena artística paulistana da década de 1930.<br />

Entre as atividades do CAM constavam também concertos e conferências, estas<br />

sempre sobre assuntos polêmicos e muitas vezes de clara tendência de esquerda,<br />

como a de Tarsila do Amaral sobre arte proletária, e a de Caio Prado Jr., ambos<br />

recém-chegados da União Soviética, e a do muralista mexicano David Alfaro<br />

Siqueiros. Por ocasião da exposição de Käthe Kollwitz, Mário Pedrosa proferiu sua<br />

famosa conferência As tendências sociais da arte e Käthe Kollwitz, que assumiu grande<br />

importância não só na carreira do intelectual, como também na história da<br />

crítica de arte no Brasil. Para a exposição editou-se um pequeno catálogo de quatro<br />

páginas, com quatro reproduções, uma por página, sendo as três primeiras as mesmas<br />

publica<strong>das</strong> na revista Base e a quarta, também uma xilogravura, da série Guerra,<br />

A Viúva II (1922/23); na capa, além do título da mostra, há indicações sobre as<br />

técnicas <strong>das</strong> obras presentes (águas-fortes e litogravuras, xilogravuras não estão<br />

menciona<strong>das</strong> apesar de incluí<strong>das</strong>), período de duração da mostra (de 1º a 20 de<br />

junho de 1933) e referência ao local de realização, com endereço e telefone. Nas<br />

páginas seguintes estavam lista<strong>das</strong> as gravuras, 84 ao todo, com preços e títulos em<br />

português. Através destes constata-se que a exposição proporcionou uma visão<br />

bastante completa da obra gráfica de Kollwitz: águas fortes do início da carreira, os<br />

dois ciclos A Revolta dos Tecelões e A Guerra dos Camponeses inteiros, além dos ciclos<br />

xilogravados Guerra e Proletariado, vários auto-retratos e obras de diferentes períodos.<br />

Sem dúvida, o predomínio da xilogravura, segmento formalmente mais arrojado<br />

no conjunto de sua obra, e que mais se aproxima ao expressionismo, causou<br />

equívoco entre artistas, críticos e público, que julgaram Käthe Kollwitz como pertencente<br />

a essa corrente artística. Através de diversas declarações em seus diários<br />

– „Foi interessante conhecer Pechstein... mas para mim suas obras não passam de<br />

talentosas garatujas“ (1910); „O expressionismo é arte de atelier... estéril... sem raízes<br />

vivas“ (1916); „Certamente não sou expressionista... para mim só existe a forma<br />

humana, mas que deve ser destilada, reduzida à essência“ (1917); (KOLLWITZ 1989,<br />

p. 340) – e de análises da recepção de sua obra na Alemanha, podemos afirmar que,<br />

não obstante a efetiva influência expressionista que recebera durante um certo<br />

período, Käthe Kollwitz ainda se sentia fortemente ligada às origens naturalistas/<br />

realistas de sua obra. Se se considera a carga emocional e o „pathos“ social, além do<br />

cont<strong>und</strong>ente modo de expressão da gravura na madeira, como pontos em comum<br />

entre Kollwitz e a vanguarda alemã do início do século, pode-se então caracterizar<br />

sua obra, paralelamente à de Edvard Munch, como „expressionista de primeira<br />

hora“. Nesse sentido, em seu artigo sobre a versão paulistana da mostra de 1933,<br />

Mário de Andrade acerta quando define a artista como „pré-expressionista“, mas<br />

engana-se ao julgá-la pertencente „ao grupo da Brücke com Schmitt-Rottluff,<br />

Kirchner, Felix Müller“. O autor, que havia visitado a exposição e até mesmo adquirido<br />

uma xilogravura, escreve entusiasticamente sobre a „arte proletária de Käthe<br />

Kollwitz“. Aqui registra-se um outro equívoco, que se repetirá em outros autores, a<br />

exemplo de Mário Pedrosa; trata-se da „origem proletária“ de Käthe Kollwitz. Mui-<br />

177


178<br />

to provavelmente devido à um erro de tradução, a profissão de seu pai, em vez de<br />

„construtor“ constava como „pedreiro“ na literatura sobre a artista; daí a interpretação<br />

de Mário de Andrade:<br />

Movida talvez pelo meio que nascera e vivera [...] suas criações jamais<br />

tiveram uma concessão burguesa. É talvez o tipo mais característico<br />

de pintura proletária de nossos dias. (ANDRADE 1933, p. 6)<br />

E pouco tempo depois Pedrosa definiria „a fidelidade à sua classe [...]. Filha<br />

de pedreiro, [Käthe Kollwitz] continua através de sua longa vida, filha de pedreiro“<br />

(PEDROSA 1975, p. 28). Conforme afirmamos anteriormente, apesar de sua<br />

origem burguesa, já havia três gerações a família da artista muito se distanciava<br />

dos modelos de classe devido às suas fortes tendências socialistas. Daí se explica<br />

o engajamento e a identificação de Käthe Kollwitz com as causas da classe trabalhadora,<br />

sem no entanto ser ori<strong>und</strong>a desta. Assim, não é errada a análise de<br />

Mário de Andrade no que se refere ao „proletarismo essencial“ e ao „irreconciliável<br />

sentido social de suas obras“. O autor destaca as séries xilograva<strong>das</strong> Proletariado<br />

e Guerra, observando „seu impressionante realismo [...] que não deforma<br />

por exagero“; compara-a acertademente ao artista espanhol Francisco Goya,<br />

em seu ciclo Desastres de Guerra:<br />

Ninguém soube como Käthe Kollwitz perceber que é nos fenômenos laterais<br />

<strong>das</strong> guerras, nos soffrimentos dos seus sem culpa, que está o horror<br />

culminante da existência dos soldados do m<strong>und</strong>o [...]. Proletariamente<br />

Käthe Kollwitz, com um desprezo perfeito ignora os militares que estão lá<br />

se batendo porque querem nas trincheiras, em nome de tristes depravações<br />

do sentimento da pátria. A culminância do horror da guerra, ela<br />

sabe encontrar apenas nos pais, nas mães, nas viuvas, no povo. É rudimentar,<br />

é legítimo, é irrespirável como ela consegue crear uma noção<br />

menos balofa, menos pomposa, menos deturpada do que seja heroismo...<br />

o heroismo sem enfeite intelectual. (ANDRADE 1933, p.8)<br />

Quanto à técnica, Mário de Andrade declara sua preferência pelas litografias e<br />

especialmente pelas xilogravuras de Käthe Kollwitz:<br />

Da madeira sobretudo ela tira simultaneamente toda a eficácia estética<br />

sugestionadora. Ao mesmo tempo que faz valer a maior elasticidade<br />

do pau nos grandes planos pastosos do preto, converte essa ab<strong>und</strong>ância<br />

de escureza em mais uma força expressiva dos seus themas tão<br />

sombrios. Outra qualidade simultaneamente estética e expressiva é a<br />

maneira de lascar a prancha, revelando a malvadez do pau. Os momentos<br />

de luz <strong>das</strong> suas xilogravuras se convertem por isso num trançado<br />

de estrepes feridores, que maltratam o próprio observador e<br />

avigoram a aspereza dos assuntos. (ANDRADE 1933, p. 8)<br />

Desse modo, com sua peculiar terminologia, enfatizando etapas formais do<br />

processo paralelamente aos efeitos sobre o conteúdo <strong>das</strong> obras, Mário de Andrade<br />

consegue chamar atenção ao segmento xilogravura, o que certamente repercutirá<br />

na recepção da obra de Kollwitz entre os artistas brasileiros.


O texto de Mário Pedrosa, comentando a exposição de Käthe Kollwitz em<br />

São Paulo, assumirá enorme importância na divulgação de sua obra no Brasil.<br />

Trata-se do ensaio As tendências sociais da arte e Käthe Kollwitz, já mencionado<br />

anteriormente. Bem mais longo e melhor estruturado do que o artigo de<br />

Mário de Andrade, e sobretudo alicerçado em sólida base teórica, o ensaio de<br />

Pedrosa foi apresentado ao público como conferência elucidativa à mostra,<br />

no dia 16 de junho de 1933, na sede do CAM, e pouco depois publicado no<br />

periódico O Homem Livre. Essa conferência foi um fato marcante não só em<br />

sua carreira, pois com ela estreara como crítico de artes plásticas, como também<br />

na crítica e na arte brasileira da época, pois constituíra a primeira análise<br />

artística sob o ponto de vista social. Intelectual de esquerda, ligado ao partido<br />

comunista e posteriormente ao socialista, Mário Pedrosa foi um ativo militante<br />

político; na carga revolucionária da obra de Käthe Kollwitz encontrou um eco<br />

para suas idéias estéticas. Muito provavelmente Pedrosa a conhecera durante<br />

sua primeira viagem à Europa em 1928, quando passou pela Suiça e Alemanha<br />

(ARANTES 1991). A conferência fora estruturada em duas partes; a primeira e<br />

mais longa, não faz referência direta à obra de Kollwitz; trata-se, antes, de<br />

reflexões teóricas a respeito <strong>das</strong> tendências sociais da arte no decorrer da<br />

história, visivelmente influencia<strong>das</strong> por princípios estéticos marxistas. Já no<br />

início, Pedrosa define a arte como „manifestação social“ e discute como os<br />

modos de produção de um povo condicionam suas formas de arte; analisando<br />

a origem social da arte, demonstra essa dependência desde os povos primitivos,<br />

passando pela arte grega e medieval, enfatizando sobretudo o importante<br />

papel da ligação do homem com a natureza:<br />

Enquanto a técnica não foi de todo separada da condição humana, o<br />

trabalho e a arte não se separaram. Enquanto a mão do homem pôde<br />

exercer uma ação diretriz sobre a técnica (mediadora entre homem e<br />

natureza) e os instrumentos-máquinas, a arte não perdeu seu caráter<br />

eminentemente social. Essa fase do modo produtivo e da técnica coincidiu<br />

com a eclosão da grande arte social da Grécia e, mais tarde, com<br />

a arte interessada e religiosa da Idade Média. (PEDROSA 1933, p. 12)<br />

E prossegue em sua análise histórica, chegando até os tempos em que a burguesia<br />

se impõe como classe dominante:<br />

A Renascença marcou o início do individualismo, com as primeiras<br />

vitórias decisivas do regime capitalista nascente [...]. Sob a forma de<br />

luta entre o ideal monástico medieval e o ideal terreno da Renascença,<br />

revelou-se pela primeira vez uma dissociação crescente na concepção<br />

única entre natureza e sociedade: De função pública que exercia na<br />

Grécia, a arte vai assim degringolando até reduzir-se a uma mera distração<br />

de ociosos abastados, a ornamento e vaidade de príncipes, e<br />

até a disciplina de luxo. (PEDROSA 1933, p. 16)<br />

Abordando o „presente estado“, com a sociedade dividida em duas classes<br />

antagônicas, burguesia e proletariado, o autor percebe a atividade artística como<br />

dividida „estética e socialmente“:<br />

179


180<br />

De um lado a arte desses criadores que ficam absorvidos por essa<br />

seg<strong>und</strong>a natureza superposta à primitiva que é a nossa natureza moderna<br />

e mecânica – a técnica – desligados completamente da sociedade<br />

[...] para não tomar uma atitude em frente à implacável batalha <strong>das</strong><br />

duas classes inimigas [...], fechados num hermetismo diletante [...]. No<br />

outro lado, colocam-se os artistas sociais, aqueles que se aproximam<br />

do proletariado e [...] divisam a síntese futura entre natureza e sociedade<br />

[...]. É o que explica o realismo do proletariado e os artistas que<br />

o exprimem. É o caso de Käthe Kollwitz. (PEDROSA 1933, p. 18)<br />

Nesta seg<strong>und</strong>a parte, ao analisar a obra da artista, Mário Pedrosa justifica seus<br />

pressupostos teóricos:<br />

O destino da arte de Käthe Kollwitz não está, pois, na própria arte.<br />

Está socialmente no proletariado. É uma arte partidária e tendenciosa.<br />

Mas que assombrosa universalização! [...] É um novo humanismo superior,<br />

um autêntico e novo classicismo, surgindo dramática e espontaneamente<br />

da própria vida. (PEDROSA 1933, p.25)<br />

Ao observar os temas preferidos por Kollwitz, o autor destaca a guerra,<br />

enfatizando o ponto de vista de sua apreensão:<br />

A guerra vista pelo povo, a guerra do lado de lá da barricada social,<br />

sentida pelo proletariado, sem deformação ideológica ou tendenciosa,<br />

sem a ignóbil masturbação patriótica com que é exaltada, sem reclame<br />

de soldados [...] sem glória, sem generais estrelados e gordos [...]. A<br />

guerra de Kollwitz só tem sacrifícios anônimos e monstruosos, só tem<br />

viúvas a quem não resta mais nada, na miséria e na dor.<br />

(PEDROSA 1933, p. 26-27)<br />

Examinando as fases da obra da artista, Pedrosa assinala acertadamente uma<br />

primeira fase de influência naturalista e uma seg<strong>und</strong>a fase que coincide com a<br />

imposição do proletariado como classe na Alemanha:<br />

A doutrina do socialismo científico surgia pela primeira vez como arma<br />

específica [...] no combate pela sua emancipação. Surgiram assim simultaneamente<br />

a primeira organização revolucionária da classe, o seu<br />

partido político que era então a social-democracia, e a sua primeira<br />

grande artista na pessoa de Käthe Kollwitz. (PEDROSA 1933, p. 29)<br />

Numa atitude inédita para a crítica de seu tempo, Mário Pedrosa descreve na<br />

obra de Käthe Kollwitz traços que a caracterizam como arte feminina:<br />

Dentro do próprio proletariado, a artista tem sua preferência. É que,<br />

além de sua classe, ela é de seu sexo. É a artista da mulher proletária.<br />

(PEDROSA 1933, p. 30)<br />

Mas logo a seguir nos induz à associação de feminilidade com sentimentalismo:<br />

„a reação feminina é puramente instintiva e sentimental“, e procura com<br />

esse argumento justificar a ausência da representação dos opressores do proletariado,<br />

a burguesia, ao contrário do exemplo de George Grosz, com sua sátira


„cerebral e consciente“ (PEDROSA 1933, p. 33). Mais uma vez registramos o<br />

preconceito em relação ao sexo feminino na análise da obra de Kollwitz, presente<br />

em diferentes autores.<br />

Quase totalmente ausente no ensaio de Pedrosa está a análise do processo<br />

artístico; obviamente o autor dá preferência aos aspectos do conteúdo, em detrimento<br />

do exame da expressão formal. Era a tônica da crítica de arte de ênfase<br />

social, que se afirmava na época. Apenas numa passagem, a respeito da xilogravura,<br />

aponta a coincidência entre a força expressiva do material e a cont<strong>und</strong>ência do<br />

assunto gravado:<br />

A intensidade dramática que a madeira violentada revela é de tal ordem<br />

que a obra de arte atinge aqui a unidade e a integração ideal<br />

entre a vontade e o sentimento do artista e a capacidade interior de<br />

expressão do próprio material. (PEDROSA 1933, p. 31)<br />

Finalizando, Mário Pedrosa reafirma a missão revolucionária da obra de<br />

Käthe Kollwitz, contido em seu caráter proletário, ou seja, de instrumento de<br />

divisão de classe:<br />

A arte social [...] não é de fato um passatempo delicioso: é uma arma<br />

[...]. A dialética da dinâmica social [...] faz com que uma obra destas, tão<br />

prof<strong>und</strong>amente inspirada de amor e fraternidade humana, sirva entretanto,<br />

para alimentar o ódio de classe mais implacável. E com isto está<br />

realizada a sua generosa missão social. (PEDROSA 1933, p. 34)<br />

A ressonância da obra de Käthe Kollwitz entre os artistas brasileiros:<br />

Lívio Abramo, Carlos Scliar e Renina Katz<br />

Com a publicação do ensaio em O Homem Livre, jornal claramente de esquerda,<br />

a exposição de Käthe Kollwitz teve seu eco definitivo no meio político-intelectual<br />

mais avançado de São Paulo. Entre os colaboradores do periódico constava<br />

Lívio Abramo, um dos primeiros artistas gráficos da modernidade brasileira, que<br />

então ilustrava matérias daquele jornal; a partir de então e durante toda a década<br />

de 1930, sua obra será marcada por uma notável influência de Käthe Kollwitz.<br />

Lívio Abramo, descendente de imigrantes italianos que seguiram para São<br />

Paulo, trazia do meio familiar uma experiência de ativa participação política e de<br />

empenho cultural; seu avô, Bartolomeu Scarmagnan, com o qual o artista conviveu<br />

e que retratou, isto em 1926, era um „anarquista bakunista militante“, seg<strong>und</strong>o<br />

afirma o próprio artista em entrevista a Vera D´Horta Beccari (BECCARI 1981,<br />

p. 5). Seu aprendizado artístico autodidata iniciou-se naquele ano, com instrumentos<br />

rudimentares: „uma gilete e um pedaço qualquer de madeira“ (ibid., p. 5).<br />

Pouco depois Abramo começou a trabalhar como ilustrador para o semanário<br />

anarquista Lo Spaghetto, porta-voz da comunidade operária italiana em São Paulo;<br />

desse período data uma série de linóleos onde se manifestam preocupações de<br />

f<strong>und</strong>o social, já que o artista sentia de perto os problemas da crise econômica:<br />

Em 1928, 29, já tinha começado a crise que em 1930 explodiu em<br />

todo o m<strong>und</strong>o. Durante todos esses anos eu vivia de expedientes,<br />

181


182<br />

vendia queijos, fazia desenhos para jornalecos... Ninguém tinha dinheiro<br />

para nada. (BECCARI 1983, p. 7)<br />

Daí os temas sempre relacionados ao desemprego, ao operário e a sua condição;<br />

as principais características formais desta série são a priorização da forma<br />

geométrica e ausência de meios tons, que atestam uma fase de experimentação<br />

técnica. Desta destacam-se as gravuras 1° de Maio (1928), Rebelião (1928) e Bastilha<br />

(c. 1927/29) pois se reconhecem trabalhadores empunhando ferramentas como<br />

armas e multidões subleva<strong>das</strong>, reduzi<strong>das</strong> a formas chapa<strong>das</strong>, que se deslocam em<br />

bloco sob eixos diagonais.<br />

Em 1930, Lívio Abramo visita a versão paulistana da exposição de Livros e Artes<br />

Gráficas Alemãs, organizada por Theodor Heuberger:<br />

Vi uma exposição de alemães fabulosos [...]. Havia uma coleção magnífica<br />

de gravuras originais de todos os gravadores alemães expressionistas<br />

– Heckel, Schmidt-Rotlluff, Barlach, Lionel Feininger, Käthe Kollwitz –<br />

só da Käthe Kollwitz havia mais de dez gravuras fabulosas [...] era uma<br />

gravura melhor que a outra. Bem, depois dessa exposição, resolvi – É<br />

isso que eu quero fazer! (BECCARI 1983, p. 7)<br />

E ainda, numa outra declaração sobre a mostra:<br />

Quem mais me impressionou foi Käthe Kollwitz, com suas águas fortes;<br />

tiveram influência sobre mim, pois eu também me interessava por<br />

problemas sociais. (FERREIRA 1983, p. 33)<br />

Como se pode concluir de suas afirmações, o entusiasmo de Lívio Abramo<br />

pela obra de Käthe Kollwitz é notório. Também aqui se verifica a classificação da<br />

artista como „expressionista“, confirmando o equívoco na recepção brasileira da<br />

obra de Kollwitz, ao qual nos referimos anteriormente.<br />

Na década de 1930 Abramo intensifica sua militância política, tornando-se<br />

membro do Partido Comunista, e após sua dissidência deste, do Partido Socialista:<br />

Fui expulso do partido (comunista) [...]. Entrei para o partido Socialista<br />

em 1933, na ala esquerda; toda a turma trotskista estava lá [...] fiquei<br />

muito amigo de Mário Pedrosa [...] e colaborei intensamente na campanha<br />

para criar uma frente única antifascista. (FERREIRA 1983, p. 39)<br />

O engajamento de Abramo, contudo, não condiciona politicamente sua obra,<br />

que como a de Kollwitz, mantém-se autônoma, independente de interesses de<br />

partidos ou tendências panfletárias, como se verifica no realismo socialista.<br />

A amizade com Mário Pedrosa levou-o à colaboração no jornal O Homem<br />

Livre; certamente Abramo não ficou alheio à exposição de Käthe Kollwitz no CAM<br />

e ao ensaio do autor a respeito. É o que pode ser notado em suas ilustrações para<br />

aquele periódico e em sua obra até o final dos anos 1930. Na ilustração para a<br />

matéria Frente Única, publicada a 2 de julho de 1933, as figuras masculinas representa<strong>das</strong><br />

f<strong>und</strong>em-se numa só forma, que ocupa quase toda a superfície gravada<br />

e se impõe monumentalmente ao observador; esse modo de fazer surgir as<br />

figuras do f<strong>und</strong>o negro, iluminando-as com „um sulco de luz“ (FERRAZ 1955, p.


10-11) e f<strong>und</strong>indo-as escultoricamente<br />

numa só forma, indica<br />

o conhecimento do artista<br />

da produção de Käthe<br />

Kollwitz, sobretudo <strong>das</strong> xilogravuras<br />

da série Guerra<br />

(1922/23); o gesto do abraço,<br />

<strong>das</strong> mãos uni<strong>das</strong>, <strong>das</strong> feições<br />

tensas e dos punhos fechados,<br />

também presentes na linguagem<br />

plástica da artista, reforçam<br />

a mensagem de Abramo.<br />

Em outro número do semanário<br />

O Homem Livre (de 24 de<br />

julho de 1933), em duas ilus- Lívio Abramo: Meninas de Fábrica (xilogravura, 1935)<br />

trações diferentes (Desempregados<br />

e Pão) é a temática que faz referência a Kollwitz, enquanto que as feições<br />

caricaturais na primeira e de forma geometrizada na seg<strong>und</strong>a indicam maior<br />

proximidade ao expressionismo do grupo Die Brücke. De 1935 datam Meninas de<br />

Fábrica e Operário, que comprovam que o trabalhador e o universo deste continuam<br />

desempenhando papel principal em sua obra. Meninas de Fábrica é um<br />

documento do cotidiano do proletariado urbano, um registro dessa nova classe<br />

que se impõe como força produtora; formalmente, esta obra remete à Maria<br />

e Elisabeth (1928), de Käthe Kollwitz, pela semelhança do corte <strong>das</strong> figuras femininas<br />

em primeiro plano e pelo trabalho de textura; esta confere maior refinamento<br />

à obra, ao contrário <strong>das</strong> do primeiro período que explorava o contraste<br />

de branco e preto em formas chapa<strong>das</strong> e geométricas. Na xilogravura Operário,<br />

o corte estreito da composição confere monumentalidade à figura do operário:<br />

só o rosto está representado, à maneira do auto-retrato xilogravado de Käthe<br />

Kollwitz, de 1923; também é encontrada certa semelhança na alternância de<br />

traço fino e na abertura de claros, além<br />

da correspondência de expressão, reflexiva<br />

no Operário, questionadora no Autoretrato.<br />

A gravura Rua ultrapassa o aspecto<br />

documento e adquire um claro tom<br />

de denúncia, que transparece na magreza<br />

dos personagens, na pobreza representada.<br />

Essa dimensão dramática é ainda<br />

mais acentuada na série sobre a guerra<br />

civil espanhola, realizada entre 1937 e<br />

1940; nas gravuras desta série notam-se<br />

mudanças de estilo e técnica, sobretudo<br />

nas representações de figuras humanas<br />

em grupo, nas obras Espanha (1938) e nas<br />

duas versões de Êxodo (1939); se até en-<br />

Lívio Abramo: Operário (xilogravura, 1935)<br />

tão o geometrismo e as formas angulosas<br />

183


184<br />

da primeira fase estavam ainda presentes, aqui predominam as linhas curvas em<br />

movimentos rítmicos; em Êxodo nota-se uma aproximação com a obra Revolta<br />

de Käthe Kollwitz, quer quanto à temática (a massa humana mobilizada), quer<br />

quanto à composição (o deslocamento) sugerido pelos traços em movimentos<br />

rítmicos. A derrota da democracia na Espanha, a vitória dos estados totalitários,<br />

durante a primeira fase da II a Guerra M<strong>und</strong>ial, refletida no Brasil através da<br />

ditadura Vargas, teve graves conseqüências para Abramo; o artista passou anos<br />

sem trabalhar artisticamente, voltando a produzir somente em 1947, já numa<br />

fase diversa, onde a temática social é substituída predominantemente pelo interesse<br />

pela paisagem brasileira.<br />

Após 1945, com o final da II a Guerra M<strong>und</strong>ial e a restauração da democracia<br />

no Brasil, surge uma seg<strong>und</strong>a geração de artistas gráficos; trata-se de artistas<br />

figurativos, que constituem uma espécie de resistência à onda internacionalista<br />

abstrata que vinha se impondo também no Brasil no final da década de 40. Ao<br />

caráter apolítico e neutro do abstracionismo, estes jovens artistas, que acabavam<br />

de reconquistar o livre direito de expressão, antepunham uma arte engajada<br />

com forte caráter crítico-social e tendências realistas; esse engajamento coincidia<br />

com a postura política de esquerda, o que muitas vezes implicava numa<br />

associação de sua produção com o realismo socialista, dado nem sempre necessariamente<br />

verdadeiro, como comprova o artista Mario Gruber num depoimento<br />

(AMARAL 1984).<br />

Nesse contexto destaca-se Carlos Scliar (1920-2001), que atua como um verdadeiro<br />

articulador e promotor da gravura brasileira, estabelecendo um fio de<br />

ligação entre artistas do sul do país, São Paulo, Rio e até Recife. Nascido no Rio<br />

Grande do Sul, Scliar esclarece as raízes de sua formação artística e intelectual:<br />

Tínhamos uma fonte de informações muito grande que nos articulava<br />

com a Europa, em particular com a Alemanha, em decorrência da<br />

colonização alemã no Rio Grande do Sul. Assim lembro-me de uma<br />

livraria internacional, de um velho anarquista amigo de meu pai [...]<br />

onde encontrava livros de procedência da Alemanha pré-Seg<strong>und</strong>a<br />

Guerra; na década de 30 comprei livros com reproduções de George<br />

Grosz, Käthe Kollwitz, Otto Dix [...]. A formação cultural alemã naquela<br />

época era f<strong>und</strong>amental. (SCARANCI 1981, p. 60)<br />

A gravura atrairia Scliar por sua reprodutibilidade imediata e, consequentemente,<br />

pela possibilidade de atingir um público maior. Scliar viajava constantemente<br />

para São Paulo desde 1940; em uma dessas ocasiões acabou por levar para<br />

Porto Alegre, que comemorava seu bicentenário, uma exposição com obras dos<br />

melhores artistas paulistas (Aldo Bonadei, Clovis Graciano, Rebolo, Fulvio<br />

Pennacchi, Lívio Abramo, entre outros), rompendo-se, parcialmente, o isolamento<br />

regional. Em 1942, organizou em São Paulo um dos primeiros álbuns coletivos<br />

de gravura, no qual constavam obras de Lívio Abramo, que depois de grande<br />

insistência do jovem artista concordara em participar. Em 1943, Scliar foi convocado<br />

pela FEB a lutar na II a Guerra, o que constituiu uma experiência decisiva<br />

para sua vida artística; desse período datam uma série de desenhos, alguns dos<br />

quais seriam transformados também em xilogravuras. É o caso de Soldados no


front, que traduz ao mesmo tempo sua experiência pessoal e o drama humano<br />

universal; embora seguindo uma ordem diversa de composição, a prof<strong>und</strong>idade<br />

de expressão dos personagens, acentuada pela incisão enérgica na madeira,<br />

este trabalho faz referência à gravura Povo, da série Guerra de Käthe Kollwitz; da<br />

mesma forma como a artista retrata o outro lado da guerra, o de suas vítimas, a<br />

visão de Carlos Scliar, sintetizada em seus Soldados, resume a dimensão humana,<br />

a miséria da guerra, que nada tem a ver com louvor ao heroísmo do realismo<br />

socialista ou com a ácida crítica de Grosz ou Dix. Em 1949, em Paris, entra<br />

em contato com a Associação Latino-Americana; o artista mexicano Leopoldo<br />

Méndez, idealizador do Taller de Gráfica Popular, muito o influenciaria, não só<br />

em sua obra como também, pouco mais tarde, na f<strong>und</strong>ação dos Clubes de Gravura<br />

no Brasil; essa influência faz se sentir nas gravuras do álbum Les Chemins de<br />

Faim, ilustrações para a edição francesa do livro Seara Vermelha, de Jorge Amado.<br />

De volta ao Brasil, em 1950, Scliar f<strong>und</strong>a a revista Horizonte, um fórum de<br />

idéias e espaço para divulgação de obras de artistas gaúchos com postura crítico-social;<br />

entre estes, as obras de Käthe Kollwitz merecem grande destaque,<br />

tendo sido publica<strong>das</strong> diversas vezes, como ilustrações ou até mesmo como<br />

capa da revista; paralelamente à revista, Scliar f<strong>und</strong>a o Clube de Gravura de Porto<br />

Alegre, inspirado na experiência do Taller de Gráfica Popular; as obras produzi<strong>das</strong><br />

pelos artistas do clube possibilitavam o financiamento de Horizonte; um dos números<br />

da revista, de 1951, traz como capa uma gravura de Scliar que representa<br />

uma demonstração popular pela paz, onde a expressão da massa humana<br />

condensada em bloco, mobilizada num objetivo comum, leva mais uma vez a<br />

pensar na Marcha dos Tecelões de Käthe Kollwitz como possível ponto de partida.<br />

A iniciativa de trabalho gráfico em grupo, graças à facilidade de contatos de<br />

Scliar com artistas de outros centros, foi transportada, no início dos anos 50,<br />

para outras cidades, tais como São Paulo, Rio, Santos e Recife. Assim, também<br />

através de Horizonte, que era o órgão de divulgação do Clube de Gravura de<br />

Porto Alegre, muitos artistas brasileiros foram ao mesmo tempo estimulados para<br />

a produção na área da gravura, e entraram em contato com a obra de Kollwitz.<br />

Entre os próprios gaúchos destaque-se Vasco Prado (*1914), cuja ilustração<br />

Para que nossos jovens não morram na Coréia, também publicada em Horizonte<br />

remete ao desenho preparatório para a gravura Campo de Batalha de Käthe<br />

Kollwitz, no que se refere à temática e na construção da composição.<br />

Em São Paulo, também no decênio de 1940, emerge um grupo de jovens que<br />

se dedicou à pesquisa do expressionismo, como tendência artística e plástica. São<br />

eles: Luis Sacilotto, Luis Andreatini, Marcelo Grassmann e Otávio Araujo. Sem<br />

dúvida, conheciam Käthe Kollwitz pois, como freqüentadores da Seção de Arte<br />

da Biblioteca Municipal de São Paulo, tiveram acesso, nesta época, à ampla e<br />

atualizada bibliografia especializada em arte moderna. Esta seção foi criada em<br />

1945, pelo crítico Sergio Milliet, reunindo livros, catálogos, revistas e outros periódicos,<br />

além de ilustrações. Mas já antes, desde 1942, a bibliografia e iconografia<br />

estava sendo reunida. Estes jovens, com o apoio de Carlos Scliar, expõem no Rio<br />

de Janeiro já em 1944 na União Cultural Brasil – Estados Unidos. Além do grupo<br />

expressionista uma nova geração com interesse predominantemente social afirma-se<br />

com a exposição dos „19 Pintores“, cuja fonte de referência também era o<br />

185


186<br />

expressionismo alemão, estando aí incluída a obra de Käthe Kollwitz. Mario Gruber,<br />

a quem referiu-se em nota anterior, é um dos artistas do grupo dos „19“ para quem<br />

o expressionismo e a arte social desempenham um importante papel.<br />

A essa geração pertence Renina Katz (1926), carioca, descendente de poloneses,<br />

radicada em São Paulo desde 1951. Engajada politicamente desde<br />

muito jovem, a artista era ativa participante da UNE (União Nacional dos Estudantes);<br />

numa entrevista declara diretamente ser Käthe Kollwitz seu modelo<br />

de drama e militância:<br />

Eu sou realmente da geração pós-guerra. E isso é importante porque<br />

todo meu trabalho nesse período estava muito marcado pela situação<br />

que vivíamos [...], aquela era uma época de rebelião, de protesto, de<br />

afirmação ideológica [...]. Nós tivemos toda uma aproximação com o<br />

expressionismo, e também algumas coisas mexicanas, como o Posada, o<br />

Leopoldo Méndez [...]. Estas influências, que eram fortes do ponto de<br />

vista da temática social, atingiram muito a minha geração [...]. Este assunto<br />

era o assunto, quer dizer, a miséria, a pobreza, a má distribuição<br />

da riqueza, enfim, todos os temas que o expressionismo alemão muito<br />

antes já tinha tratado, ecoaram aqui entre nós com muito vigor [...].<br />

Durante uns dez anos foi mais ou menos o que eu fiz [...]. O meu modelo<br />

eram os expressionistas mais dramáticos, militantes [...]. Não era exatamente<br />

o Munch, mas a Käthe Kollwitz. (BECCARI 1981, p. 10)<br />

Como Lívio Abramo e Carlos Scliar, a artista refere-se a Käthe Kollwitz como<br />

expressionista considerando principalmente a produção de xilogravura da obra<br />

da artista alemã. De fato, do final dos anos 1940 ao final dos 50, período no qual<br />

reconhece a influência de Kollwitz em seus trabalhos, a artista trabalhou predominantemente<br />

com xilo e linoleogravuras. A descoberta da obra da artista alemã<br />

deu-se por volta de 1950, através de reproduções de um livro „encontrado<br />

num sebo em São Paulo“, conforme nos conta a artista (KATZ 1990, p.2). A<br />

identificação foi imediata, refletindo-se em sua produção dos dez anos seguintes,<br />

caracterizando também sua participação na Bienal de Veneza de 1956 e na<br />

exposição „Contribuição ao Realismo“, no Museu de Arte Moderna de São Paulo,<br />

ocorrida naquele mesmo ano. Nesse período a artista adquiriu dois livros sobre<br />

Käthe Kollwitz, que de certa forma funcionaram como fontes iconográficas: um<br />

livro da coleção „Blaue Bücher“ (SCHMALENBACH 1948) e uma publicação<br />

sueca dos anos 40. Em 1951 Renina participa da f<strong>und</strong>ação do Clube de Gravura<br />

de São Paulo, que também sob o estímulo de Scliar, tornara-se por algum tempo,<br />

um núcleo de difusão <strong>das</strong> artes gráficas, marcado pela participação política e<br />

engajamento social. O grupo organizou um curso de xilogravura, pelo qual a<br />

artista era responsável, e publicou a revista F<strong>und</strong>amentos; Renina Katz conta que<br />

haviam planejado até mesmo uma exposição com obras de Käthe Kollwitz, mas<br />

que, por motivos de organização, não pôde ser realizada. Sobre a experiência<br />

da gravura, f<strong>und</strong>amental nesse período de sua obra como um meio para atingir<br />

um público mais amplo, afirma a artista:<br />

A multiplicação de um original provoca a revisão da atitude diante da<br />

tradição valorativa da peça única, assim como uma renovação no con-


ceito de que é o exclusivo que confere valor ao objeto artístico. Na<br />

obra multiplicada, o valor aumenta na medida do seu desdobramento<br />

e no patrocínio de um convívio sem barreiras, para além <strong>das</strong> diferenças<br />

sociais e distâncias geográficas. (KATZ 1949, p. 17)<br />

Em 1953, Renina expõe desenhos e gravuras neo-realistas, seg<strong>und</strong>o a avaliação<br />

no texto do catálogo, no Museu de Arte Contemporânea em São Paulo. Pelos<br />

títulos <strong>das</strong> obras expostas, tais como Jovem Tecelã, Moça Camponesa, Jovem Mãe,<br />

Camponesas do café, Mulheres no campo, Maternidade, percebe-se já uma associação<br />

temática com Käthe Kollwitz; a gravura reproduzida na capa do catálogo,<br />

Fome, revela não só a recepção de um motivo presente no repertório de Kollwitz<br />

como também claras semelhanças de linguagem expressiva; a concentração na<br />

figura humana, o par mãe-e-filho, contra um f<strong>und</strong>o implacavelmente vazio que<br />

superdimensiona a condição de miséria, remete à Na porta da igreja da artista<br />

alemã; além disso notamos no traço fino empregado por Renina Katz, apesar de<br />

tratar-se de uma xilogravura, uma certa analogia à incisão fina na chapa de metal<br />

utilizada por Kollwitz em seus primeiros ciclos gráficos. Essa gravura fazia parte de<br />

uma série então ainda incompleta Camponeses sem terra – Os Retirantes que, juntamente<br />

com a série Favelas, determinou o cerne de sua produção artística de<br />

1948 até 1956; e estas obras foram publica<strong>das</strong> posteriormente sob o título de Antologia<br />

Gráfica; na introdução desta edição observa Flávio Motta:<br />

Toda uma geração (do após-guerra) saiu para narrar „do povo para o<br />

povo“ [...]. Supunha a sobrevivência de um repertório popular [...]<br />

velhas tradições se reavivaram. Esta por exemplo da gravura em madeira<br />

[...]. Por vêzes, em Renina, lembra as lições de Käthe Kollwitz,<br />

também mulher voltada ao social. O povo sofrido, as crianças abandona<strong>das</strong>,<br />

os lavradores, a guerra, a fome, tudo isso emergia do mesmo<br />

clima nos anos 40/50. (MOTTA 1972, p.43)<br />

Na série Retirantes Renina retrata os personagens que a miséria do Nordeste<br />

obriga a abandonar o campo em direção à cidade, onde nenhum destino melhor<br />

os espera; é o que se lê na expressão de desânimo, tristeza e perplexidade desses<br />

adultos e crianças em sua trajetória pelo interior até a chegada em alguma inóspita<br />

capital. Pelo conteúdo crítico-social e pela estrutura narrativa, os Retirantes<br />

podem ser comparados como um todo ao ciclo A Revolta dos Tecelões de Käthe<br />

Kollwitz; Renina Katz transpõe a atitude de protesto e a revolta contra a injustiça<br />

social da artista alemã para um contexto brasileiro. Numa <strong>das</strong> primeiras imagens<br />

representa um grupo de retirantes caminhando, como o grupo da Marcha dos<br />

Tecelões de Kollwitz: a mesma concentração e determinação no grupo de homens,<br />

mulheres e crianças, apesar do pouco ou nada que lhes oferece a sorte; do<br />

ponto de vista da técnica, como já dito anteriormente, nas xilogravuras deste<br />

ciclo, Renina consegue também um efeito de gravura em metal, devido à incisão<br />

fina sobre a madeira. Numa outra imagem Renina representa uma mocinha com<br />

um menino no colo, cuja pobreza e expressão de perplexidade lembram personagens<br />

tão frequentemente presentes na obra de Käthe Kollwitz, como a menina<br />

com bebê no colo, do cartaz Em prol da Grande Berlim. Na série Favelas nota-se,<br />

187


188<br />

Renina Katz: Retirantes (linoleogravura,<br />

do álbum Antologia Gráfica, 1948-56)<br />

Käthe Kollwitz: As Mães (Die Mütter;<br />

xilogravura, da série Guerra, 1922/23<br />

como em Kollwitz, a preponderante presença feminina; assim como Käthe Kollwitz,<br />

que tematizou a vida da mulher proletária nos cortiços e subúrbios de Berlim no<br />

início do século, Renina relata sobre as favela<strong>das</strong> <strong>das</strong> grandes cidades brasileiras,<br />

e da dura condição de vida: carregando pesados fardos de madeira, baldes d’água<br />

morro acima e bacias de roupa, ou lavando roupas num espaço estreito, improvisado<br />

entre os barracos. Seg<strong>und</strong>o a artista, o predomínio da representação da<br />

mulher em sua obra deste período não é casual: assim como Käthe Kollwitz, Renina<br />

também percebe que é exatamente nas classes menos favoreci<strong>das</strong> que a mulher<br />

desempenha o papel mais importante, no sentido de assegurar a sobrevivência<br />

cotidiana da família (o que se constata nas imagens acima menciona<strong>das</strong>), pois<br />

muitas vezes o homem desesperado pelo desemprego e a miséria, entrega-se ao<br />

alcoolismo, à marginalidade ou abandona a família (KATZ 1990, p. 3). Uma gravura<br />

publicada na Antologia Gráfica e não pertencente aos ciclos acima mencionados<br />

é Morte no Laranjal; trata-se de uma <strong>das</strong> oito linoleogravuras que foram concebi<strong>das</strong><br />

para ilustrar o livro Subterrâneos da Liberdade de Jorge Amado; tanto do<br />

ponto de vista da temática (a violência contra a mulher trabalhadora, particularmente<br />

a camponesa) quanto da composição (o corpo que jaz oblíquo em relação<br />

ao observador) percebemos semelhanças com Estupro do ciclo A Guerra dos Camponeses<br />

de Käthe Kollwitz. Nas gravuras finais da Antologia Gráfica, nota-se uma<br />

mudança em direção à adaptação geométrica da figura humana, como em Mãe e<br />

filho e Meninos, além de maior espontaneidade no traço e no corte da madeira;<br />

mas a escolha dos motivos aludem ainda à presença de Käthe Kollwitz. Apesar <strong>das</strong><br />

mudanças estilísticas e ao desenvolvimento posterior de sua obra em outras direções<br />

(maior preocupação formal, arte neo-figurativa), Renina Katz mantém viva<br />

sua admiração pela artista alemã, tendo recentemente homenageado a artista<br />

com a obra Retrato de Käthe Kollwitz: uma versão aquarelada de um dos mais<br />

expressivos auto-retratos de Käthe Kollwitz. (KATZ 1990).<br />

Autvis, Brasil, 2007


Materiais de arquivo<br />

KATZ, Renina (1949): Biografia. Arquivo Bibliográfico do Museu de Arte Contemporânea de São Paulo.<br />

KATZ, Renina (1990): Entrevista à Eliana de Sá Porto De Simone. Arquivo particular de Eliana de Sá<br />

Porto De Simone.<br />

Bibliografia<br />

ALMEIDA, Paulo Mendes de (1976): De Anita ao Museu. São Paulo.<br />

AMARAL, Aracy (1981): Os Alemães. In: Suplemento Cultural do Estado de São Paulo, ano I / número<br />

40, 15/3/1981.<br />

AMARAL, Aracy (1984): .Arte para quê ? A preocupação social na arte brasileira 1930 - 1970.<br />

São Paulo.<br />

ANCONA LOPEZ, Telê Porto (org.)(1976): Taxi e Cronicas no Diário Nacional. São Paulo.<br />

ANDRADE, Mário de (1933): Käthe Kollwitz. In: Diário de São Paulo 21/9/1930.<br />

ARANTES, Otília Beatriz Fiori (1991): Mário Pedrosa - Itinerário crítico. São Paulo<br />

BECCARI, Vera D’Horta (1981): Renina Katz. In: Cultura (suplemento de O Estado de São Paulo),<br />

4/10/1981.<br />

BECCARI Vera d’Horta (1983) A busca de uma nova linguagem para a gravura. In: Livio Abramo -<br />

Catálogo de Exposição. Centro Cultural São Paulo.<br />

FERRAZ, Geraldo (1955): Lívio Abramo. In: Catálogo de exposição. Museu de Arte Moderna de São Paulo.<br />

FERREIRA, Ilsa Leal (1983): Lívio Abramo.<br />

(Dissertação de Mestrado – USP). São Paulo.<br />

KOLLWITZ, Käthe (1933): Catálogo de<br />

exposição: Clube dos Artistas Modernos. São<br />

Paulo.<br />

KOLLWITZ, Käthe (1989): Die Tagebücher.<br />

(Hrsg. von Jutta-Bohnke Kollwitz). Berlin.<br />

MOTTA, Flávio (1972): Renina Katz – Antologia<br />

Gráfica. Xilogravuras e Linóleos: 1948 - 1956.<br />

São Paulo.<br />

PEDROSA, Mário (1975): Entre a Semana e<br />

as Bienais. In: M<strong>und</strong>o, homem, arte em<br />

crise. São Paulo, p. 28.<br />

PEDROSA, Mário (1933) As tendências sociais<br />

da arte e Käthe Kollwitz In: O Homem Livre,<br />

p.1-14.<br />

SCARINCI, Carlos (1981): A Gravura<br />

Contemporânea no Rio Grande do Sul 1900<br />

- 1980. Alteridade / Identidade. (Dissertação<br />

de Mestrado – USP). São Paulo.<br />

SCHMALENBACH, Fritz (1948): Käthe Kollwitz.<br />

(Die Blauen Bücher). Bern.<br />

Renina Katz: Favela (linoleogravura, do<br />

álbum Antologia Gráfica, 1948-56)<br />

Dr a . Eliana de Sá Porto De Simone (São Paulo, 1957) se formou em História da Arte<br />

pela Universidade de São Paulo. Vive atualmente na Alemanha, onde trabalha como docente<br />

convidada na Universidade de Heidelberg e como curadora independente, realizando projetos<br />

na área da arte brasileira contemporânea.<br />

189


Recortes fotográficos: Encontro de educadores sociais,<br />

com participação de voluntárias alemãs, na ONG<br />

COMVIVA (Centro de Educação Popular Comunidade<br />

Viva); fonte do desenho de f<strong>und</strong>o: Instituto Paulo Freire<br />

(www.paulofreire.org, página: Paulo Freire/Vida e Obra)


Protagonismo juvenil:<br />

Proposta para a formação de educadores sociais e<br />

agentes voluntários em projetos sócio-comunitários.<br />

A contribuição do pensamento de Paulo Freire<br />

Alexandre Magno Tavares da Silva<br />

Caruaru<br />

Resümee: Dieser Artikel erörtert einige Erfahrungen <strong>und</strong> Reflexionen<br />

aus der Arbeit von Erzieher(inne)n <strong>und</strong> Volontären,<br />

die in sozialgemeinschaftlichen Projekten zur Betreuung<br />

von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen in Armutsverhältnissen in<br />

der nordostbrasilianischen Region des agreste pernambucano<br />

tätig sind. Ausgehend von den Überlegungen<br />

Paulo Freires werden wir uns auf den ‚Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendprotagonismus‘ als sozialerzieherische Kategorie<br />

<strong>und</strong> Praxis konzentrieren, um die Stellung dieses Konzepts<br />

im Lern- <strong>und</strong> Arbeitsprozess von Sozialerzieher(inne)n<br />

sowie freiwilligen Sozialarbeitern in nicht-schulischen Bereichen<br />

zu erörtern. Diese Diskussion deutet auf die Notwendigkeit<br />

hin, eine Reihe von sozialerzieherischen Erfahrungen<br />

zu fokussieren <strong>und</strong> zu thematisieren, die sich<br />

im sozialen Alltag in Ländern der ‚Dritten Welt‘ entfalten<br />

<strong>und</strong> die – obgleich reich an Bedeutung <strong>und</strong> Potenzial (für<br />

die Konfrontation mit einer lebensverneinenden Wirklichkeit)<br />

– Gefahr laufen, unbeachtet zu bleiben vonseiten der<br />

akademischen Aufmerksamkeit, die diese Bereiche nicht<br />

als Räume der Wissens- <strong>und</strong> Kompetenzentwicklung wahrnimmt.<br />

Andererseits intensiviert sich die Teilnahme junger<br />

Leute aus dem internationalen Volontariat, besonders<br />

auch aus Deutschland, die monatelang bei sozialgemeinschaftlichen<br />

Projekten mitwirken. Wenn der Kinder-<br />

<strong>und</strong> Jugendprotagonismus die theoretisch-methodologischen<br />

F<strong>und</strong>amente sozialerzieherischer Ausbildung<br />

<strong>und</strong> Arbeit verändert, so beeinflusst dieser Rahmen auch<br />

in bedeutsamer Weise die Theorie <strong>und</strong> Praxis solcher freiwilligen<br />

Sozialarbeit, die ermöglichen soll, <strong>das</strong>s diese interkulturelle<br />

Erfahrung dazu beiträgt, eine gerechte <strong>und</strong> solidarische<br />

Gesellschaft zu schaffen.<br />

Abstract: This article discusses some experiences and reflections<br />

arising from the work of educators and volunteers engaged<br />

191


192<br />

in social-communitary projects for care of children and juveniles<br />

in situations of poverty and social exclusion in Brazil’s<br />

northeastern region called agreste pernambucano. Based<br />

on cogitations of Paulo Freire the article concentrates on<br />

‚juvenile protagonism‘ as social educational category and<br />

practice, in order to discuss its place in the formative process<br />

of social educators as well as social volunteers in nonscholar<br />

environments. This discussion points to the necessity<br />

to focus on and bring up a series of experiences in social<br />

education which evolve in common social life in countries<br />

of the ‚Third World‘ and which – albeit charged with significations<br />

and potentials (for confronting a life negating reality)<br />

– risk to pass unregarded by academic attention that<br />

doesn’t perceive these contexts as spaces for the production<br />

of knowledge and competences. On the other side,<br />

there is an increasing participation of young people, from<br />

the international voluntariat, especially from Germany as<br />

well, who interact during months in social-communitary<br />

projects. If the infant-juvenile protagonism is changing the<br />

theoretical and methodological fo<strong>und</strong>ations of social educational<br />

training and work, this situation also significantly<br />

influences the theory and practice of such voluntary social<br />

work which should make it possible that this intercultural<br />

experience may contribute to construct an equitable and<br />

solidary society.<br />

Introdução<br />

Nos últimos anos tem-se percebido um aumento significativo do engajamento<br />

de jovens e adultos que, inquietos diante da situação de pobreza e marginalização,<br />

vão tentando dar sua parcela de contribuição no elaborar estratégias de<br />

compreensão e intervenção neste quadro. Podemos exemplificar a multiplicação<br />

dos espaços de participação popular: nos Projetos Sócio-Educativos, Observatórios<br />

da Cidadania, Conselhos Municipais de Direito, Movimentos Sociais<br />

e Populares, etc. muitos desses jovens e adultos atuam em projetos sócio-comunitários,<br />

que cada vez mais tornam-se alvos de pesquisas e programas<br />

extensionistas de universidades.<br />

Se por um lado a produção de conhecimentos no espaço acadêmico está carregada<br />

de possibilidades teóricas de interpretação e análise da estrutura social 1<br />

(sobretudo quanto aos elementos geradores <strong>das</strong> condições de marginalização e<br />

empobrecimento da maior parte da população e as respostas viabiliza<strong>das</strong> pela<br />

sociedade civil organizada), por outro lado torna-se necessário que este espaço<br />

acadêmico conheça de que forma está ocorrendo o processo de dar-se conta da<br />

realidade social, da produção de saberes nas práticas cotidianas, sugeri<strong>das</strong> pelos<br />

1. Com referenciais psicológicos, filosóficos, econômicos, sociológicos, antropológicos etc.


próprios educadores e educadoras sociais; torna-se necessário precisamente<br />

para possibilitar um reconhecimento e visualização do papel desses atores sociais<br />

(que atuam em espaços não-escolares, projetos sociais, de desenvolvimento,<br />

etc.) enquanto sujeitos históricos, produtores de saberes e conhecimentos, cuja<br />

experiência educativa é construída sobretudo com a colaboração da atuação<br />

<strong>das</strong> crianças, adolescentes e jovens na teia dos acontecimentos no cotidiano<br />

social (cf. GRACIANI 1997).<br />

Esta situação exige do espaço acadêmico um revisitar <strong>das</strong> formas:<br />

• de aprender com as experiências cotidianas,<br />

• de atuar junto às comunidades,<br />

• de dialogar com os espaços escolares e não-escolares,<br />

• no exercício de planejamento, execução e divulgação <strong>das</strong> pesquisas científicas,<br />

• na montagem dos projetos extensionistas, e especialmente<br />

• do compromisso ético enquanto acadêmicos, junto aos mais empobrecidos e<br />

marginalizados.<br />

1. Adolescentes e jovens enquanto protagonistas<br />

no espaço social: o para que e o para quem<br />

Embora se perceba a importância dos adolescentes e jovens em seu papel<br />

ativo dentro da estrutura social, estes ainda não foram reconhecidos plenamente<br />

enquanto sujeitos históricos e sociais, continuando sendo excluídos <strong>das</strong> formas<br />

ativas de participação social e política 2 . Uma <strong>das</strong> causas para esta postura decorre<br />

da imagem construída sobre a infância e a juventude ao longo da história (sobretudo<br />

sua ausência como função ativa dentro da História da Educação), que<br />

muitas vezes está enraizada em um olhar sociocêntrico por parte do m<strong>und</strong>o adulto<br />

3 . Por outro lado há também a falta de conhecimento em torno da produção de<br />

saberes e competências desses adolescentes e jovens que nas suas experiências<br />

de vida no cotidiano social, i.e. no m<strong>und</strong>o da escola, da comunidade, da família,<br />

do trabalho, etc (cf. SILVA 2001, p.12-13), tecem novas formas de olhar, interpretar<br />

e agir e cujo resultado está cada vez mais fazendo parte <strong>das</strong> iniciativas de formação<br />

dos educadores e educadoras sociais. Como exemplo podem ser citados os<br />

vários grupos de discussão sobre políticas públicas em alguns municípios do agreste<br />

pernambucano e que estão exigindo dos educadores sociais uma discussão em<br />

torno à necessidade de um maior interagir com os adolescentes e jovens dentro<br />

dessas questões, como também uma participação propositiva dos educadores e<br />

2. „ [...] el concepto de niño es un concepto culturalmente construido y por ello mismo no es<br />

universalizable en su formación ni homogeneizable; no puede por ello ser dogmático pues<br />

es por naturaleza evolutivo y sobre-determinado por los procesos socio-culturales y económicopolíticos.<br />

[...] Tenemos que reconocer que las culturas dominantes nos imponen una ideología<br />

del niño que es funcional a los proyectos sociales, económicos y políticos de la dominación“<br />

(SCHIBOTTO 1990, p. 363s).<br />

3. „Naquele momento, uma versão marginalizadora e preconceituosa <strong>das</strong> crianças <strong>das</strong> classes<br />

populares agudizava-se e tornava-se hegemônica, não só no cenário nacional mas em todos<br />

os países do então chamado Terceiro M<strong>und</strong>o, de tal modo que a infância pobre e fracasso na<br />

escola pública apareciam como elementos de um inseparável e quase insuperável problema<br />

social“ (KRAMER / LEITE 2001, p. 15).<br />

193


194<br />

educadoras junto aos conselhos municipais na área de saúde, educação, assistência<br />

social, desenvolvimento sustentável, etc.<br />

A conquista do Estatuto da Criança e do Adolescente 4 contribuiu significativamente<br />

para a reconstrução da imagem em torno <strong>das</strong> crianças, adolescentes e<br />

jovens, passando a serem vistos de Objetos (passivos) a Sujeitos Sociais (ativos)<br />

nas ações sócio-educativas; entretanto ainda se precisa trilhar um longo caminho,<br />

sobretudo no revisitar alguns paradigmas e conceitos no campo pedagógico<br />

e sociológico, para dar conta desta nova realidade.<br />

Esta mudança de olhar encontra na categoria Protagonismo um elemento<br />

favorável para o entendimento e a efetivação, não apenas dos direitos f<strong>und</strong>amentais<br />

<strong>das</strong> crianças, adolescentes e jovens (que está resumido no artigo 4º do Documento<br />

5 ), mas para dar-se conta do protagonismo implícito no cotidiano <strong>das</strong> lutas<br />

populares em suas diversas formas de manifestação. Nesse sentido, o resgate, o<br />

entendimento, a tematização em torno da criança, do adolescente e do jovem<br />

enquanto sujeitos históricos e sociais, passa necessariamente pelo conhecimento<br />

e discussão em torno da presença desse protagonismo também nas lutas populares.<br />

Este protagonismo na experiência da América Latina está assentado em um<br />

tripé, sendo as bases: (a) Teologia da Libertação, (b) Pedagogia Libertadora, (c)<br />

Surgimento dos Movimentos Sociais organizados.<br />

Protagonismo infanto-juvenil:<br />

referência no protagonismo <strong>das</strong> classes populares<br />

Para falar sobre o protagonismo infanto-juvenil gostaríamos de tomar como<br />

referência dois aspectos específicos: (1 o .) A situação de exclusão social na qual<br />

crianças e adolescentes estão inseridos, (2 o .) As estratégias de enfrentamento por<br />

parte <strong>das</strong> classes populares.<br />

Seg<strong>und</strong>o os dados do Atlas da exclusão social no Brasil (CAMPOS et al. 2003),<br />

a exclusão social no Brasil é mais acentuada nas regiões do Norte e do Nordeste.<br />

Contando com 28% da população nacional, o Nordeste abriga 72,1% do total de<br />

municípios brasileiros com maior índice de exclusão. No Nordeste, especialmente,<br />

60% da população vivem abaixo da linha de pobreza – 32% abaixo da linha de<br />

indigência – contra 20% na região Sudeste, onde apenas 6,8% da população<br />

vivem abaixo da linha de indigência. Em virtude da elevada incidência de pobreza<br />

no Nordeste, a região, apesar de abrigar apenas 29% da população brasileira,<br />

responde por mais da metade – 51% – dos pobres do País.<br />

Assim, nossa pobreza é em grande medida, um problema nordestino, embora<br />

esteja presente em todo o território nacional. O acumulo de renda por parte da<br />

minoria mais rica é apontado como algumas <strong>das</strong> causas desta situação, não apenas<br />

no Brasil mas em vários países do „Terceiro M<strong>und</strong>o“. Diante desta realidade, nas<br />

4. Lei 8.069 de 13 de julho de 1990 que garantiu os direitos <strong>das</strong> crianças e adolescentes no Brasil.<br />

5. „É dever da família, da comunidade, da sociedade em geral e do Poder Público assegurar,<br />

com absoluta prioridade, a efetivação dos direitos referentes à vida, à saúde, à alimentação,<br />

à educação, ao esporte, ao lazer, à profissionalização, à cultura, à dignidade, ao respeito, à<br />

liberdade e à convivência familiar e comunitária“ (BRASIL. Estatuto da Criança e do<br />

Adolescente, 1990).


pequenas comunidades situa<strong>das</strong> na periferia <strong>das</strong> grandes cidades, podem ser vistos<br />

diversos exemplos de estratégia de sobrevivência, através da atuação <strong>das</strong> pessoas<br />

no setor informal da economia. A nível m<strong>und</strong>ial a Organização Internacional do<br />

Trabalho, ao se referir sobre o conceito e impactos do setor informal, aponta o<br />

caráter do trabalho familiar, a pouca produtividade tecnológica e habilidade de<br />

trabalho, o ritmo intensivo, um desenvolvimento à margem dos processos sistemáticos<br />

de formação para o trabalho e sem regulação oficial pelas leis trabalhistas .<br />

Diante deste quadro pode-se verificar que quem tem jeito, corta cabelo, ou<br />

cozinha, faz docinhos para vender fora, costura, faz pequenos artesanatos, bijuterias,<br />

faz serviço de reparação em aparelhos eletrodomésticos, serviços de pintura,<br />

corte e costura, restauração de móveis e utensílios domésticos, serviços de reparo<br />

em residências, lavagem de roupas etc. No vasto m<strong>und</strong>o da economia informal<br />

proliferam as atividades que muitas vezes escapam ao controle do sistema político-educativo<br />

e econômico. Assim, milhares de pessoas em diversas partes do<br />

Brasil e do m<strong>und</strong>o vivem/sobrevivem destas estratégias, espaços criados, alguns<br />

conquistados e/ou mantidos sob pressão e/ou „aliança“ com o sistema. 6<br />

Neste processo é freqüente a presença de adolescentes e jovens 7 . Para muitos<br />

desses sujeitos poucas são as oportunidades cria<strong>das</strong> para que possam refletir sobre<br />

suas condições e experiências de vida enquanto trabalhadores ou iniciantes<br />

no m<strong>und</strong>o do trabalho.<br />

As experiênias nas quais estão inseridos estão rechea<strong>das</strong> de representações; é<br />

preciso ouví-las, possibilitar-lhes a palavra. Deixá-los falar do jeito que vivem e/ou<br />

sobrevivem, contar suas histórias, dizer como vêem o m<strong>und</strong>o, como percebem a<br />

realidade, seja na zona rural seja na urbana, apontarem as situações de exploração<br />

e como estão construindo estratégias de enfrentamento 8 .<br />

Eles e elas têm seus anseios, esperanças e projetos; e abrem pequenas „brechas“<br />

dentro do sistema socio-político-econômico, criando elementos para que possam<br />

permanecer dentro da vida. Entre esses elementos está a inserção nos movimentos<br />

sociais populares, nos quais pouco a pouco vão criando formas de identificar seus<br />

saberes e expressões de competências, numa forma de protagonismo. Ao falar sobre<br />

esta inserção do adolescente e o jovem enquanto Sujeitos Sociais, CUSSIANOVICH<br />

(1999), aponta o protagonismo como importante categoria na história sócio-cultural<br />

da criança e destaca seus cinco elementos importantes:<br />

• Protagonismo como um Direito Humano;<br />

• Protagonismo como expressão de solidariedade;<br />

• Protagonismo é independente de idade;<br />

6. Muitos desses espaços não oferecem apenas a possibilidade de gerar renda como também<br />

de formação alternativa para o trabalho, considerando que o acesso às agências formais de<br />

preparação para o m<strong>und</strong>o do trabalho é praticamente impossível para a maior parte da<br />

população.<br />

7. Seg<strong>und</strong>o dados da Organização M<strong>und</strong>ial do Trabalho publicado pelo UNICEF (1997), o<br />

número de crianças trabalhadoras no m<strong>und</strong>o está entre 100 e 200 milhões. Deste número<br />

cerca de 73% são compostos por meninas e meninos com idade de 10 a 14 anos.<br />

8. „A fala da criança é tão importante quanto a ação para atingir um objetivo. As crianças não<br />

ficam simplesmente falando o que elas estão fazendo; sua fala e ação fazem parte de uma<br />

mesma função psicológica complexa, dirigida para a solução do problema em questão“<br />

(VIGOTSKI 1999, p. 34).<br />

195


196<br />

• Protagonismo enquanto conceito e eixo prático da participação;<br />

• Protagonismo enquanto exercício de organização.<br />

Aqui, quer se entender o protagonismo dos adolescentes e jovens como expressão<br />

de suas críticas sobre a estrutura social criando formas e soluções para<br />

seus problemas.<br />

Entre los factores que han permitido la emergencia de ciertas<br />

expresiones de protagonismo de los niños y adolescentes trabajadores<br />

en América Latina podemos señalar: - La irrupción de las organizaciones<br />

populares como actores sociales; el protagonismo de la mujer popular<br />

organizada en la vida cotidiána de las poblaciones; los movimientos<br />

sociales en favor de la infancia en los últimos 15 años y su impacto en<br />

la defensa de los derechos del niño; las germinales experiencias de<br />

organización de los niños trabajadores de la década de 70 como el<br />

Manthoc en Perú, etc. y el esfuerzo por acompañar estas experiencias<br />

con una reflexión teórica. (MNNATSOP 1997, p. 90)<br />

Dentro do processo da luta pela sobrevivência, adolescentes e jovens, sobretudo<br />

em países do „Terceiro M<strong>und</strong>o“, vão elaborando e expressando diferentes formas<br />

de verem a si mesmos e o m<strong>und</strong>o que os cerca. Neste processo, o debate latinoamericano<br />

sobre o protagonismo infanto-juvenil vem ganhando gradativamente<br />

seu espaço e possui seus primeiros momentos concretos nos fins dos anos 70 9 .<br />

Este protagonismo possui suas raízes sobretudo no protagonismo <strong>das</strong> classes<br />

populares organiza<strong>das</strong> na América Latina e está ligado, como aludimos acima, às<br />

novas correntes pedagógicas que se concretizam:<br />

• na pedagogia da Libertação;<br />

• no surgimento dos movimentos sociais;<br />

• na Teologia da Libertação;<br />

• na organização de adolescentes e jovens trabalhadores.<br />

Dentro desta perspectiva, surge um novo olhar em torno da adolescência e<br />

da juventude, de perceber que por exemplo, a luta pelos Direitos não é monopólio<br />

exclusivo dos adultos, que adolescentes e jovens estão a cada dia construindo<br />

a necessidade de refletirem sobre suas experiências de vida. Antes uma <strong>das</strong><br />

grandes motivações eram as condições de trabalho, e hoje outros focos foram<br />

descobertos, como é o caso da luta pela produção cultural, políticas públicas e<br />

sociais, lazer, moradia, etc. Nesse sentido, podemos abaixo destacar algumas<br />

características desse protagonismo 10 .<br />

9. Como exemplo podemos citar o Movimiento de Niños Trabajadores Hijos de Obreros Cristianos<br />

MANTHOC, do Peru, que nasceu dentro do movimento da juventude trabalhadora em 1976.<br />

10. „[...] hablar de protagonismo infantil, de organización de los niños trabajadores, de los niños<br />

como sujeto y movimiento social significa romper con los esquemas dominantes, con prenociones<br />

y prejuicios fuertemente enraizados. Significa poner de cabeza la relación entre adulto y niño,<br />

proyectar un modelo de niñez totalmente diferente, en fin cuestionar radicalmente „la exaltación<br />

de la infancia como período de protección y preparación a la vida“ exaltación que „permite<br />

privatizar al niño, confinarlo al ámbito de la familia, de la pequeña vecindad; permite oír su<br />

tono de voz para no escuchar el mensaje de su palabra“ (Alejandro Cussiánovich: Algunas<br />

notas sobre los niños como sujeto social; documento del MANTHOC não publicado).


• Participação em ações que dizem respeito a problemas relativos ao bem comum,<br />

na escola (grêmios estudantis, conteúdos escolares cada vez mais relacionados<br />

à experiência de vida dos adolescentes e jovens), na comunidade<br />

ou na sociedade mais ampla – como exemplo podemos citar a iniciativa de<br />

uma professora de História em uma escola pública da cidade de Caruaru que<br />

estimulou seus alunos a escreverem a história do bairro no qual a escola está<br />

localizada. Nesta ação os alunos passaram a conhecer melhor as necessidades,<br />

avanços e as histórias dos personagens do bairro;<br />

• Participação na organização e planejamento <strong>das</strong> atividades, no que envolve o<br />

conhecimento relacionado, da execução, dos resultados – como exemplo<br />

podemos citar a participação de educandos e educan<strong>das</strong> na elaboração dos<br />

programas de atividades sócio-educativas (oficinas de arte, música, artesanato,<br />

horticultura, etc.);<br />

• Passagem da mensagem da cidadania criando acontecimentos em que a criança<br />

e os adolescentes ocupam uma posição de centralidade – Como por<br />

exemplo nas oficinas da cidadania realiza<strong>das</strong> em vários bairros da cidade de<br />

Caruaru (Vila Kennedy, Vila Pe. Inácio, Cedro, Morro Bom Jesus, COHAB III),<br />

nas quais os(as) adolescentes e jovens partilharam os diversos olhares em<br />

torno dos bairros em suas histórias, necessidades e possibilidades de enfrentamento<br />

da falta de condições de vida (carta ao prefeito, elaboração de um<br />

informativo sobre cidadania, etc.);<br />

• Formar superior de educação para a cidadania não por palavras, mas pelo<br />

curso dos acontecimentos – p. ex. através da participação de educandos e<br />

educan<strong>das</strong> em seminários e fóruns municipais de defesa dos direitos da criança<br />

e do adolescente, participação nas manifestações públicas como GRITOS<br />

DOS EXCLUÍDOS ou CAMPANHAS DA FRATERNIDADE, etc.;<br />

• Protagonismo concebe o adolescente e o jovem como fonte de iniciativa, que<br />

é ação; como fonte de liberdade, que é opção; e como fonte de compromissos,<br />

que é responsabilidade – p. ex. na participação de assembléias avaliativas nos<br />

projetos sócio-comunitários, na montagem de informativos, jornais, encontros<br />

de formação exclusivo para os adolescentes e jovens, etc.;<br />

• É um tipo de intervenção no contexto social para responder problemas reais<br />

em que a criança e o adolescente são atores principais.<br />

Os aspectos citados acima surgiram do diálogo entre educadores sociais e<br />

educandos(as) nos vários momentos de partilha de saberes dentro dos espaços<br />

escolares e não-escolares. 11 .<br />

2. Dando-se conta da rua enquanto espaço de atuação<br />

Refletindo sobre a leitura do protagonismo infanto-juvenil enquanto elemento<br />

na formação dos educadores sociais e de participantes em programa de<br />

11. Entre esses momentos podemos citar os Encontros Nacionais do Movimento de Meninos e<br />

Meninas de Rua, dos Seminários da Pastoral do Menor da CNBB, dos cursos de formação de<br />

educadores sociais, dos encontros de formação para meninos e meninas em projetos<br />

comunitários etc.<br />

197


198<br />

voluntariado internacional, partimos de uma <strong>das</strong> idéias do pensador Paulo Freire<br />

em torno do dar-se conta da criança, do adolescente e dos jovens como sujeitos<br />

sociais e culturais.<br />

Nesse processo de dar-se conta, podemos destacar alguns cenários, cujos<br />

elementos e acontecimentos presentes, favorecem a discussão e análise dos adolescentes<br />

e jovens em condições de pobreza como sujeitos sociais e protagonistas.<br />

Estes cenários são de importância f<strong>und</strong>amental no processo do dar-se conta<br />

do educador e da educadora social e do voluntário em torno da experiência do<br />

protagonismo.<br />

Podemos destacar alguns cenários importantes desta trama:<br />

• Nas condições de vida;<br />

• Na experiência de vida junto aos educadores dentro dos Movimentos Sociais<br />

Populares;<br />

Em suas condições de vida<br />

Não se pode discutir sobre protagonismo infanto-juvenil no que se refere ao<br />

seu dar-se conta, sem uma atenção ao processo sócio-histórico da sociedade<br />

globalizada e capitalista, sobretudo o desenrolar dos acontecimentos na sociedade<br />

brasileira 12 . A participação coercitiva sobretudo dos adolescentes e jovens<br />

brasileiros no m<strong>und</strong>o do trabalho, teria que extravasar <strong>das</strong> fábricas para os espaços<br />

públicos, transformando-se, com isso, os filhos dos trabalhadores em „meninos<br />

e meninas NA e DE rua“. 13<br />

Atualmente eles estão nas ruas e praças <strong>das</strong> grandes e pequenas cidades, tanto<br />

na zona rural como na urbana. Na andarilhagem pelas ruas, vão fazendo de<br />

tudo: produzem pequenos objetos, catam lixo (papel, vidros, latas etc.), vendem<br />

bombons, flores, santinhos e bugigangas, engraxam sapatos, lavam e tomam conta<br />

de automóveis em estacionamentos etc. Elas e eles se viram. Jogam futebol,<br />

brincam de esconder. Dormem na calçada, fogem da polícia. Estão nas ruas.<br />

A Rua, adolescentes e jovens<br />

Nas ruas, muitas vezes dormem, trabalham, amam, roubam, comem, andam<br />

sem rumo, brincam, apanham, vivem e morrem. A rua aparece como um espaço,<br />

em que muitas vezes é possível retirar aquilo que lhes foi tirado e negado pela<br />

estrutura social. São estas cenas que podem ser vistas ao se caminhar pelas ruas<br />

tanto dos grandes centros urbanos, como também <strong>das</strong> pequenas cidades situa<strong>das</strong><br />

nas áreas rurais, dando, assim, o sinal de que a presença de adolescentes e<br />

jovens presentes nas ruas não é mais um fenômeno característico dos grandes<br />

centros urbanos.<br />

12. „Diferentemente do caso europeu, a expansão capitalista brasileira, no século XIX não<br />

incorporou suficientemente os grupos proletários adultos disponíveis nas cidades, nem os<br />

liberados pelos setores produtivos estagnados, como na agricultura. Ao contrário, desarticulou<br />

a produção rural e a pequena indústria familiar, desestabilizando a vida <strong>das</strong> populações<br />

liga<strong>das</strong> a essas atividades e incrementando a migração interna, em busca de oportunidades,<br />

que a cidade não tinha condição de oferecer satisfatoriamente“ (SILVA 2001 p.14).<br />

13. O conceito de Meninos e Meninas de Rua é um dos mais ambíguos e de difícil manejo<br />

analítico-operativo, pois abarca um conjunto de situações muito diferencia<strong>das</strong> (ver<br />

SCHIBOTTO 1990, p. 176).


Entretanto, pensa-se muitas vezes que estar na rua é estar fora da casa, portanto<br />

sem laços familiares; é estar fora do mercado de trabalho. Nesse sentido, a rua<br />

sempre é pensada como um ‚estar fora‘. Esta mesma lógica representa as crianças,<br />

adolescentes e jovens. São chamados de: „pivetes, moleques, trombadinhas; cheira<br />

cola, menores de rua, marginal, malandro, meninos e meninas de rua, pibes, riesgo<br />

cien, gurises, chiquilines, callejeros, petisos, piranhas, pajeros fruteros, polilas, guambras,<br />

gamines, chinos, pelaos, chiquillos, cipotes, quinchos, güirros, bichos, patojos, chavos,<br />

pelones, palomos, etc“ (LIEBEL 1994, p. 14).<br />

Embora a experiência nas ruas possua uma marca de extrema marginalização,<br />

os que transitam por ela não podem ser tomados enquanto ‚fora‘ da<br />

realidade. Estar na rua não significa de modo algum a não existência de outros<br />

referenciais (sobretudo de família, de casa, de escola, da comunidade),<br />

muito pelo contrário, pode significar de início, no processo de aprendizagem<br />

que nela se desenrola, a busca de alternativas à precariedade desses espaços<br />

(da família, da casa e da escola). Essa aprendizagem possui muitas vezes um<br />

caráter contraditório do qual os educadores sociais e voluntários precisam<br />

estar atentos para não terem uma visão idealista e romântica da rua, como<br />

também não deixar de aproveitar os saberes que nela são produzidos e que<br />

são base para a construção de uma proposta sócio-educativa que venha a<br />

transformar a vida desses meninos e meninas (a mesma enxada que pode trazer<br />

a opressão para o trabalhador do campo, pode ser transformada em uma<br />

ferramenta de luta e transformação social).<br />

3. Paulo Freire e os educadores sociais: possibilidades de<br />

uma proposta alter(n)ativa no mirar a criança e o adolescente<br />

enquanto protagonistas na ação sócio-educativa<br />

No início dos anos 80 eram poucas as oportunidades ou reflexões que pudessem<br />

ajudar os educadores sociais a refletirem suas práticas e construirem uma<br />

proposta educativa centrada na necessidade dos educandos e educan<strong>das</strong>. Foi aí<br />

que em meados de 1983, Paulo Freire se encontrava com Educadores e Educadoras<br />

Sociais que atuam no atendimento a crianças e adolescentes em situação<br />

de pobreza no Brasil; o momento era o de refletir e construir com o educador<br />

(que tanto influenciou as propostas alternativas de atendimento à criança e ao<br />

adolescente), novas possibilidades de enfrentamento da situação de marginalização<br />

na qual as crianças, adolescentes e jovens se encontravam. Naquela ocasião<br />

ele chamava atenção para a construção de uma nova postura educativa dos<br />

educadores e educadoras sociais no trabalho junto às crianças, adolescentes e<br />

jovens que pouco a pouco se descobriam enquanto sujeitos sociais e protagonistas<br />

na ação sócio-educativa.<br />

A partir daquele momento, educadores/as embarcavam num processo de elaboração/criação<br />

constante de suas vi<strong>das</strong>, de suas práticas; vendo e revendo,<br />

fazendo e refazendo princípios educativos voltados a um atendimento não<br />

paternalista, mas sobretudo libertador. Esse processo procura tomar como ponto<br />

de partida o Pensar a Prática do cotidiano tanto nas situações de Rua, como<br />

dentro dos Projetos Sócio-Comunitários. Nesta convivência, educadores e edu-<br />

199


200<br />

cadoras iam construindo condições para efetivar situações grupais autênticas em<br />

que se pudessem captar as expectativas, histórias de vida, valores etc., através da<br />

real participação da Meninada 14 .<br />

Passados vinte e quatro anos, a participação ativa <strong>das</strong> crianças, adolescentes e<br />

jovens (sobretudo os dois últimos) no processo educativo vem se tornando um<br />

elemento presente e que vem colaborando, levantando novos olhares em torno<br />

da formação do/a educador/a social, e dos voluntários, no sentido de perceberem<br />

a necessidade de se identificarem com as necessidades dos adolescentes e<br />

jovens, sem perder sua individualidade, buscarem com eles e elas as propostas<br />

para suas inquietações do ‚existir no m<strong>und</strong>o‘, fazendo a história com as crianças, os<br />

adolescentes e os jovens.<br />

Necessário se torna o educador e a educadora perceberem que a Rua não é<br />

só medo e também não é só brincadeira. As crianças, adolescentes e jovens,<br />

efetivamente, tem de se ‚virar‘, aprender a se ‚safar‘ e a se ‚sustentar‘. Conquistar<br />

o ponto de venda, travar relações amigáveis ou não, com outras crianças (e<br />

mesmo com adultos) que com ela disputam o espaço, se inserir ou não em<br />

atividades ilícitas, lidar com a pressão dos órgãos repressivos, lidar com a identidade<br />

marginal criada, que ela sente no olhar <strong>das</strong> pessoas. Por outro lado na<br />

sociedade capitalista industrial, a rua deixa de ser um lugar comum, espaço<br />

geral de sociabilidade para se restringir a um espaço monofuncional destinado<br />

a circulação. O espaço de socialização livre da rua é substituído pelo <strong>das</strong> instituições,<br />

sobretudo, da escola.<br />

Procurando se dar conta da cotidianidade de vida nas ruas<br />

Para enfrentar este espaço resta sobretudo aos adolescentes e jovens desenvolverem<br />

estratégias de sobrevivência. Como destacou Paulo Freire em sua conversa<br />

com os educadores e educadoras sociais,<br />

Quem vive sob o ataque generalizado, metido num terreno como esse,<br />

ou inventa manhas de defesa, entre elas a da „insensibilidade“, ou não<br />

sobrevive. Para sobreviver tem que robustecer a pele, a mente, a<br />

emocionalidade. É preciso, então entender o jogo de manhas f<strong>und</strong>amentais,<br />

que são as expressões <strong>das</strong> resistências, que as crianças têm<br />

que criar para poderem sobreviver enquanto presenças no m<strong>und</strong>o.<br />

(FREIRE 1985, p. 20)<br />

É preciso, sobretudo entender a cotidianidade da rua, a cotidianidade do<br />

14. Como ilustração tem-se os vários seminários organizados em várias regiões do Brasil por<br />

vários educadores e coordenadores de projetos sócio-comunitários. Surgia também o<br />

Movimento Nacional de Meninos e Meninas de Rua, a Pastoral do Menor, e aqui no agreste<br />

pernambucano o MACA, Movimento de Apoio às Crianças e Adolescentes, cuja atividade<br />

principal era a de realizar um intercâmbio entre educadores e educadoras, no qual as<br />

experiências cotidianas do atendimento eram pensa<strong>das</strong> com o apoio de leituras no campo<br />

da educação particular. Educadores partilhavam e aprof<strong>und</strong>avam as experiências no campo<br />

da educação artística, da escolarização, da horticultura e criação de pequenos animais, da<br />

orientação e iniciação profissional,etc. Os encontros ocorriam dentro dos projetos sóciocomunitários<br />

o que dava oportunidade aos educadores em pensar em uma prática concretamente<br />

vivenciada.


perambular dessas crianças, adolescentes e jovens. Os autores alemães Manfred<br />

Liebel e Uwe von Dücker (acadêmicos militantes na causa da criança e do adolescente,<br />

sobretudo em países da América Central e Latina), apontam significativas<br />

contribuições para analisar e discutir a rua enquanto espaço que possibilita a<br />

geração de propostas educativas que tomam as crianças e adolescentes como<br />

atores sociais. No caso de Uwe von Dücker (1996), ele destaca que o importante<br />

é que as crianças e adolescentes se tornem totais participantes na construção de<br />

sua nova vida. Se queremos tirá-los <strong>das</strong> ruas é preciso que elas participem ativamente<br />

no desenrolar desse processo.<br />

Enquanto as condições sócio-econômicas da sociedade não mudarem essencialmente,<br />

a construção de uma proposta de trabalho social precisa ter<br />

como ponto de partida a vida real, <strong>das</strong> condições da<strong>das</strong>, dos saberes instituídos<br />

pelo grupo, e a proposta pode ser orientada nas seguintes teses: (a) a<br />

criança, o adolescente e o jovem devem aprender a sobreviver de forma humana<br />

no espaço da rua, (b) o adulto precisa estar junto e assumir seu papel de<br />

acompanhante e animador, (c) o adulto deve entender a experiência de vida<br />

<strong>das</strong> crianças, adolescentes e jovens nas ruas, (d) o adulto deve estar preparado<br />

para aprender com as crianças, os adolescentes e jovens e por último (e) a<br />

criança, o adolescente e o jovem precisam participar plena e ativamente na<br />

construção de suas vi<strong>das</strong>. 15<br />

4. Uma outra pedagogia é possível<br />

Nesse sentido, para os educadores, educadoras, voluntários e voluntárias sociais,<br />

o entendimento da dinâmica da rua é f<strong>und</strong>amental. Destaca-se aqui a necessidade<br />

de problematizar o cotidiano desta meninada nas ruas. Sobre este aspecto,<br />

Paulo Freire salienta que „a ação de educar tem necessariamente um ponto<br />

de partida que é o de ter a compreensão da criança, do adolescente e do<br />

jovem em sua própria cotidianidade, enquanto uma certa classe social, seus valores,<br />

aspirações, medos, etc. [...] é importante que se compreenda, por exemplo, o<br />

que é que se está dando dentro desta cotidianidade“ (FREIRE 1985, p. 20).<br />

Dentro desta mesma reflexão, é possível problematizar e tematizar a rua tomando-a<br />

como ponto de partida e não de chegada, enquanto espaço onde é<br />

possível construir uma proposta pedagógica, a chamada Pedagogia da Rua<br />

(Straßenpädagogik), que nasce do processo da educação popular e de um entendimento<br />

da andarilhagem <strong>das</strong> crianças, adolescentes e jovens pelas ruas, e as<br />

estratégias encontra<strong>das</strong> por eles para enfrentar a situação de marginalidade. Um<br />

dos princípios básicos para isso, como aponta Dücker (1996), é a criança, o adolescente<br />

e o jovem problematizarem, tematizarem a vivência nas ruas. Eles devem<br />

15. „Die vom Kind auf der Straße erworbenen Kenntnisse <strong>und</strong> Erfahrungen sollen ihm erhalten<br />

bleiben: (a) Das Kind soll menschliches Überleben auf der Straße erlernen; (b) Der Erwachsene<br />

soll hierbei die Rolle des Begleiters <strong>und</strong> “Animators” übernehmen; (c) Der Erwachsene<br />

soll versuchen, aus dem Verständnis einer Arbeit mit dem Kind zu dem Verständnis eines<br />

Lebens mit dem Kind zu gelangen; (d) Der Erwachsene soll sich bereitfinden, von <strong>und</strong> mit<br />

dem Kindern zu lernen; (e) Das Kind muß an dem Aufbau eines ‚neuen Lebens‘ voll beteiligt<br />

sein“. (DÜCKER 1996, p.195)<br />

201


202<br />

refletir a própria experiência de vida e aprender a formular possibilidades de intervenção,<br />

com o apoio e presença dos educadores nas ruas 16 .<br />

A partir dos aspectos já colocados, consideramos que o entendimento por parte<br />

dos educadores, educadoras e voluntários sociais, de que o trabalho educativo a<br />

ser feito com as crianças, adolescentes e jovens é de caráter político, ideológico e<br />

pedagógico. Isto torna-se condição f<strong>und</strong>amental para que os mesmos percebam<br />

que a problemática <strong>das</strong> crianças, adolescentes e jovens marginalizados não pode<br />

ficar apenas resumida a uma ocupação de trabalho produtivo, uma formação profissional,<br />

uma atividade de atendimento, escolarização, que muitas vezes pode significar<br />

um paternalismo, assistencialismo, sem haver uma reflexão em torno dos<br />

acontecimentos do cotidiano. Por detrás da vida de sofrimento e miséria em que<br />

vivem as crianças e adolescentes marginalizados, existe um m<strong>und</strong>o que gera certos<br />

valores, certas crenças, certos fazeres, e a própria forma como essas crianças e esses<br />

adolescentes elaboram os instrumentos de sobrevivência.<br />

Por estarem nas ruas, becos e praças cometendo as mais diversas ‚trelas‘, as<br />

crianças, adolescentes e jovens em situação de pobreza, estão em um m<strong>und</strong>o que<br />

não é o m<strong>und</strong>o do educador, e inevitavelmente, há um choque que leva o educador<br />

a se colocar numa postura de querer converter o m<strong>und</strong>o dos meninos e<br />

meninas de rua sem antes haver um processo reflexivo e crítico. Para Paulo Freire,<br />

„quando se pensa em converter o outro é porque temos um ponto de partida, que<br />

é o seguinte: onde se está é melhor, o que a gente é, é melhor, senão não haveria<br />

porque converter o outro“ (FREIRE 1985, p. 12).<br />

No trabalho sócio educativo dentro de projetos sócio-comunitários, os educadores,<br />

educadoras e voluntários devem colaborar no sentido de as crianças,<br />

adolescentes e jovens chegarem „a entender, em termos críticos, a razão de ser<br />

de sua luta; precisam entender a sua andarilhagem pelas ruas <strong>das</strong> cidades, [...] só<br />

mudam quando se assumem na vida em que vivem. Quer dizer, não mudam definitivamente<br />

mas se preparam para mudar“ (ibid.).<br />

Ainda seg<strong>und</strong>o Freire, esta tarefa, para o educador enquanto facilitador do<br />

processo educativo, não é fácil, pois<br />

demanda sensibilidade social e histórica [...] ao lado do entendimento<br />

cientificamente rigoroso da realidade que ensina ao educador a compreender<br />

certas formas de comportamento de pura rebeldia ou de<br />

outro fatalismo entre os oprimidos para, com eles, tentar a sua superação<br />

(...) pois o nosso amor por esses meninos negados no seu direito<br />

de ser, só se expressa autenticamente quando nosso sonho é o de<br />

criar um m<strong>und</strong>o diferente. (Ibid., p. 13)<br />

16. „Viele lateinamerikanische Straßenpädagogen haben über educación popular zu einem<br />

neuen Bewußtsein gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> die zum Gr<strong>und</strong>prinzip einer ‚Erziehung auf der Straße’,<br />

einer vom Lebensfeld des Kindes ausgehenden Pädagogik erhoben: für die auf der Straße<br />

lebenden Kinder soll die Straße ‚Lernstoff‘ bleiben <strong>und</strong> die ‚Problematik‘ eines menschlichen<br />

Lebens auf der Straße ständig thematisiert werden. Ihre ‚Lebenssituation‘ soll ihnen ‚bewußt‘<br />

<strong>und</strong> nicht ausgeklammert werden, <strong>und</strong> schließlich zum Inhalt allen Lernens werden.<br />

Sie sollen reflektieren <strong>und</strong> selbst neue Lösungen formulieren lernen, wobei die Straßenpädagogen<br />

die Rolle der ‚Provozierenden‘ oder ‚Animierenden‘ einnehmen“ (DÜCKER 1996,<br />

p.47; ver também LIEBEL 1994, p. 94-99).


Os(as) educadores(as) e voluntários(as) indo para além da cotidianidade<br />

O compreender a cotidianidade não é um simples conversar com os educandos<br />

sobre as atividades desenvolvi<strong>das</strong>, mas especialmente dar-se conta do educando,<br />

‚o ir além dele‘. O perguntar-se quem é essa criança, adolescente e jovem e o que ela<br />

significa para o educador, educadora, voluntário e voluntária. Para Freire, nesse<br />

momento, a mente da meninada muda de atitude, muda de postura, muda de<br />

posição com relação ao comportamento da mente no normal, no cotidiano. Quer<br />

dizer, a mente se enquadra numa posição de quem quer conhecer.<br />

Nesse sentido, é preciso imergir no cotidiano do educando (da criança, do adolescente<br />

e jovem de rua, que está diante do educador confeccionando um objeto,<br />

realizando uma atividade de escolarização, horta, arte, lazer, esporte, etc). Entretanto,<br />

jamais poderemos ficar nele. Devemos mergulhar no m<strong>und</strong>o cotidiano para sair<br />

dele com a meninada, numa compreensão destes enquanto participantes de uma<br />

classe social, com seus valores, aspirações, medos etc. Acreditamos, portanto, que<br />

todos esses elementos devem estar presentes nos princípios que orientam uma proposta<br />

formativa para educadores, educadoras sociais e voluntários sociais.<br />

Considerações finais<br />

Resta agora, tentar perceber, na prática histórica de um projeto de atendimento<br />

sócio-comunitário, a aplicabilidade destes elementos pensados por Paulo Freire<br />

e por outros pensadores, comprometidos com a elaboração de uma prática<br />

educativa direcionada à transformação da realidade com os oprimidos.<br />

Sabe-se, contudo, como Paulo Freire, que as práticas libertadoras estão sujeitas<br />

a limites, e é a própria experiência que ensina, pois „muitas vezes se faz o que se<br />

pode e não o que se gostaria de fazer. Há limites econômicos, limites ideológicos,<br />

sociais, limites históricos“ (FREIRE 1985, p. 22).<br />

O autor apresenta um grande desafio no sentido de possibilitar a construção de<br />

elementos que compõem um novo olhar dos educadores, educadoras e voluntários<br />

em relação às crianças, adolescentes e jovens, sobretudo aqueles que estão em<br />

situação de extrema pobreza. Considerando que esta reflexão esteve baseada na<br />

experiência junto a educadores e educadoras sociais no agreste pernambucano<br />

queremos concluir esta nossa reflexão deixando algumas questões:<br />

• Quais seriam as implicações deste texto para os agentes de desenvolvimento<br />

(voluntários ou não), que estão vindo para a América Latina afim de colaborar<br />

no processo do trabalho social em projetos sociais e comunitários em ONGs,<br />

Movimentos Sociais e Comunitários, Associações Rurais e Urbanas, etc?<br />

• Quais as implicações do protagonismo infanto-juvenil, como também dos sujeitos<br />

envolvidos em movimentos sociais, comunitários, ONGs, Projetos Sociais,<br />

etc, para a formação e acompanhamento desses agentes do desenvolvimento?<br />

• Que concepção de diálogo intercultural poderá ser construída a partir desta<br />

nova ótica de relacionamento com os oprimidos e excluídos da sociedade?<br />

203


204<br />

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Prof. Dr. Alexandre Magno Tavares da Silva se doutorou em Ciências da Educação<br />

(Pedagogia Social) pela Johann Wolfgang Goethe-Universität (Frankfurt). Educador Social,<br />

Antropólogo e docente-pesquisador da área de F<strong>und</strong>amentos da Educação da Universidade<br />

Federal de Pernambuco – Campus de Caruaru. E-mail: tavaresmagno@uol.com.br –<br />

tavaresmagno@gmail.com


Der Sertão <strong>und</strong> Amazonas<br />

von Spix <strong>und</strong> Martius:<br />

Von der Dürre, durch die<br />

Verheißung bis zur Öde<br />

Karen Lisboa<br />

São Paulo<br />

Resumo: O presente artigo tem por objetivo apresentar as principais<br />

imagens que Spix e Martius criaram sobre o Sertão e o<br />

Amazonas no contexto da expedição que realizaram pelo<br />

Brasil entre 1817 a 1820, relatada na obra Reise in Brasilien.<br />

Em conformidade com os preceitos de Alexander von<br />

Humboldt para representar a natureza num estilo estético-científico<br />

e sob a forte influência da filosofia romântica,<br />

a natureza brasileira, além de ser objeto científico, é apreendida<br />

como fonte de sentimentos, inspirando os naturalistas<br />

a uma viagem sentimental pelo Brasil, em que a região<br />

equatorial assume especial importância. Além da experiência<br />

com o m<strong>und</strong>o da natureza, focaliza-se nesse breve<br />

texto a imagem que os autores constroem sobre a população<br />

indígena. Enquanto as imagens sobre a natureza<br />

tropical transmitem em sua maioria prazer e fascínio, rompendo<br />

com as teses decadentistas acerca da natureza tropical<br />

defendi<strong>das</strong> por pensadores europeus no século XVIII,<br />

nas representações dos índios essa matriz é retomada e<br />

corroborada por valores cristãos. Ao longo <strong>das</strong> descrições,<br />

evidencia-se a dúvida dos autores quanto à humanidade<br />

dos indígenas e da sua capacidade de absorver a<br />

‚civilização‘, questão central que ocupava os europeus<br />

desse período sobretudo quando na função de viajante.<br />

Abstract: The present article aims to present the main images which<br />

Spix and Martius created about the Sertão and the<br />

Amazonas during the expedition through Brazil they realized<br />

between 1817 to 1920 and related thereafter in their<br />

opus Reise in Brasilien. In conformity with the principals<br />

Alexander von Humbold established for representing nature<br />

in an aesthetical-scientific style and <strong>und</strong>er the strong<br />

influence of romantic nature philosophy, the Brazilian nature,<br />

besides being a scientific object, is apprehended as a<br />

source of sentiments inspiring the naturalists to a senti-<br />

205


206<br />

mental voyage through Brazil, in which the equatorial region<br />

assumes special importance. Apart from the experience<br />

with the natural world, this short article focuses on<br />

the image which the authors weave about the indigenous<br />

population. While the images of the tropical nature mostly<br />

transmit pleasure and fascination, breaking with the<br />

decadentist thesis about tropical nature, as defended by<br />

European thinkers in the 18 th century, in the images about<br />

the indigenous this matrix is reassumed and reinforced by<br />

Christian values. Along the descriptions the authors doubts<br />

about the humanity of the indigenous and their aptitude for<br />

absorbing ‚civilization‘ become evident, as representing the<br />

central question which occupied the Europeans of that<br />

period particularly when acting as traveling explorers.<br />

Im Juli 1817 treffen die beiden bayerischen Naturforscher Johann Baptist Spix<br />

<strong>und</strong> Carl Friedrich Philipp Martius in Rio de Janeiro ein, im Zuge einer Expeditions-<br />

Reise im Auftrag der Königlichen Akademie der Wissenschaften in München, unter<br />

der Schirmherrschaft von König Maximilian Joseph I. von Bayern. Ursprünglich<br />

sollte die Expedition von Buenos Aires aus über <strong>das</strong> heutige Chile, Ecuador <strong>und</strong><br />

Venezuela bis nach Mexiko führen. Die unstabile politische Lage der Region jedoch<br />

erschwerte die Umsetzung dieses Projekts. Dann aber kam der Zufall zu Hilfe, <strong>und</strong><br />

Brasilien wurde unerwartet zum neuem Reiseziel: Die Erzherzogin Leopoldine aus<br />

Österreich wurde mit dem portugiesischen Erbprinzen Dom Pedro (später Dom<br />

Pedro I.) vermählt; infolgedessen ging sie nach Brasilien, wohin sich die portugiesische<br />

königliche Familie <strong>und</strong> der ganze Hof vor den napoleonischen Truppen seit<br />

1808 zurückgezogen hatten. Im Gefolge Leopoldines befanden sich Gelehrte, Naturforscher<br />

<strong>und</strong> Maler, die <strong>das</strong> Land erk<strong>und</strong>en sollten 1 . Da ihr Vater, Kaiser Franz I.,<br />

Schwiegersohn des Bayrischen Königs war, ergab es sich, <strong>das</strong>s Spix <strong>und</strong> Martius als<br />

Naturforscher der Münchner Akademie im Gefolge der Braut Platz fanden.<br />

In Rio bekamen Spix <strong>und</strong> Martius eine Stadt zu sehen, die geprägt war durch<br />

die Präsenz nicht nur einer großen Anzahl von versklavten Afrikanern, sondern<br />

auch von Europäern verschiedener Nationen, vor allem Briten, die seit 1810 wirtschaftliche<br />

Privilegien <strong>und</strong> Vorteile genossen 2 . Aufgr<strong>und</strong> der Niederlassung der<br />

portugiesischen Krone in der Kolonie, die 1808 die Häfen für andere Nationen<br />

hatte öffnen lassen, endete <strong>das</strong> alte Kolonialsystem <strong>und</strong> damit die Exklusivität der<br />

portugiesischen Kolonialherrschaft in Brasilien. Ausländer konnten von da an<br />

ohne größere Hindernisse <strong>das</strong> Land besuchen; viele von ihnen kamen mit kommerziellen<br />

wie auch wissenschaftlichen Absichten. Diesen Prozess bezeichnete<br />

1. Dazu zählten der Botaniker Emanuel Pohl, der Mineraloge Rochus Schüch, der italienische<br />

Naturforscher Giuseppe Radi, der Zoologe Johann Natterer, der Entomologe Johann Christian<br />

Mikan, der Hofgärtner Heinrich Wilhelm Schott, der Maler Thomas Ender, der Jäger Ferdinand<br />

Wilhelm Sochor, die Zeichner G.K. Frick, Johann Buchberger <strong>und</strong> Franz Joseph Frühbeck.<br />

2. Schon seit 1810 hatten die Briten <strong>das</strong> Recht, in Brasilien Handel zu betreiben, wie auch zu<br />

reisen <strong>und</strong> wohnhaft zu werden (PINTO 1975, S.133).


der Historiker Sergio Buarque de Holanda als eine „Wiederentdeckung“ Brasiliens,<br />

die geleitet war von den neokolonialistischen Interessen der europäischen<br />

Nationen in Übersee (HOLANDA 1976, S. 13).<br />

Spix <strong>und</strong> Martius verweilten ein halbes Jahr in Rio, um die Hauptstadt des<br />

damaligen Vereinten Königreiches von Portugal, Brasilien <strong>und</strong> der Algarve sowie<br />

ihre Umgebung zu erk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> die Reise vorzubereiten. Durch den Austausch<br />

mit anderen Naturforschern vor Ort, wie mit Baron von Langsdorff 3 , beschlossen<br />

Spix <strong>und</strong> Martius, <strong>das</strong>s die Reise <strong>das</strong> Innere des Landes nach Nordosten <strong>und</strong><br />

Norden hin erfassen sollte, da die Küsten wie auch <strong>das</strong> südwestliche Hinterland<br />

schon bekannter waren 4 . So planten Spix <strong>und</strong> Martius den Sertão im Nordosten<br />

zu durchqueren, was einige ihrer Kollegen für äußerst gefährlich hielten – der<br />

‚Flug des Ikarus‘ diente als Vergleich <strong>und</strong> Mahnung.<br />

Kurz vor Weihnachten 1817 brachen sie mit ihrer Reisetruppe auf. In einem<br />

Zeitraum von zweieinhalb Jahren legten sie zirka 10.000 km in Brasilien zurück.<br />

Von Rio aus sind sie nach São Paulo geritten, dann nach Nordosten, durch die<br />

heutigen B<strong>und</strong>esländer Minas Gerais, Bahia, Piauí, Maranhão, Pará <strong>und</strong> schließlich<br />

durch den Norden in <strong>das</strong> Amazonasgebiet gelangt. 1820 trafen sie nach langer<br />

Schifffahrt wieder in Europa ein, dort ging es über Land von Lissabon bis nach<br />

München weiter, wo sie im Dezember schließlich feierlich vom König empfangen<br />

wurden. Mittlerweile waren die zahlreichen Kisten ihrer zoologischen, botanischen,<br />

mineralogischen <strong>und</strong> ethnografischen Sammlungen, die während der Expedition<br />

sukzessive abgeschickt worden waren, heil in München eingetroffen. Und<br />

dann begann die letzte <strong>und</strong> ebenfalls große Etappe der Reise: <strong>das</strong> Aufarbeiten des<br />

Gesammelten, Gesehenen, Erlernten, Erlebten <strong>und</strong> Erfahrenen. Eine Herkules-<br />

3. Georg Heinrich von Langsdorff studierte Medizin <strong>und</strong> Naturwissenschaften in Göttingen. Auf<br />

einer Weltumsegelung mit Kapitän Krusenstern gelangte er 1803 auch an die Küste Brasiliens.<br />

1813 kommt er als Generalkonsul Russlands nach Brasilien zurück. Während seines<br />

siebenjährigen Aufenthalts hat er Expeditionen angeleitet <strong>und</strong> selbst unternommen sowie<br />

Forscher auf seiner Fazenda Mandioca in der Nähe von Rio aufgenommen. 1821 war Langsdorff<br />

wieder in Europa <strong>und</strong> organisierte eine neue Expedition an der Astronomen, Botaniker <strong>und</strong><br />

Künstler teilnehmen sollten. 1824 wurde diese Reise angetreten, dann aber zunächst wieder<br />

abgebrochen. Der Maler Johann Moritz Rugen<strong>das</strong> nahm zu Beginn an ihr Teil, verließ die<br />

Truppe dann aber <strong>und</strong> machte alleine seinen Weg auf dem großen Kontinent. Ein Jahr später<br />

begann die endgültige Reise, die über São Paulo nach Goiás bis zum Amazonasstrom führte.<br />

Der Maler Hercules Florence hat die unglückliche Expedition beschrieben, in der sein Kollege<br />

Adrien Aimé Taunay in einem Fluss ertrank <strong>und</strong> Langsdorff für immer seine geistigen Fähigkeiten<br />

verlor (siehe LISBOA 1997, S. 29-32).<br />

4. Wie zum Beispiel Friedrich von Sellow, der 1814 von Langsdorff aufgefordert, in Brasilien<br />

landet, um an den Küsten des brasilianischen Nordostens botanische <strong>und</strong> zoologische Studien<br />

zu unternehmen. Auch Wilhelm Freyreiss, Gründer der Einwandererkolonie Leopoldina im<br />

Süden Bahias, bereiste mit Langsdorff <strong>und</strong> dem Prinzen Wied-Neuwied Minas Gerais. Wied-<br />

Neuwied reiste alleine weiter, nach der Küste von Bahia, <strong>und</strong> sammelte reichlich Material<br />

<strong>und</strong> Erlebnisse, die er zwischen 1820 <strong>und</strong> 1821 in seiner Reise nach Brasilien wiedergab.<br />

Wilhelm Ludwig von Eschwege arbeitete schon seit 1811 für die portugiesische Krone mit<br />

dem Auftrag mineralogische Studien zu betreiben wie auch die Metallindustrie <strong>und</strong> den<br />

Kohleabbau in der Region von Minas Gerais einzuführen. Seine Beobachtungen <strong>und</strong> Reiseerfahrungen<br />

hat er im Buch Pluto Brasiliensis festgehalten. Als 1816 in Europa wieder Frieden<br />

herrscht, kommen auch die Franzosen nach Brasilien. Neben der wichtigen Künstlermission,<br />

zu der die Maler Nicolas Antoine Taunay <strong>und</strong> Jean-Baptist Debret zählen, bereist<br />

der Naturforscher August de St.Hilaire <strong>das</strong> Land während sechs Jahren im Auftrag des<br />

Musée d’Histoire Naturelle de Paris (LISBOA 1997, S. 29 ff).<br />

207


208<br />

aufgabe, da der Wissenshorizont dieser Gelehrten sich noch im enzyklopädischen<br />

Rahmen bewegte. Ihr Forschungsspektrum erstreckte sich somit über zoologische,<br />

botanische, mineralogische, physikalische, astronomische <strong>und</strong> klimatische<br />

Fachbereiche. Darüber hinaus, dank der historischen <strong>und</strong> philosophisch-philologischen<br />

Vorbereitungen, über die die Forscher durch die Akademie verfügten,<br />

war es auch ihr Anliegen<br />

[...] die Beobachtung der verschiedenen Sprachen, der Volkstümlichkeiten,<br />

der mythischen <strong>und</strong> historischen Überlieferungen, der älteren <strong>und</strong> neueren<br />

Monumente, als Schriften, Münzen, Idole, <strong>und</strong> überhaupt Alles dessen,<br />

was über den Culturzustand <strong>und</strong> über die Geschichte der Ureinwohner<br />

sowohl, als der sonstigen Bewohner Brasiliens [...] [festzuhalten].<br />

(SPIX / MARTIUS 1980, S. 6-7)<br />

Die dritte Etappe beschäftigte Spix <strong>und</strong> Martius bis zu ihrem Lebensende. Spix 5<br />

starb sechs Jahre nach der Heimkehr an einem Fieber – ein ‚Erbe‘ der Expedition <strong>und</strong><br />

Schicksalsschlag. Somit konnte der 45-jährige Zoologe sein Forschungsvorhaben<br />

nicht beenden. Martius 6 jedoch lebte noch weitere Jahrzehnte <strong>und</strong> wurde ein<br />

Brasilienspezialist. Fast alles, was er schrieb, natur- oder geisteswissenschaftlich, handelte<br />

von Brasilien: der Reisebericht, die ethnografischen Studien, die literarischen<br />

Texte wie Gedichte <strong>und</strong> ein Roman – Frey Apollonio, ein Roman aus Brasilien 7 –, <strong>das</strong><br />

Traktat Bemerkungen über die Verfassung einer Geschichte Brasiliens 8 <strong>und</strong> <strong>das</strong> botanische<br />

Werk. Zu Letzterem zählt vor allem die wissenschaftliche Leitung <strong>und</strong> Herausgabe<br />

der Flora Brasiliensis – sehr wahrscheinlich die größte Flora über ein Land 9 – <strong>und</strong><br />

5. Johann Baptist von Spix, 1781 in Höchstadt an der Aisch geboren, studierte Philosophie, Theologie<br />

<strong>und</strong> Medizin in Würzburg. Er promovierte in Medizin, widmete sich dann aber der Zoologie.<br />

Bevor er nach Brasilien kam, war er auf Forschungsreisen in Frankreich, Italien <strong>und</strong> in der Schweiz.<br />

Als ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften <strong>und</strong> Kurator der zoologischen<br />

Sammlung übernahm er die Leitung der Brasilienexpedition. Nach seiner Rückkehr aus<br />

Brasilien wurde er zum Hofrat ernannt <strong>und</strong> zum Ritter erhoben. Er starb 1826.<br />

6. Carl Friedrich Philipp von Martius, 1794 in Erlangen als Sohn eines Hofapothekers geboren,<br />

studierte Medizin, promovierte in Botanik <strong>und</strong> trat 1815 als Eleve in die Bayerische Akademie<br />

der Wissenschaften. Nach der Brasilienreise ebenfalls in den Adelsstand erhoben bekam<br />

er den Lehrstuhl für Botanik an der Universität München <strong>und</strong> wurde zum lebenslänglichen<br />

Sekretär der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ernannt. Er war korrespondierendes<br />

Mitglied vieler Akademien, u. a. des Instituto Histórico e Geográfico Brasileiro (IHGB)<br />

<strong>und</strong> starb 1868 im Alter von 74 Jahren.<br />

7. Der Roman blieb bis 1992 unveröffentlicht. Sein Herausgeber, Erwin Theodor Rosenthal, hat<br />

ihn gleichzeitig ins Portugiesische übersetzt unter dem Titel Frey Apollonio - um romance do<br />

Brasil publiziert.<br />

8. Der Aufsatz Bemerkungen über die Verfassung einer Geschichte Brasiliens wurde 1845 erstmals<br />

in der portugiesischen Übersetzung von Wilhelm Schüch in der Revista do Instituto<br />

Histórico e Geográfico veröffentlicht. Der Originaltext wurde erst kürzlich von E. T. Rosenthal<br />

entdeckt, transkribiert <strong>und</strong> im Martius-Staden-Jahrbuch 2003 veröffentlicht (siehe hierzu<br />

LISBOA 1997, S. 178ff <strong>und</strong> GUIMARÃES 1987; 1988).<br />

9. Die vollständige Herausgabe der Flora Brasiliensis hat 66 Jahre erfordert. In ihren 40 Bänden<br />

werden 22.767 Pflanzenarten beschrieben, davon 5869 zum ersten Mal. Als Martius starb,<br />

war erst ein Drittel fertig. Zwei Nachfolger haben <strong>das</strong> Projekt weitergeführt, welches mit<br />

dem Beitrag von 60 Botanikern <strong>und</strong> verschiedener Herbarien aus ganz Europa (Paris, Wien,<br />

St. Petersbug, Genf, Berlin, London) zustande gekommen ist. Das Projekt wurde auch vom<br />

brasilianischen Kaiser D. Pedro II mitfinanziert.


<strong>das</strong> bedeutende dreibändige Werk Historia Naturalis Palmarum mit seinen 245 handkolorierten<br />

Lithographien nach Vorlagen von Martius sowie Rugen<strong>das</strong>, Ferdinand<br />

Bauer, Eduard Poeppig <strong>und</strong> auch Frans Post. 10<br />

Der erste Band der Reise in Brasilien kommt 1823 heraus; er umfasst die Überfahrt<br />

nach Rio, den dortigen Aufenthalt, die Reise nach São Paulo bis Villa Rica<br />

(heute Ouro Preto in Minas Gerais). Der zweite Band wurde 1828 herausgegeben,<br />

bereits nach Spix’ Tod. In diesem Band wird die Reise von Villa Rica bis São Luis<br />

beschrieben. Der dritte <strong>und</strong> umfangreichste Band, von 1831, behandelt die neunmonatige<br />

Expedition im Amazonasgebiet. Dazu erschien noch ein Kompendium<br />

indianischer <strong>und</strong> afro-luso-brasilianischer Lieder <strong>und</strong> Melodien, von den Reisenden<br />

selbst gesammelt <strong>und</strong> notiert, <strong>und</strong> der prachtvolle Atlas mit 41 Lithographien<br />

in Folio von Landschafts-, Städte-, Pflanzen-, Tier- <strong>und</strong> Menschenbildern sowie<br />

sämtlichen Landkarten.<br />

Das Reisewerk von Spix <strong>und</strong> Martius zählt zu den relevantesten wissenschaftlichen<br />

Beiträgen über die Natur <strong>und</strong> Gesellschaft Brasiliens der ersten Hälfte des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts. Als geschichtliche Quelle wie auch als Forschungsobjekt an sich,<br />

behält <strong>das</strong> Werk dieser Autoren weiterhin einen wichtigen Stellenwert für die<br />

Geistes- <strong>und</strong> Naturwissenschaften. Mein Anliegen ist es, auf den folgenden Seiten<br />

einen Einblick in <strong>das</strong> Natur- <strong>und</strong> Menschenbild dieser Forscher zu gewinnen.<br />

Dabei werde ich mich auf die Reisebeschreibungen über den Sertão <strong>und</strong> den<br />

Amazonas konzentrieren, da diese Regionen eine besondere Rolle im Geamtprojekt<br />

der Naturforscher spielten. Der Sertão, d. h. vorwiegend <strong>das</strong> Hinterland des heutigen<br />

Nordostens, war, wie schon erwähnt, damals weitgehend terra incognita;<br />

<strong>und</strong> <strong>das</strong> Amazonasgebiet war ihr so ersehntes <strong>und</strong> zentrales Ziel, wo jedoch die<br />

Widersprüche ihres Natur- <strong>und</strong> Menschenbildes am stärksten in Erscheinung treten,<br />

speziell bei Beobachtungen über die indigene Bevölkerung, die hier aus diesem<br />

Gr<strong>und</strong> ebenfalls herangezogen werden.<br />

Die Natur als Gegenstand des Fühlens <strong>und</strong> Klassifizierens<br />

Die artenreiche Natur wurde von den Autoren in zwei verschiedenen Dimensionen<br />

erfasst: Auf der einen Seite wurden die Naturobjekte durch eine rein pragmatische<br />

Herangehensweise nach klassifikatorischen Kriterien untersucht <strong>und</strong> beschrieben.<br />

Sie folgten Carl Linnés System, <strong>das</strong> sich Mitte des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts in den<br />

europäischen Forscherkreisen als Norm durchgesetzt hatte. Somit wurde eine einheitliche<br />

‚Sprache‘ in der Forschung ermöglicht. Die Linnésche Aufgabe lautete,<br />

„die ganze Natur taxonomisch zu erfassen“. Dafür mussten die Naturforscher, wie<br />

auch Spix <strong>und</strong> Martius, an die notwendigen ‚Quellen‘ gelangen <strong>und</strong> vor allem neue<br />

Arten ‚entdecken‘: Herbarien wurden aufgestellt, Exemplare aus dem tierischen<br />

Reich gesammelt, Beobachtungen vor Ort notiert, Messungen aller Art durchgeführt<br />

<strong>und</strong> dazu eine große Anzahl von Zeichnungen gefertigt. Dieses umfangreiche<br />

Material diente dann zum späteren Beschreiben <strong>und</strong> Klassifizieren der Naturobjekte<br />

<strong>und</strong> ihrer Dokumentierung (LEPENIES 1976, S. 55ff, S. 153; THOMAS 1989, S. 102-3;<br />

VANZOLINI 1981, S. IX; GEORGE 1985, S. 39; FOUCAULT 1985, S. 148).<br />

10. Über weitere bio-bibliographische Informationen zu Spix <strong>und</strong> Martius siehe LISBOA 1997, Kap. II.<br />

209


210<br />

Andererseits beruhte die Beziehung der Autoren zur Natur nicht nur auf dieser<br />

pragmatischen Behandlung, gekennzeichnet vom Sammeldrang <strong>und</strong> der<br />

Entdeckungseuphorie, sondern auch auf einer gemütsbewegenden Dimension.<br />

Beeinflusst u. a. von Alexander von Humboldt – ein Leitstern dieser <strong>und</strong> vieler<br />

anderer Naturforscher, die die Tropen besuchten 11 – sowie von Goethes Vorsätzen,<br />

Wissenschaft mit Dichtung zu vereinigen, <strong>und</strong> der Naturphilosophie Schellings erklärte<br />

Martius, wenige Jahre nach seiner Heimkehr aus Brasilien in einem Brief an<br />

Goethe, <strong>das</strong>s Klassifizieren <strong>und</strong> Systematisieren nicht ausreichen, um die Natur zu<br />

verstehen. Man müsse vielmehr den „Geist“ der Natur erfahren, welcher nur durch<br />

<strong>das</strong> „Naturgefühl“ des Beobachters erfasst werden kann. Dieses Naturgefühl zwischen<br />

dem Forscher <strong>und</strong> der beobachteten Natur führe schlussendlich zum Verständnis<br />

ihres „Ganzen“. Zum Ausdruck gebracht werde es durch die Poetisierung<br />

<strong>und</strong> Ästhetisierung der Naturgegenstände, ganz im Sinne der romantischen<br />

Stimmungsbeziehung 12 <strong>und</strong> des „Naturgemäldes“ Humboldts, einer Anleitung, um<br />

die tropische Natur zu beschreiben 13 . In diesem Sinne erklärte Martius:<br />

So wird also die Natur selbst als Gegenstand der Wissenschaft in ihren<br />

Totalbeziehungen einem Kunstwerk ähnlich, <strong>das</strong> höchste Kunstwerk<br />

nicht allein in objektiver, sondern auch in subjektiver Beziehung<br />

auf den Forscher. (Brief von Martius an Goethe vom 18.5.1825; wiedergegeben<br />

in A. MARTIUS 1932, S. 80-82)<br />

Somit ging es Spix <strong>und</strong> Martius auch darum, die Naturbeschreibungen pragmatischer<br />

Art mit einer literarischen <strong>und</strong> künstlerischen Darstellung zu vereinen.<br />

Dadurch offenbarte sich die wissenschaftliche Expedition ebenfalls als eine sentimentale<br />

Reise durch Brasilien.<br />

Der Sertão <strong>und</strong> Amazonas:<br />

von der Dürre durch die Verheißung bis zur Öde<br />

Bevor die Forscher ihr ersehntes Ziel erreichten, nämlich die an Arten so<br />

reichen äquatorialen Breiten Brasiliens, legen sie einen langen <strong>und</strong> beschwerlichen<br />

Weg durch den Sertão des Südostens (heute Minas Gerais) <strong>und</strong> des Nordostens<br />

zurück, mit einem Abstecher nach Salvador <strong>und</strong> Ilhéus. Auf dieser Etappe<br />

der Expedition, stoßen die Reisenden an ihre körperlichen <strong>und</strong> seelischen Grenzen.<br />

Die klimatischen Umstände erschweren die Erreichung ihrer Ziele <strong>und</strong> gefährden<br />

den täglichen Ablauf der Reise. Nicht nur die beteiligten Expeditions-<br />

11. Die Naturforscher Alexander von Humboldt <strong>und</strong> Aimé Bonpland bereisten <strong>das</strong> nordwestliche<br />

Südamerika <strong>und</strong> die Karibik von 1799 bis 1804. 1807 erscheint Ansichten der Natur, Humboldts<br />

erste wissenschaftlich-literarische Abhandlung über die Reise in <strong>das</strong> tropische Amerika.<br />

12. Die „Stimmungsbeziehung“ zwischen Mensch <strong>und</strong> Natur ist eine typische Eigenschaft der<br />

romantischen Literatur (siehe HUDDE 1982, S. 135-52).<br />

13. In Ansichten der Natur definiert Humboldt <strong>das</strong> „Naturgemälde“: es kann ein Bild, ein<br />

Gedicht oder eine wissenschaftliche Abhandlung sein <strong>und</strong> dient dem „fühlenden Menschen“<br />

als Beweis von dem Zusammenwirken der Kräfte <strong>und</strong> der Erneuerung des Genusses, welche<br />

die Betrachtung der Natur in den Tropen bietet (HUMBOLDT 1986, S. 7-9; LÖSCHNER 1982, S.<br />

251). In Bezug auf Spix <strong>und</strong> Martius habe ich dieses Thema an anderer Stelle eingehender<br />

behandelt (LISBOA 1994 <strong>und</strong> 1997).


teilnehmer waren betroffen, sondern auch die Lasttiere, die zum Transport unentbehrlich<br />

waren. Die Dürre im Sertão führte zur Verdurstung einiger Maulesel; die<br />

drohenden Gefahren vor Augen verließ der Reiseführer eines Tages ohne Vorwarnung<br />

die Truppe, ein schwerer Verlust angesichts des Mangels an Karten <strong>und</strong><br />

Wegweisern durch die menschenleeren Gegenden; der Indio Custódio, der Spix<br />

<strong>und</strong> Martius während acht Monaten begleitete, tat es ebenso; einer ihrer stärksten<br />

Männer, ein Mestize, erlag einem Schlangenbiss (SPIX / MARTIUS 1980, S. 713).<br />

Sämtliche gesammelten Gegenstände (wie Skelette, Tiere, Mineralien) wurden<br />

zwangsläufig zurückgelassen, da nicht mehr genügende Maultiere zum Transport<br />

vorhanden waren. Als die Truppe in den damals noch kleinen <strong>und</strong> ärmlichen Ort<br />

Feira de Santana eintraf, im Hinterland des heutigen Bahia, bekamen die Reisenden<br />

<strong>das</strong> „vollkommene Bild der Sertanejos“ zu sehen, denen der Zweck ihrer Reise unglaublich<br />

schien. Einer der Bewohner äußerte seine Zweifel: „Wie könnt Ihr glauben,<br />

(...) <strong>das</strong>s man sich um Käfer <strong>und</strong> Kräuter willen der Gefahr zu verdursten aussetzen<br />

werde?“, <strong>und</strong> war sich sicher, sie seien auf der Suche nach Edelmetallen (ebd., S. 719).<br />

In der Tat verlagerten sich die Prioritäten der Expedition, so<strong>das</strong>s Spix <strong>und</strong> Martius<br />

<strong>und</strong> die ganze Truppe, trotz aller Planungen <strong>und</strong> vorbereitenden Maßnahmen, nur<br />

noch auf der Suche nach Wasser waren. Dem Leser wird der Überlebungskrieg in der<br />

Caatinga mit Details nahe gebracht – verlassene Ortschaften <strong>und</strong> Fazen<strong>das</strong>, ausgetrocknete<br />

Zisternen, armselige Sertanejos, die sich vor kümmerlichen Quellen drängeln<br />

<strong>und</strong> st<strong>und</strong>enlang auf etwas Wasser warten; an einer dieser Quellen wird den<br />

Reisenden der Zugang verboten, weil man sie für Engländer hielt (ebd., S. 721); <strong>und</strong><br />

wenn sie Wasser fanden, war es oft verdorben. Obwohl ungenießbar, tranken Vieh<br />

<strong>und</strong> Mensch davon. Sie erkrankten, litten an anhaltender Diarrhöe, Fieber, Kopfweh<br />

<strong>und</strong> Schwindel (ebd., S. 723-24). Martius erlebte, wie auch sein Diener mit Fieber in<br />

„fürchterlichen Zuckungen, in Kinnbackenkrampf <strong>und</strong> Wahnsinn verfiel, <strong>und</strong> [...] am<br />

vierten Tage starb“ (ebd., S. 808). Im letzten Teil der Überquerung des Sertão, im heutigen<br />

Staat Piauí, sind die Forscher so krank <strong>und</strong> erschöpft, <strong>das</strong>s sie tagelang in Hängematten<br />

von Sklaven aus den benachbarten Fazen<strong>das</strong> getragen wurden.<br />

Trotz allem werden Messungen gemacht, die Natur beobachtet, Fazen<strong>das</strong> besucht,<br />

Ortschaften beschrieben; der Meteorit von Bendegó untersucht, beim legendären<br />

Monte Santo, wo r<strong>und</strong> 80 Jahre später der schreckliche Bürgerkrieg<br />

von Canudos ausbricht. Auch die schon in sehr geringer Zahl vorhandenen<br />

Indianerdörfer werden erk<strong>und</strong>et (Coroados, Puri, Botocudos, Camacãs). Beschreibungen<br />

des Sertão werden festgehalten:<br />

Wir sahen große Pflanzungen von Bohnen, Mais <strong>und</strong> Mandioca, in denen<br />

alle Pflanzen [...] von heftiger Sonnenhitze verbrannt waren; andere Felder,<br />

von unmäßiger Dürre ausgetrocknet, waren seit mehreren Jahren unbestellt<br />

geblieben, <strong>und</strong> wiesen Reihen von blattlosen Strünken auf, aus denen<br />

bereits alles Leben entwichen war. [...] große Viehherden waren überdies<br />

vor Hunger <strong>und</strong> Durst umgekommen. (SPIX / MARTIUS 1980, S. 730)<br />

Zudem werden die Menschen des Sertão regionsbezogen differenziert charakterisiert.<br />

Der Sertanejo aus Bahia habe an Bildung <strong>und</strong> Lebensbedürfnissen<br />

den Sertanejos aus Minas Gerais nachgestanden (ebd., S. 510/11). Die Beschreibung<br />

soll es bezeugen:<br />

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212<br />

Eine kleine schmutzige Hütte, umgeben mit einer vernachlässigten Bananenpflanzung,<br />

eine Roça, die mit Bohnen <strong>und</strong> Mandioca bestellt wird, eine<br />

Heerde von Rindvieh <strong>und</strong> einigen mageren Pferden, welche selbst für<br />

ihren Unterhalt sorgen muss, <strong>das</strong> befriedigt die höchsten Wünsche dieser<br />

verwilderten Leute. Sie leben von Vegetalien, getrockenem Rindfleische,<br />

Milch, einer Art süsser Käse (Requeixão) [sic], <strong>und</strong> [...] von den Früchten<br />

des Imbuzeiro-Baumes. [...] Jagd <strong>und</strong> die Freuden der sinnlichen Liebe<br />

sind die Genüsse, durch welche sie sich für ihre Einsamkeit entschädigen.<br />

Selten sieht man unter ihnen einen Weissen von rein europäischer Abkunft;<br />

viele sind Mulatten, andere [...] beurk<strong>und</strong>en die vermischte Abstammung<br />

von Indianern <strong>und</strong> Weissen [...]. (Ebd., S. 607)<br />

In São Luiz angekommen, nach dreizehnmonatiger Reise von Minas Gerais<br />

aus, wurden die durch Krankheit <strong>und</strong> Erschöpfung geschwächten Forscher im<br />

Hause des englischen Konsuls bis zur ihrer ges<strong>und</strong>heitlichen Besserung gepflegt.<br />

Unterdessen erhielten sie auch die Erlaubnis, die Provinz von Grão-Pará zu bereisen,<br />

was sie für den nächsten <strong>und</strong> letzten Abschnitt der Brasilienreise aufmunterte,<br />

wie der Bericht zeigt:<br />

Nun stand uns jene reichste <strong>und</strong> w<strong>und</strong>ervollste Natur offen, welche<br />

sich unter der Segnung des Aequators ausbreitet; <strong>und</strong> da wir während<br />

der ganzen Reise von allen Wünschen der Seele uns dorthin getrieben<br />

fühlten, so war es, als gäbe uns die erhaltene Erlaubnis jede verlorene<br />

Kraft des Körpers zurück, um jenes Land der letzten Verheissung erfolgreich<br />

zu besuchen. (Ebd., S. 850)<br />

Amazonien war der Höhepunkt ihrer Expedition, den sie erst nach fast zwei<br />

Jahren Brasilienreise erreichten, davon über ein Jahr von Minas Gerais aus quer<br />

durch den Sertão bis nach São Luis. Dort sind sie ihrer Berufung als Naturforscher<br />

am besten gefolgt. An keinem Ort bewährte sich ihr Pragmatismus, Sammeldrang<br />

<strong>und</strong> ihre Entdeckerfreude, vermischt mit ihrem Naturgefühl, so sehr wie in den<br />

äquatorialen Breiten, wo <strong>das</strong> „Gleichgewicht“ „der schönsten Harmonie aller irdischen<br />

Weltkräfte“ zu spüren war. Darüber hinaus sei diese Gegend<br />

für süsse herzzerschmelzende Wehmut geschaffen, <strong>das</strong> Land philosophischer<br />

Beschaulichkeit, heiliger Ruhe, tiefen Ernstes. (Ebd., S. 1101)<br />

In diesem Sinne standen die beiden Forscher ganz im Gegensatz zu den Philosophen<br />

der Aufklärung, die um jeden Preis die „Entartung“ der tropischen Natur<br />

mit diffamatorischen Theorien zu beweisen versuchten 14 . Der Enthusiasmus der<br />

Forscher beruhte dabei nicht nur auf ihrer metaphysischen Wahrnehmung, <strong>das</strong>s<br />

14. Hier nehme ich Bezug auf die ausführliche Analyse von Antonello Gerbi zu den Entartungstheorien<br />

über die tropische südamerikanische Natur <strong>und</strong> ihre Urbewohner, eingeführt von<br />

Buffon 1749 in seiner Histoire naturelle, générale et particulière, <strong>und</strong> die daraus folgende<br />

Debatte innerhalb der philosophischen <strong>und</strong> naturwissenschaftlichen Kreise des 18. <strong>und</strong> 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts. Innerhalb dieser Debatte ist Alexander von Humboldts enthusiastisches Naturbild<br />

der Tropen als ein Durchbruch gegenüber den diffamierenden Theorien zu verstehen<br />

<strong>und</strong> stellt einen Gegensatz zu den Ansichten Hegels dar, der weiterhin die Inferiorität der<br />

Natur <strong>und</strong> der (Ur-)Bewohner im südlichen Amerika vertrat (GERBI 1960).


die äquatorialen Breiten die reine Harmonie tellurischer Kräfte ausstrahle <strong>und</strong><br />

dadurch eine Gegend seien, die philosophische Kontemplationen, Wehmut, heilige<br />

Ruhe <strong>und</strong> Ernst ermögliche, sondern auch auf der Beobachtung der artenreichen<br />

Natur. Als Anhänger vitalistischer Naturlehren erkannten sie in jedem Lebewesen<br />

eine immanente Lebensfreude. Und diese manifestiere sich nirgendwo stärker<br />

als in den äquatorialen Breiten, dank der üppigen Natur:<br />

Noch nie war uns die Schöpferkraft der mütterlichen Erde so majestätisch<br />

entgegengetreten, als hier, wo in überschwenglicher Fülle die Pflanzenwelt<br />

hervorquillt. (SPIX / MARTIUS, 1980, S. 882)<br />

Dass Martius an dieser Stelle einen literarischen Exkurs in den Reisebericht<br />

einfügt, ist nicht unüberlegt <strong>und</strong> soll noch einmal auf die Einzigartigkeit des Ortes<br />

hinweisen: „Da dieser Reisebericht auch ein Spiegel unseres innern Lebens seyn<br />

[soll] [...], so sey erlaubt ein Blatt des Tagebuches beizufügen“:<br />

Pará, den 16. August 1819. Wie glücklich bin ich hier, wie tief <strong>und</strong> innig<br />

kommt hier so Manches zu meinem Verständnisse, <strong>das</strong> mir vorher unerreichbar<br />

stand! Die Heiligkeit dieses Ortes, wo alle Kräfte sich harmonisch<br />

vereinen, <strong>und</strong> wie zum Triumphgesang zusammentönen, zeitigt Gefühle<br />

<strong>und</strong> Gedanken. Ich meine besser zu verstehen, was es heisse, Geschichtsschreiber<br />

der Natur seyn. [...] Es ist 3 Uhr Morgens; ich verlasse<br />

meine Hangmatte, denn der Schlaf flieht mich Aufgeregten; ich öffne die<br />

Läden, ich sehe hinaus in die dunkle, hehre Nacht [...]. (Ebd., S. 888).<br />

Das sind die einführenden Worte einer Schilderung, wo <strong>das</strong> Schauspiel der tropischen<br />

Natur in der Vielfältigkeit ihrer Lebenwesen, Geräusche, Gerüche, Farben, Spannungen<br />

<strong>und</strong> Bewegungen so beschrieben wird, <strong>das</strong>s alle Sinnesorgane angesprochen<br />

werden. Im Reisebericht ist kaum ein besseres Beispiel ästhetischer Behandlung<br />

der Naturobjekte im Sinne des Humboldtschen Naturgemäldes als dieses zu finden.<br />

Dem Leser sollte es möglich sein, die Gefühle <strong>und</strong> den Genuss der Naturbetrachtung<br />

in den Tropen nachzuvollziehen <strong>und</strong> sich dabei auch zu bilden. Ebenfalls wird darauf<br />

hingewiesen, <strong>das</strong>s nirgendwo die göttliche Dimension der Natur ausgeprägter sei als<br />

im Amazonasgebiet. Der Exkurs endet mit dem Einbruch der Nacht:<br />

In Schlaf <strong>und</strong> Traum sinkt die Natur, <strong>und</strong> der Aether, sich in ahnungsvoller<br />

Unermesslichkeit über die Erde wölbend, von zahllosen Zeugen<br />

fernster Herrlichkeit erglänzend, strahlt Demuth <strong>und</strong> Vertrauen in <strong>das</strong><br />

Herz des Menschen: die göttlichste Gabe nach einem Tag des Schauens<br />

<strong>und</strong> des Geniessens. (SPIX / MARTIUS 1980, S. 893)<br />

Die theophanische Dimension dieser Urwälder, die der romantischen Seele<br />

der Forscher Genuss sowie wissenschaftliche Erkenntnis verschaffen, erleidet<br />

zuweilen eine Bedrohung durch <strong>das</strong> erschreckende <strong>und</strong> „blutrünstige“ grüne<br />

Dickicht. In vielen Situationen gleicht die Reise der Autoren einem Gang durchs<br />

Fegefeuer. Sie sind nicht ganz ges<strong>und</strong> aus São Luís bzw. Belém losgefahren, <strong>und</strong> ihr<br />

Zustand, trotz aller Motivation, verbessert sich während der Reise natürlich nicht.<br />

Da waren der andauernde Regen, die Strapazen der Reise an sich, schlechte<br />

Übernachtungslager <strong>und</strong> zudem Mosquitos <strong>und</strong> allerlei Ungeziefer, die sie „zur Ver-<br />

213


214<br />

zweiflung peinigten“, gegen welche sie „lästige Kriege“ nutzlos führen mussten, denen<br />

selbst die Indios nicht entkamen. Kaimane <strong>und</strong> onças holten die Truppe nicht<br />

selten aus dem Schlaf. Der Tropenwald konnte erdrückend werden. Am Rio Negro<br />

wurde, um ein Beispiel zu nennen, laut Spix die Reise durch die „Stille <strong>und</strong> Einförmigkeit<br />

des Waldes“ „melancholisch“. (SPIX / MARTIUS 1980, S. 1292)<br />

Ihres Forscherauftrages sind sie sich bewusst, aber der Preis ist hoch. Als Martius,<br />

getrennt von Spix, um die Zeit besser auszunutzen, den westlichsten Teil seiner<br />

Expedition erreicht, an der Grenze zum heutigen Kolumbien, lässt die anfängliche<br />

Faszination <strong>und</strong> Euphorie um die äquatorialen Gegenden nach:<br />

Hitze, Mosquiten <strong>und</strong> Krankheit hielten mich in der verdunkelten Cajüte<br />

zurück, als endlich [...] <strong>das</strong> jubelnde Geschrei der Indianer [...] mich<br />

hervorrief. Tief ergriffen vom Schauder dieser wilden Einsamkeit setzte<br />

ich mich nieder, um eine Zeichnung davon zu entwerfen [...]; aber ich<br />

versuche nicht, dem Leser die Gefühle zu beschreiben, welche sich<br />

während dieser Arbeit in meiner Seele drängten. Es war diess der<br />

westlichste Ort, wohin ich meine Reise ausdehnen konnte. Während<br />

er mich mit allen Schrecknissen einer Menschheit fremden, starren<br />

Wildniss einengte, fühlte ich mich von einer unaussprechlichen Sehnsucht<br />

nach Menschen, nach dem gesitteten, theuren Europa ergriffen.<br />

Ich dachte, wie alle Bildung, wie <strong>das</strong> Heil der Menschheit aus Osten<br />

gekommen sey. Schmerzlich verglich ich jene glücklichen Länder mit<br />

dieser furchtbarsten Oede; [...]. (Ebd., S. 1256-57)<br />

Der hier kurz zusammengefasste Hinweis, <strong>das</strong>s die Europäer die Träger der<br />

‚Zivilisation‘ sind, steht im Hintergr<strong>und</strong> aller Bewertungen, die die Autoren über<br />

die Bevölkerung Brasiliens <strong>und</strong> ihren Entwicklungszustand machen. Ausgehend<br />

von rassentheoretischen Auffassungen, vertraten Spix <strong>und</strong> Martius die Ansicht,<br />

<strong>das</strong>s die Europäer, als Angehörige der „caucasischen Rasse“, intellektuell <strong>und</strong><br />

moralisch wie auch in ihrem Wissen <strong>und</strong> ihren Leistungen den übrigen „Rassen“<br />

(gelb <strong>und</strong> schwarz) überlegen seien (ebd., S. 259-60). Von diesem ethno- <strong>und</strong><br />

eurozentrischen Standpunkt aus wird die indigene wie auch die afrikanische bzw.<br />

die ethnisch gemischte Bevölkerung beobachtet <strong>und</strong> untersucht. Die Forscher<br />

möchten feststellen, auf welchem zivilisatorischen Niveau sie leben <strong>und</strong> ob sie<br />

„zivilisierbar“ seien. Auch sie zweifeln schließlich, wie andere Naturforscher <strong>und</strong><br />

Denker im 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>ert, an der Menschlichkeit der „americanischen<br />

Rasse“. Sie fragen sich, ob die Indios nun Halbmenschen, Halbtiere, Wilde, bis zur<br />

„Rohheit entartete Wesen“ seien. Diese Zweifel standen noch ganz im Rahmen<br />

der Debatte des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts über die Unterlegenheit nicht nur der Natur,<br />

sondern auch der Ureinwohner der tropischen Breiten. Es w<strong>und</strong>ert nicht, <strong>das</strong>s<br />

der berühmte deutsche Anatom <strong>und</strong> Anthropologe Johann Friedrich Blumenbach<br />

zu dieser Zeit den Schädel eines Botocudo-Indio untersuchte <strong>und</strong> überzeugt<br />

war, <strong>das</strong>s es sich um <strong>das</strong> Bindeglied zwischen dem Orang-Utan <strong>und</strong> dem<br />

Menschen handle. Damit gehörte er nicht zur menschlichen Gattung (CUNHA<br />

1992, S. 5-8, STOCKING 1987, GERBI 1960).<br />

Spix <strong>und</strong> Martius besuchten einige Indios des Volkes der Muras, am Amazonas:<br />

Sie betraten die rauchige Hütte eines Anführers,


um den ärmlichen <strong>und</strong> unreinlichen Hausrath zu überschauen. Noch<br />

nirgends war <strong>das</strong> rohe Elend des americanischen Wilden so unheimlich<br />

<strong>und</strong> traurig erschienen. Alles deutete darauf hin, <strong>das</strong>s selbst die einfachsten<br />

Bedürfnisse auf eine fast thierische Weise befriedigt würden.<br />

(SPIX / MARTIUS 1980, S. 1071)<br />

Laut der Beschreibung waren die Männer, Frauen <strong>und</strong> Kinder total unbekleidet.<br />

„Der Ausdruck der Physiognomien war wild, unstät <strong>und</strong> niedrig“ (ebd.). Als Martius,<br />

am Rio Japurá, eine Ortschaft der noch ziemlich isolierten Miranhas besuchte, <strong>und</strong><br />

dort wegen seines schlechten Ges<strong>und</strong>heitszustands ein paar Wochen verweilte, glaubte<br />

er Zeuge aller „Erscheinungen ihres verwahrlosten Lebens“ gewesen zu sein:<br />

Die Überzeugung stellte sich vor Allem fest in mir, <strong>das</strong>s dieser Wilde<br />

von Gott, als dem gütigen Vater <strong>und</strong> Erzeuger aller Dinge, keine Vorstellung<br />

hat. [...] Die Seele dieses gefallenen Urmenschen ist nicht unsterblich<br />

[...] <strong>und</strong> nur Hunger <strong>und</strong> Durst mahnen an die Existenz. Eben<br />

deshalb wird <strong>das</strong> Leben nicht als hohe Gabe geachtet, <strong>und</strong> der Tod ist<br />

gleichgültig. (Ebd., S. 1268)<br />

Anhand christlich-moralischer Werte werden die Miranhas, von denen Martius<br />

ein kleines Mädchen als ‚lebendes Kabinettobjekt‘ bis nach München mitnimmt 15 ,<br />

der untersten Stufe der menschlichen Entwicklung, fast den Tieren, zugeordnet:<br />

Das Band der Liebe, schlaff. Statt Zärtlichkeit Brunst, statt Neigung<br />

Bedürfniss; die Mysterien des Geschlechts entweiht <strong>und</strong> offen, der Mann<br />

aus Bequemlichkeit halb bekleidet, <strong>das</strong> nackte Weib Sclavin; statt der<br />

Scham Eitelkeit; die Ehe ein nach Laune wechselndes Concubinat; des<br />

Hausvaters Sorge sein Magen [...]; sein Zeitvertreib Völlerei <strong>und</strong> dumpfes<br />

Nichtsthun; der Weiber Schaffen blind <strong>und</strong> ohne Ziel; ihre Freuden<br />

schnöde Lust; die Kinder der Eltern Bürde, darum vermieden; väterliche<br />

Neigung aus Berechnung, mütterliche aus Instinct; Familienväter ohne<br />

Sorgen [...]; Erziehung äffische Spielerei der Mutter [...] . (Ebd., S. 1268)<br />

Der telegraphische Stil der Beschreibung endet mit kategorischen Worten:<br />

So ist <strong>und</strong> lebt der Urmensch dieser Wildniss! Auf der rohesten Stufe<br />

der Menschheit, ist er ein beklagenswerthes Rätsel sich selbst <strong>und</strong> dem<br />

Bruder aus Osten, an dessen Brust er nicht erwarmet, in dessen Arm<br />

er, von höherer Humanität wie von einem bösen Hauche getroffen,<br />

hinschwindet <strong>und</strong> stirbt. (Ebd., S. 1268)<br />

Um dieses „Rätsel“ zu erklären, <strong>das</strong> schließlich den Wert <strong>und</strong> Erfolg der zivilisatorischen<br />

Aufgabe der Europäer in Frage stellt, wird der Gr<strong>und</strong> des Untergangs<br />

15. Das Miranha-Mädchen wie auch ein Junge aus dem Stamm der Puri waren die einzigen der<br />

sechs Indios, die zusammen mit den Forschern die Überfahrt überlebten <strong>und</strong> Europa erreichten.<br />

Der Junge starb in München nach sechs Monaten, <strong>das</strong> Mädchen nach einem Jahr. Sie<br />

konnten kaum Portugiesisch <strong>und</strong> sprachen auch unter sich keine gemeinsame Sprache. In<br />

München wusste niemand genau, was mit ihnen geschehen sollte. Sie waren „Gegenstand<br />

der Sensationslust, der Neugierde, des Unverständnisses <strong>und</strong> der Ratlosigkeit“ (HELBIG<br />

1994, S.182). Im Reiseatlas sind ihre Portraits abgebildet.<br />

215


216<br />

der Indigenen ihnen selbst zugeschrieben. Obwohl Spix <strong>und</strong> Martius sich im Reisebericht<br />

mit der umstrittenen Frage auseinandersetzen, wie man am besten die<br />

Indios „zivilisiere“ <strong>und</strong> sich oft sehr kritisch gegenüber der Kolonisation (bzw. den<br />

Missionen <strong>und</strong> aldeamentos) zeigen sowie sich offen gegen die Sklaverei der Indios<br />

<strong>und</strong> die Kriege der Kolonisatoren aussprechen, erlangen die Indios deshalb<br />

keinen besseren Stellenwert. Die Autoren bedauern es, <strong>das</strong>s sie nicht die Auffassung<br />

der „Perfectibilität der rothen Menschenraçe“ teilen 16 . Sie sehen sich konfrontiert<br />

mit der „unverhältnissmässigen“ großen Sterblichkeit der Indios – trotz<br />

naturreicher Umgebung –, die so nur durch eine „arme Leibesbeschaffenheit“<br />

erklärt werden kann <strong>und</strong> nicht aufgr<strong>und</strong> des Kontakts mit den „Weissen“. Es scheint,<br />

als ob die Indios die „höhere Entwicklung, welche Europa ihnen einimpfen will,<br />

nicht „ertragen“; die „Civilisation“ wirke wie ein „zerstörendes Gift“. Die brasilianischen<br />

Ureinwohner seien bestimmt, „wie manches Andere in der Reihe der Naturwesen“,<br />

sich aufzulösen „<strong>und</strong> aus der Zahl der Lebendigen zu treten, bevor sie die<br />

höhere Stufe, [...] erreicht haben“; sie seien ein „verkümmerter Ast am Stamme des<br />

menschlichen Geschlechts“ (ebd., S. 935). Mit anderen Worten: Das Hinschwinden<br />

der Indios lag weitaus mehr an einer natürlichen körperlichen Schwäche <strong>und</strong> an<br />

ihrer mangelden „Perfectibilität“ als an der Kolonisation der Weißen, bzw. die Kolonisation<br />

hat einen Prozess beschleunigt, der schon vorausbestimmt war.<br />

Den Indios die Perfektibilität abzusprechen, weist darauf hin, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Prinzip der<br />

Entartungstheorien <strong>und</strong> der Verwerflichkeit der Ureinwohner Amerikas, die Cornelius<br />

De Pauw 17 nach Buffon weiterführend vertrat, bei Spix <strong>und</strong> Martius aufgegriffen<br />

wird. Im Kontext der Indigenen-Politik bzw. in der zur damaligen Zeit im brasilianischen<br />

Parlament geführten Debatte über eine Gesetzgebung, die den Indios gewisse<br />

Rechte zusprechen sollte, war die Frage der Perfektibilität <strong>und</strong> der Fähigkeit, die Zivilisation<br />

anzunehmen, ein ausschlaggebendes Kriterium. Denn damit entschied sich<br />

<strong>das</strong> Argument für oder gegen die Ausrottung der Indios, bzw. ob es Sinn machte, sie<br />

‚geschützt‘ durch christliche Missionen oder weltliche Einrichtungen (wie z. B. die<br />

aldeamentos) in die Gesellschaft zu integrieren (s. CUNHA 1992). Im Reisebericht ist in<br />

dieser Hinsicht die Äußerung einer resignierten Haltung der Autoren eindeutig:<br />

Wer sich zu einer ähnlichen Ansicht der Natur der americanischen Raçe<br />

bekennen kann [d.h. Mangel an Perfectibilität], wird mit Mitleiden auf<br />

die Mittel blicken, welche einer menschenfre<strong>und</strong>lichen Regierung zu Je-<br />

16. Rousseau hat dem Begriff der Perfectibilité eine Doppeldeutigkeit zugewiesen: die<br />

Perfectibilité als gr<strong>und</strong>legende Fähigkeit des Menschen, die ihn vom Tier differenziert,<br />

erlaubt ihm, motiviert durch die Umstände, allmählich seine übrigen Fähigkeiten zu entwikkeln.<br />

Das Umgekehrte kann aber auch passieren. Als Folge der menschlichen Freiheit, kann<br />

es zum Verlust der erworbenen Fähigkeiten kommen. Der Mensch kann gattungsgeschichtlich<br />

oder individuell unter <strong>das</strong> Niveau des Tieres absinken. Insofern ist der Geschichte der Gattung<br />

kein fester Weg vorgezeichnet, jedoch ist die Perfectibilité eine Voraussetzung der<br />

Geschichtlichkeit der Menschen (s. STOCKING 1987; KOHL 1986, S. 181). Spix <strong>und</strong> Martius<br />

verwenden ebenfalls den Begriff Perfectibilité <strong>und</strong> seine Gegenbegriffe wie „Degeneration“<br />

oder „Entartung“. Das Vorhandensein der Perfektibilität ist bei ihnen conditio sine qua<br />

non, damit ein Mensch oder eine „Menschenrasse“ die Zivilisation erlangt, bzw. es werden<br />

Geschichtlichkeit <strong>und</strong> Zivilisation mit Humanität verb<strong>und</strong>en.<br />

17. Laut Cornelius de Pauw waren die Ureinwohner Amerikas „privés à la fois d´intelligence et<br />

de perfectibilité“. (vgl. LISBOA 1997, S. 163).


ner Gunsten übrig bleiben. Die erleuchtesten Staatsmänner Brasiliens<br />

sind bereits zu der Überzeugung gelangt, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Land im Allgemeinen<br />

durch Gründung neuer Aldeas keine mit Kosten im Verhältniss stehende<br />

Vortheile [...] erreichen werde, da man allgemein glaubt, die indianische<br />

Raçe sterbe allmählich aus. (SPIX / MARTIUS 1980, S. 935)<br />

Ausblick<br />

Die hier nur kurz diskutierten Aspekte dieses umfangreichen Werks lassen abschließend<br />

die folgenden Punkte hervorheben:<br />

Mit Spix <strong>und</strong> Martius wurde der von Europäern <strong>und</strong> auch Brasilianern noch<br />

kaum bereiste Sertão im Nordosten literarisch <strong>und</strong> naturwissenschaftlich erfasst.<br />

Die Rezeption ihres Werkes in der brasilianischen Literatur (vor allem der Literatura<br />

regionalista) <strong>und</strong> Wissenschaft ist noch nicht systhematisch untersucht worden 18 .<br />

Ein gutes Beispiel für die Rezeption von Spix’ <strong>und</strong> Martius’ Werk innerhalb Brasiliens<br />

ist bei Euclides da Cunha zu erkennen. Sein Klassiker Os Sertões, von 1902,<br />

zeigt an manchen Stellen Berührungspunkte mit dem Reisewerk wie auch mit den<br />

naturhistorischen Studien der deutschen Forscher.<br />

Spix <strong>und</strong> Martius gehörten zu den Naturforschern, die aufgr<strong>und</strong> gewandelter<br />

wissenschaftlicher Prinzipien <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> ihres persönlichen Vorhabens <strong>das</strong><br />

negative Bild der tropischen Natur in Frage stellten <strong>und</strong> in dieser Natur eine unerschöpfliche<br />

Quelle entdeckten. Nachhaltig wird davon für Jahrzehnte ihre/die<br />

Brasilienforschung geprägt. Die Naturbeschreibungen vereinen Dichtung <strong>und</strong><br />

Kunst mit Wissenschaft. Diese sollen den Leser belehren, aber auch den Genuss,<br />

den der Beobachter in der tropischen Natur empfindet, vermitteln. In einem Gegensatz<br />

zur positiven <strong>und</strong> enthusiastischen Erfahrung der Natur, vor allem der<br />

äquatorialen Breiten, <strong>und</strong> ihrer wissenschaftlichen Behandlung steht jedoch die<br />

negative Begegnung mit den Menschen in dem fremden Land, vor allem mit jenen,<br />

die den Autoren kulturell <strong>und</strong> ethnisch am weitesten entfernt stehen. Ihre<br />

ethno- <strong>und</strong> eurozentrische Auffassung hindert sie daran, die kulturelle Verschiedenheit<br />

zu erkennen <strong>und</strong> zu verstehen <strong>und</strong> damit Vorurteile abzubauen. Das betrifft<br />

nicht nur die indigene Bevölkerung, die als entartet eingestuft <strong>und</strong> an deren<br />

Menschlichkeit gezweifelt wird, sondern auch die Schwarzen, die Mestizen <strong>und</strong><br />

oft auch die weißen Bewohner des Landes, was hier allerdings nicht thematisiert<br />

wurde 19 . Zwischen den Bildern der genießbaren <strong>und</strong> wissenschaftlich so unerschöpflich<br />

reichen Natur <strong>und</strong> der weitgehend minderwertigen Bevölkerung, bildet<br />

sich eine Spannung, die sich in der europäischen Reiseliteratur des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

zu Brasilien als Topos durchsetzt. Hier wird eine wichtige Funktion dieser<br />

Gattung innerhalb der neokolonialistischen Interessen angesprochen – der Reisebericht,<br />

der die ‚Peripherien‘ auf der diskursiven Ebene im Interesse der<br />

hegemonialen ‚Zentren‘ konstruiert 20 . Die ‚Zivilisation‘ wird zum Euphemismus<br />

18. Flora Süssekind untersucht in O Brasil não é longe daqui (1991) die Rezeption der europäischen<br />

Reiseliteratur <strong>und</strong> ihre Transkulturation in der brasilianischen Literatur des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />

doch nicht spezifisch in dem hier erläuterten Sinne.<br />

19. Mehr hierzu siehe LISBOA 1997, Kap. IV.<br />

217


218<br />

der Rechtfertigung, die andersartigen Menschen, d. h. die nicht europäischen<br />

oder nicht weißen bzw. ‚minderwertigen‘ zu dominieren. Darüber hinaus wird<br />

auch dieser Topos innerhalb der brasilianischen Literatur <strong>und</strong> Wissenschaft rezipiert<br />

<strong>und</strong> im Laufe des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts zu einem der wichtigsten Themen.<br />

Trotz der Grenzen der Autoren, die fremde Kultur historisch <strong>und</strong> anthropologisch<br />

zu verstehen, ist der ethnologische Beitrag Spix’ <strong>und</strong> Martius’ nicht zu unterschätzen.<br />

Martius hat noch weitere Studien über die indigene Bevölkerung herausgegeben,<br />

vor allem über ihre Sprachen <strong>und</strong> medizinischen Kenntnisse bzw. Naturheilverfahren.<br />

Ebenfalls haben die Forscher eine umfangreiche ethnographische<br />

Sammlung von zirka 740 Artikeln zusammengestellt, die neben der Sammlung von<br />

Johann Natterer (in Wien) zu den wichtigsten in der ersten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

zählt. Sie blieb jedoch über 40 Jahre in Kisten verschlossen. Weder die Akademie<br />

noch der König gewährten ihr einen gebührenden Platz. Erst ein Jahr vor<br />

Martius’ Tod (1867) wurde sie der Öffentlichkeit präsentiert <strong>und</strong> als Bestand des neu<br />

gegründeten Völkerk<strong>und</strong>e-Museum in München übernommen 21 .<br />

Diese Verzögerung ist auch ein Ausdruck dafür, welchen Stellenwert unsere<br />

‚Zivilisation‘ jenen Kulturen bzw. Kulturobjekten damals zuteil werden ließ. Und<br />

leider ist dies ein noch nicht beendetes Kapitel in unserer Geschichte, abgesehen<br />

davon, <strong>das</strong>s spätere Ethnologen, darunter auch Deutsche wie Curt Nimuendajú<br />

<strong>und</strong> Theodor Koch-Grünberg, dazu beigetragen haben, die Auffassungen ihrer<br />

Vorläufer kritisch zu überarbeiten mit dem Anliegen, den indigenen Völkern einen<br />

gerechten Platz in der Gesellschaft einzuräumen.<br />

Literatur<br />

Quellen<br />

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MARTIUS, Alexander v. (Hrsg.) (1932): Goethe <strong>und</strong> Martius. Mittelwald.<br />

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MARTIUS, C. Fr. Ph. von (1992): Frey Apollonio - um romance do Brasil. [1831]. (Org. e trad. Erwin<br />

Theodor). 1a. ed. São Paulo.<br />

MARTIUS, C. Fr. Ph. von (1982): O Estado do direito entre os autóctones do Brasil. [1832]. (Trad.<br />

Alfredo Löfgren). São Paulo.<br />

MARTIUS, C. Fr. Ph. von (2003): Bemerkungen über die Verfassung einer Geschichte Brasiliens. In:<br />

Martius-Stade-Jahrbuch 50. São Paulo, S.189-212.<br />

MARTIUS, C. Fr. Ph. von (1845): Como se deve escrever a história do Brasil. (Trad. Wilhelm Schüch).<br />

In: RIHGB 24. Rio de Janeiro, S. 381-403.<br />

MARTIUS, C. Fr. Ph. von (1982): Como se deve escrever a história do Brasil. [1845]. (Trad. Wilhelm<br />

Schüch). In: MARTIUS (1982), S. 85-107.<br />

MARTIUS, C. Fr. Ph. von (1867): Beiträge zur Ethnographie <strong>und</strong> Sprachenk<strong>und</strong>e, zumal Brasiliens.<br />

(2 Bde.). Leipzig.<br />

MARTIUS, C. Fr. Ph. von (1904): A ethnographia da América, especialmente do Brasil. O passado e<br />

20. Vgl. PRATT 1999, S. 31-33.<br />

21. König Maximilian Joseph I., Schirmherr der Expedition von Spix <strong>und</strong> Martius, beabsichtigte<br />

ein „Museum Brasilianum“ einzurichten, speziell für die Brasilien-Sammlungen. Mit seinem<br />

Tod 1825 wurde <strong>das</strong> Projekt jedoch von seinem Nachfolger nicht weitergeführt. Die<br />

ethnografische Sammlung blieb Jahrzehnte in unangemessenen Konditionen aufbewahrt,<br />

bis sie endlich im Völkerk<strong>und</strong>e-Museum ihren Platz fand. Während der Luftangriffe im II.<br />

Weltkrieg wurde sie nicht in Sicherheit gestellt, da man sie für zweitranging hielt. Dass sie<br />

relativ unversehrt die Angriffe überstand, war reines Glück (s. ZERIES 1980, S. 10-11).


o futuro do homem americano. [1867]. (Trad. A. Löfgren, revisão T. Sampaio). In: RIHGSP IX. São<br />

Paulo, S. 535-562.<br />

MARTIUS, C. Fr. Ph. von (1823-1850): Historia Naturalis Palmarum. (3 Bde). Leipzig.<br />

SPIX, Joh. Bapt. von / MARTIUS, C. Fr. Ph. von (1823-1831): Reise in Brasilien auf Befehl Sr.<br />

Majestät Maximiliam Joseph I. Königs von Baiern in den Jahren 1817-1820. Theil 1-3 <strong>und</strong> Atlas,<br />

München / Leipzig.<br />

SPIX, Joh. Bapt. von / MARTIUS, C. Fr. Ph. von (1980): Reise in Brasilien auf Befehl Sr. Majestät Maximiliam<br />

Joseph I. Königs von Baiern in den Jahren 1817-1820. (3 Bd. <strong>und</strong> Atlas). Stuttgart. [Faksimile].<br />

WIED-NEUWIED, Maximilian (1989): Viagem ao Brasil. [1820/21]. (Trad. Edgar Süssekind de Mendonça<br />

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Fachliteratur<br />

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GUIMARÃES, Manoel Salgado (1987): Geschichtschreibung <strong>und</strong> Nation in Brasilien (1838-1857).<br />

Berlin.<br />

GUIMARÃES, Manoel Salgado (1988): Nação e civilização nos trópicos: o IHGB e o projeto de uma<br />

história nacional. In: Estudos Históricos 1, Rio de Janeiro, S. 5-27.<br />

HELBIG, Jörg (Hrsg.) (1994): Brasilianische Reise 1817-1820. Carl Friedrich Philipp von Martius zum<br />

200. Geburtstag. München.<br />

HOLANDA, Sergio Buarque de (Hrsg.) ( 4 1976): História Geral da Civilização Brasileira. O Brasil<br />

Monárquico – O processo da Civilização. (Tomo II, vol. 1). São Paulo.<br />

HUDDE, Hinrich (1982): Naturschilderung bei den Rousseau-Nachfolgern. In: HEITMANN, Klaus<br />

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KOHL, Karl Heinz (1986): Entzauberter Blick. Frankfurt a/M.<br />

LEPENIES, Wolf (1976): Das Ende der Naturgeschichte. München.<br />

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Staden-Jahrbuch 42, S. 47-67.<br />

LISBOA, Karen M. (1997): A Nova Atlântida de Spix e Martius. Natureza e civilização na Viagem pelo<br />

Brasil 1817-1920. S. Paulo.<br />

LÖSCHNER, Renate (1982): Humboldts Naturbild <strong>und</strong> seine Vorstellung von künstlerisch-physiognomischen<br />

Landschaftsbildern. In: KOHL, Karl-Heinz (Hrsg.): Mythen der Neuen Welt. Zur Entdeckungsgeschichte<br />

der Neuen Welt. Berlin, S. 245-53,<br />

PINTO, Virgílio Noya (1975): Balanço <strong>das</strong> transformações econômicas no século XIX. In: MOTA,<br />

Carlos Guilherme (Hrsg.): Brasil em Perspectiva. (6a. ed.). São Paulo, S. 126-45.<br />

PRATT, Mary Luise (1999): Os olhos do império, relatos de viagem e transculturação. (Trad. Jézio<br />

Hernani Bonfim Gutierre). Bauru.<br />

SCHWARCZ, Lilia (1993): O espetáculo <strong>das</strong> raças. São Paulo.<br />

STOCKING, George W. (1987): Victorian Anthropology. New York.<br />

SÜSSEKIND, Flora (1991): O Brasil não é longe daqui. São Paulo.<br />

THOMAS, Keith (1989): O Homem e o m<strong>und</strong>o natural. (Trad. João Roberto Martins Filho). São Paulo.<br />

VANZOLINI, P. E. (1981): The scientific and political contexts of the bavarian expedition to Brasil. In:<br />

SPIX, J. B. von / WAGLER, J. G.: Herpetology of Brazil, s. l. Society for the Study of amphibians and<br />

reptiles. S. 9-29.<br />

ZERRIES, Otto (1980): Unter Indianern Brasiliens. Innsbruck.<br />

Prof. Dr. Karen Macknow Lisboa studierte Geschichte in Zürich <strong>und</strong> an der Universidade<br />

de São Paulo (USP), wo sie 2002 in Sozialgeschichte promovierte. Danach Lehrtätigkeiten in São<br />

Paulo <strong>und</strong> am Lateinamerika-Institut der Freien Universität in Berlin; Kuratorin von Ausstellungen,<br />

darunter „Martius: Percurso de um olhar errante pelo Brasil do Século XIX“ (Pinacoteca do<br />

Estado de São Paulo); zur Zeit Professorin für brasilianische Geschichte an der Unifesp<br />

(Universidade Federal de São Paulo). Zahlreiche Publikationen über deutsche bzw. europäische<br />

Reiseliteratur in Brasilien, darunter (1997) A nova Atlântida de Spix e Martius. Natureza<br />

e civilização na „Viagem pelo Brasil (1817-1820)“ (Hucitec / Fapesp, São Paulo).<br />

219


Fotografie von Robert Avé-Lallemant, <strong>und</strong>atiert.<br />

(Aus : C.-N. Lührsen, Die Familie Avé-Lallemant <strong>und</strong> ihre Töchternachkommen,<br />

in: Deutsches Familienarchiv 23, 1963, S. 205-243, Bildteil).


Robert Avé-Lallemant (1812-1884)<br />

<strong>und</strong> seine Brasilienbücher<br />

Franz Obermeier<br />

Kiel<br />

Resumo: Robert Avé Lallemant (1812-1884) permaneceu na memória<br />

até hoje, principalmente devido aos seus dois relatos<br />

de viagens pelo norte e pelo sul do Brasil (em 1859 e<br />

1860). O presente artigo comenta, pela primeira vez, o<br />

conjunto <strong>das</strong> outras obras suas, incluindo publicações<br />

sobre temas de medicina, estudos naturais e obras beletrísticas<br />

com referência ao Brasil, como p. ex. uma adaptação<br />

literária (1871) do relato de viagem de Hans Staden,<br />

além de posicionamentos frente à emigração alemã para<br />

o sul do Brasil, publicados em alguns folhetos de assuntos<br />

de política atual da década de 1870.<br />

Abstract: Robert Avé Lallemant (1812-1884) has remained in memory<br />

until today principally because of both his travel reports to<br />

northern and southern Brazil (in 1859 and 1860). This article<br />

comments for the first time his other works, including<br />

publications about medicine, natural studies and belletristic<br />

works, such as a literary adaptation (1871) of Hans Staden’s<br />

travel book, besides his opinion on the German emigration<br />

to South Brazil, published in the 1870s in some booklets<br />

on daily policy matters.<br />

Die Familie Avé-Lallemant ist heute wohl in erster Linie noch Brahmsliebhabern<br />

bekannt, da Theodor Avé-Lallemant (1806 Magdeburg – 1890 Hamburg)<br />

als Musiker ein intimer Fre<strong>und</strong> von Brahms war <strong>und</strong> sein Nachlass, heute<br />

zum Teil unlängst vom Brahms-Institut in Lübeck übernommen, zahlreiche<br />

Brahmsautographen <strong>und</strong> Dokumente zu ihm enthält (APPEL 2001). Die Familie<br />

selbst stammte aus dem französischen Adelsgeschlecht der Lallemant de<br />

Betz (FOUQUET 1941, LÜHRSEN 1963). Einige der Mitglieder der Familie sind<br />

in Frankreich auch als heute weniger bekannte Schriftsteller hervorgetreten.<br />

Der Familienlegende nach soll der Gründer der deutschen Linie 1764 aus einem<br />

französischen Kloster geflohen sein <strong>und</strong> in Magdeburg im preußischen<br />

Militär <strong>und</strong> später als Lehrer tätig gewesen sein. Die Kinder wurden alle protestantisch<br />

erzogen. Von seinen Nachkommen kamen einige nach Lübeck, neben<br />

dem bald nach Hamburg umgesiedelten Theodor Avé-Lallemant auch<br />

sein als Jurist <strong>und</strong> Kriminologe bekannter Bruder Benedikt, eigentlich Friedrich<br />

Christian Benedikt Avé-Lallemant (1809 Lübeck – 1892 Berlin), Verfasser<br />

einer allerdings wissenschaftlichen Kriterien nicht genügenden sozialpoliti-<br />

221


222<br />

schen <strong>und</strong> linguistischen Studie über <strong>das</strong> deutsche Gaunertum (AVÉ-LALLEMANT<br />

1858-1862), in die die Erfahrungen seiner langjährigen Tätigkeit als Jurist in<br />

Lübeck einflossen. Später schrieb er damals erfolgreiche Kriminalromane.<br />

Der Bruder Friedrich (1807 Lübeck - 1876 Lübeck) war 1843-1848 als Pastor<br />

in Rio de Janeiro tätig, kehrte wegen seiner von der Gemeinde nicht gebilligten<br />

konservativen Gr<strong>und</strong>einstellung nach Europa zurück <strong>und</strong> war später<br />

Pastor in Warnemünde, dann Privatier in Lübeck. 1<br />

Ein weiterer Bruder Robert Christian Berthold Avé-Lallemant sollte als<br />

Arzt <strong>und</strong> Brasilienreisender seine Bedeutung erlangen. Robert wurde 1812<br />

in Lübeck geboren. Er besuchte zuerst eine Lübecker Privatschule, dann<br />

<strong>das</strong> bekannte Lübecker Katharineum <strong>und</strong> studierte Medizin in Berlin, Heidelberg,<br />

Paris <strong>und</strong> Kiel. Über seine Jugendzeit hat er Erinnerungen verfasst,<br />

die später aus einem Manuskript im Nachlass seiner Tochter Martha von<br />

einem Verwandten zum Teil veröffentlicht wurde (1928). 2 Seine Dissertation<br />

über Blasenerkrankungen wurde 1837 in Kiel eingereicht <strong>und</strong> veröffentlicht.<br />

Anschließend ging er nach Rio, wo neben seinem Bruder Friedrich<br />

auch der Bruder Louis (1802 Magedeburg-1869 Rio) <strong>und</strong> der Bruder Alexander<br />

(1815 Lübeck-1868 Petropolis), letztere beide als Kaufleute lebten<br />

(HINDEN 1921, S. 119-231 passim). Alexander betrieb u. a. die Agentur der<br />

damaligen Hamburger Dampfschifffahrtslinie 1857 in Rio (Robert Avé-<br />

Lallemant, Bedenken 1872, S. 19).<br />

Robert arbeitete an der Santa Casa da Misericordia <strong>und</strong> am Hospício Dom<br />

Pedro II <strong>und</strong> leitete <strong>das</strong> Gelbfieberhospital Nossa Senhora da Saúde. Er wurde<br />

schließlich Mitglied des brasilianischen Ges<strong>und</strong>heitsrats. Im Jahr 1855<br />

kehrte Robert nach Lübeck zurück, erwarb ein Haus in Lübeck <strong>und</strong> schrieb<br />

eine größere Abhandlung über <strong>das</strong> Gelbfieber, insbesondere dessen Behandlung<br />

während Schiffsreisen, in die einige bereits schon zuvor in Deutsch<br />

<strong>und</strong> Portugiesisch veröffentlichte Texte eingeflossen sind (1857 <strong>und</strong> kleinere<br />

Texte der Bibliographie). Neben der Tätigkeit als Armenarzt begann er in<br />

Lübeck mit schriftstellerischen Arbeiten. Darüber hinaus war er Vorstand<br />

des Lübecker Musikvereins <strong>und</strong> wurde 1872 in den in Lübeck gebildeten<br />

literarischen Sachverständigen-Verein durch den Senat berufen. Dem Lübecker<br />

Ärzteverein trat er nicht bei, war aber Ehrenmitglied der neu gegründeten<br />

Lübecker geographischen Gesellschaft. 3 Ein Sohn Roberts,<br />

1. Er veröffentlichte seine Erinnerungen später als Erinnerungen an Brasilien, 3 Teile (Lübeck<br />

1854). Zu der Kritik an seinem religiösen Konservativismus siehe HINDEN 1921, S.125-126,<br />

dort wird auch <strong>das</strong> Engagement des Bruders Robert in dem deutschen Verein Germania in<br />

Rio <strong>und</strong> sein Eintreten für den Anschluss der dortigen protestantischen Gemeinde an die<br />

preußische Staatskirche <strong>und</strong> für den Bau einer Kirche erwähnt (l. c., S.146-147).<br />

2. Die Jahresangaben <strong>und</strong> Kurztitel ohne Personenangabe verweisen im Folgenden auf die<br />

Bibliographie der Werke Robert Avé-Lallemants im Anhang. Laut dortigen Angaben (1928,<br />

S. 956) handelt es sich bei dem Manuskript um Erinnerungen bis zur Ausreise nach Brasilien.<br />

Veröffentlicht wurde nur der die Jugend in Lübeck betreffende Teil bis zum Beginn des<br />

Universitätsstudiums. Der Verbleib des restlichen Manuskripts aus dem Besitz von Roberts<br />

Tochter Martha ist unbekannt.<br />

3. Nachruf von N.N. in: Lübeckische Blätter, 1884, S.500-502, hier S.501.


Germán Avé-Lallemant (1835-1910) 4 , wanderte als Geologe <strong>und</strong> Mineraloge<br />

nach Argentinien aus, weil er in Preußen wegen seiner sozialistischen<br />

Ideen keine beruflichen Möglichkeiten hatte.<br />

Anlass von Roberts zweitem Brasilienaufenthalt war eigentlich seine durch<br />

Alexander von Humboldt vermittelte Tätigkeit als Arzt auf der österreichischen<br />

Fregatte Novara, die eine wissenschaftliche Weltreise unternahm. 5 Avé-Lallemant<br />

hatte Humboldt am 12.12.1856 in Berlin besucht <strong>und</strong> den Besuch auch beschrieben<br />

(1930). 6 Er unterbrach die Reise, die ihm nicht zusagte, schon in Rio de<br />

Janeiro <strong>und</strong> startete schließlich im Februar 1858 mit Billigung der Behörden zu<br />

einer großen Forschungsreise durch Brasilien. Die Reise führte ihn durch weite<br />

Teile des damals besiedelten riesigen Gebiets. Im Oktober 1859 war er wieder in<br />

Lübeck <strong>und</strong> sollte dort schließlich jeweils zweibändige Berichte über seine<br />

Brasilienreisen verfassen: Reise durch Südbrasilien im Jahre 1858 (Leipzig 1859)<br />

<strong>und</strong> Reise durch Nordbrasilien im Jahre 1859 (Leipzig 1860). Die nicht wieder<br />

aufgelegten Bücher sind heute sehr selten, später wurden sie auch ins Portugiesische<br />

übersetzt (siehe Bibliographie). In der Lübecker Gesellschaft zur Beförderung<br />

gemeinnütziger Tätigkeit in Lübeck hielt Avé-Lallemant regelmäßig Vorträge<br />

7 ; auch in München hielt er bei Ärzte- <strong>und</strong> Naturwissenschaftlertreffen Vorträge<br />

„in höchst geistreicher, lebhafter <strong>und</strong> fesselnder Weise“ wie es in einem Nachruf<br />

von 1885 zu lesen ist (SARTORI 1885, S.188) Erwähnt sei noch seine<br />

Mitherausgeberschaft der populärwissenschaftlichen Zeitschrift Gaea, Natur <strong>und</strong><br />

Leben, Zeitschrift zur Verbreitung naturwissenschaftlicher <strong>und</strong> geographischer Kenntnisse<br />

sowie der Fortschritte auf dem Gebiete der gesammten Naturwissenschaften<br />

(Stuttgart: Lehmann, erschienen von 1865–1909).<br />

Im Jahr 1869 nahm er wie zahlreiche weitere Persönlichkeiten auf offizielle<br />

Einladung an der Eröffnung des Suezkanals teil <strong>und</strong> reiste anschließend bis Nubien<br />

weiter, worüber er in einem weiteren Reisebuch Fata Morgana, Reiseeindrücke<br />

aus Ägypten <strong>und</strong> Unteritalien (2 Bde., Altona 1872) berichtet hat, <strong>das</strong> sich<br />

4. Die Eintragungen zu ihm bei LÜHRSEN (1963) sind unvollständig <strong>und</strong> fehlerhaft. Es handelt<br />

sich um einen Sohn von Robert, geboren 1835 in Lübeck. Als Bergbauingenieur ging er 1869<br />

nach Buenos Aires <strong>und</strong> wirkte in San Luis in seinem Beruf, später kurzzeitig als Hochschullehrer<br />

am dortigen Colegio <strong>und</strong> als Herausgeber der ersten argentinischen Arbeiterzeitschrift El<br />

Obrero. Er hinterließ neben politischen Artikeln auch zahlreiche botanische <strong>und</strong> kartographische<br />

Werke <strong>und</strong> starb 1910 in San Luis. Zu ihm siehe Germán Avé Lallemant (2001) <strong>und</strong> die<br />

Werkauswahl 1974.<br />

5. Die Reise stand unter der Leitung von Bernhard von Wüllerstorf-Urbair. Die Ergebnisse<br />

wurden später publiziert als Reise der österreichischen Fregatte Novara um die Erde in den<br />

Jahren 1857, 1858, 1859, 9 Bde. in mehreren Abteilungen, Wien 1861-1875. Zum österreichischen<br />

Beitrag an den Entdeckungsreisen siehe: SEIPEL 2001. Die während der Novara-Expedition<br />

gesammelten Objekte befinden sich heute im Museum für Völkerk<strong>und</strong>e, Wien.<br />

6. Avé-Lallemant arbeitete später an der Humboldtbiographie mit, veröffentlicht zu dessen<br />

100. Geburtstag von Carl Christian Bruhns (1830-1891): Alexander von Humboldt, eine wissenschaftliche<br />

Biographie, 3 Bde., Leipzig 1872. Er schrieb den Teil über Humboldts Parisaufenthalt.<br />

Paul Range (1882-1959), der den Text über den Besuch bei Humboldt 1930<br />

herausgegeben hat, war angeheirateter Verwandter der Avé-Lallemants <strong>und</strong> Professor für<br />

Geologie <strong>und</strong> Bergbau in Berlin.<br />

7. Die Titel seiner Vorträge für diese Gesellschaft mit der Tradition der regelmäßigen „Dienstagvorträge“<br />

finden sich in einem Verzeichnis (1789-1888) im Stadtarchiv Lübeck. Die seit 1789<br />

bestehende Gesellschaft gibt die Lübeckischen Blätter heraus. Zu ihr SANDER (1960).<br />

223


224<br />

laut einem Nachruf von 1884 „durch eine blühende Diction <strong>und</strong> lebhafte Auffassungsgabe<br />

auszeichne[t]“. 8 Einige kleinere Reiseberichte <strong>und</strong> ein Werk über<br />

Camões, wichtig für die damals erst entstehende Lusitanistik, sind noch zu<br />

nennen. An sonstigen Veröffentlichungen verdient der von ihm 1863 edierte<br />

Briefwechsel des in Lübeck geborenen, später in Hamburg wirkenden Naturforschers<br />

<strong>und</strong> Philosophen Joachim Jungius 9 (1587-1657) <strong>und</strong> eine Biographie<br />

desselben von 1882 hervorgehoben zu werden. Auch als Dramatiker versuchte<br />

er sich. Er schrieb ein historisches Drama über den Erzbischof<br />

Carranza. 10 Sehr geschickt veröffentlichte der <strong>das</strong> Werk herausgebende Hamburger<br />

Verlag Mentzel zuvor, wohl auf Veranlassung von Avé-Lallemant selbst,<br />

eine Sammlung von Kritiken seiner beiden zuvor erschienenen Werke Anson<br />

<strong>und</strong> des Reisewerks Fata Morgana (siehe Bibliographie). Avé-Lallemants Epos<br />

Anson ist in ottave rime (je 8-zeiligen Strophen) geschrieben, der Form des<br />

italienischen Heldengedichts <strong>und</strong> seiner Aneignung bei Ariost <strong>und</strong> Boiardo.<br />

Die 10 Gesänge des von Luis de Camões inspirierten Epos über die Weltumsegelung<br />

des Engländers George Anson (1697-1762) in den Jahren von 1740-<br />

1744 waren bereits 1866 fertig gestellt, laut dem Vorwort von Ein hanseatischer<br />

Admiral; unter diesem Titel veröffentlichte Avé-Lallemant im Jahre 1866 einen<br />

Auszug aus dem ersten Teil des sechsten Gesangs über den Lübecker Marcus<br />

Meyer, ehemals hamburgischer Ankerschmied, der zu Zeiten von Jürgen<br />

Wullenwever (geb. ca. 1492 in Hamburg; hingerichtet 1537) gegen die Dänen<br />

kämpfte, was damals angesichts des als Befreiung stilisierten Kriegs gegen Dänemark<br />

natürlich nationalistisch überhöht wurde. Der Autor widmet den Auszug<br />

seiner Vaterstadt <strong>und</strong> kündigt Lesungen an. Er schreibt selbst, <strong>das</strong>s der<br />

Druck, dessen Erlös den Verw<strong>und</strong>eten der österreichischen Marine im Kampf<br />

gegen Dänemark im deutsch-dänischen Krieg zugute kommen sollte (Vermerk<br />

auf dem Titelblatt), ein Versuchsballon sei, um die öffentliche Aufnahme des<br />

Werks zu testen (Vorwort S. 5). Unter dem Titel Anson hat er <strong>das</strong> Epos schließlich<br />

in Altona 1868 vollständig veröffentlicht. Besonders erwähnt werden soll<br />

in diesem Artikel neben seinen Reisebüchern über Brasilien noch eine moralisierende<br />

Bearbeitung von Hans Stadens Brasilienbuch von 1557 mit dem Titel<br />

Hans Staden von Homberg bei den brasilianischen Wilden oder die Macht des<br />

Glaubens <strong>und</strong> Betens (Hamburg: Agentur des Rauhen Hauses 1871). Robert<br />

Avé-Lallemant starb 1884 in Lübeck. Ein Nachruf würdigte seine Verdienste in<br />

den Lübeckischen Blättern, der Zeitschrift der erwähnten Gemeinnützigen Gesellschaft<br />

(N.N. 1884). Durch die Nachkommen seiner Brüder ist die Familie<br />

8. Nachruf wohl von dem Redakteur Rahtgens in: Lübeckische Blätter, 1884, S.500-502, hier S. 501.<br />

9. Nach dem später in Hamburg wirkenden Universalgelehrten Jungius ist heute die gleichnamige<br />

wissenschaftliche Gesellschaft in Hamburg benannt, die Joachim Jungius Gesellschaft<br />

der Wissenschaften e. V., gegründet 1947, die nach ihren Statuten Geistes- <strong>und</strong> Naturwissenschaftler<br />

verschiedenster Bereiche zusammenbringen will.<br />

10. Bartolomé de Carranza (1503-1576) war Erzbischof von Toledo <strong>und</strong> 1546-1548 Teilnehmer<br />

des Trienter Konzils. Er vertrat die dort beschlossenen disziplinarischen Reformen, insbesondere<br />

die Forderung der Residenzpflicht der Bischöfe in ihren Diözesen. Wegen seiner<br />

Comentarios sobre el catechismo christiano (Antwerpen 1558) kam er mit der Inquisition in<br />

Konflikt <strong>und</strong> war mehrere Jahre bis kurz vor seinem Tod eingekerkert.


der Avé-Lallemants bis heute auch in Brasilien weit verbreitet. Im Familienarchiv<br />

der Avé-Lallemants finden sich Dokumente auch zu Robert Avé-<br />

Lallemant, allerdings keine bislang unbekannten Texte. 11<br />

Die Brasilienreisen von Avé-Lallemant<br />

Avé-Lallemant wurde eher zufällig zum Schriftsteller. In Rio begann er mit verschiedenen<br />

medizinischen Aufzeichnungen zum Gelbfieber, die er später als Buch<br />

veröffentlichen sollte, mit einem Teil für die Erstbehandlung auf Schiffen, wenn<br />

kein Arzt anwesend war. Bereits in dem medizinischen Werk, <strong>das</strong> seine Aufzeichnungen<br />

über <strong>das</strong> gelbe Fieber 1857 bündelte (Das gelbe Fieber, nach dessen geographischer<br />

Verbreitung, Ursachen, Verschleppbarkeit, Haupterscheinungen, Behandlung<br />

<strong>und</strong> anderen wissenschaftlichen Beziehungen), wandte er bewusst Elemente<br />

literarischer Gestaltung an, für die er sich im Vorwort entschuldigt hat (1857, Vorwort<br />

S. 5): „Für <strong>das</strong> hie <strong>und</strong> da etwas buntfarbige Colorit meiner Darstellung bitte<br />

ich um Entschuldigung“. Vorausgegangen war eine Publikation zum selben Thema<br />

in Brasilien 1850 in Portugiesisch: Observações acerca da epidemia de febre<br />

amarella do anno de 1850 no Rio de Janeiro (Rio de Janeiro: Villeneuve,1851).<br />

Besonders dramatisch geschildert wird etwa der Ausbruch einer aus Bahia in Rio<br />

eingeschleppten Gelbfieberepidemie 1849, als er am dortigen Krankenhaus tätig<br />

war (1857, S. 123ff); er geht dort individuell auf einzelne, ihn persönlich berührende<br />

Krankheitsschicksale ein.<br />

Die Forschungsreisen von Avé-Lallemant wurden wegen seiner langjährigen<br />

Verdienste für <strong>das</strong> brasilianische Ges<strong>und</strong>heitswesen von der dortigen Regierung<br />

finanziell unterstützt (Avé-Lallemant, Deutsche Kolonisation, 1872, S.<br />

20). Seine Reisebücher bedürften einer detaillierteren Studie, die im Rahmen<br />

dieses Aufsatzes sicher nicht zu leisten ist. GÜNKEL 1985 ist hier nur ein Anfang.<br />

Es herrscht Konsens in der Literatur, <strong>das</strong>s er keine neuen wissenschaftlichen<br />

Erkenntnisse erbracht hat, als aufmerksamer Beobachter der sozialen<br />

Verhältnisse im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert gebührt ihm aber ein wichtiger Platz unter<br />

den deutschsprachigen Reisenden. Der bekannteste deutsche Brasilienreisende<br />

der Zeit, Maximilian von Wied-Neuwied, sah sich selber nicht nur als<br />

Reisender zur persönlichen Bildung, sondern als Forscher <strong>und</strong> legte in seinen<br />

Büchern Wert auf die ethnologischen <strong>und</strong> pflanzenk<strong>und</strong>lichen Beobachtungen.<br />

Die Naturk<strong>und</strong>ler Spix <strong>und</strong> Martius hatten bei ihrer Reise konkrete naturk<strong>und</strong>liche<br />

Projekte, deren Ergebnisse, nach dem frühen Tod von Spix, Martius<br />

dann sein Leben lang beschäftigen sollten. Das tägliche Leben in den Kolonien<br />

<strong>und</strong> die Beobachtungen der damaligen Gesellschaft haben in diesen Werken<br />

nicht den Stellenwert inne wie bei Avé-Lallemant.<br />

Das Titelblatt der Reise durch Südbrasilen ist mit einem Holzschnitt als Titelvignette<br />

illustriert. Er zeigt Aimé Bonplands Estancia Santa-Anna in Corrientes am<br />

Uruguay. Der Autor schildert in dem Buch seinen Besuch bei Bonpland 12 , der sich<br />

11. Ich danke Frau Sabine Beckmann, geb. Avé-Lallemant aus Kiel für die Herstellung des Kontakts<br />

zur Familie.<br />

12. Bonpland eigentlich Goujaud, geb. 1773 in La Rochelle, gest. 1858 in Restauración, Paraguay,<br />

225


226<br />

einige Jahre nach seiner Forschungsreise mit Alexander von Humboldt in Argentinien<br />

<strong>und</strong> Paraguay niedergelassen hatte. Avé-Lallemant, der später auch Alexander<br />

von Humboldt in Berlin persönlich kennen lernte, hat den Besuch bei dem<br />

berühmten Naturforscher, der wenige Tage später starb, sicher als einen der Höhepunkte<br />

seiner Reise empf<strong>und</strong>en.<br />

Die Reise führte Avé-Lallemant praktisch durch <strong>das</strong> gesamte damals erschlossene<br />

Brasilien. Er bereiste zuerst die Provinz Rio Grande do Sul, in die er von Rio<br />

aus mit dem Dampfschiff fuhr, <strong>und</strong> die sich dort entwickelnden Ansiedlungen von<br />

deutschen Auswanderern. Dort drang er bis in <strong>das</strong> ehemals jesuitische Missionsgebiet<br />

am Uruguay vor. Nach einer Pause in Porto Alegre setzte er die Reise durch<br />

die Provinzen Paraná <strong>und</strong> São Paulo fort, um schließlich mit dem Schiff von Santos<br />

nach Rio zurückzukehren. Von dort aus brach er im November 1858 zu den nördlichen<br />

Provinzen auf. Er fuhr zuerst mit dem Schiff nach Bahia, besuchte den Rio<br />

Pardo im Staat Bahia <strong>und</strong> fuhr die Küste weiter bis zum Fluss Mucuri. Dort erlebte<br />

er <strong>das</strong> Elend neu angesiedelter Deutscher, Elsässer <strong>und</strong> Holländer, für einen Teil<br />

konnte er ihre Übersiedlung nach Rio dort aushandeln. Er veröffentlichte auch<br />

wenig später einen Bericht zur Abschreckung für weitere Auswanderer (Am Mucuri,<br />

Hamburg 1859). Sein Urteil ist eindeutig:<br />

Und so lange die hiesige Regierung es duldet, daß Privatunternehmungen<br />

mittelst Kolonisten angefangen, <strong>und</strong> Kolonisten dazu engagirt werden,<br />

wird sie immer die alte Geschichte erleben: Verlockung von Auswanderern,<br />

Unglück <strong>und</strong> Elend der Eingewanderten, <strong>und</strong> als nächsten<br />

Rückschlag heftige Angriffe <strong>und</strong> Verläumdungen nicht solcher Privatunternehmungen,<br />

sondern des ganzen Kaiserthums, nicht solcher<br />

Engageurs <strong>und</strong> Unternehmer, sondern der ganzen Landesregierung <strong>und</strong><br />

deren Principien. (S. 4/5)<br />

Das schmale Büchlein ist auch für Avé-Lallemants schriftstellerische Entwicklung<br />

von Bedeutung, da es sich um den ersten nichtwissenschaftlichen Text handelt,<br />

den er veröffentlicht hat. Die Broschüre bleibt aber nicht bei der anklagenden<br />

Polemik stehen, sondern schildert anhand der konkreten Abfolge der Reise<br />

die individuelle Wahrnehmung des Autors, der wie schon in dem Buch über <strong>das</strong><br />

Gelbe Fieber in Rio von Einzelschicksalen ausgeht, die ihm in improvisierten Krankenhäusern<br />

der Mucuri-Gegend berühren:<br />

Im unzulänglichen Hause befanden sich etwa 60 Menschen, von denen<br />

über die Hälfte krank war. Größtentheils von niederträchtigen Agenten<br />

in Deutschland beschwatzt, waren sie im September des Jahres<br />

1858 dorthin gebracht worden. Contractmäßig sollten Viele von ihnen<br />

gleich nach Philadelphia [ein Ort in der Gegend] kommen, was<br />

bereiste von 1799 bis 1804 zusammen mit Alexander von Humboldt Spanien <strong>und</strong> Südamerika.<br />

Nach seiner Zeit als Vorsteher der Kaiserlichen Botanischen Gärten in Frankreich ging er<br />

nach dem Sturz von Napoleon nach Buenos Aires, wo er als Naturforscher tätig war, später<br />

nach Paraguay, wo seine Matepflanzungen auf den Widerstand des Diktators José Gaspar<br />

Rodríguez Francia (1766–1840) stießen, der ihn jahrelang inhaftieren ließ. Er lebte nach<br />

einigen Umzügen schließlich auf einem Gut bei Corrientes, <strong>das</strong> ihm der paraguayische Staat<br />

geschenkt hatte.


aber nicht geschehen war. Andere hatten in einiger Entfernung von<br />

Bella vista ihr Stück Urwald bekommen, <strong>und</strong> hatten auch <strong>das</strong> saure<br />

Umhauen der gewaltigen Stämme begonnen; sie waren aber an Leib<br />

<strong>und</strong> Seele matt <strong>und</strong> krank geworden, <strong>und</strong> sahen so einer schaurigen<br />

Zukunft entgegen, wenn sie auch contractmäßig ein volles Jahr von<br />

der Direction erhalten werden sollten (S. 14).<br />

Am Schluss formuliert der Autor noch einmal sein Fazit:<br />

Wie Vieles bleibt mir noch zu sagen übrig über die Mucurianlage, über<br />

den Unsinn, Nordeuropäer schlankweg an einen unges<strong>und</strong>en Küstenfluß<br />

in einer heißen Gegend überzusiedeln, <strong>und</strong> eine Kolonie 27 Meilen<br />

lang auszudehnen, oder wenn man will, noch viel länger, ehe auch<br />

nur ein einziger Punkt die Kraft einer Selbstexistenz in sich hat, […]<br />

über den Unsinn, mit Europäern verkehren zu wollen, ohne durch<br />

Selbstanschauung Europa kennen gelernt <strong>und</strong> europäische Erziehung<br />

<strong>und</strong> Humanität eingesogen zu haben. (S.59)<br />

Die Konfrontation mit dem jegliche der offenk<strong>und</strong>igen Missstände leugnenden<br />

Direktor der Kolonie Dr. Ernesto Ottoni <strong>und</strong> dem Reisenden <strong>und</strong> kritisch<br />

beobachtenden Avé-Lallemant gibt dem Text zusätzliche Schärfe. Die literarische<br />

Schilderung entsteht aus konkreten, anfangs oft medizinischen Beobachtungen<br />

unter den Hungernden <strong>und</strong> Siechen <strong>und</strong> weitet sich zu einem Gesamtbild einer<br />

verfehlten Kolonialpolitik an konkreten Erfahrungen aus.<br />

Bereits im April 1859 brach Avé-Lallemant erneut von Rio aus zur Fortsetzung<br />

seiner Reise nach Nordbrasilien auf <strong>und</strong> fuhr über Bahia nach Pernambuco <strong>und</strong><br />

von dort in <strong>das</strong> Innere des Landes nach Alagoas <strong>und</strong> Sergipe, dann über den<br />

Fluss Tocantins zum Amazonas, nach Manaus <strong>und</strong> von dort bis zur peruanischen<br />

Grenze. Nach der Rückreise durch Pará <strong>und</strong> Pernambuco kehrte er mit dem Schiff<br />

nach Europa zurück.<br />

Stilistisch ist Avé-Lallemants Bericht vor allem dann bemerkenswert, wenn er<br />

die Balance zwischen Beobachtung <strong>und</strong> Stimmungsbild an der südbrasilianischen<br />

Küste wiedergibt:<br />

Es war ein frischer Morgen. Der leichte Landwind führte balsamische<br />

Düfte zu uns herüber, während unsere Blicke sich weideten an dem<br />

schönen Küstenbild, mochten nun ganz schroffe <strong>und</strong> kahle Felsabhänge<br />

demselben einen wilden Charakter geben, oder an sanften Senkungen<br />

<strong>und</strong> oben auf geraden Flächen eine üppige Vegetation ihm den vollen<br />

Ausdruck einer tropischen Landschaft geben. Weiterhin machten sich<br />

einzelne Inseln kenntlich, unter ihnen die Ilha Raza mit ihrem Leuchtthurm<br />

auf dem flachen Hügel. (Reise nach Südbrasilien Bd.1, S. 74.)<br />

Verglichen mit der Reiseroute des 1815-1817 reisenden Prinzen von Wied-<br />

Neuwied ist auffällig, <strong>das</strong>s Avé-Lallemant <strong>das</strong> Amazonasgebiet bis zur peruanischen<br />

Grenze als wichtiges Reiseziel integriert hat. Wied-Neuwied war überwiegend in<br />

den küstennahen Provinzen geblieben <strong>und</strong> hatte von dort die nächst gelegenen<br />

Indianerstämme <strong>und</strong> auch den Rio Pardo besucht.<br />

227


228<br />

Die Reisebücher fanden durchaus eine positive Aufnahme in der Zeit.<br />

Eine zeitgenössische Kritik in einer geographischen Zeitschrift vermerkt dies<br />

exemplarisch. 13<br />

Avé-Lallemant <strong>und</strong> die Natur der Tropen<br />

Botanische Interessen sind bei einem universal interessierten Wissenschaftler<br />

wie Avé-Lallemant keine Überraschung. So verw<strong>und</strong>ert es nicht, <strong>das</strong>s er auch hier<br />

einen kleinen Beitrag zur Pflanzenk<strong>und</strong>e Südamerikas leisten wollte. Es sind dies<br />

die Wanderungen durch die Pflanzenwelt der Tropen (Breslau 1881). Schon in seiner<br />

Studienzeit hatte er sich nach dem Vorwort dieses Buchs als Liebhaber mit Botanik<br />

beschäftigt. Auch in dieser Abhandlung wendet er eine naturwissenschaftlich<br />

korrekte Beschreibung an, um dem Leser die majestätischen Eindrucke der tropischen<br />

Natur auch sinnfällig vor Augen zu führen. Die seit den Forschungen von<br />

Martius <strong>und</strong> Spix <strong>und</strong> durch viele botanische Gärten auch in Europa bekannten<br />

Palmen Brasiliens beschreibt er beispielsweise anhand der Species Taquara:<br />

Wegen ihrer eleganten <strong>und</strong> fast majestätischen Erscheinungen sind<br />

nun diese herrlichen Gebirgstaquaras längst in die Gärten der großen<br />

Brasilianischen Emporien herabgezogen worden. Hier stehen sie dann<br />

wohl in dichter Zusammengruppirung an beiden Seiten des Landhauses,<br />

welches sie weit überragen. In anmuthiger Verflechtung ihrer Graskronen<br />

bilden sie zwar auch dort ihr schönes Naturchoas [sic] hoch<br />

oben in der Luft, <strong>und</strong> der Seewind tändelt <strong>und</strong> tobt eben so anmuthig<br />

mit dem flatternden Graslaub, wie der Gebirgssturm, aber die ächten<br />

Bergtaquaras sind <strong>und</strong> werden sie nimmermehr, eben so wenig wie<br />

jene Araucarien, jene Polypodiaceen, deren Riesenmaß doch nur im<br />

wilden Hochwald erreicht wird, wie sehr man sich auch bemüht, sie in<br />

der Ebene <strong>und</strong> in der Cultur groß zu ziehen. (Wanderungen, S. 16/17)<br />

Dieses literarische Verfahren hält der Autor durch, indem er etwa die berühmten<br />

Wasserfälle von Paulo Affonso (nach der Phantasie bereits von Frans Post<br />

gemalt <strong>und</strong> ein beliebtes künstlerisches Motiv im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert) in dem Kapitel<br />

Cactuswaldungen am Rio de São Francisco in Brasilien (S. 159-171) beschreibt, wobei<br />

er hier einfach ein Selbstzitat aus einer Reisebeschreibung einfügt.<br />

Natürlich geht es ihm nicht nur um eine romantische Szenerie wie in dem für<br />

die brasilianische Literaturentwicklung wichtigen Werk des französischen Brasilienreisenden<br />

<strong>und</strong> Bibliothekars an der Bibliothèque Sainte Geneviève Ferdinand<br />

Denis (1798-1890), den Scènes de la nature sous les tropiques (Paris: Louis Janet<br />

1824). Für Denis sollte die Wahrnehmung der üppigen Natur Brasiliens besonders<br />

literarisch auch für die Brasilianer selbst die Entwicklung einer eigenständigen<br />

Literatur ermöglichen, unabhängig von der des Mutterlandes Portugal, eine Anregung,<br />

die in frühromantischen Kreisen Brasiliens <strong>und</strong> in den Anfängen der<br />

13. Eine Rezension von N. N. (1860) sagt, <strong>das</strong> Buch sei „ein anziehendes Reisewerk, <strong>das</strong> man<br />

bald lieb gewinnt“ (S. 490); „Das Werden der Colonisation […] wird uns mit lebendigen<br />

Zügen vor die Seele geführt“ (S. 493).


indigenistischen Literatur dort auf fruchtbaren Boden fiel. 14 Avé-Lallemants Werke<br />

sind auch nicht Rousseaus Rêveries d’un promeneur solitaire (publiziert 1782)<br />

verpflichtet, der natürlich auf ungleich höherem literarischen Niveau die Natur<br />

als Katalysator eigener Erinnerungen <strong>und</strong> Assoziationen nutzt; der Arzt <strong>und</strong> Wissenschaftler<br />

aus Lübeck versucht als bereits erfahrener Reiseschriftsteller in dem<br />

Buch die Balance zwischen wissenschaftlich angemessener Behandlung des Themas<br />

<strong>und</strong> literarischer Gestaltung auch für den fachfremden Leser zu halten <strong>und</strong> in<br />

seinen gefälligen Schilderungen damit ein breiteres Publikum zu erreichen.<br />

Avé-Lallemant <strong>und</strong> die deutsch-brasilianische Kolonisation<br />

Publizistisch blieb <strong>das</strong> Interesse insbesondere für deutsch-brasilianische Fragen<br />

bei Avé-Lallemant immer bestehen. Avé-Lallemant befürwortete die deutsche<br />

Kolonisation durchaus im Prinzip, aber nur zu akzeptablen Bedingungen <strong>und</strong> in<br />

den südwestlichen Teilen Brasiliens (Bedenken S. 40) <strong>und</strong> nicht in den nach seiner<br />

Meinung für Europäer klimatisch ungeeigneten Nordprovinzen. Bereits in Rio de<br />

Janeiro selbst hatte er mit einem literarischen Werk begonnen, <strong>das</strong> später in den<br />

Reisebericht einfloss. Er schickte von dort einen Auszug seiner späteren Reisebeschreibung,<br />

eine „jammervolle Kolonisationsgeschichte“ (Am Mucuri 1859, Vorerinnerung<br />

unpag.) über <strong>das</strong> Elend der Auswanderer am Fluss Mucuri am<br />

08.04.1859 nach Hamburg, wo er noch im selben Jahr veröffentlicht wurde als Am<br />

Mucuri, eine Waldgeschichte aus Brasilien zur Erläuterung, Warnung <strong>und</strong> Strafe für<br />

Alle, die es angeht (Hamburg: Perthes-Besser & Mauke 1859). Die Warnung wird in<br />

den Vorerinnerungen auch explizit hervorgehoben: „Du sollst nicht auswandern“<br />

<strong>und</strong> die dort erwähnte Strafe wünscht Avé-Lallemant den Agenten an den Hals,<br />

die in Europa Kolonisten anwerben <strong>und</strong> in Brasilien ins Elend stürzen. Das Buch<br />

nimmt die Schilderung des persönlichen Zusammentreffens mit den Leidtragenden<br />

während der Nordbrasilienreise des Autors zum Ausgangspunkt.<br />

Das Thema der Bedingungen deutscher Auswanderer führte nicht nur wegen<br />

des Werks von Avé-Lallemant, sondern wegen der damals verstärkt einsetzenden<br />

Auswanderung zu einer breiten Diskussion in Deutschland. So hatte Johann Jacob<br />

Sturz, anfangs ein Befürworter der Auswanderung nach Brasilien, bald davor gewarnt<br />

<strong>und</strong> favorisierte die La Plata-Staaten als besser geeignetes Ziel für Deutsche.<br />

15 Der aus Frankfurt stammende Sturz (1800–1877 Berlin) kannte Brasilien<br />

<strong>und</strong> Mexiko aus eigener Anschauung. Von 1843-1859 war er in Berlin als brasilianischer<br />

Generalkonsul tätig, wurde schließlich entlassen, als er sich gegen die<br />

Sklaverei in Brasilien aussprach <strong>und</strong> publizistisch gegen <strong>das</strong> Parcerie-System kämpfte.<br />

Er war schließlich kurzzeitig als Generalkonsul für Uruguay tätig. Am 12. November<br />

1859 hatte die preußische Regierung die Auswanderung nach Brasilien<br />

praktisch verboten (<strong>das</strong> so genannte Heydt’sche Reskript). Anlass war vor allem<br />

14. Ich behandle Ferdinand Denis in meinem Aufsatz Ferdinand Denis (1798-1890), Bibliothekar<br />

an der Bibliothèque Sainte-Geneviève in Paris <strong>und</strong> Brasilienforscher, in: Auskunft, Heft 4.2007,<br />

noch nicht erschienen.<br />

15. Die Titel von Sturz sind in der Bibliographie aufgeführt. Seine materialreichste Studie, auf<br />

die sich Avé-Lallemant hier wohl bezieht, ist STURZ (1868). Zum Thema WEHNER (1925) <strong>und</strong><br />

SUDHAUS (1940).<br />

229


230<br />

<strong>das</strong> in Brasilien existierende Parcerie-System. Gegen Kopfprämien organisierten<br />

Gesellschaften die Auswanderung aus Europa, wobei den Auswanderungswilligen<br />

die Schifffahrt als Vorschuss bezahlt wurde, den sie dann durch oft langjährige<br />

Arbeit auf den Plantagen der Großgr<strong>und</strong>besitzer abarbeiten mussten, was zu einer<br />

finanziellen Abhängigkeit führte.<br />

Avé-Lallemant galt angesichts seiner Reisebücher als Autorität in brasilianischen<br />

Fragen <strong>und</strong> mischte sich dann in tagespolitische Angelegenheiten ein, wenn<br />

es ihm angemessen schien. Nach Avé-Lallemants Meinung war seine frühe Publikation<br />

über die Missstände bei der Organisation deutscher Kolonien durchaus ein<br />

Anlass, <strong>das</strong>s die Regierung „die durch <strong>das</strong> Ausschreiten jener Mucuryverwaltung<br />

unsicher gewordene <strong>und</strong> höchst gefährdete Auswanderung nach Brasilien […]<br />

im höchsten Grade erschwert […]“ habe (Die deutsche Kolonisation 1872, S. 7). Die<br />

schon in seinen Reiseberichten angedeutete positive Sicht der Kolonisierung von<br />

Südbrasilien sollte Avé-Lallemant anlässlich einer polemischen Debatte noch verstärkt<br />

vertreten. Die Fragen der Auswanderung wurden in der deutschen Öffentlichkeit<br />

auch nach der Reichsgründung breit diskutiert. Am 20. April 1872 hatte<br />

der deutsche Gesandte in Brasilien, der Minister-Resident Graf Solms, anlässlich<br />

eines größeren Projekts, in <strong>das</strong> Land Kolonisten einzuführen, eine Depesche an<br />

<strong>das</strong> Reichskanzler-Amt über die von der brasilianischen Provinzregierung von Rio<br />

Grande do Sul beabsichtigte Ansiedlung von 40.000 europäischen Einwanderern<br />

gesandt, in der er dringend vor der Auswanderung nach Brasilien warnte. Die<br />

Depesche wurde in der deutschen Presse auch veröffentlicht. Avé-Lallemant zitiert<br />

nach einem Zeitungsartikel (Kölnische Zeitung Nr. 213, später gedruckt in den<br />

Hamburger Nachrichten) aus dem Bericht (Bedenken S. 7-11). Anlass war ein Projekt<br />

des Präsidenten der Provinz, die damals São Pedro do Rio Grande do Sul hieß,<br />

<strong>und</strong> der Firmen Caetano Pinto Irmão <strong>und</strong> Holtzweißig & Co., die die Auswanderung<br />

organisieren sollten. Die Zahl der Einwanderer wurde wegen Bedenken,<br />

<strong>das</strong>s es in der Provinz zu einer zu starken Konzentration deutscher Siedler kommen<br />

könnte, bereits auf 20.000 herabgesetzt.<br />

Deutsche aus Südbrasilien reichten daraufhin eine Petition im Reichstag für<br />

erleichterte Auswanderungsmodalitäten ein. Vor dem Hintergr<strong>und</strong> dieser negativen<br />

öffentlichen Meinung gegen deutsche Auswanderung nach Brasilien war es<br />

offenk<strong>und</strong>ig, <strong>das</strong>s die Bedenken der Abgeordneten überwogen. Am 10. Mai 1872<br />

wurde dieses Gesuch vom Reichstag diskutiert (Stenographische Berichte 19. Sitzung<br />

vom 10.05.1872, Bd.28, S. 320-325). Die Angelegenheit wurde nach überwiegend<br />

negativer Debatte an den Reichskanzler delegiert. Bismarck, der ohnedies<br />

gegen Auswanderung war, lancierte gerne Dokumente in die Öffentlichkeit<br />

<strong>und</strong> ließ die Depesche des Grafen Solms in der Presse veröffentlichen. Dieser<br />

Bericht wurde zusätzlich, sicher auf Bismarcks persönliche Initiative, vom Reichskanzler-Amt<br />

den B<strong>und</strong>esregierungen (Länderregierungen) übersandt mit der Bitte,<br />

sie öffentlich bekannt zu machen, um der Auswanderung nach Brasilien entgegenzutreten.<br />

In Hamburg wurden von der hamburgischen Auswanderer-Behörde<br />

Expeditionen nach Brasilien mit Kontrakten, die zu einer Schulddienstbarkeit<br />

führten, mit Erlass vom 09.08.1872 verboten.<br />

Robert Avé-Lallemant reagierte in mehreren kleinen Broschüren auf die Debatte.<br />

Persönliche Besucher bei Avé-Lallemant aus Rio Grande do Sul (erwähnt in


Bedenken S. 11), die die Auswanderung unterstützten, waren Anlass dafür, <strong>das</strong>s<br />

Avé-Lallemant öffentlich Stellung bezog. Er verwies darauf, <strong>das</strong>s der erst im März<br />

1872 in Rio eingetroffene Graf Solms seine Depesche bereits am 20. April des Jahres<br />

verfasst hatte <strong>und</strong> deshalb über keine weitergehenden Kenntnisse der Verhältnisse<br />

des Landes oder der deutschen Siedlungszentren dort verfügen konnte. In<br />

Rio werde die Depesche sicher als Provokation <strong>und</strong> <strong>und</strong>iplomatisch aufgefasst<br />

(Bedenken S. 29). Avé-Lallemant empfiehlt zudem die Auswanderung nach Rio<br />

Grande do Sul explizit (Bedenken S. 32). Er verweist auf die Armut in Lübeck, die er<br />

als Armenarzt aus eigener Anschauung kannte (Bedenken S. 33). In einer Nachschrift<br />

hebt er den Nachhall der Reichstagsdebatte in der Deutschen Zeitung in<br />

Porto Alegre hervor, die ihm am 02. August zugesandt wurde, wo ihm angesichts<br />

seines Eintretens für die deutsche Einwanderung in Südbrasilien gedankt wird.<br />

Das Argument der schlechten Bedingungen armer Schichten in Europa bringt<br />

Avé-Lallemant auch in einem anderen, wenig später publizierten Pamphlet, <strong>das</strong><br />

diesmal die Diskussion im Reichstag mit einbezog:<br />

Hat Herr Kapp [ein Debattenredner im Reichstag] nie an <strong>das</strong> weiße, an<br />

<strong>das</strong> Europäische an <strong>das</strong> Deutsche Sklavenleben gedacht? Ist die ungeheure<br />

Auswanderung aus Deutschland wirklich nur eine Geisteskrankheit,<br />

<strong>und</strong> durch kein materielles Missverhältnis begründet. Ich bin seit<br />

meiner Rückkehr aus Brasilien neun Jahre angestellter Armenarzt hier in<br />

meiner Vaterstadt Lübeck gewesen. Die nordische Armut aber ist für<br />

einen aus den Tropen heimkehrenden Arzt, […] so entmuthigend, so<br />

entsetzlich <strong>und</strong> eben wegen der Macht der Verhältnisse so hoffnungslos,<br />

daß ich keinen Tag gehabt habe, an dem ich nicht meine ganze Armenpraxis<br />

hätte nach irgend einem Kolonisationspunkt in Südbrasilien übersiedeln<br />

mögen. (Die deutsche Kolonisation, S. 15)<br />

Der Autor beharrte darauf, <strong>das</strong>s nicht die brasilianische Gesetzgebung, die er<br />

während seines langen Aufenthalts kennen gelernt hatte, an den dortigen Missständen<br />

schuld sei, sondern die für Deutsche ungeeigneten Verhältnisse in der<br />

nordbrasilianischen Gegend <strong>und</strong> <strong>das</strong> persönliche Versagen einzelner Ausbeuter.<br />

Er wehrte sich gegen die Ergebnisse der Behandlung des Themas in der Reichstagssitzung<br />

vom 10. Mai 1872, die eine seiner Meinung nach berechtigte Bitte der<br />

Bewohner Südbrasiliens nach Erleichterung der Einwanderung zu Unrecht nicht<br />

berücksichtigt hat. Und er setzte sich dafür ein, <strong>das</strong> Edikt vom 12.11.1859 angesichts<br />

der geänderten Umstände aufzuheben <strong>und</strong> fordert Hilfe für die Ausgewanderten<br />

von Seiten des Mutterlandes (Die deutsche Kolonisation S.20/21).<br />

Im Jahre 1874 wurde Avé-Lallemant von belgischen Agenten, die die Auswanderung<br />

organisierten, verklagt, da er ihre Praktiken öffentlich als „Menschenhandel“<br />

bezeichnet hatte. Er gewann den gegen ihn angestrengten Prozess vor Lübecker<br />

Gerichten, wobei er sich selbst ohne Anwalt verteidigt hat (SARTORI 1884, S. 501).<br />

Avé-Lallemants moralisierende Staden-Bearbeitung<br />

Die sozioökonomischen Gr<strong>und</strong>lagen des imperialistischen Zeitalters führten<br />

dazu, <strong>das</strong>s auch die protestantisch geprägten Länder eine Weltmission im 19. Jahr-<br />

231


232<br />

h<strong>und</strong>ert aufbauten. Diese betraf nicht nur die Einheimischen, sondern bald auch<br />

die Auswanderer nach Übersee. Die Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts verstärkt einsetzende<br />

Auswanderung aus Europa aus politischen <strong>und</strong> ökonomischen Gründen<br />

wurde schon bald auch in Deutschland von kirchlich protestantischer Seite als<br />

neues Aufgabenfeld erkannt. 1832 gründete der Hamburger Pastor Johann<br />

Hinrich Wichern (1808-1881) <strong>das</strong> so genannte Rauhe Haus in Horn, damals ein<br />

Dorf vor Hamburg, vor allem für die Betreuung der jugendlichen, verwahrlosten<br />

Stadtbevölkerung. Auch andere Autoren widmeten sich der Frage der Mission<br />

für Auswanderer verstärkt, wie der evangelische Theologe <strong>und</strong> Missionar<br />

Friedrich Fabri (BADE 1975).<br />

In Johann Hinrich Wicherns Denkschrift über die innere Mission von 1851 wurde<br />

die Betreuung dieser Auswanderer als zum Gebiet der inneren Mission zugehörig<br />

aufgefasst (WICHERN, Werke, Bd. 2, 1965, S. 169-182 hier S.179); er dachte<br />

dabei anfangs vorrangig an Deutsche „in Europa außerhalb des Vaterlands“ (ebd.).<br />

In derselben Denkschrift von 1851 thematisiert Wichern auch die Herausgabe<br />

von geeigneten Druckschriften (ebd., S. 172 <strong>und</strong> 180). Dort wird die „Herausgabe<br />

einer besseren Volksliteratur <strong>und</strong> die Verbreitung christlicher Volksschriften <strong>und</strong><br />

besserer Erbauungsbücher als Gegengift gegen die schlechte Presse, die in Deutschland<br />

übermächtig geworden ist“, gefordert (S. 172). Im Jahr 1844 verfasst er ein<br />

Memorandum über die Gründung einer Verlagsbuchhandlung (Werke, Bd. 4,1,<br />

1958, S. 296-299). Damit sollte sowohl der Druck als auch die Verlagsbuchhandlung,<br />

die seit 1842 schon einzelne Drucke verlegt hatte, im Rauhen Haus selbst<br />

verfügbar sein. Das Rauhe Haus gab auch einige Zeitschriften über die von ihm<br />

wesentlich mit geprägte christliche Sozialfürsorge heraus (Fliegende Blätter 1844/<br />

45-1941, Neuauflage 2004).<br />

In diesem Kontext der Herausgabe „besserer Volksliteratur“ ist auch die<br />

Staden-Bearbeitung Robert Avé-Lallemants zu sehen, wie uns der Erscheinungsvermerk<br />

„Hamburg Verlag der Agentur des Rauhen Hauses, Reading Pa. [i. e.<br />

Pennsylvania]: Pilger Buchhandlung (Wackernagel & Bendel)“ 16 zeigt, ein deutlicher<br />

Hinweis auf die intendierten ersten Rezipienten <strong>und</strong> die Beschaffungsmöglichkeiten<br />

des Werks auch in den USA, einem Hauptziel deutscher Auswanderer.<br />

Avé-Lallemant kannte nach eigenen Angaben im Vorwort (S.V) <strong>das</strong><br />

Buch von Staden zum Zeitpunkt seiner Brasilienreisen noch nicht, was nicht<br />

verw<strong>und</strong>ert, da die erste neuere deutsche Ausgabe des Textes erst wieder 1859<br />

von Karl Klüpfel in der Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart herausgegeben<br />

wurde (STADEN 1859), also dem Jahr, in dem auch der erste Band<br />

der Brasilienreise von Avé-Lallemant gedruckt wurde. Er rechtfertigt seine eigene<br />

Ausgabe einer Textbearbeitung mit dem religiösen Argument. Durch den<br />

Bezug auf eine in Südamerika selber spielende Geschichte war <strong>das</strong> Buch in<br />

einer moralisierenden Bearbeitung durchaus auch für Auswanderer geeignet,<br />

denen in Stadens Gestalt eine vorbildhafte Figur, die durch seinen Glauben<br />

16. Der Druck erfolgte nur in Hamburg, die Buchhandlung in Pennsylvania hat nur den Vertrieb<br />

in den USA übernommen. Zum deutschen Druck in den USA siehe für die Frühzeit ARNDT<br />

(1989). An Büchern mit parallelem Vermerk konnte ich nur einen Titel nachweisen: PRESSEL<br />

(1875). Das Archiv des Wichernhauses in Hamburg enthält keine Informationen zu dem Buch<br />

von Avé-Lallemant oder seiner Entstehungsgeschichte.


Notsituationen dank göttlichen Schutzes meistert, vorgeführt werden konnte.<br />

Robert Avé-Lallemant schreibt:<br />

So könnte denn eine Veröffentlichung, die <strong>das</strong> Buch des Hans Staden<br />

zum Gegenstande hat, überflüssig erscheinen. Aber keineswegs ist sie<br />

überflüssig. Einmal soll meine Darstellung die gewissenhafte Wahrheitsliebe<br />

des Märtyrers aus Hessen, wenn wir ihm Schritt für Schritt durch<br />

seinen schrecklichen brasilianischen Aufenthalt nachfolgen, beweisen.<br />

Und dann pflücken wir damit wieder einmal die köstlichste Frucht aus<br />

Stadens Geschichte, daß <strong>das</strong> Anrufen Gottes, <strong>das</strong> laute Beten zu Gott<br />

aus Nöthen hilft, in denen alle <strong>und</strong> jegliche Menschenhülfe fern steht,<br />

aus denen nur ein W<strong>und</strong>er, nur Gottes unmittelbarer Wille retten<br />

kann. (Vorwort vom Juli 1871, S. IX)<br />

Avé-Lallemant nimmt damit eine Argumentation wieder auf, die sich in Stadens<br />

Buch selbst findet, der sein literarisches Werk als Zeugnis für die ihm zuteil gewordene<br />

göttliche Gnade ansieht.<br />

Moralisierende Bücher mit einer im brasilianischen Kontext situierten Geschichte<br />

waren zu der Zeit nichts Neues. Avé-Lallemant kannte sicher die damals ungemein<br />

beliebten, für Kinder geeigneten moralisierenden Geschichten von Amalie<br />

Schoppe, geb. Weise (1791-1858), die lange in Hamburg lebte. Amalie Schoppe war<br />

eine heute vergessene, viel schreibende Schriftstellerin, die allenfalls durch ihre<br />

Hilfe für die Ausbildung des jungen Friedrich Hebbel noch in Erinnerung geblieben<br />

ist. Mit ihren Colonisten (Leipzig 1836) hatte sie auch <strong>das</strong> Thema des Lebens in den<br />

Kolonien, hier Australien, bereits bearbeitet. Amalia Schoppe hat in dem Buch Die<br />

Auswanderer nach Brasilien oder die Hütte am Gigitonhonha, (Berlin 1828, 2. Aufl.<br />

1852) erstmals ein Brasilienthema aufgegriffen (NEUMANN 2005). Der Roman mischt<br />

krude historische Realität <strong>und</strong> Fiktion. Die Tatsache der wirtschaftlichen Abhängigkeit<br />

vieler ihre Überfahrt durch langjährige Verpflichtungen an Gr<strong>und</strong>herren finanzierende<br />

Kolonisten wird mit einer Familiengeschichte verknüpft, wo der Sohn einer<br />

weißen Familie entgegen jeder damaligen historischen Realität als Sklave verkauft<br />

wird, <strong>und</strong> schließlich auf persönliche Intervention der Kaiserin Leopoldine<br />

freikommt. Die rührselige Geschichte erfreute sich großer Beliebtheit, es gibt eine<br />

Übersetzung ins Französische – Le colon du Brésil, traduit de l’allemand d’Amélie<br />

Schoppe par F. C. Gérard (Rouen 1866) – mit einer Approbation des Erzbischofs von<br />

Rouen <strong>und</strong> eine andere französische Fassung – Les émigrants au Brésil, imité de<br />

Mme Amélie Schoppe, par Louis Friedel (Tours 1839) – sowie weitere französische<br />

Ausgaben. Brasilien ist in diesen Texten nicht mehr als ein Hintergr<strong>und</strong> einer moralisierenden<br />

Geschichte, vor dem sich die inneren Qualitäten der Gestalten in widriger<br />

persönlicher Lage erweisen. Amalie Schoppe wurde 1791 in Burg auf Fehmarn<br />

geboren, in Hamburg leitete sie eine Erziehungsanstalt für Mädchen <strong>und</strong> lebte von<br />

der Schriftstellerei. 1851 siedelte sie zu einem ihrer Söhne nach New York über <strong>und</strong><br />

starb 1858 in Schenectady bei New York. 17<br />

Avé-Lallemants Nacherzählung schwankt zwischen dominanten Erzählerparaphrasen,<br />

kleinen Einschüben <strong>und</strong> direkten Zitaten aus dem Staden-Original<br />

17. Weitere Werke von Amalia Schoppe in BRÜGGEMANN (1982ff), hier Bd. 4 (1998), S. 823-829.<br />

233


234<br />

besonders bei Gesprächspassagen. Am Ende des Buchs bringt der textinterne Autor<br />

noch einmal ein Urteil über Staden:<br />

Und damit unser Staden nicht nur vor dem Forum der gewissenhaften<br />

Berichterstattung <strong>und</strong> des tieffsten, lautersten Christensinnes als ein<br />

Stern erster Größe erscheine, müssen wir, um auch denen zu genügen,<br />

denen Frömmigkeit <strong>und</strong> Glaubensstärke wie eine Nebensache oder<br />

gar Characterschwäche erscheint, <strong>und</strong> nur Gelehrsamkeit <strong>und</strong> Wissenschaft<br />

schätzenswert ist, unsern Staden auch als ein Muster von<br />

Beobachter <strong>und</strong> Naturforscher wenigstens erwähnen. (S.102/103)<br />

Der Autor schließt mit einem Ausblick auf <strong>das</strong> Schicksal von Eobanus Hessus,<br />

des Sohns eines berühmten Humanisten, den Staden in Brasilien getroffen hat<br />

<strong>und</strong> der später dort gegen die Franzosen kämpfte. Er gibt Staden selbst noch<br />

einmal <strong>das</strong> Wort, als er sein Gebet (am Ende des ersten Buchs im Original) zitiert.<br />

Wir wissen nicht, ob <strong>das</strong> Buch von Avé-Lallemant dem brasilianischen Schriftsteller<br />

<strong>und</strong> Kinderbuchautor Monteiro Lobato (1882-1948) bekannt war, dies ist<br />

eher unwahrscheinlich. Dieser hat eine Bearbeitung des Stadenschen Reisebuchs<br />

herausgegeben <strong>und</strong> später die wohl bekannteste Fassung von Stadens<br />

Geschichte als Kinderbuch, konnte aber kein Deutsch <strong>und</strong> hat auch seine Übertragung<br />

als freie Bearbeitung unter Zuhilfenahme bereits edierter portugiesischer<br />

Ausgaben erstellt. 18 Es ist wenig bekannt, <strong>das</strong>s sich Lobato zweimal mit<br />

Staden beschäftigt hat, er hat eine nahe am Text bleibende Fassung <strong>und</strong> eine<br />

Nacherzählung für Kinder verfasst. Lobato hat die erstere dieser Fassungen Meu<br />

cativeiro entre os selvagens do Brasil (Rio: Companhia Cia. ed. nacional, ohne<br />

Jahr, erstmals 1926) bewusst nicht als Übersetzung betitelt, sondern als „texto<br />

ordenado literariamente por Monteiro Lobato“, also „in literarische Form gebrachter<br />

Text“ (Prefácio, S. 5). Hintergr<strong>und</strong> des Erscheinens war, <strong>das</strong>s Lobato<br />

nach dem Scheitern seines ersten Verlags, der Companhia Gráfico Editora Monteiro<br />

Lobato in São Paulo, die 1925 bankrott ging, die Companhia Editora Nacional mit<br />

Sitz in Rio de Janeiro <strong>und</strong> einer Filiale in São Paulo gegründet hat. Das erste dort<br />

gedruckte Buch war eben diese Hans-Staden-Ausgabe Meu cativeiro entre os<br />

selvagens do Brasil. Das erfolgreich abgesetzte Buch erschien in einer Auflage<br />

von 3000 Stück übrigens mit einer parallelen, wenig bekannten Ausgabe des<br />

auch die frühe Kolonialzeit beschreibenden Brasilienbuchs Histoire d’un voyage<br />

faict en la terre du Brésil ([Genf] 1578) von Jean de Léry, ebenfalls durch Monteiro<br />

Lobato übertragen: Historia de uma viagem feita á terra do Brasil, texto ordenado<br />

literariamente por Monteiro Lobato (Rio/São Paulo, Cia. ed. nacional 1926). Wie<br />

bei Staden handelt es sich um einen „literarisch geordneten“ Text. Der Erfolg<br />

der Stadenausgabe hat Monteiro Lobato wohl dazu gebracht, bald nicht nur<br />

zwei Nachdrucke seiner Stadenbearbeitung in seinem eigenen Verlag zu verlegen<br />

(2. Ausgabe 1926 <strong>und</strong> 3. Auflage 1927), sondern eine weitere, ungleich<br />

18. Monteiro Lobato benutzte die von Löfgren übersetzte <strong>und</strong> 1900 herausgegebene Ausgabe<br />

von Staden, eine zweite Auflage von Löfgrens Übertragung erschien, allerdings erst nach<br />

Monteiros Fassung, 1930. Frau Vanete Santana hat dieses Jahr an der Universität Campinas<br />

eine Dissertation zu Monteiro Lobatos Stadentexten vorgelegt.


erfolgreichere Bearbeitung für Kinder zu verfassen. Diese erschien bereits 1927<br />

als Aventuras de Hans Staden <strong>und</strong> ist mit über 32 Auflagen bis heute die meist<br />

aufgelegte Fassung von Stadens Geschichte <strong>und</strong> vielen brasilianischen Kindern<br />

seit ihrer Jugend präsent. In der Fassung für Kinder fügt er als Rahmenhandlung<br />

ein, <strong>das</strong>s die Geschichte zwei Kindern von ihrer Großmutter erzählt wird.<br />

Zusammenfassung<br />

Robert Avé-Lallemants umfangreiches Werk bedürfte fast 150 Jahre nach dem<br />

Beginn seiner Brasilienreisen einer Wiederentdeckung <strong>und</strong> ist für unsere Kenntnis<br />

des imperialen Brasiliens von zentraler Bedeutung. Seine Gestalt würde insgesamt<br />

eine nicht nur literarische Würdigung verdienen, sondern sollte auch seine<br />

Verdienste für die Entwicklung des staatlichen Ges<strong>und</strong>heitswesens in dem Land<br />

berücksichtigen. Seine Reisebeschreibungen sind stilistisch ansprechend gestaltet<br />

<strong>und</strong> erweitern unser Bild der Epoche durch genaue Beobachtungen eines naturwissenschaftlich<br />

geschulten Autors, der nicht nur bei der sozialen Situation der<br />

deutschen Einwanderer Exzesse zu Recht kritisch angeklagt hat, sondern sich<br />

auch persönlich für die Veränderung dieser Verhältnisse eingesetzt hat. In den<br />

Jahren nach der Reichsgründung galt der nach Lübeck zurückgekehrte Avé-<br />

Lallemant als Autorität in allen Fragen, die Brasilien <strong>und</strong> die deutsche Auswanderung<br />

dorthin betrafen <strong>und</strong> hat sich auch publizistisch <strong>und</strong> im öffentlichen Leben<br />

bewusst nach seinen Überzeugungen für <strong>das</strong> ihm durch langjährige Aufenthalte<br />

<strong>und</strong> Reisen genau bekannte Land <strong>und</strong> <strong>das</strong> bessere Leben der Kolonisten dort<br />

eingesetzt. Nicht zuletzt war er ein begabter Reiseschriftsteller, der nicht nur aus<br />

Brasilien, sondern auch aus Paris <strong>und</strong> Rom, Ägypten <strong>und</strong> Nubien berichtet hat,<br />

<strong>und</strong> sich an dramatischen Werken, einem Epos <strong>und</strong> einer Biographie von dem<br />

Universalgelehrten Joachim Jungius versucht hat.<br />

Literatur<br />

Zusammenstellung der Werke <strong>und</strong> Schriften von Robert Avé-Lallemant<br />

[Bei selteneren Werken wurden die Belegexemplare in Klammern angegeben]<br />

– De lithotritia. Dissertatio Inauguralis Chirurgica, Kiliae [Kiel]: Mohr, Univ., Med. Diss., 1837.<br />

– De Ioanne Actuario ultimo medico Byzantino dissertationem medico-historicam, viro Summe verando<br />

J.F.H Sigaud offert RCB Lallemant, Sebastianopoli [Rio de Janeiro]: Laemmert 1846, 26 Seiten.<br />

[wohl eine kleine Festschrift als Privatdruck, Joseph François Sigaud (1796-1857) wirkte als Arzt<br />

in Brasilien, er hat folgendes Werk verfasst: Du climat et des maladies du Brésil ou statistique<br />

médicale de cet empire, Paris 1844]; [bibliographische Angabe zu Avé-Lallemants Werk aus den<br />

Berliner Titeldrucken, kein Beleg].<br />

– Beiträge zur Kenntnis des gelben Fiebers zu Rio de Janeiro, gesammelt während der Jahre 1850-54,<br />

Abtheilung 1. Rio: Lenzinger 1855 [Berliner Titeldrucke, kein Beleg].<br />

– Observações acerca da epidemia de febre amarella do anno de 1850 no Rio de Janeiro, colhi<strong>das</strong> nos<br />

hospitaes e na Policlínica. Rio de Janeiro: Villeneuve 1851. [Biblioteca nacional, Rio, Staatsbibliothek<br />

Bamberg].<br />

– Das gelbe Fieber, nach dessen geographischer Verbreitung, Ursachen, Verschleppbarkeit, Haupterscheinungen,<br />

Behandlung <strong>und</strong> anderen wissenschaftlichen Beziehungen, aus eigenen Beobachtungen<br />

<strong>und</strong> Erfahrungen dargestellt, nebst einem Anhange: Behandlung des gelben Fiebers auf<br />

Schiffen, wenn kein Arzt zugegen ist. Breslau: Hirt 1857.<br />

235


236<br />

– Am Mucuri. Eine Waldgeschichte aus Brasilien zur Erläuterung, Warnung <strong>und</strong> Strafe für Alle, die es<br />

angeht. Hamburg: Perthes-Besser & Mauke 1859 [UB Kiel]. [Online: ]<br />

– Reise durch Südbrasilien im Jahre 1858. Leipzig: Brockhaus 1859.<br />

– Reise durch Nordbrasilien im Jahre 1859. Leipzig: Brockhaus 1860.<br />

– Rathschläge bei dem Besuch der Gelbfieberhäfen zur Zeit des herrschenden Fiebers für Seeleute nach<br />

vieljährigen Beobachtungen <strong>und</strong> Erfahrungen zusammengestellt. Berlin: Kgl. Geh. Hofdruckerei<br />

1860, 47 S. [Berliner Titeldrucke, Berlin SPKB].<br />

– Die Benutzung der Palmen am Amazonenstrom in der Oekonomie der Indianer, nach einem im<br />

Athenäum am 19. November 1860 zu Hamburg gehaltenen Vortrag. Hamburg: Boyes Geisler<br />

1861 [SUB Göttingen].<br />

– Des Dr. Joachim Jungius aus Lübeck Briefwechsel mit seinen Schülern <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>en, ein Beitrag zur<br />

Kenntniss des großen Jungius <strong>und</strong> der wissenschaftlichen wie socialen Zustände des dreißigjährigen<br />

Krieges, hrsg. von Robert C. B. Avé-Lallemant. Lübeck: Asschenfeldt 1863.<br />

– Tabatinga am Amazonasstrom: ein Vortrag gehalten am 7. März 1863 im wissenschaftlichen Verein<br />

zu Berlin. Hamburg 1863 [UB Kiel].<br />

– Ein hanseatischer Admiral, von Dr. med. Robert Avé-Lallemant. Lübeck: Rahtgens 1866 [UB Kiel].<br />

[Auszug aus dem folgenden Titel Anson].<br />

– Anson, [Epos]. Altona: Mentzel 1868 [Kiel: Landesbibliothek, Stadtbibliothek Mainz].<br />

– Hans Staden von Homberg bei den brasilianischen Wilden oder die Macht des Glaubens <strong>und</strong> Betens,<br />

hrsg. von Robert Avé-Lallemant. Hamburg: Agentur des Rauhen Hauses 1871. [Online: ].<br />

– Bedenken über eine Depesche des kais[erlichen] deutschen Minister-Residenten am Brasilianischen Hofe<br />

vom 20. April 1872, Lübeck: Rahtgens 1872. Ein offenes Wort über eine anonyme Einsendung,<br />

Nachschrift zu dem J. J. Sturz’schen Buche: Die deutsche Auswanderung u.s.w. (vom Jahre 1868).<br />

Hamburg: Mentzel 1872. Die deutsche Kolonisation in Brasilien <strong>und</strong> der Deutsche Reichstag am 10.<br />

Mai 1872. Lübeck: Rahtgens 1872. [Diese drei Schriften sind im Exemplar der UB Kiel zusammengeb<strong>und</strong>en<br />

(Signatur M 9666). Von dem letzten Werk Die deutsche Kolonisation gibt es einen<br />

2. Abdruck (UB Frankfurt, Belegexemplar im Katalog der Bibliothek der Deutschen Kolonialgesellschaft<br />

unter der URL: http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/volltexte/2005/507/pdf/band1.pdf<br />

Abrufdatum 13.04.2006)].<br />

– Carranza Erzbischof von Toledo, ein dramatisiertes Zeitbild in 5 Acten. Hamburg: Mentzel 1872.<br />

– Fata Morgana, Reiseeindrücke aus Ägypten <strong>und</strong> Unteritalien. 2 Bde., Altona: Mentzel 1872.<br />

– Die Kirche der Heiligen Prudentiana <strong>und</strong> ihre Umgebung, ein Morgenspaziergang in Rom. Lübeck:<br />

Ferdinand Grautoff 1877 [Beleg UB Kiel, Exemplar mit eingeb<strong>und</strong>enem Dankesbrief von Lindenberg<br />

vom 09.07.1877, <strong>das</strong> Exemplar aus dem Nachlass von Roberts Tochter Martha 1928, Geschenk<br />

von Frau Range an die Universitätsbibliothek Kiel 1959].<br />

– Wanderungen durch Paris aus alter <strong>und</strong> neuer Zeit. Gotha: Perthes 1877 [SUB Göttingen].<br />

– Luiz de Camoens, Portugals größter Dichter, Eine Festschrift zur Gedächtnissfeier der 300sten Wiederkehr<br />

seines Todesjahres. Leipzig: Foltz 1879 [SUB Göttingen].<br />

– Wanderungen durch die Pflanzenwelt der Tropen, allen Liebhabern der Natur [...] gewidmet. Breslau:<br />

Hirt 1881 [SUB Hamburg].<br />

– Yn Gudes Namen: Das Leben des Dr. med. Joachim Jungius aus Lübeck: (1587 - 1657). Breslau: Hirt 1882.<br />

Beiträger:<br />

– an der Humboldtbiographie, veröffentlicht zum 100. Geburtstag Humboldts:<br />

Carl Christian Bruhns (1830-1891), Alexander von Humboldt, eine wissenschaftliche Biographie, 3<br />

Bde., Leipzig 1872. Er schrieb den Teil über Humboldts Parisaufenthalt.<br />

Herausgeber [mit weiteren Autoren]:<br />

– Gaea. Natur <strong>und</strong> Leben. Zeitschrift zur Verbreitung naturwissenschaftlicher <strong>und</strong> geographischer<br />

Kenntnisse sowie der Fortschritte auf dem Gebiete der gesammten Naturwissenschaften. Stuttgart:<br />

Lehmann [u.a.] (1) 1865-(45) 1909. [In Bd. 1, 1865, findet sich ein Aufsatz von Avé-Lallemant<br />

über „Die Früchte Brasiliens“.]<br />

Aufsätze:<br />

– einige Aufsätze von Robert Avé-Lallemant finden sich in der Wochenschrift für die gesammte Heilkun-


de, Berlin, in den Jahrgängen 1844 <strong>und</strong> 1848-1851, darunter mehrere Aufsätze zu den Gelbfieberfällen<br />

in seinem Hospital, die dann in sein Buch Das Gelbe Fieber 1857 eingegangen sind. Exemplarisch<br />

sei zitiert:<br />

Ethnographischer Blick auf Brasilien. In: Wochenschrift für die gesammte Heilk<strong>und</strong>e. Berlin 14. September<br />

1844, Nr. 37, S.590-600 <strong>und</strong> Nr. 38, 21.09.1844, S.613-617.<br />

Von dem Bruder Friedrich:<br />

– [Heinrich Georg] Friedrich Avé-Lallemant: Erinnerungen an Brasilien, 3 Teile: 1: Banane (von der<br />

Norddeutschen Jugendzeitung gekrönte Preisschrift); 2: Die Bai von Rio de Janeiro <strong>und</strong> Fischerei auf<br />

derselben; 3: Meine erste Reise nach der deutschen Kolonie. Petropolis, Lübeck: in Commission der von<br />

Rohdenschen Buchhandlung 1854 [Brasilienbibliothek der Bosch Gmbh, unpubl. Ergänzungen].<br />

Sammlung von Rezensionen:<br />

– von Avé-Lallemants Anson <strong>und</strong> Fata Morgana mit Ankündigung des Carranza unter dem Titel Über<br />

Robert Avé-Lallemant <strong>und</strong> dessen literarische Thätigkeit: namentlich in Bezug auf sein neuestes<br />

dramat. Zeitbild „Papst oder König?“ Carranza, Erzbischof von Toledo. Hamburg: Mentzel 1872<br />

[10] Blatt. [Universitäts- <strong>und</strong> Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha, <strong>das</strong> Exemplar ist Geschenk von<br />

Justus Perthes 1887 laut handschriftlichem Besitzeintrag. Perthes hatte Avé-Lallemants Wanderungen<br />

durch Paris aus alter <strong>und</strong> neuer Zeit 1877 in Gotha gedruckt].<br />

Nachrufe:<br />

– wohl von dem Redakteur Rahtgens in: Lübeckische Blätter, 1884, S.500-502.<br />

– August Sartori in: Deutsche R<strong>und</strong>schau für Geographie <strong>und</strong> Statistik 7, 1885, S.187-189 mit Abbildung<br />

S.187.<br />

Übersetzungen der Brasilienreiseberichte ins Portugiesische:<br />

– Viagem pelo sul do Brasil no anno de 1858, (Coleção de obras raras, 4), tradução do Instituto<br />

Nacional do Livro da edição de Leipzig 1859, 2 Bde. Rio 1953.<br />

– Viagem pelo norte do Brasil no ano de 1859, (Coleção de obras raras, 7), tradução de Eduardo de<br />

Lima Castro. Rio 1961.<br />

– Neuauflagen: Robert Avé-Lallemant, Viagens pelas províncias da Bahia, Pernambuco, Alagoas e<br />

Sergipe, 1859, Belo Horizonte/São Paulo (Coleção Reconquista do Brasil, nova série, 19) 1980.<br />

– No Rio Amazonas 1859 (Coleção Reconquista do Brasil; nova série, 20). Belo Horizonte/São<br />

Paulo 1980.<br />

Posthume Veröffentlichungen:<br />

– Jugenderinnerungen von Dr. Robert Avé-Lallemant, hrsg. von P[aul] Range. In: Lübeckische Blätter<br />

1928, S.956-962.<br />

– Ein Besuch bei Alexander von Humboldt, mitgeteilt von P[aul] Range. In: Deutsche R<strong>und</strong>schau 222,<br />

1930, S.233-236. [vgl. oben die Humboldtbiographie].<br />

Bibliographie der Sek<strong>und</strong>ärliteratur<br />

AHLERS, Olof: (1953) Robert Avé-Lallemant. in: Neue Deutsche Biographie. Bd.1, S.465-466.<br />

APPEL, Bernhard R. (2001): Musikhandschriften <strong>und</strong> Briefe aus dem Familienarchiv Avé-Lallemant.<br />

(Patrimonia 197). Lübeck.<br />

ARNDT, Karl John Richard (1989): The first century of German language printing in the United States of<br />

America: a bibliography based on the studies of Oswald Seidensticker and Wilbur H. Oda. (Publications<br />

of the Pennsylvania German Society; 21/22). 2 Bde. Göttingen.<br />

AVÉ-LALLEMANT, Friedrich Christian Benedikt (1858-1862): Das deutsche Gaunertum in seiner socialpolitischen,<br />

literarischen <strong>und</strong> linguistischen Ausbildung zu seinem heutigen Bestande. Leipzig. [Nachdruck<br />

Hildesheim 1980].<br />

AVÉ-LALLEMANT, Germán (1892-1893) (Hrsg.): El Obrero [Zeitschrift]. Buenos Aires.<br />

AVÉ-LALLEMANT, Germán (1974): La clase obrera y el nacimiento del marxismo en la Argentina,<br />

selección de artículos de Germán Avé Lallemant, introd. de Leonardo Paso. Buenos Aires.<br />

BADE, Klaus J. (1975): Friedrich Fabri <strong>und</strong> der Imperialismus in der Bismarckzeit. Revolution – Depression<br />

– Expansion. Freiburg i.Br. online <br />

[10.10.2006].<br />

237


238<br />

BRASILIEN ALTE BÜCHER NEUE WELT (2006). Ausstellungskatalog der Brasilienbibliothek der Robert<br />

Bosch GmbH in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. (Jahresgabe der Württembergischen<br />

Bibliotheksgesellschaft). Stuttgart.<br />

BRÜGGEMANN, Theodor (1982ff): Handbuch zur Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur, bisher 5 Bde. Bd. 4,<br />

Stuttgart.<br />

BRUHNS, Christian (1872): Alexander von Humboldt, eine wissenschaftliche Biographie. 3 Bde.<br />

Leipzig.<br />

BRUNS, Alken (1991): Robert Avé-Lallemant. In: Schleswig-holsteinisches biographisches Lexikon, Bd.<br />

9. Neumünster, S. 38-40.<br />

CARRANZA, Bartolomé de (1558): Comentarios sobre el catechismo christiano. Antwerpen.<br />

DENIS, Ferdinand (1824): Scènes de la nature sous les tropiques, Paris.<br />

FLIEGENDE BLÄTTER aus dem Rauhen Hause zu Horn bei Hamburg, 1844/45-1941. Mikrofiche-<br />

Edition. Erlangen 2004.<br />

FOUQUET, Karl (1941): A origem da familia Avé-Lallemant e sua expansão no Brasil. São Paulo. [Im<br />

Martius-Staden-Institut in São Paulo befindet sich Fouquets Typoskript des Buchs mit handschriftlichen<br />

Ergänzungen].<br />

GERMÁN AVÉ LALLEMANT (2001) homenaje de la Institución en el 90 o aniversario de su muerte 1910<br />

– 2000. (Junta de Historia de San Luis). San Luis, Argentinen.<br />

GERSTÄCKER, Friedrich (1864): Die Colonie, Brasilianisches Lebensbild. 3 Bde. Leipzig.<br />

GÜNKEL, Ulrike (1985): Robert Avé-Lallemants Reise durch Südbrasilien im Jahre 1858. In: Wiener<br />

ethnohistorische Blätter, Heft 28, S. 59-86.<br />

HANTZSCH, Viktor (1902): Robert Avé-Lallemant. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 46, S. 144-146.<br />

HINDEN, Heinrich (1921): Deutsche <strong>und</strong> deutscher Handel in Rio de Janeiro, 1821-1921. Rio.<br />

LÉRY, Jean de (1578): Histoire d’un voyage faict en la terre du Brésil. [Genf].<br />

LÉRY, Jean de (1926): Historia de uma viagem feita á terra do Brasil, texto ordenado literariamente por<br />

Monteiro Lobato. Rio / São Paulo.<br />

LOBATO, Monteiro (1926): Historia de uma viagem feita á terra do Brasil, texto ordenado literariamente<br />

por Monteiro Lobato. Rio / São Paulo. [2. Aufl. 1926 <strong>und</strong> 3. Aufl. 1927; Neuauflage unter dem Titel<br />

Meu cativeiro entre os selvagens do Brasil, texto ordenado literariamente por Monteiro Lobato,<br />

Curitiba 1995].<br />

LOBATO, Monteiro (1927): Aventuras de Hans Staden. São Paulo. [32. Aufl. bis heute bei verschiedenen<br />

Verlagen].<br />

LÜHRSEN, C.-N. (1963): Die Familie Avé-Lallemant <strong>und</strong> ihre Töchternachkommen. In: Deutsches<br />

Familienarchiv. Neustadt an der Aisch, S. 205-243.<br />

N. N. (1860): Rezension der Reise durch Südbrasilien. In: Zeitschrift für allgemeine Erdk<strong>und</strong>e N.F., Bd.<br />

9, S. 490-493. [Als Avé-Lallemant, Robert: Reise durch Süd-Brasilien im Jahre 1858 online unter<br />

]<br />

NEUMANN, Gerson Roberto (2003): Amalia Schoppe <strong>und</strong> Friedrich Gerstäcker. In: Tópicos, Heft 03, S. 41-<br />

43. [Online unter ].<br />

NEUMANN, Gerson Roberto (2005): Brasilien ist nicht weit von hier! Die Thematik der deutschen<br />

Auswanderung nach Brasilien in der deutschen Literatur im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert (1800-1871). Frankfurt<br />

am Main.<br />

PRESSEL, Wilhelm (1875): Priscilla an Sabina. Briefe einer Römerin an ihre Fre<strong>und</strong>in aus den Jahren<br />

29-33 n. Chr. Hamburg: Agentur des Rauhen Hauses.<br />

ROUSSEAU, Jean-Jacques (1782): Rêveries d’un promeneur solitaire. (Collection complète des œuvres<br />

de J. J. Rousseau 20). Genf.<br />

SANDER, Rolf (1960): Die Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit zu Lübeck als Stätte des<br />

Helfens <strong>und</strong> der menschlichen Begegnung. In: Der Wagen, ein lübeckisches Jahrbuch, S.101-111.<br />

SARTORI, siehe Nachrufe oben.<br />

SCHOPPE, Amalia (1828): Die Auswanderer nach Brasilien oder die Hütte am Gigitonhonha. Berlin<br />

1828. [2. Aufl. 1852; Volltext unter ].<br />

SCHOPPE, Amalia (1839): Les émigrants au Brésil, imité de Mme Amélie Schoppe, par Louis<br />

Friedel. Tours.<br />

SCHOPPE, Amalia (1866): Le colon du Brésil, traduit de l’allemand d’Amélie Schoppe par F. C.<br />

Gérard. Rouen.


SEIPEL, Wilfried (2001) (Hrsg.): Die Entdeckung der Welt – Die Welt der Entdeckungen: österreichische<br />

Forscher, Sammler, Abenteurer. Ausstellung Künstlerhaus Wien 2001/2002. Wien / Mailand.<br />

STADEN, Hans (1859): N. Federmanns <strong>und</strong> H[ans] Stades [vielm. Stadens] Reisen in Südamerica 1529 bis<br />

1555, neu hrsg. von Karl Klüpfel. (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 47). Stuttgart.<br />

STADEN, Hans (1900/1930) Hans Staden, suas viagens e captiveiro entre os selvagens do Brasil, hrsg.<br />

<strong>und</strong> übers. von Alberto Löfgren. Erstmals São Paulo 1900; zweite Aufl. als Hans Staden, Viagem ao<br />

Brasil, Rio 1930.<br />

Stenographische[n] Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, Berlin 1871-1939, hier 19. Sitzung<br />

vom 10.05.1872, Bd.28, S. 320-325. [Digital unter ].<br />

STURZ, Johann Jacob [1847]: Ideen zu einem Vereine zum Schutze <strong>und</strong> zur Unterstützung deutscher<br />

Einwanderer in Südbrasilien. [Als Manuscript gedruckt]. Berlin. [Nachweis Berlin, Staatsbibliothek].<br />

STURZ, Johann Jacob (1848) [unter dem Pseudonym Germano-Brasilicus]: Kann <strong>und</strong> soll Deutschland<br />

eine Dampfflotte haben <strong>und</strong> wie? Mit Hinblick auf Deutschlands Schifffahrt, Handel, Industrie<br />

<strong>und</strong> Auswanderung besprochen. Berlin.<br />

STURZ, Johann Jacob (1862): Kann <strong>und</strong> soll ein Neu-Deutschland geschaffen werden <strong>und</strong> auf welche<br />

Weise? Ein Vorschlag zur Verwertung der deutschen Auswanderung im nationalen Sinne. Berlin.<br />

[STURZ, Johann Jacob] (1862): Brasilianische Zustände <strong>und</strong> Aussichten im Jahre 1861. Berlin.<br />

STURZ, Johann Jacob (1862): Schafzucht am Uruguay als Gr<strong>und</strong>lage deutscher Kolonisation. Berlin.<br />

STURZ, Johann Jacob (1865): Neue Beiträge über Brasilien <strong>und</strong> die La Plata-Staaten. Berlin.<br />

STURZ, Johann Jacob (1868): Die deutsche Auswanderung <strong>und</strong> die Verschleppung deutscher Auswanderer,<br />

mit speciellen Dokumenten über die Auswanderung nach Brasilien zur Widerlegung falscher<br />

Angaben. Berlin.<br />

SUDHAUS, Fritz (1940): Deutschland <strong>und</strong> die Auswanderung nach Brasilien im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert. (Übersee-Geschichte<br />

11). Hamburg.<br />

WEHNER, Karl (1925): Johann Jakob Sturz <strong>und</strong> die deutsche Auswanderung. [Maschinenschriftliche<br />

Dissertation]. Frankfurt.<br />

WICHERN, Johann Hinrich (1958-1988): Werke, 10 Bde., 1958-1988, bes. Bd. 2. Hamburg 1965.<br />

WIED-NEUWIED, Maximilian von (1820/21): Reise nach Brasilien in den Jahren 1815 bis 1817, hrsg.<br />

von Hermann Josef Roth. [Repr. der Ausg. Frankfurt a. M.: Brönner 1820/1821, 2 Bde. <strong>und</strong> ein<br />

Tafelband, Nachdruck der 2 Textbände, Sankt Augustin: Gardez 2001].<br />

WÜLLERSTORF-URBAIR, Bernhard von (1861-1875): Reise der österreichischen Fregatte Novara um<br />

die Erde in den Jahren 1857, 1858, 1859, 9 Bde. Wien.<br />

Dr. Franz Obermeier, geboren 1967 in Kelheim (Bayern), Studium der Romanistik <strong>und</strong><br />

Slavistik in Regensburg. Promotion über französische Brasilienberichte im 17. Jahrh<strong>und</strong>ert;<br />

tätig an der Universitätsbibliothek Kiel. Verschiedene Veröffentlichungen zu Geschichte, Menschen,<br />

Sprachen in Südamerika, insbesondere Brasilien, im 16. <strong>und</strong> 17. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />

239


Koch-Grünberg <strong>und</strong> sein Meisterwerk<br />

Vom Roroima zum Orinoco<br />

Cristina Alberts-Franco<br />

São Paulo<br />

Resumo: Theodor Koch-Grünberg (1872-1924) é considerado um<br />

dos mais importantes etnólogos alemães que, no início do<br />

século XX, realizaram grandes expedições científicas a regiões<br />

parcialmente inexplora<strong>das</strong> do território brasileiro.<br />

Sua obra mais significativa, Vom Roroima zum Orinoco, aqui<br />

comentada, sempre despertou admiração e, ainda hoje, é<br />

considerada de valor inestimável para o estudo dos povos<br />

indígenas de língua Karib.<br />

Abstract: Theodor Koch-Grünberg (1872-1924) was one of the most<br />

distinguished German ethnologists who in the early 20 th<br />

century <strong>und</strong>ertook great ethnographic expeditions to Brazilian<br />

regions which at that time were partially unknown.<br />

His most significant work, Vom Roroima zum Orinoco, commented<br />

in this article, has always been admired and is<br />

nowadays still considered to be of great importance for<br />

the study of Karib Indian groups.<br />

1. Von Grünberg nach Amazonien<br />

Als Karl von den Steinen 1884 seine erste Xingu-Expedition durchführte, begann<br />

die Phase der großen deutschen Forschungsreisen in Brasilien, die von<br />

1884 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs dauerte <strong>und</strong> die für die Erforschung<br />

indianischer Ethnien <strong>und</strong> die Erschließung geographischer Gebiete Brasiliens von<br />

großer Bedeutung war. Diese Expeditionen hinterließen sowohl zahlreiche wissenschaftliche<br />

Ergebnisse, als auch umfangreiche Werke, die die materiellen Resultate<br />

der durchgeführten Reisen in Wort <strong>und</strong> Bild wiedergaben.<br />

Neben Karl von den Steinen gehören zu dieser Periode der deutschen Ethnologie<br />

Namen wie Paul Ehrenreich, Fritz Krause, Max Schmidt <strong>und</strong> Kurt ‚Nimuendaju‘<br />

Unkel. Einer der fleißigsten <strong>und</strong> erfolgreichsten Forscher unter ihnen war Theodor<br />

Koch-Grünberg, der vier Forschungsreisen nach Brasilien unternahm <strong>und</strong><br />

dessen Werke über <strong>das</strong> Gebiet Nordwest-Brasilien/Südost-Kolumbien bis heute<br />

hoch geschätzt werden.<br />

Christian Theodor Koch wurde am 9. April 1872 in Grünberg, Oberhessen,<br />

geboren. Schon in seiner Kindheit hat er sich für fremde Länder <strong>und</strong> Völker interessiert<br />

<strong>und</strong> las mit Interesse <strong>und</strong> Begeisterung die Reiseberichte, die im Globus<br />

veröffentlicht wurden, einer länder- <strong>und</strong> völkerk<strong>und</strong>lichen Zeitschrift, die seine<br />

Eltern abonnierten.<br />

241


242<br />

Nachdem er <strong>das</strong> Gymnasium im benachbarten Laubach besucht hatte, studierte<br />

er klassische Philologie, zuerst in Gießen, dann in Tübingen. 1896 legte er<br />

sein Staatsexamen in Darmstadt ab. Danach war er zwei Jahre lang Gymnasiallehrer<br />

an verschiedenen hessischen Lehranstalten. Aber sein Interesse für die südamerikanischen<br />

Ureinwohner ließ nicht nach, <strong>und</strong> er widmete sich immer mehr<br />

dem Studium dieser Völker.<br />

1899 gelang es ihm, an der zweiten Xingu-Expedition unter Dr. Hermann Meyer,<br />

aus Leipzig, teilzunehmen. Die Expedition sollte die Ausdehnung des Xingu-<br />

Quellgebietes nach Westen hin festlegen <strong>und</strong> dabei den Ronuro-Fluss erforschen.<br />

Doch infolge der örtlichen Verhältnisse wurde die Reise zu „einem fortgesetzten<br />

Leidensweg“ (KOCH-GRÜNBERG 1902, S. 333), so <strong>das</strong>s sich die Expeditionsteilnehmer<br />

gezwungen sahen, zum schon bekannten Culuene-Culiseu aufwärts<br />

zurückzukehren <strong>und</strong> dort die Dörfer verschiedener Indianergruppen zu besuchen,<br />

wo sie umfangreiche ethnographische Sammlungen erwarben.<br />

Nach Deutschland zurückgekehrt, arbeitete Theodor Koch noch ein Jahr als<br />

Gymnasiallehrer in Offenbach. 1902 promovierte er in Würzburg zum Dr. phil. mit<br />

der Arbeit Zum Animismus der südamerikanischen Indianer <strong>und</strong> wurde bald von<br />

Adolf Bastian an <strong>das</strong> Berliner Museum für Völkerk<strong>und</strong>e berufen. 1903 trat er seine<br />

zweite Forschungsreise nach Brasilien an, diesmal unter eigener Leitung. Fast<br />

zwei Jahre lang bereiste er die Region des Alto Rio Negro <strong>und</strong> seiner Nebenflüsse<br />

Içana, Caiari-Uaupés <strong>und</strong> Curicuriari im Grenzgebiet Nordwest-Brasilien/Südost-<br />

Kolumbien, wo er verschiedene Indianerstämme der Tukano- <strong>und</strong> Aruak-Stämme<br />

linguistisch <strong>und</strong> ethnographisch erforschte.<br />

Im Sommer 1905 kehrte Theodor Koch nach Deutschland zurück <strong>und</strong> widmete<br />

sich der wissenschaftlichen Auswertung seiner Forschungsergebnisse, die er<br />

dann in den folgenden Jahren in Form von einigen Büchern <strong>und</strong> mehreren Artikeln<br />

in Fachzeitschriften veröffentlichte. Ab diesen Schriften fügte er seinem Familiennamen<br />

den Namen seiner Geburtsstadt, Grünberg, hinzu.<br />

1909 habilitierte er sich in Freiburg i. Br. für <strong>das</strong> völkerk<strong>und</strong>liche Fach, doch<br />

bald schon beschäftigte ihn erneut die Vorbereitung einer neuen Forschungsreise,<br />

diesmal in <strong>das</strong> Grenzgebiet Nordbrasilien/Südvenezuela. Im Auftrag <strong>und</strong> mit<br />

Unterstützung des Baessler-Instituts in Berlin weilte er von 1911 bis 1913 in dem<br />

damals zum Teil unbekannten Gebiet zwischen dem Roraima-Gebirge <strong>und</strong> dem<br />

mittleren Orinoco.<br />

Im ersten Teil seiner Expedition lebte Koch-Grünberg einige Wochen unter<br />

Makuschí-Taulipáng- <strong>und</strong> Wapischána-Indianern im heutigen brasilianischen<br />

B<strong>und</strong>esstaat Roraima. Im zweiten Teil seiner Reise, nachdem er den Uraricuera<br />

aufwärts gefahren war <strong>und</strong> die Grenze zu Venezuela überschritten hatte, lebte<br />

er monatelang unter Yekuaná- <strong>und</strong> Guinaú-Indianern. Zum Schluss fuhr er<br />

den Ventuari bis zum mittleren Orinoco hinab, dem Ziel seiner fast zweijährigen<br />

Forschungsreise. Von dort aus kehrte er nach Manaus <strong>und</strong> schließlich<br />

nach Deutschland zurück.<br />

Nach seiner Rückkehr nach Deutschland wurde Koch-Grünberg viel Anerkennung<br />

zuteil, <strong>und</strong> er stand jetzt auf dem Höhepunkt seiner Karriere. 1913<br />

wurde er zum außerordentlichen Professor für Ethnologie an der Universität<br />

Freiburg ernannt. 1915 übertrug man ihm die Leitung des Linden-Museums in


Stuttgart. Zugleich behielt er eine Dozentur an der Universität Heidelberg bei. Er<br />

wurde auch zum Ehrenmitglied der Geographischen Gesellschaft in München<br />

<strong>und</strong> des Vereins für Völkerk<strong>und</strong>e in Leipzig ernannt sowie zum korrespondierenden<br />

oder Ehrenmitglied wissenschaftlicher Gesellschaften des In- <strong>und</strong> Auslandes.<br />

Nach verschiedenen Unterbrechungen während des Ersten Weltkrieges –<br />

Landsturmdienst, Aufenthalt im Malarialazarett, photogrammmetrische Auswertung<br />

von Fliegeraufnahmen – setzte er bis 1924 seine Tätigkeit am Linden-Museum<br />

fort. Damals ordnete er die Sammlungen des Museums <strong>und</strong> baute die südamerikanische<br />

Abteilung aus.<br />

1924 schloss sich Koch-Grünberg der Expedition des amerikanischen Forschers<br />

<strong>und</strong> Millionärs Dr. Alexander Hamilton Rice an, der sich mit dem Plan trug, <strong>das</strong><br />

Quellgebiet des Orinoco mit den damaligen modernsten Mitteln zu erk<strong>und</strong>en. Am<br />

20. August 1924 begann die Expedition <strong>und</strong> führte die Flüsse Rio Negro <strong>und</strong> Rio<br />

Branco aufwärts. An einem kleinen Ort namens Vista Alegre am Rio Branco sollten<br />

die Teilnehmer der Expedition für ein paar Tage haltmachen. Doch Hamilton<br />

Rice beschloss, seine Frau <strong>und</strong> einige Tropenärzte nach Manaus zu begleiten <strong>und</strong><br />

sie an Bord eines Dampfers zu bringen, der nach New York fuhr. Während der<br />

langen Wartezeit auf Rices Rückehr erkrankten einige Expeditionsteilnehmer an<br />

Malaria, unter ihnen Koch-Grünberg. Sein Zustand verschlimmerte sich allmählich<br />

so, <strong>das</strong>s er am 8. Oktober 1924 starb.<br />

Koch-Grünberg wird bis heute als einer der bedeutendsten deutschen<br />

Südamerikaforscher angesehen. Seine Werke behandeln Themen wie Geographie,<br />

vergleichende Sprachenk<strong>und</strong>e, Anthropologie, Geschichte, Soziologie <strong>und</strong><br />

Kunstgeschichte. Sein Beitrag zur vergleichenden Sprachenk<strong>und</strong>e, zur indianischen<br />

Mythologie <strong>und</strong> zur materiellen Kultur der von ihm erforschten Indianerstämme<br />

nehmen einen Ehrenplatz in der südamerikanischen Ethnologie ein, <strong>und</strong><br />

seine Texte über die von ihm bereisten Gegenden auf den Forschungsreisen von<br />

1903-1905 <strong>und</strong> 1911-1913 gelten als gr<strong>und</strong>legend.<br />

Das gesamte Werk Koch-Grünbergs besteht aus einigen Büchern, in denen er<br />

hauptsächlich die Ergebnisse der zwei von ihm geleiteten Expeditionen veröffentlichte,<br />

<strong>und</strong> aus 58 Artikeln für Fachzeitschriften. Unter seinen Werken sei zu erwähnen<br />

Zwei Jahre unter den Indianern, Reisen in Nordwest-Brasilien (1909 <strong>und</strong><br />

1910), ein zweibändiges Werk, <strong>das</strong> die Ergebnisse seiner Forschungsreise 1903-<br />

1905 im Grenzgebiet Nordwest-Brasilien/Südost-Kolumbien bringt. Es gilt als <strong>das</strong><br />

„große klassische Werk der Ethnographie des Nordostens Amazoniens“ (HART-<br />

MANN 1977, S. 233) 1 <strong>und</strong> ist bis heute „unersetzlich für <strong>das</strong> Studium der Ethnologie<br />

der Flüsse Negro <strong>und</strong> Japurá“ (SCHADEN 1981, S. 13). Laut Günther Hartmann<br />

(1972, S. 5) sind Koch-Grünbergs Arbeiten insgesamt betrachtet die umfassendsten<br />

geblieben, die es über <strong>das</strong> Gebiet Nordwest-Brasilien/Südost-Kolumbien<br />

bisher gegeben hat. Inzwischen ist dieses Werk ins Portugiesische übersetzt <strong>und</strong><br />

herausgegeben worden.<br />

Doch als Koch-Grünbergs Meisterwerk gilt Vom Roroima zum Orinoco, ein<br />

fünfbändiges Werk, in dem er die Ergebnisse seiner Reise 1911-1913 im Grenzgebiet<br />

Nordbrasilien/Südvenezuela aufgearbeitet hat. Hauptziel dieser Expedition<br />

1. „O grande clássico da etnografia do noroeste da Amazônia [...]“.<br />

243


244<br />

war die ethnographische <strong>und</strong> linguistische Erforschung der bereisten Gegend,<br />

sowie die Sammlung einer großen Anzahl ethnographischer Gegenstände.<br />

Wie erwähnt, verbrachte Koch-Grünberg in der ersten Etappe seiner Reise<br />

einige Wochen in Koimélemong, einem Makuschí-Taulipáng-Wapischána-Dorf im<br />

heutigen brasilianischen B<strong>und</strong>esstaat Roraima, wo er die Kultur seiner Bewohner<br />

intensiv erforschte, ethnographische Gegenstände erwarb, die Indianer filmte <strong>und</strong><br />

fotografierte <strong>und</strong> ihre Tänze <strong>und</strong> Gesänge auf Phonogramme aufnahm. Von<br />

Koimélemong aus unternahm er in Begleitung von indianischen Trägern einen<br />

Marsch bis zu Dénong, einem Taulipáng-Dorf am Fuße des Roraima. Es gelang<br />

ihm, am 7. Oktober 1911 <strong>das</strong> 2640 Meter hohe Sandstein-Tafelgebirge Roraima mit<br />

indianischen Trägern zu ersteigen. Nach insgesamt zwei Wochen in Dénong kehrte<br />

er mit seinen Begleitern nach Koimélemong zurück, <strong>und</strong> ein paar Tage später ging<br />

er von hier aus nach São Marcos, einer Viehzucht-Farm, wo die erste Etappe<br />

seiner Reise endet.<br />

Von São Marcos aus ging Koch-Grünberg dann nach Westen <strong>und</strong> fuhr mit<br />

größten Anstrengungen den Uraricuera aufwärts. Nach Überschreitung der brasilianisch-venezolanischen<br />

Grenze kam er zum Caura-Fluss <strong>und</strong> dann zur Region<br />

des Canaracuni-Flusses, wo er sechs Wochen lang unter den Yekuaná- <strong>und</strong><br />

Guinaú-Indianern lebte <strong>und</strong> sie ethnographisch erforschte. Als er dann in Richtung<br />

Südwesten weiterreiste, sah er sich gezwungen, die Regenzeit in einem<br />

Yekuaná-Ihuruána-Dorf zu verbringen. Danach konnte er den Ventuari flussabwärts<br />

bis zum mittleren Orinoco fahren, dem eigentlichen Ziel der Expedition. Von da<br />

aus reiste er über den Casiquiare <strong>und</strong> den Rio Negro nach Manaus, von wo aus er<br />

einige Wochen später nach Deutschland zurückkehrte.<br />

Diese Expedition zählt zu den großen Leistungen der wissenschaftlichen Erforschung<br />

Südamerikas, da Koch-Grünberg ein bis dahin zum großen Teil unbekanntes,<br />

weiträumiges Gebiet zwischen dem Roraima-Gebirge <strong>und</strong> dem Orinoco-Fluss<br />

zu Fuß <strong>und</strong> mit dem Boot durchqueren musste. Bew<strong>und</strong>ernswert ist seine Beharrlichkeit<br />

während der fast zweijährigen Forschungsreise, da er allerlei Entbehrungen<br />

<strong>und</strong> Schwierigkeiten in Kauf nehmen musste: unzureichende Nahrung, körperliche<br />

Schwäche, lästige Stechmücken <strong>und</strong> Sandflöhe, oft unangenehm feuchtheißes<br />

Wetter, unzählige schwierige Flussstrecken, den Unmut einiger Indianer<br />

<strong>und</strong> monatelange Abgeschiedenheit von der zivilisierten Welt.<br />

Die wissenschaftlichen Resultate dieser Forschungsreise leisteten einen bedeutenden<br />

Beitrag zur Anthropologie, zur Ethnologie, zur Geographie, zur vergleichenden<br />

Sprachenk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> zum Studium der Religionen. Koch-Grünberg<br />

hat auch den Wert der damaligen modernsten Mittel zur Dokumentation der<br />

indianischen Kulturen erkannt, denn neben der Plattenkamera hat er auf dieser<br />

Expedition den Kinematographen <strong>und</strong> den Phonographen eingesetzt. Nach Angaben<br />

von Dore Andrée (1968, S. 143) sind seine Aufnahmen<br />

über die Taulipáng die frühesten völkerk<strong>und</strong>lichen Filmdokumente, die<br />

uns aus Südamerika zur Verfügung stehen.<br />

Laut Koch-Grünberg selbst (1913, S. 256) gehören zu den wissenschaftlichen<br />

Ergebnissen seiner Expedition<br />

eine vollständige Aufnahme des Reiseweges […] nebst Barometer- <strong>und</strong>


Thermometerbeobachtungen; etwa 1000 Photographien; 85 Phonogramme<br />

einheimischer Gesänge <strong>und</strong> Musikstücke; kinematographisches<br />

Material; eingehende Arbeiten über 21 zum Teil bisher unbekannte<br />

Indianersprachen, darunter zahlreiche Texte von Mythen, Legenden<br />

<strong>und</strong> Zaubersprüchen; genaue Aufzeichnungen über Sitten, Gebräuche<br />

<strong>und</strong> Anschauungen einzelner Stämme; ethnographische <strong>und</strong> botanische<br />

Sammlungen; Schmetterlingssammlungen, sowie Gesteinsproben<br />

aus dem gesamten Reisegebiete.<br />

Nach Deutschland zurückgekehrt widmete sich Koch-Grünberg der wissenschaftlichen<br />

Auswertung seiner Forschungsergebnisse, die er dann, wie erwähnt, in fünf<br />

umfangreichen Bänden unter dem Titel Vom Roroima zum Orinoco veröffentlicht<br />

hat. Der erste Band von 1917 enthält die vollständige Schilderung der Reise,<br />

meistens Tagebuchblätter in zwangloser Form, die aus dem unmittelbaren<br />

Empfinden heraus an Ort <strong>und</strong> Stelle niedergeschrieben sind.<br />

(KOCH-GRÜNBERG 1917, Vorwort)<br />

In diesem Band erzählt Koch-Grünberg nicht nur den Verlauf seiner Reise,<br />

sondern beschreibt auch die topographischen, geologischen <strong>und</strong> klimatischen<br />

Verhältnisse der bereisten Gegend <strong>und</strong> fügt Informationen zu ihrer Toponymik<br />

<strong>und</strong> ihrer Pflanzen- <strong>und</strong> Tierwelt hinzu. Der Band enthält auch Angaben zu indianischen<br />

Sitten <strong>und</strong> Bräuchen, zu Geschichte <strong>und</strong> Missionsarbeit, zu damaligen<br />

politischen Ereignissen, zu den oft schlechten Beziehungen zwischen der indianischen<br />

<strong>und</strong> der weißen Bevölkerung der Region.<br />

Dabei zeigt sich Koch-Grünberg nicht immer als zurückhaltender, rein wissenschaftlicher<br />

Beobachter, sondern äußert oft seine Begeisterung über die Landschaft,<br />

seine kritische Meinung über lokale Politik <strong>und</strong> Misshandlungen der Indianer<br />

vonseiten der Weißen, seine Anerkennung positiver Charakterzüge der Letzteren,<br />

ob Erwachsene oder Kinder, aber auch Enttäuschungen, die ihm einige<br />

von ihnen bereitet haben.<br />

Auch seine Zuneigung zu den „braunen Leuten“ bringt er oft zum Ausdruck<br />

<strong>und</strong> vergleicht nicht selten ihr Benehmen mit dem des zivilisierten Europäers,<br />

wobei dieser nicht immer sein Lob verdient. Nicht zuletzt zu erwähnen seien Koch-<br />

Grünbergs humorvolle Äußerungen zu Situationen, die er erlebt oder beobachtet<br />

hat. Auch die 109 Abbildungen <strong>und</strong> sechs Tafeln, die über die 23 Kapitel verstreut<br />

sind, bieten Abwechslung <strong>und</strong> Veranschaulichung des von ihm Geschilderten.<br />

Alle diese Merkmale seines Reiseberichts verschaffen eine zugleich angenehme<br />

<strong>und</strong> lehrreiche Lektüre.<br />

Der zweite Band, 1916 erschienen, ist eine Sammlung von Mythen <strong>und</strong> Legenden<br />

der Taulipáng- <strong>und</strong> Arekuná-Indianer, die Koch-Grünberg „in müßigen St<strong>und</strong>en“<br />

seiner Reise aufgezeichnet hat,<br />

am Lagerfeuer, während der Fahrt im schwankenden Kahn, wenn wir auf<br />

ruhigen Flußstrecken die Zelttücher als Segel benutzten, auf den von brausenden<br />

Wogen umspülten Felsen der Katarakte, unter den rauschenden<br />

Wipfeln der Urwaldbäume. (KOCH-GRÜNBERG 1916, Vorwort)<br />

Dieser Band gilt als „einer der wichtigsten Beiträge zur südamerikanischen<br />

245


246<br />

Mythologie“ (BALDUS 1954, S. 350) 2 <strong>und</strong> enthält in seinem zweiten Kapitel die<br />

Niederschrift von fünfzig Mythen <strong>und</strong> Legenden der Taulipáng- <strong>und</strong> Arekuná-<br />

Indianer: „Naturmythen <strong>und</strong> Heroensagen, Märchen, Tierfabeln <strong>und</strong> humoristische<br />

Erzählungen“ (KOCH-GRÜNBERG 1916, S. 3). Das Märchenmaterial dieses<br />

Bandes diente Koch-Grünberg als<br />

Gr<strong>und</strong>stock zu einer Sammlung von Märchen <strong>und</strong> Mythen aus allen Teilen<br />

Südamerikas, die er aus fremden Veröffentlichungen zusammentrug <strong>und</strong><br />

zu einem der schönsten Märchenbände des Diederichs-Verlages vereinigte<br />

(Indianermärchen aus Südamerika, 1921). (FABER 1956, S. 264)<br />

Der dritte Band, von 1923, ist die Niederschrift der ethnographischen Beobachtungen<br />

Koch-Grünbergs <strong>und</strong> enthält zahlreiche Bilder <strong>und</strong> Fußnoten. Er behandelt<br />

die materielle <strong>und</strong> geistige Kultur der Stämme der Taulipáng, Makuschí<br />

<strong>und</strong> Wapischána (Nordbrasilien), Schirianá <strong>und</strong> Waíka (Grenzgebiet Nordbrasilien/<br />

Südvenezuela) <strong>und</strong> Yekuaná <strong>und</strong> Guinaú (Südostvenezuela). Darin befinden sich<br />

auch die Zaubersprüche der Taulipáng-Indianer in indianischer Sprache <strong>und</strong><br />

Interlinearübersetzung. Im Anhang dieses Bandes, unter dem Titel „Musik der<br />

Makushí, Taulipáng <strong>und</strong> Yekuaná“, beschreibt Erich M. von Hornbostel vierzehn<br />

indianische Musikinstrumente <strong>und</strong> analysiert die indianischen Gesänge, die Koch-<br />

Grünberg auf Phonogrammen aufgenommen hatte.<br />

Der vierte Band, erst 1928 erschienen, enthält die sprachlichen Ergebnisse<br />

seiner Expedition,<br />

Texte mit Interlinearübersetzung <strong>und</strong> Wörterlisten von 23 Sprachen<br />

<strong>und</strong> Dialekten, von denen sechs bis dahin ganz unbekannt waren.<br />

(KOCH-GRÜNBERG 1917, Vorwort)<br />

Zwei Drittel dieses Bandes befassen sich mit dem Sprachmaterial der Taulipáng-<br />

Wörterlisten, einer Skizze der Grammatik, Sätze <strong>und</strong> Phrasen <strong>und</strong> einer „Schilderung<br />

der Reise von Koimélemong bis Paciência-Lager“ mit Interlinearübersetzung<br />

ins Deutsche.<br />

Der fünfte Band von 1923 ist ein Typenatlas mit 180 Tafeln von Repräsentanten<br />

der Stämme Makuschí, Taulipáng, Arekuná, Ingarikó, Auaké, Kaliána <strong>und</strong> Marakaná,<br />

denen Koch-Grünberg auf seiner Expedition begegnet ist.<br />

Die positive Rezeption dieses Werkes im In- <strong>und</strong> Ausland ließ nicht auf sich<br />

warten, eine fortdauernde Anerkennung der Leistungen Koch-Grünbergs, an der<br />

sich im Laufe der Jahrzehnte nichts geändert hat. Zwar hatte er die Bearbeitung<br />

der wissenschaftlichen Resultate bereits in verschiedenen Fachzeitschriften teilweise<br />

herausgebracht: verkürzte Versionen des Reiseberichts, Themen wie die<br />

„Völkergruppierungen der bereisten Region“, die „Mythen <strong>und</strong> Legenden“,<br />

„Indianerkinder“ oder „indianischer Handel“. Selbst während seiner Reise schrieb<br />

er Berichte über den Verlauf der Expedition an verschiedene Zeitschriften, die sie<br />

dann veröffentlichten.<br />

Doch in den fünf Bänden des Werkes Vom Roroima zum Orinoco sind die Resultate<br />

seiner Expedition in Einzelheiten besprochen worden, begleitet von zahlrei-<br />

2. „É este tomo uma <strong>das</strong> mais importantes contribuições à mitologia sul-americana.”


chen Abbildungen <strong>und</strong> Zeichnungen, unzähligen Fußnoten <strong>und</strong> Erklärungen,<br />

insbesondere im zweiten <strong>und</strong> dritten Band. In den Nachrufen auf Koch-Grünberg<br />

<strong>und</strong> in späteren Texten über sein Leben <strong>und</strong> Werk gilt die Anerkennung immer<br />

wieder vor allem diesem Werk, <strong>das</strong> wiederholt als sein Meisterwerk (BALDUS 1954,<br />

S. 350; MELO 1974, S. 74; FARAGE/SANTILLI 2006, S. 11) <strong>und</strong> als „maßgeblicher<br />

Beitrag zur südamerikanischen Ethnologie“ (FABER 1956, S. 259; auch BALDUS<br />

1954, S. 351) bezeichnet wird.<br />

Das meiste Lob fällt auf die akkurate Aufzeichnung der Mythen <strong>und</strong> Legenden<br />

<strong>und</strong> der Zaubersprüche mit Interlinearübersetzung (Bd. II <strong>und</strong> III) <strong>und</strong> auf die<br />

Charakterisierung der Geister <strong>und</strong> Dämonen, der Totengebräuche, des Seelenbegriffs,<br />

der Jenseitsvorstellung <strong>und</strong> des Zauberwesens (Bd. I <strong>und</strong> II):<br />

Namentlich <strong>das</strong> rege Geistesleben der karibischen Taulipáng konnte Koch-<br />

Grünberg in einer solchen Vollständigkeit aufzeichnen, <strong>das</strong>s seine Ausführungen<br />

über diesen Stamm heute noch zu den besten Monographien<br />

gehören, die wir aus dem naturvölkischen Südamerika besitzen.<br />

(ZERRIES 1972, S. 8; siehe auch FARAGE/SANTILLI 2006, S. 18 <strong>und</strong> 19)<br />

Nicht zu vergessen sei die Bedeutung dieses Werkes für die südamerikanische<br />

<strong>und</strong> die deutsche Literatur, denn neben Mário de Andrade (Macunaíma, 1928)<br />

haben auch Alejo Carpentier (Los pasos perdidos, 1953; s. CORTEZ 1976) <strong>und</strong><br />

Alfred Döblin (Amazonastrilogie, 1937-1948; s. SPERBER 1975) die Mythen <strong>und</strong><br />

Legenden des zweiten Bandes als Ausgangspunkt zumindest von Teilen der drei<br />

erwähnten Werke verwendet. Außerdem kannten Mário de Andrade <strong>und</strong> Alejo<br />

Carpentier den Anhang des dritten Bandes, „Musik der Makuschí, Taulipáng <strong>und</strong><br />

Yekuaná“, sehr gut. Mário de Andrade hat sogar den Text von Erich M. von<br />

Hornbostel für private Zwecke ins Portugiesische übersetzt 3 . Carpentier seinerseits<br />

hat die Beschreibung einiger indianischer Musikinstrumente <strong>und</strong> Elemente<br />

indianischer Musikalität <strong>und</strong> Religiosität in Los pasos perdidos an denselben Text<br />

von Hornbostel angelehnt (CORTEZ 1976, S. 364). So gelangte Vom Roroima zum<br />

Orinoco über den Weg der Literatur <strong>und</strong> der Literaturwissenschaft indirekt <strong>und</strong><br />

oft wohl auch unbemerkt an einen weiteren Kreis von Lesern <strong>und</strong> Forschern.<br />

Doch im Gegensatz zu den drei oben erwähnten literarischen Werken, die zum<br />

Teil von Koch-Grünbergs Hauptwerk angeregt <strong>und</strong> über die viel geschrieben wurde,<br />

gibt es kaum Beiträge, die sich mit Vom Roroima zum Orinoco intensiv beschäftigen.<br />

Zwar wurden die positiven Seiten dieses Werkes im Laufe der Jahrzehnte<br />

immer wieder hervorgehoben, doch wenn man die Geschichte seiner Rezeption<br />

verfolgt, fällt einem auf, wie wenig man sich mit ihm als Ganzem auseinandergesetzt<br />

hat. Es würde zu weit führen, die Motive dieses Mangels hier eingehend zu<br />

besprechen, doch kann man in groben Zügen zumindest die Hauptmotive ansprechen.<br />

Für weitergehende Erklärungen verweise ich auf FRANK (2006), KRAUS<br />

(2001) <strong>und</strong> FARAGE/SANTILLI (2006).<br />

Erstens war Koch-Grünberg ein musterhafter Repräsentant der zu seiner Zeit<br />

3. Mário de Andrade interessierte sich für Folklore <strong>und</strong> Musik im allgemeinen, <strong>und</strong> in diesem<br />

Zusammenhang hat er den Text von Erich M. von Hornbostel übersetzt. Das Instituto de<br />

Estudos Brasileiros der Universidade de São Paulo (IEB-USP) besitzt die handschriftliche<br />

Fassung dieser Übersetzung.<br />

247


248<br />

in Deutschland praktizierten Ethnologie <strong>und</strong> versuchte, auf seinen Forschungsreisen<br />

ethnographische Daten aller Art zu sammeln:<br />

Die Schwerpunkte seiner Expeditionen lagen neben einer allgemeinen<br />

ethnographischen Dokumentation der besuchten Ethnien vor allem auf<br />

Sprachaufnahmen, Fotografien <strong>und</strong> dem Sammeln materieller Kultur.<br />

(KRAUS 2006, S. 24, meine Hervorh.)<br />

Da er in seinen Werken bestrebt ist, eine umfangreiche Ethnographie zu präsentieren,<br />

kommt er nie zu einer systematischen Analyse; er beschränkt sich nicht<br />

auf bestimmte Themen, um sich dann intensiv mit ihnen auseinanderzusetzen,<br />

sondern versucht, alles zu beobachten <strong>und</strong> zu dokumentieren, denn für ihn ist<br />

alles in der von ihm erforschten fremden Kultur gleich wichtig. Das Werk Vom<br />

Roroima zum Orinoco ist hierfür musterhaft.<br />

Zweitens basierte sein theoretisches Denken auf evolutionistischen <strong>und</strong><br />

difusionistischen Gr<strong>und</strong>lagen, die zu seiner Zeit außerhalb Deutschlands allmählich<br />

von den Ansätzen der funktionalistischen Theorie <strong>und</strong> Praxis überholt wurden.<br />

So entsprachen seine Werke nicht mehr den Forderungen moderner Ethnologie<br />

<strong>und</strong> boten keinen Anlass zu gründlicheren Diskussionen.<br />

Drittens sind Koch-Grünbergs Werke sehr deskriptiv <strong>und</strong> beschränken sich auf<br />

die Beschreibung der ethnographischen Ergebnisse seiner Reisen:<br />

Kritische Stellungnahmen zu theoretischen Fragen des Faches […] finden<br />

sich, zumindest in den Publikationen, selten – derartige, die reine<br />

Ethnographie übergreifende Fragestellungen werden im allgemeinen<br />

ausgeklammert oder, wie im Falle evolutionistischer Denkschemata <strong>und</strong><br />

der Vorstellung einer Abfolge verschiedener, untereinander vergleichbarer<br />

<strong>und</strong> hierarchisierbarer Kulturstufen unkommentiert übernommen.<br />

(KRAUS 2001, S. 301)<br />

Als Folge der erwähnten Gründe beschränken sich die Beiträge anderer Wissenschaftler<br />

zum Werk Vom Roroima zum Orinoco auf Kommentare zu isolierten Aspekten<br />

der veröffentlichten Daten, wie im Fall der Mythen <strong>und</strong> Legenden, <strong>und</strong> auf die Bedeutung<br />

dieser Daten zum Studium der von Koch-Grünberg erforschten Ethnien.<br />

2. Die brasilianische Ausgabe des ethnographischen Klassikers<br />

Diese Mängel mindern aber nicht die Bedeutung dieses Werkes für die ethnographische<br />

Erforschung der bereisten Gegend, <strong>und</strong> es gilt weiterhin als „Eröffnungswerk<br />

ethnologischer Literatur über West-Guayana“ (FARAGE/SANTILLI 2006, S.<br />

16) 4 . Schon 1927 veröffentlichte die Revista do Museu Paulista eine 1920 verfasste<br />

Rezension von F. C. Hoehne, dem späteren Leiter des Botanischen Gartens in São<br />

Paulo, über den ersten Band dieses Werkes, den er als „wissenschaftliche Arbeit von<br />

unschätzbarem Wert“ qualifizierte (HOEHNE 1927, S. 219) 5 ; schon damals betonte<br />

Hoehne die Notwendigkeit, diesen Band ins Portugiesische zu übersetzen:<br />

4. „Do Roraima ao Orinoco é a obra inaugural da literatura etnológica para a Guiana Ocidental; [...].“<br />

5. „[...] como trabalho scientifico, de valor incalculavel, [...].“


Unserer Meinung nach gehört die Arbeit Koch-Grünbergs zu denjenigen,<br />

die es am meisten wert sind, unter die Werke gereiht zu werden,<br />

die unsere Geschichte <strong>und</strong> Entwicklung dokumentieren. Deshalb verdient<br />

sie, ins Portugiesische übersetzt <strong>und</strong> von allen gelesen zu werden,<br />

die sich für unser Land interessieren, sowie von den Naturwissenschaftlern,<br />

die es studieren. (HOEHNE 1927, 223-224) 6<br />

Diese Forderung, von anderen brasilianischen Wissenschaftlern geteilt (MELO<br />

1974; GUERRA 1982), wurde erst viele Jahrzehnte später erfüllt. 2003 beschloss<br />

der wissenschaftliche Beirat der EDUNESP (Editora da Universidade Estadual<br />

Paulista) in Zusammenarbeit mit dem Martius-Staden-Institut, die Übersetzung der<br />

drei ersten Bände des Werkes Vom Roroima zum Orinoco ins Portugiesische herauszugeben.<br />

Da ich aus akademischen Gründen den I. Band des Werkes bereits<br />

übersetzt, aber noch nicht publiziert hatte 7 , boten mir der Verlag EDUNESP <strong>und</strong><br />

<strong>das</strong> Martius-Staden-Institut die Gelegenheit an, den II. <strong>und</strong> den III. Band zu übersetzen,<br />

um sie zusammen mit dem I. Band zu veröffentlichen.<br />

Bei der Übersetzung der drei Bände hatte ich stets zwei Ziele vor Augen:<br />

sachlich <strong>und</strong> wissenschaftlich korrekte Texte zu präsentieren, aber auch den<br />

Stil der Ausgangstexte zu bewahren. Dabei gehört jeder Band „einer anderen<br />

wissenschaftlich-literarischen Gattung an“ (FRANK 2005, 575) 8 . Der erste Band<br />

ist der klassische Reisebericht <strong>und</strong> besteht hauptsächlich aus kurzen Sätzen im<br />

Präsens; er ist sehr deskriptiv <strong>und</strong> enthält Angaben aus verschiedenen Wissensgebieten,<br />

die oben erwähnt wurden. Hinzu kommen hier <strong>und</strong> da umgangsprachliche<br />

Redewendungen <strong>und</strong> humorvolle Bemerkungen zu einzelnen Personen<br />

<strong>und</strong> Situationen. Außerdem spiegelt der Text oft <strong>das</strong> Gemüt seines Verfassers<br />

wider: Begeisterung, Enttäuschungen, Erleichterung, Ärger, Hoffnung u. a.<br />

Es handelt sich also um einen Text mit abwechslungsreichem Stil <strong>und</strong> zugleich<br />

wissenschaftlicher Genauigkeit. Man vergleiche, zum Beispiel, folgenden humorvollen<br />

Textabschnitt –<br />

24. April. Bei den Yekuaná vom Auarí ist ein junger Kerl, der durch<br />

seine Häßlichkeit sogar unter seinen Stammesgenossen hervorsticht,<br />

<strong>und</strong> <strong>das</strong> will viel sagen. Krummbeinig, plattnasig, mit weit auseinanderstehenden<br />

Augen. Wir nennen ihn <strong>das</strong> „Schweinsgesicht“. […] 30.<br />

April. „Kein Topf so schief, es paßt ein Deckel drauf.“ – Das „Schweinsgesicht“<br />

hat hier eine Frau gef<strong>und</strong>en, eine weit ältere Dame mit üppigen<br />

Körperformen, die „gefährliche Witwe“. Sie hat zuerst Schmidt 9<br />

mit ihren unzweideutigen Anträgen verfolgt <strong>und</strong> sich nun mit diesem<br />

6. „Em nossa opinião, o trabalho de Koch-Grünberg é um dos mais dignos de figurarem entre<br />

as obras que documentam a nossa história e evolução. Merece, por isso, ser vertido para o<br />

portuguez e lido por todos quantos se interessam pelas cousas da nossa terra, como pelos<br />

naturalistas que a estudam.“ (S. Paulo, 31-12-1920).<br />

7. Die Übersetzung des I. Bandes diente als Gr<strong>und</strong>lage meiner Dissertation Aspectos lingüísticoculturais<br />

na tradução dos objetos etnográficos no vol. I de Vom Roroima zum Orinoco, de<br />

Theodor Koch-Grünberg.<br />

8. „[...] cada um dos cinco volumes pertence a um diferente gênero literário-científico.“<br />

9. Es handelt sich um Hermann Schmidt, den deutschen Begleiter Koch-Grünbergs auf der<br />

Forschungsreise 1911-1913. Siehe KOCH-GRÜNBERG 2006, S. 28, 89.<br />

249


250<br />

Yekuaná-Adonis getröstet. Von der Hochzeit wurden wir nichts gewahr.<br />

Sie haben einfach ihre Hängematten übereinander geb<strong>und</strong>en.<br />

(KOCH-GRÜNBERG 1917, S. 258, 259)<br />

– mit einem in zurückhaltendem Ton verfassten Absatz ein paar Seiten später,<br />

der typisch für unzählige Stellen des I. Bandes ist:<br />

Die Ventuarí-Leute nehmen einen Teil der Ladung, <strong>und</strong> rasch geht es<br />

in fünf Kanús weiter. Bald lenken wir in den Ehecuní ein, einen ansehnlichen<br />

linken Zufluß. Der Tuducamá wird nun anscheinend sehr<br />

schmal <strong>und</strong> verliert sich in Stromschnellen. Auch der Ehecuní sprudelt<br />

<strong>und</strong> tost zwischen Felsen dahin <strong>und</strong> bildet kurz oberhalb seiner Mündung<br />

einen Katarakt, den die Yekuaná Konóho-sode (Regenfall) nennen.<br />

(KOCH-GRÜNBERG 1917, S. 264)<br />

Der II. Band befasst sich ausschließlich mit indianischer Mythologie <strong>und</strong> enthält<br />

vier Kapitel mit zahlreichen Fußnoten, doch in unterschiedlichem Stil. Zwei<br />

Kapitel weisen akademischen Stil auf: <strong>das</strong> erste (eine Einführung über Inhalt <strong>und</strong><br />

Charakter der aufgezeichneten Indianermythen) <strong>und</strong> <strong>das</strong> letzte (die Beziehungen<br />

dieser Legenden zu mythologischen Elementen anderer Kulturen). Die zwei anderen<br />

Kapitel versuchen, den umgangsprachlichen Charakter der indianischen<br />

Erzählungen wiederzugeben: <strong>das</strong> zweite (die Niederschrift von fünfzig Mythen<br />

<strong>und</strong> Legenden) <strong>und</strong> <strong>das</strong> dritte (die Niederschrift in indianischer Sprache von elf<br />

Mythen mit Interlinearübersetzung ins Deutsche).<br />

Als Beispiel sollen hier zwei kurze Stellen wiedergegeben werden, die sich auf<br />

dieselbe Mythe beziehen. Der erste Abschnitt gehört zum ersten Kapitel („Einführung“),<br />

der zweite ist die eigentliche Mythe:<br />

Einen explanatorischen Charakter hat ferner die kleine Erzählung 45,<br />

in der begründet wird, warum der Blitz mit Vorliebe in die Paricá-<br />

Bäume einschlägt. Auch hier treten die Blitze redend auf, ebenso ihre<br />

Feinde, die Carapanás (Moskiten), die auf jene mit Giftpfeilen schießen.<br />

(KOCH-GRÜNBERG 1916, S. 14)<br />

45. DIE BLITZE UND DIE CARAPANAS.<br />

(Erzählt vom Taulipáng Mayuluaípu)<br />

Die Carapanás schossen mit Giftpfeilen auf die Blitze. Da fragten die<br />

Blitze: „Mit welchem Gift schießt ihr uns?“ Da sagten die Carapanás:<br />

„Mit dem Gift des Paricá-Baumes! Mit diesem Gift schießen wir euch!“<br />

– Deshalb lieben die Blitze die Paricá-Bäume nicht <strong>und</strong> zerbrechen sie,<br />

wo sie sie finden. (KOCH-GRÜNBERG 1916, S. 131)<br />

Der III. <strong>und</strong> längste Band wurde ausschließlich im akademischen Stil geschrieben<br />

<strong>und</strong> behandelt die Ethnographie einiger Indianerstämme sowie ihre Umgebung.<br />

Als Beispiel soll folgender Abschnitt über die Tänze der Taulipáng-Indianer<br />

wiedergegeben werden:<br />

Tänze <strong>und</strong> Tanzgesänge haben die Menschen häufig von Zauberärzten<br />

oder von Tieren gelernt. Daher sind manche Tänze nach Tieren benannt.<br />

So haben die Taulipáng einen Tanz des araïuág, eines Vierfüßlers


mit weichem, schwarzem Fell, der auf den Bäumen dem Honig nachgeht,<br />

<strong>und</strong> der kaloíd-pakog trägt seinen Namen von dem kaloíd, einem aalähnlichen<br />

Fisch, der kukúyikog von dem kukúi, einem kleinen Habicht.<br />

Der sapála-lému, ursprünglich, wie der Name sagt, ein „Tanzgesang der<br />

Sapará“, stammt von einem H<strong>und</strong>e. (KOCH-GRÜNBERG 1923, S.161)<br />

Um die unterschiedlichen Stile angemessen zu übersetzen, habe ich immer die<br />

Sprachebene des jeweiligen Ausgangstextes berücksichtigt <strong>und</strong> dann versucht,<br />

sie im Zieltext wiederzugeben.<br />

Doch die größte Herausforderung bei der Übersetzung der drei Bände, insbesondere<br />

des I. <strong>und</strong> des III. Bandes, war ihr multidisziplinärer <strong>und</strong> interdisziplinärer<br />

Charakter. Wie erwähnt, bringt dieses Werk Angaben zu verschiedenen Wissensgebieten<br />

insbesondere der Naturwissenschaften, ein charakteristisches Merkmal<br />

für die Werke deutscher Ethnologen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />

Da es sich hier um umfangreiche Bände handelt – der I. Band umfasst<br />

406 Seiten, der II. Band 309 Seiten, der III. Band 423 Seiten, von den Abbildungen,<br />

Zeichnungen, Inhaltsverzeichnissen <strong>und</strong> Vorworten abgesehen –, vermehrte sich<br />

die Zahl der Informationen zu den verschiedenen Wissensbereichen, <strong>und</strong> manchmal<br />

kostete es Zeit <strong>und</strong> Geduld, jeden neuen Begriff passend zu übersetzen.<br />

Ein Beispiel: „Hornstein“ ist ein Gestein, dessen Splitter die Zähnchen für die<br />

Reibebretter lieferten, die von den Yekuaná-Indianern hergestellt <strong>und</strong> an andere<br />

Indianerstämme verkauft wurden. Nach langer Forschung in Wörterbüchern <strong>und</strong><br />

Nachschlagewerken fand ich im Dicionário do Artesanato Indígena von Berta G.<br />

Ribeiro die Erklärung, <strong>das</strong>s es sich bei den Steinchen der Reibebretter der Indianer<br />

Guayanas um „Gneis, Granit, Quartzit“ (RIBEIRO 1988, 280) 10 handelt. Da die<br />

Indianer Guayanas ihre Reibebretter von den Yekuaná kauften (KOCH-GRÜN-<br />

BERG 1917, S. 33, S. 240-241), <strong>und</strong> Koch-Grünberg weder Gneis noch Granit nennt,<br />

habe ich „Hornstein“ als „quartzito“ übersetzt.<br />

Am schwierigsten war es, Daten zur geistigen <strong>und</strong> zur materiellen Kultur<br />

der erforschten Ethnien zu übersetzen, da die ‚konventionellen‘ zweisprachigen<br />

<strong>und</strong> einsprachigen Wörterbücher viele Begriffe nicht enthalten, die typisch<br />

für verschiedene indianische Kulturen Brasiliens sind, wie zum Beispiel<br />

„Strohreif“ (aro trançado), „Hüftschnur“ (cinto de cordões) oder „Topfschale“<br />

(tigela), um nur einige Bespiele der materiellen Kultur zu nennen. Auch kommt<br />

es vor, <strong>das</strong>s Koch-Grünberg manchmal verschiedene deutsche Wörter benutzt,<br />

um eine einzige Gegebenheit der indianischen Kultur oder ihrer Umwelt zu<br />

benennen. Ein Beispiel hierfür ist die „Krankenkur“, von den Taulipáng-Indianern<br />

piasán pulúma-yo (der Zauberarzt bläst = heilt einen Kranken) genannt,<br />

für die Koch-Grünberg sieben weitere Benennungen benutzt: Beschwörung,<br />

Krankenbehandlung, Krankenbeschwörung, Kur, Zauberkur, Zauberarztkur<br />

<strong>und</strong> Zauberbehandlung. Ich entschloss mich, die verschiedenen deutschen<br />

Benennungen für „Krankenkur“ bald als „cura“, bald als „conjuro“, bald als<br />

„rito de cura“ zu übersetzen.<br />

10. „Dos autores consultados, Roth é o único a especificar, com referência aos índios <strong>das</strong> Guianas,<br />

os minérios de que são feitos os dentes dos raladores: gnaisse, granito, quartzito (ROTH<br />

1970: 277-278).“<br />

251


252<br />

Bei der Übersetzung der zahlreichen ethnographischen Gegenstände kam es<br />

vor, <strong>das</strong>s ich manchmal verschiedene portugiesische Namen für ein einziges Objekt<br />

fand, wie bei „Keule“, die je nach Form als „clava“, „maça“, „borduna“, oder<br />

„porrete“ übersetzt werden kann, so <strong>das</strong>s ich mich dann für eine Benennung<br />

entscheiden musste; in diesem Fall entschied ich mich für „clava“. Auch kam es<br />

vor, <strong>das</strong>s ich eine einzige Übersetzung für verschiedene Objekte fand, wie im Fall<br />

von „Korb“, „Tragkorb“ <strong>und</strong> „Kiepe“, die im Wörterbuch Deutsch/Portugiesisch<br />

den Sammelbegriff „cesto“ bekommen. In der Tat handelt es sich aber um drei<br />

verschiedene Körbe mit unterschiedlichen Formen, Größen <strong>und</strong> Gebräuchen,<br />

wie der Text <strong>und</strong> die Abbildungen des III. Bandes bestätigen. Ich übersetzte dann<br />

„Korb“ als „cesto“, „Tragkorb“ als „aturá“ <strong>und</strong> „Kiepe“ als „jamaxim“.<br />

Die Hilfe, um die bei der Übersetzung entstandenen Schwierigkeiten zu meistern,<br />

suchte ich in Wörterbüchern verschiedener Wissensgebiete, in früheren<br />

Übersetzungen von Werken anderer deutscher Ethnologen, in Nachschlagewerken.<br />

Zum Schluss wurde die Übersetzung von Fachleuten revidiert, nämlich<br />

von einem Botaniker, Geraldo A. D. C. Franco, von einem Zoologen, Prof.<br />

Carlos C. Alberts, sowie von zwei Ethnologen, Prof. Nádia Farage <strong>und</strong> Prof.<br />

Paulo Santilli. Dem Wunsch des wissenschaftlichen Beirats der EDUNESP zufolge,<br />

den historisch-dokumentarischen Charakter des Ausgangstextes zu bewahren,<br />

wurden die ursprüngliche deutsche Schreibweise der indianischen<br />

Stämme, Personennamen <strong>und</strong> Wörter, sowie die damaligen Namen der im<br />

Ausgangstext erwähnten Flüsse, Gebirge, Wasserfälle <strong>und</strong> Ortschaften bei der<br />

Revision des gesamten Textes beibehalten.<br />

Im März 2006 erschien die Übersetzung des I. Bandes. Mit Genehmigung des<br />

Instituts für Ethnologie der Philipps-Universität Marburg, dem der wissenschaftliche<br />

Nachlass Koch-Grünbergs 1999 von seinen Nachkommen übergeben wurde,<br />

konnten verschiedene Originalabbildungen des I. Bandes von Vom Roroima zum<br />

Orinoco reproduziert werden, die die brasilianische Ausgabe um so mehr bereicherten.<br />

So erfüllte sich schließlich der Wunsch von F. C. Hoehne <strong>und</strong> anderen<br />

brasilianischen Wissenschaftlern, die im Laufe der letzten achtzig Jahre die Bedeutung<br />

dieses Werkes wiederholt betont haben.<br />

Literatur<br />

ANDRADE, Mário de (1988 [1928]): Macunaíma. O herói sem nenhum caráter. Ed. Crítica. Coord.<br />

Telê Porto Ancona Lopez. Florianópolis.<br />

ANDRÉE, Dore (1968): Filmdokumente zur Völkerk<strong>und</strong>e von Südamerika. In: Tribus. Veröffentlichungen<br />

des Linden-Museums für Völkerk<strong>und</strong>e Nr. 18, S. 143-146.<br />

BALDUS, Herbert (1954): Bibliografia Crítica da Etnologia Brasileira. São Paulo.<br />

CORTEZ, Irlemar Chiampi (1976): A poética do realismo maravilhoso: Los pasos perdidos. (Tese de<br />

doutoramento, FFLCH-USP). São Paulo.<br />

FABER, Gustav (1956): Koch-Grünberg – der Ethnologe Nordwest-Brasiliens. In: Tribus. Veröffentlichungen<br />

des Linden-Museums, Neue Folge Nr. 4/5, S. 256-264.<br />

FARAGE, Nádia / SANTILLI, Paulo (2006): Introdução. In: KOCH-GRÜNBERG, Theodor: Do Roraima<br />

ao Orinoco. Observações de uma viagem pelo Norte do Brasil e Venezuela dos anos de 1911 a<br />

1913. Vol. I. São Paulo.<br />

FRANCO, Cristina Alberts (1999): Aspectos lingüístico-literários na tradução dos objetos etnográficos no<br />

Vol. I de „Vom Roroíma zum Orinoco“, de Theodor Koch-Grünberg. (FFLCH-USP). São Paulo.


FRANK, Erwin (2005): Viajar é preciso: Theodor Koch-Grünberg e a Völkerk<strong>und</strong>e do século XIX. In:<br />

Revista de Antropologia, nº 48, S. 559-584.<br />

GUERRA, Walter (1982): Andanças do Dr. Rice nos domínios do Macunaíma. In: Suplemento Cultural.<br />

Revista Paulista de Medicina. (Fev. 1982). São Paulo.<br />

HARTMANN, Günter (1972): Zum Gedenken an Theodor Koch-Grünberg. In: Zeitschrift für Ethnologie<br />

Bd. 97, Heft 1, S. 4-5.<br />

HARTMANN, Thekla (1977): Contribuições em língua alemã para a etnologia do Brasil (1966-1976).<br />

Revista do Museu Paulista. Nova Série, vol. XXIV, S. 217-243.<br />

HOEHNE, F. C. (1927): Von Roraima zum Orinoco. Vol. I. In: Revista do Museu Paulista. Tomo XV, S.<br />

218-224.<br />

KOCH-GRÜNBERG, Theodor (1902): Reise in Mato Grosso (Brasilien). Expedition in <strong>das</strong> Quellgebiet<br />

des Schingú, 1899. In: Mitteilungen der K. K. Geographischen Gesellschaft in Wien, S. 332-335.<br />

KOCH-GRÜNBERG, Theodor (1909, 1910): Zwei Jahre unter den Indianern. Reisen in Nordwest-<br />

Brasilien. Bd. I <strong>und</strong> II. Berlin.<br />

KOCH-GRÜNBERG, Theodor (1913): Bericht über eine Reise durch Brasilisch-Guayana zum Orinoko.<br />

In: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien. Band 43, S. 256.<br />

KOCH-GRÜNBERG, Theodor (1916-1928): Vom Roroima zum Orinoco. I: Schilderung der Reise. (1917).<br />

Berlin. II: Mythen <strong>und</strong> Legenden der Taulipáng- <strong>und</strong> Arekuná-Indianer. (1916). Stuttgart. III: Ethnographie.<br />

(1923). Stuttgart. IV: Sprachen. (1928). Stuttgart. V: Typen-Atlas. (1923). Stuttgart.<br />

KOCH-GRÜNBERG, Theodor(1927): Indianermärchen aus Südamerika. Jena.<br />

KOCH-GRÜNBERG, Theodor (2005): Dois anos entre os indígenas. Viagens no noroeste do Brasil (1903-<br />

1905). Manaus.<br />

KRAUS, Michael (2001): Aspekte der ethnologischen Amazonienforschung um die Wende vom 19.<br />

zum 20. Jahrh<strong>und</strong>ert. In: WOLFF, G. (Hrsg.): Die Berliner <strong>und</strong> Brandenburger Lateinamerikaforschung<br />

in Geschichte <strong>und</strong> Gegenwart. Personen <strong>und</strong> Institutionen, S. 293-311.<br />

KRAUS, Michael (2006): Theodor Koch-Grünberg: Phonographische Aufnahmen im nördlichen<br />

Amazonien. In: Theodor Koch-Grünberg. Walzenaufnahmen aus Brasilien 1911-1913. Historische<br />

Klangdokumente Serien-Nummer 3. Berlin Phonogramm-Archiv, S. 13-26.<br />

MELO, Veríssimo de (1974): Theodor Koch-Grünberg (1872-1924). In: Revista Humboldt Ano 14, n°<br />

29, S. 74-75.<br />

RIBEIRO, Berta G.(1988): Dicionário do Artesanato Indígena. Belo Horizonte, 1988.<br />

SCHADEN, Egon (1953): A obra científica de Koch-Grünberg. In: Revista de Antropologia Vol. 1, nº 2,<br />

S. 133-136.<br />

SCHADEN, Egon (1981): Der deutsche Beitrag zur brasilianischen Ethnologie. Staden-Jahrbuch Bd.<br />

29, S. 9-17.<br />

SPERBER, Georg Bernard (1975): Wegweiser im „Amazonas“. Studien zur Rezeption, zu den Quellen<br />

<strong>und</strong> zur Textkritik der Südamerika-Trilogie Alfred Döblins. München.<br />

ZERRIES, Otto (1972): In memoriam Theodor Koch-Grünberg. In: Tribus. Veröffentlichungen des<br />

Linden-Museums Nr. 21, S. 7-10.<br />

Dr. Cristina Alberts-Franco, geboren 1961 in São Paulo, studierte Germanistik an der<br />

Universidade de São Paulo, wo sie 2000 mit einer Dissertation zu ihrer Übersetzung des<br />

I. Bandes von Koch-Grünbergs Werk Vom Roroíma zum Orinoco promovierte. Nach der<br />

Promotion fünfjährige Lehrtätigkeit an einer privaten Hochschule in São Paulo. Zur Zeit arbeitet<br />

sie als Deutschlehrerin <strong>und</strong> freie Übersetzerin für Deutsch/Portugiesisch.<br />

253


Zwei Jahrh<strong>und</strong>erte<br />

Amphibienforschung in Südbrasilien:<br />

Auf den Spuren deutscher Forscher in<br />

Rio Grande do Sul <strong>und</strong> Santa Catarina<br />

Resumo: A Mata Atlântica subtropical no sul do Brasil é um foco de<br />

diversidade em espécies de anfíbios. Desde 1995 estamos<br />

estudando a fauna anura (rãs e sapos) no nordeste do Rio<br />

Grande do Sul e na região adjacente de Santa Catarina.<br />

Diferentes tipos de vegetação encontram-se nesse espaço,<br />

como p. ex. florestas de araucárias e campos no planalto<br />

vulcânico, Mata Atlântica nas vertentes leste do planalto,<br />

florestas de folhas caducas na sua margem sul e<br />

restinga na zona costeira. Numa área de apenas 300 km 2 ,<br />

que se estende do nível do mar até uma altitude de 1000m,<br />

observamos uma diversidade extremamente grande de<br />

anuros contando por volta de 80 espécies de anfíbios. Algumas<br />

dessas espécies são endêmicas, e algumas poucas<br />

ainda não são descritas. A descoberta dessa notável fauna<br />

anfíbia começou apenas há 200 anos, e a maioria dos cientistas<br />

envolvidos nessa pesquisa têm sido alemães ou<br />

descendentes de alemães. Nesta sinopse histórica, os naturalistas<br />

que contribuíram para o conhecimento dos anfíbios<br />

no Rio Grande do Sul e em Santa Catarina são apresentados<br />

dentro do contexto da nossa presente pesquisa.<br />

O panorama começa no século XIX (com Friedrich Sellow,<br />

Reinhold Hensel, Fritz Müller, Wilhelm Peters), passa pelo<br />

século XX (com Wilhelm Ehrhardt, Fritz Plaumann, Robert<br />

Mertens, Pedro Canisio Braun) e chega aos atuais estudos<br />

com Marcos Di Bernardo e seus colegas.<br />

Abstract: The subtropical Atlantic rain forest of southern Brazil is<br />

considered a hot spot for amphibian species diversity. Since<br />

1995, we study the anuran fauna (frogs and toads) in<br />

northeastern Rio Grande do Sul and adjacent Santa<br />

Catarina. Different vegetation types meet in this region,<br />

i.e., Araucaria forest and grassland (campos) on the<br />

volcanic plateau (planalto), Atlantic rain forest in the<br />

eastern slopes of the planalto, deciduous forest at the<br />

Axel Kwet<br />

Stuttgart<br />

255


256<br />

southern margin of the plateau, and dune vegetation<br />

(restinga) in the coastal zone. In an area of only 300 km 2<br />

extending from sea level to 1000 m altitude, we observed<br />

an extremely high anuran species diversity of about 80<br />

amphibian species. Some of these species are endemic,<br />

and a few species are not yet described. The discovery of<br />

this remarkable amphibian fauna started only 200 years<br />

ago, and most of the scientists involved are from Germany<br />

or of German descent. In this historical overview, the<br />

naturalists which contributed to the knowledge of<br />

amphibians in Rio Grande do Sul and Santa Catarina are<br />

presented within the scope of our present research. The<br />

survey covers the 19 th century (with Friedrich Sellow,<br />

Reinhold Hensel, Fritz Müller, Wilhelm Peters) through the<br />

20 th century (Wilhelm Ehrhardt, Fritz Plaumann, Robert<br />

Mertens, Pedro Canisio Braun) up to present studies with<br />

Marcos Di-Bernardo and colleagues.<br />

Biologischer Hotspot Mata Atlântica<br />

Zu den wenig bekannten Lebensräumen der Erde zählt der Atlantische Küstenregenwald<br />

Brasiliens. Die so genannte Mata Atlântica ist eine der weltweit bedeutendsten<br />

Hotspot-Regionen, also ein Gebiet, <strong>das</strong> eine sehr hohe<br />

Artendiversität aufweist <strong>und</strong> zugleich besonders stark von menschlichen Eingriffen<br />

bedroht ist. Vor allem für Froschlurche bildet <strong>das</strong> Ökosystem der Mata<br />

Atlântica einen wertvollen, unersetzbaren Lebensraum. In einem ‚Ranking‘ der<br />

amphibienreichsten Regionen der Erde (MITTERMEIER et al. 2000) lag der Atlantische<br />

Regenwald mit insgesamt 280 Amphibienarten auf dem vierten Platz,<br />

nach den Tropischen Anden <strong>und</strong> den Regenwäldern Mittelamerikas <strong>und</strong> des<br />

Chocó-Darién-Gebiets in Kolumbien <strong>und</strong> Ecuador. Durch Neuentdeckungen<br />

<strong>und</strong> wissenschaftliche Beschreibungen bislang unbekannter Froschlurche stieg<br />

diese Zahl in den letzten Jahren aber weiter an <strong>und</strong> dürfte sich bald verdoppelt<br />

haben. Im Jahr 2005 waren für Brasilien, dem amphibienreichsten Land der<br />

Welt, insgesamt schon 765 Arten nachgewiesen (SILVANO / SEGALLA 2005),<br />

<strong>und</strong> davon besiedelt der größte Teil eben den Atlantischen Regenwald – dagegen<br />

leben in ganz Europa nicht einmal 50 Froscharten <strong>und</strong> in Deutschland nur<br />

14. Mehr als 90% der Froschlurche der Mata-Atlântica sind endemisch, kommen<br />

also ausschließlich dort vor, <strong>und</strong> auch 40% der 20.000 Pflanzenarten dieses einzigartigen<br />

Lebensraums sind Endemiten.<br />

Seit 1995 untersuche ich zusammen mit brasilianischen <strong>und</strong> deutschen Kollegen<br />

die Herpetofauna (Amphibien <strong>und</strong> Reptilien) der südlichen Ausläufer dieses<br />

Küstengebirges, der Serra Geral (z. B. KWET / DI BERNARDO 1998, KWET<br />

2001a). Im Mittelpunkt unserer Forschungen, die im Rahmen von Kooperationsabkommen<br />

zwischen der Universität Tübingen (Prof. Wolf Engels <strong>und</strong> Dr. Anne<br />

Zillikens), dem Staatlichen Museum für Naturk<strong>und</strong>e in Stuttgart (Dr. Andreas<br />

Schlüter) sowie der PUC-Universität in Porto Alegre, der UNISC-Universität in


Santa Cruz do Sul <strong>und</strong> der UFSC-Universität in Florianópolis stattfinden, steht<br />

vor allem jene Region der beiden südlichsten Staaten, Rio Grande do Sul <strong>und</strong><br />

Santa Catarina, die von steilen Abhängen <strong>und</strong> gewaltigen, viele h<strong>und</strong>ert Meter<br />

tief in die Hochfläche des mächtigen Vulkanplateaus schneidenden Canyons<br />

<strong>und</strong> Schluchten geprägt ist. In diesem ökologisch äußerst vielfältigen Lebensraum,<br />

der mit seinen senkrechten Felswänden <strong>und</strong> imposanten Wasserfällen ein<br />

eindrucksvolles Schauspiel der Natur bietet, findet sich eine Vielzahl von Froschlurchen<br />

mit bemerkenswerten Anpassungen.<br />

Gr<strong>und</strong>lage des Froschreichtums bilden die vielen reich strukturierten Habitate<br />

<strong>und</strong> zahlreiche, als Laichplatz nutzbare Gewässer sowie hohe, ausgeglichene<br />

Jahresniederschläge. Atlantische Passatwinde treiben <strong>das</strong> ganze Jahr über mit<br />

Feuchtigkeit beladene Luftmassen heran, die sich an den Berghängen des Küstengebirges<br />

stauen, dabei aufsteigen <strong>und</strong> abregnen. Daraus resultieren feuchtwarme,<br />

für Amphibien günstige Lebensbedingungen. Viele Froscharten wandern zur<br />

Paarungszeit in großen Zahlen von vielen h<strong>und</strong>ert Individuen an die Laichgewässer.<br />

Einige der dort lebenden Arten konnten wir als wissenschaftlich neu<br />

beschreiben (z. B. KWET / DI BERNARDO 1998, KWET 2000, KWET / FAIVOVICH<br />

2001, KWET / ANGULO 2002), andere harren noch ihrer Beschreibung (z. B. KWET<br />

2007, KWET / SOLÉ, in Vorbereitung). Bei der Entdeckung dieser einzigartigen<br />

Amphibienfauna, die geschichtlich bedingt erst vor zwei Jahrh<strong>und</strong>erten begann,<br />

spielten bisher fast ausschließlich deutsche oder deutschstämmige Naturforscher<br />

eine Rolle. Auf den Spuren dieser teilweise in Vergessenheit geratenen Pioniere<br />

wie Friedrich Sellow, Reinhold Hensel, Wilhelm Ehrhardt oder Pedro Canisio<br />

Braun, mit deren Studien unsere Untersuchungen in vielfältiger Weise verwoben<br />

sind, siedelt sich die aktuelle Forschung der letzten 10-15 Jahre an.<br />

Vielfalt der Froschlurche im subtropischen Südbrasilien<br />

Obwohl die Artenzahlen von Amphibien generell geringer werden, je weiter<br />

man sich vom Äquator entfernt, zeichnen sich gerade die südlichen, außerhalb<br />

der Tropen liegenden Ausläufer des Atlantischen Küstengebirges im Nordosten<br />

von Rio Grande do Sul <strong>und</strong> im angrenzenden Santa Catarina durch eine außergewöhnlich<br />

hohe Diversität aus: Fast 80 Arten konnten wir auf einer Fläche von<br />

nur 300 km 2 bisher nachweisen (KWET 2001a, 2004, unpubl. Daten). Hier, am<br />

südlichen Ende des sich von Rio Grande do Sul über 4.000 km nach Norden<br />

erstreckenden Gebirgszugs, überzieht die Mata Atlântica die zum Atlantik abfallenden<br />

Berghänge mit großen Laubbäumen, Epiphyten wie Orchideen, Blattkakteen<br />

oder Bromelien sowie einem dichten Unterholz aus Baumfarnen, Bambus <strong>und</strong><br />

Büschen. Zusätzlich treffen dort weitere Großlebensräume aufeinander, von denen<br />

auf der 1.000 m hohen Hochfläche des Vulkanplateaus die erdgeschichtlich<br />

sehr alten Araukarienwälder dominieren. Araukarien oder Brasilkiefern, Araucaria<br />

angustifolia, sind ‚lebende Fossilien‘, mächtige Nadelbäume mit einer Höhe von<br />

über 40 m <strong>und</strong> ausgeprägten Schirmkronen, die vor 200 Millionen Jahren weite<br />

Teile der Erde bedeckten. Heute sind sie nur noch reliktartig in 20 Arten auf der<br />

südlichen Halbkugel verbreitet, u. a. eben in Südbrasilien.<br />

Auch die so genannten Campos, ausgedehnte offene Grasflächen, sind cha-<br />

257


258<br />

rakteristisch für <strong>das</strong> Araukarienplateau. Heutzutage dient dieses Grasland vor<br />

allem der Rinderzucht, <strong>und</strong> menschliche Einflüsse, insbesondere großflächige<br />

Abholzungen im letzten Jahrh<strong>und</strong>ert, haben die Relation der beiden Großlebensräume<br />

zugunsten der Campos verschoben. Über die ursprüngliche Ausbreitung<br />

des Araukarienwalds sind sich Wissenschaftler bis heute nicht ganz<br />

einig, doch ist anzunehmen, <strong>das</strong>s über 90% der ehemaligen Waldfläche bereits<br />

vernichtet sind. Heute trifft man stattdessen auf Monokulturen <strong>und</strong> Aufforstungen<br />

mit eingeführten schnellwüchsigen <strong>und</strong> ökonomisch interessanteren<br />

Baumarten wie Eukalyptus oder die Mittelamerikanische Kiefer, Pinus elliottii.<br />

Dennoch bilden auch die Campos seit vielen Jahrtausenden eine natürliche<br />

Vegetationsform der Hochfläche, was allein die Tatsache beweist, <strong>das</strong>s mehrere<br />

an diesen offenen Landschaftstyp angepasste Froscharten ausschließlich<br />

dort vorkommen (Endemiten).<br />

Am südlichen Ende des Araukarienplateaus erreichen schließlich die subtropischen<br />

wechselgrünen Wälder <strong>und</strong> die offenen Graslandschaften der tiefer gelegenen<br />

Pampagebiete ihre nördliche Verbreitungsgrenze, während sich in der<br />

schmalen, dem Atlantischen Regenwald vorgelagerten Küstenregion noch eine<br />

eigenständige, sandliebende Restinga-Vegetation findet. Eine solche Vielfalt an<br />

unterschiedlichen Vegetationsgroßräumen auf engem Raum ist selbst in Südamerika<br />

nur selten, <strong>und</strong> so bildet der Nordosten von Rio Grande do Sul zusammen mit<br />

dem angrenzenden Santa Catarina die Kernzone einer äußerst vielfältigen, subtropisch<br />

geprägten Fauna <strong>und</strong> Flora.<br />

Einige eher für <strong>das</strong> tropische Brasilien charakteristische Froschlurche haben<br />

hier ihre südlichsten Vorkommen, beispielsweise mehrere Arten aus der Familie<br />

Leptodactylidae, also Pfeiffrösche der Gattungen Adenomera, Cycloramphus,<br />

Eleutherodactylus, Hylodes, Proceratophrys <strong>und</strong> Thoropa (Anmerkung: da der neue<br />

Amphibienstammbaum von FROST et al. (2006) noch sehr umstritten ist, kommt<br />

an dieser Stelle die bisherige Systematik zur Anwendung). Auch viele Laubfrösche<br />

(Familie Hylidae) wie Scinax catharinae (s. Farbtafel Foto Nr. 2), Hypsiboas bischoffi,<br />

H. prasinus (s. Farbtafel Foto Nr. 10) <strong>und</strong> Dendropsophus microps oder die Makifrösche<br />

Phyllomedusa distincta <strong>und</strong> P. tetraploidea (s. Farbtafel Foto Nr. 5) haben<br />

hier ihre südliche Verbreitungsgrenze. Umgekehrt erreichen einige Arten der kühleren<br />

Pamparegion ihre nördliche Verbreitung, zum Beispiel Scinax uruguayus oder<br />

Pseudis minutus, <strong>und</strong> nicht zuletzt gibt es eine Reihe endemischer Arten, die entweder<br />

nur auf dem Hochplateau (z. B. der neu beschriebene Harlekinfrosch Pseudis<br />

cardosoi; KWET 2000; s. Farbtafel Foto Nr. 3) oder nur in der Küstenregion (z. B.<br />

die Rückenstreifenschwarzkröte Melanophryniscus dorsalis; KWET et al. 2005; s.<br />

Farbtafel Foto Nr. 4) vorkommen. Beide Lebensräume sind nur wenige Kilometer<br />

Luftlinie, aber durch einen Höhenunterschied von 1.000 m <strong>und</strong> kaum zugängliche<br />

Berghänge voneinander getrennt, was für wenig ausbreitungsfähige Tiere<br />

wie Amphibien eine unüberwindliche ökologische Barriere darstellt. Insbesondere<br />

bodenlebende Offenlandarten können die meist dicht bewachsenen Steilwände<br />

kaum überwinden. Die klimatischen Unterschiede – auf dem Araukarienplateau,<br />

mit jährlich bis zu 30 Frosttagen <strong>und</strong> manchmal sogar Schneefällen die kälteste<br />

Region Brasiliens, herrschen im Jahresdurchschnitt um fast 10°C geringere Temperaturen<br />

als im Tiefland – sind im Zusammenspiel mit der zoogeographischen


Isolierung die Ursache für Evolutionsprozesse, die zu einer sehr eigenständigen,<br />

zum Teil eben endemischen Froschfauna führten.<br />

Die Besiedlung <strong>und</strong> Erforschung Südbrasiliens<br />

Die Erforschung der Fauna Südbrasiliens steht in einem sehr engen Zusammenhang<br />

mit der deutschen Besiedlungsgeschichte dieser Region. Die historischen<br />

Rahmenbedingungen dieses Prozesses seien hier deshalb kurz rekapituliert.<br />

Das südliche Brasilien, also die heutigen Staaten Rio Grande do Sul, Santa<br />

Catarina <strong>und</strong> Paraná, war bis weit in <strong>das</strong> 18. Jahrh<strong>und</strong>ert hinein bis auf wenige<br />

Indianerstämme unbesiedelt <strong>und</strong> völlig unerforscht; vor allem Rio Grande do Sul,<br />

<strong>das</strong> damals von den beiden Kolonialmächten Spanien <strong>und</strong> Portugal beanspruchte<br />

Gebiet, war weitgehend ‚terra incognita‘. Zudem musste Portugal mit einer<br />

ständigen Bedrohung der südlichen Landesgrenzen Brasiliens von Argentinien<br />

aus rechnen, auch nachdem Spanien seine Ansprüche 1778 offiziell aufgab, um<br />

im Gegenzug an anderer Stelle Gebiete zu erhalten.<br />

Die Flucht des portugiesischen Königs João VI. mitsamt seinem Hofstaat nach<br />

Brasilien im Jahr 1807 (aufgr<strong>und</strong> der Besetzung Portugals durch die Franzosen<br />

– João kehrte erst 1821 wieder in seine Heimat zurück), bewirkte 1808 u. a. die<br />

Öffnung des bis dahin auch für ausländische Naturforscher verschlossenen Landes<br />

– noch Humboldt war ja die Einreise nach Brasilien verweigert worden<br />

(s. z. B. KOHLHEPP 2006) –, so<strong>das</strong>s kurz darauf die große Zeit der wissenschaftlichen<br />

Entdeckung Brasiliens begann. 1813 ließ sich der deutsche Mediziner <strong>und</strong><br />

Naturk<strong>und</strong>ler Georg Heinrich von Langsdorff (1774-1852) als russischer Konsul<br />

in Rio de Janeiro nieder, <strong>und</strong> seine Fazenda wurde zur Anlaufstation für so<br />

bekannte Forscher wie den Frankfurter Ornithologen Georg Wilhelm Freyreiß<br />

(1789-1825), den Potsdamer Botaniker Friedrich Sellow (1789-1831), den französischen<br />

Zoologen Etienne Geoffroy Saint-Hilaire (1772-1844) oder Maximilian<br />

Prinz zu Wied (1782-1867), neben Humboldt wohl der bedeutendste deutsche<br />

Naturreisende jener Jahre (STRESEMANN 1948, ROTH 1995, KWET 2006a).<br />

1817 erfolgte dann die auch wissenschaftlich folgenreiche Vermählung der naturbegeisterten<br />

Tochter des österreichischen Kaisers Franz I., der Erzherzogin<br />

Leopoldina, mit dem portugiesischen Thronfolger Dom Pedro. In ihrem Gefolge<br />

reiste der große Stab vor allem österreichischer Gelehrter <strong>und</strong> Wissenschaftler<br />

nach Brasilien, die dort eine unglaubliche Menge an Daten <strong>und</strong> Sammlungsmaterial<br />

zusammentrugen, darunter Zoologen wie Johann Natterer (1787-1843)<br />

oder bekannte Botaniker wie Johann Christian Mikan (1769-1844), Johann Baptist<br />

Emanuel Pohl (1782-1834) <strong>und</strong> Giuseppe Raddi (1770-1829), neben den beiden<br />

Deutschen Carl Friedrich Philipp von Martius (1794-1868) <strong>und</strong> Johann Baptist<br />

von Spix (1781-1826) (HELBIG 1994, KOHLHEPP 2006, KWET 2006a). Die meisten<br />

dieser Forscher bereisten die nördlichen Gebiete Brasiliens, Amazonien<br />

oder den Nordosten des Landes, mit Ausnahme von Sellow <strong>und</strong> Saint-Hilaire,<br />

die als Erste auch den wenig bekannten Süden (Rio Grande do Sul, Santa Catarina<br />

sowie <strong>das</strong> heutige Uruguay) erk<strong>und</strong>eten.<br />

Um den Schutz der südlichen Landesgrenzen zu verbessern, suchte nach der<br />

Unabhängigkeit Brasiliens am 7. September 1822 der zum Kaiser gekrönte Dom<br />

259


260<br />

Pedro neue Arbeitskräfte, die <strong>das</strong> noch weithin unerschlossene <strong>und</strong> teilweise von<br />

dichtem Urwald bedeckte Land erschließen <strong>und</strong> besiedeln sollten – <strong>und</strong> im Bedarfsfall<br />

eben auch verteidigen. Die Kolonisierung der Region durch Bauern <strong>und</strong><br />

Handwerker sollte einhergehen mit einer ‚Europäisierung‘ der dortigen Bevölkerungsstruktur,<br />

<strong>und</strong> Kaiserin Leopoldina von Habsburg setzte sich besonders für<br />

die Ansiedelung deutscher oder deutschsprachiger Siedler ein, die als besonders<br />

fleißig <strong>und</strong> arbeitsam galten. Durch die zu jener Zeit in den deutschen Kleinstaaten<br />

herrschende Armut fielen die Anwerbungsversuche aus Brasilien auf fruchtbaren<br />

Boden, <strong>und</strong> so kam es seit 25. Juli 1824, dem historischen Datum der Gründung<br />

São Leopoldos, der ersten südbrasilianischen Kolonie deutscher Immigranten,<br />

zu den verschiedenen Wellen massiverer Einwanderung vor allem deutscher<br />

Bauern <strong>und</strong> Handwerker in den Süden Brasiliens 1 . Dieses demographische Geschehen<br />

hatte Folgen auch für die wissenschaftliche Erschließung der Region,<br />

<strong>und</strong> so erklärt sich schließlich, <strong>das</strong>s ein Großteil der dort lebenden Amphibienarten<br />

von deutschen Kolonisten bzw. deren Nachfahren wissenschaftlich entdeckt<br />

<strong>und</strong> beschrieben wurde.<br />

Den Anfang machte allerdings noch ein Naturforscher aus den Reihen der<br />

Expeditionisten. 1823 gelangte der bereits erwähnte Friedrich Sellow nach<br />

Porto Alegre, der Hauptstadt, die 1742 von portugiesischen Einwanderern der<br />

Azoren gegründet worden war, <strong>und</strong> damals eine der wenigen Siedlungen der<br />

Region. Sellow unternahm ausgedehnte Exkursionen ins Inland von Rio<br />

Grande do Sul (aber auch nach Santa Catarina <strong>und</strong> Uruguay), wobei er u. a.<br />

423 Amphibien <strong>und</strong> Fische sammelte, neben mehr als 50.000 getrockneten<br />

Pflanzen, 5.000 Vogelbälgen <strong>und</strong> 80.000 Insekten (STRESEMANN 1948,<br />

HACKETHAL 1995).<br />

Reinhold Hensel <strong>und</strong> der Beginn der<br />

Amphibienforschung in Südbrasilien<br />

Nach dem hauptsächlich botanisch ausgerichteten Sellow, der sein<br />

Sammlungsmaterial nicht selbst auswerten konnte <strong>und</strong> 1831 bei einem Badeunfall<br />

in Brasilien ertrank, kam als erster ‚echter‘ Herpetologe der schlesische<br />

Humboldt-Stipendiat Reinhold Friedrich Hensel (1826-1881) nach Porto Alegre<br />

(MARTENS 1882). Hensel lebte im Auftrag der Berliner Akademie der Wissenschaften<br />

von 1863-1866 in Porto Alegre <strong>und</strong> brachte, neben zahlreichen Säugetieren,<br />

Fischen <strong>und</strong> Reptilien (HENSEL 1868), auch eine größere Sammlung<br />

von Amphibien an <strong>das</strong> Berliner Naturk<strong>und</strong>emuseum (HENSEL 1867a). Seine<br />

erste Checkliste der in Rio Grande do Sul vorkommenden Amphibien umfasste<br />

bereits 22 Arten, immerhin etwa ein Viertel der heute von dort bekannten Spezies<br />

(KWET 2001a, 2004). Hensel (1867b, c) porträtierte die damalige Provinz<br />

São Pedro do Rio Grande do Sul <strong>und</strong> konnte auch mehrere Froscharten neu<br />

1. Nach offiziellen Passagierlisten, die freilich nur unvollständig sind, waren es in der Zeit von<br />

1824 bis 1914 insgesamt 93.000 Deutsche, die <strong>das</strong> Land über den Hamburger Hafen in<br />

Richtung Brasilien verließen. Nach brasilianischen Angaben sind im Zeitraum bis 1947 insgesamt<br />

4,9 Millionen Personen in <strong>das</strong> Land gekommen, darunter etwa 235.000 Deutsche, die<br />

vor allem in den Süden einwanderten.


eschreiben (HENSEL 1867a), z. B. die Sandkröte Bufo arenarum, den 6 cm langen<br />

Laubfrosch Trachycephalus mesophaeus oder <strong>das</strong> winzige Pfeiffröschchen<br />

Pseudopaludicola falcipes. Mit einer Länge von 15-17 mm galt Letzteres bislang als<br />

kleinster Froschlurch von Rio Grande do Sul – nun allerdings muss es diese Auszeichnung<br />

mit einem ebenso winzigen, bisher offenbar schlicht übersehenen Pfeiffrosch<br />

teilen, den wir vor einiger Zeit als Adenomera araucaria (s. Farbtafel Foto Nr. 1)<br />

neu beschrieben haben (KWET / ANGULO 2002). Wie der Name verrät, kommt<br />

diese Art vor allem in der Region des Araukarienwalds vor, konnte kürzlich aber<br />

auch im Tiefland von Santa Catarina nachgewiesen werden (KWET 2007).<br />

Die Sammlung Hensels befindet sich noch heute fast vollständig im Berliner<br />

Museum, so<strong>das</strong>s wir anhand des Originalmaterials die Artbeschreibungen überprüfen<br />

<strong>und</strong> mit den Beschreibungen ähnlicher, verwandter Spezies vergleichen<br />

können. Auf diese Weise bestätigte sich z. B. eine ältere Vermutung, <strong>das</strong>s Hensels<br />

Beschreibung des Laubfrosches Hyla bracteator ungültig ist <strong>und</strong> eingezogen<br />

(synonymisiert) werden muss, da dieselbe Art unter dem Namen Hyla pulchella<br />

bereits einige Jahre zuvor aus Uruguay beschrieben worden war (KWET 2001b).<br />

Nach den internationalen Nomenklaturregeln hat in solch einem Fall immer der<br />

ältere Name Vorrang (INTERNATIONAL COMMISION FOR ZOOLOGICAL<br />

NOMENCLATURE 1999).<br />

Eine Überprüfung der von Hensel beschriebenen Sandkröte Bufo arenarum wiederum<br />

ergab, <strong>das</strong>s von den ursprünglich sieben gesammelten Exemplaren (der so<br />

genannten Typusserie) heute nur noch drei Individuen unterschiedlicher Größe<br />

vorhanden sind, die übrigen Tiere sind offenbar den Wirren der Zeit zum Opfer<br />

gefallen. Hensels Beschreibung dieser Art ist jedoch korrekt, <strong>und</strong> wir konnten <strong>das</strong><br />

am besten erhaltene Exemplar als so genannten Lectotypus festlegen (KWET et al.<br />

2006). Nach Nomenklaturregeln muss bei einer Neubeschreibung immer ein bestimmtes,<br />

gut konserviertes Belegexemplar (der so genannte Holotypus) in einem<br />

öffentlich zugänglichen Museum hinterlegt werden, sozusagen <strong>das</strong> ‚Eichstück‘ für<br />

diese Art, <strong>das</strong> jederzeit für spätere Vergleiche herangezogen werden kann. Sofern<br />

der Erstbeschreiber einer Art (was bei älteren Beschreibungen häufiger vorkam)<br />

jedoch keinen Holotypus festgelegt, sondern nur eine ganze Typusserie hinterlassen<br />

hat, kann ein nachfolgender Wissenschaftler daraus ein bestimmtes Exemplar<br />

auswählen <strong>und</strong> – sozusagen als Ersatz für den Holotypus – als Lectotypus festlegen.<br />

Hensels ‚Erbe‘ in Rio Grande do Sul<br />

Auch einige von Reinhold Hensel selbst nicht näher identifizierte Froschlurche,<br />

sein ‚Sammlungsnachlass‘ am Berliner Museum, bot für nachfolgende Wissenschaftler<br />

noch ein reiches Betätigungsfeld, einschließlich unserer eigenen Arbeitsgruppe.<br />

Einen von Hensel (1867a) tot aufgef<strong>und</strong>enen, etwas ramponierten Frosch<br />

beschrieb z. B. der damalige Direktor des Zoologischen Museums Berlin, der bekannte<br />

Herpetologe Wilhelm C. H. Peters (1815-1883), seinem Kollegen zu Ehren<br />

als Hylodes henselii (PETERS 1870). Die Beschreibung dieses Pfeiffrosches geriet<br />

allerdings bald in Vergessenheit <strong>und</strong> die Art wurde schließlich als Synonym des<br />

ähnlichen, weit verbreiteten Eleutherodactylus guentheri betrachtet. Erst vor kurzem<br />

konnten wir, vor allem mittels bioakustischer Vergleiche, den gültigen Art-<br />

261


262<br />

status von henselii nachweisen <strong>und</strong> damit den Namen Eleutherodactylus henselii (s.<br />

Farbtafel Foto Nr. 7) revalidieren (KWET / SOLÉ 2005). Es handelt sich um zwei so<br />

genannte kryptische Arten, die aufgr<strong>und</strong> äußerer Merkmale nicht voneinander zu<br />

unterscheiden sind, aber eben völlig unterschiedliche Paarungsrufe besitzen. Beide<br />

Pfeiffrösche sind offenbar eng miteinander verwandt <strong>und</strong> zählen zu der bis vor<br />

kurzem mit über 400 Arten größten aller Wirbeltiergattungen, Eleutherodactylus –<br />

dies hat sich durch die Aufsplittung in mehrere kleinere Gattungen im Rahmen<br />

des schon erwähnten, umstrittenen Amphibienstammbaums von Frost et al. (2006)<br />

nun allerdings geändert.<br />

Die Fortpflanzung der Eleutherodactylus-Arten läuft ganz anders ab als bei<br />

dem in den gemäßigten Zonen Europas <strong>und</strong> Südamerikas häufigsten<br />

Reproduktionsschema, d. h. Ablage der Eier <strong>und</strong> Entwicklung der Larven im<br />

Gewässer. Stattdessen verläuft bei diesen Pfeiffröschen die gesamte Entwicklung,<br />

von der befruchteten Eizelle bis zum fertigen Jungfrosch, einem winzigen Abbild<br />

der Eltern, innerhalb der Eihülle. Gerade diese Strategie einer so genannten<br />

direkten Entwicklung ist in den Tropen sehr häufig <strong>und</strong> stellt einen äußerst effektiven<br />

Fortpflanzungsmodus dar, denn die Frösche sind somit unabhängig von<br />

offenen Gewässern. Der Nachwuchs entgeht damit auch den vielfältigen, im<br />

Wasser lauernden Gefahren durch Fische, Libellenlarven, Wasserkäfer oder<br />

Wasserwanzen, <strong>und</strong> gerade die Larvenphase ist ja der am stärksten durch Feinde<br />

gefährdete Abschnitt im Lebenszyklus eines Froschlurches. Und auch die<br />

Gefahren, die für ausgewachsene Frösche durch <strong>das</strong> Ablaichen im Wasser auftreten,<br />

sind nicht zu unterschätzen. Speziell in Südbrasilien legen die häufigen<br />

F<strong>und</strong>e der von riesigen Wasserwanzen (Familie Belostomatidae) ausgesaugten<br />

Überreste von Fröschen – blasse, an der Wasseroberfläche treibende Hauthüllen<br />

– ein makabres Zeugnis ab (s. Farbtafel Foto Nr. 8).<br />

Das eigenartige Exemplar eines Hornfrosches, den Hensel (1867a) in seiner<br />

Publikation noch als Ceratophrys boiei? bezeichnet hatte – also mit Fragezeichen,<br />

da er sich der Unterschiede zu jener Art durchaus bewusst war –, wurde<br />

später ebenfalls als eigenständig erkannt <strong>und</strong> von Peters (1872) mit dem Namen<br />

Proceratophrys bigibbosa (s. Farbtafel Foto Nr. 6) belegt. Ein Jahrh<strong>und</strong>ert später<br />

entdeckte der Herpetologe Pedro Canisio Braun (1973a) noch eine zweite, eng<br />

verwandte Art aus dieser Gattung der Urhornfrösche, die er als Proceratophrys<br />

cristinae beschrieb. Wie unsere Untersuchungen bestätigten, leben in der Region<br />

der Bergwälder von Rio Grande do Sul tatsächlich zwei Arten Urhornfrösche<br />

(KWET 2001a). Ein direkter Vergleich des von Hensel gesammelten <strong>und</strong> lange<br />

als verschollen geltenden Holotyps von P. bigibbosa mit den neu entdeckten<br />

Exemplaren ergab allerdings, <strong>das</strong>s Braun (1973a) die beiden Spezies verwechselt<br />

<strong>und</strong> unglücklicherweise die neu entdeckte Art für den schon bekannten<br />

P. bigibbosa gehalten hatte. Jene Art, die seit über 100 Jahren bekannt war, hatte<br />

er dagegen unter dem Namen P. cristinae nochmals beschrieben. Wir mussten<br />

den ungültigen Namen daher einziehen (synonymisieren) <strong>und</strong> beschrieben stattdessen<br />

– Pedro Braun zu Ehren – Proceratophrys brauni neu (KWET / FAIVOVICH<br />

2001; s. Farbtafel Foto Nr. 9). Die Entdeckung des ersten Exemplars dieser Art,<br />

<strong>das</strong> ich zu Gesicht bekam, zeigt, <strong>das</strong>s in der Wissenschaft manchmal auch Zufälle<br />

eine Rolle spielen: Dieses Individuum wurde nämlich, leicht ‚angedaut‘, von


einer ‚nebenbei‘ gefangenen Natter ausgewürgt, zusammen mit fünf noch lebenden<br />

Jungkröten (KWET / SCHLÜTER 2002).<br />

Reinhold Hensel ist zweifellos der Nestor der südbrasilianischen Amphibienforschung.<br />

Seine erste Checkliste der Lurche von Rio Grande do Sul (HENSEL<br />

1867a) wurde in den folgenden Jahren <strong>und</strong> Jahrzehnten schrittweise durch neu<br />

entdeckte Arten erweitert, zunächst auf 28 durch den am Londoner Museum<br />

arbeitenden Belgier George A. Boulenger (1886) – der sich fast ausschließlich auf<br />

Material bezog, <strong>das</strong> der Kieler Zoologe <strong>und</strong> Auswanderer Hermann von Ihering<br />

(1850-1930) nach London schickte – <strong>und</strong> dann auf 33 Arten durch den Schweizer<br />

Franz Baumann (1912). Boulenger (1888) verfasste im Übrigen auch die erste<br />

Checkliste der Amphibien im Nachbarstaat Santa Catarina.<br />

Danach blieb es relativ lange ‚ruhig‘, bis auf einige allgemein verfasste Aufsätze<br />

durch herpetologisch interessierte Auswanderer, vor allem Karl Emrich (z. B.<br />

1927, 1929) <strong>und</strong> Alfred Adloff (z. B. 1922, 1927, 1929). Beide Autoren lebten in<br />

Porto Alegre <strong>und</strong> publizierten in den Blättern zur Aquarien- <strong>und</strong> Terrarienk<strong>und</strong>e<br />

eine Reihe von „Briefen aus Süd-Brasilien“, durch die u. a. auch der berühmte<br />

deutsche Herpetologe Robert Mertens (1894-1975), der selbst nie in Südbrasilien<br />

sammelte, auf diese Region aufmerksam wurde (MERTENS 1925a, b, 1926). Der<br />

am Senckenbergmuseum in Frankfurt arbeitende Zoologe konnte aufgr<strong>und</strong> des<br />

von den deutschen Emigranten gesammelten Materials einige Froscharten neu<br />

beschreiben, z. B. den durch eigenartige Signalbewegungen mit den Hinterbeinen<br />

(‚foot flagging‘) auffallenden Winkerfrosch Hylodes meridionalis (MERTENS<br />

1927) oder die rot-schwarze Rückenstreifenschwarzkröte, Melanophryniscus<br />

dorsalis (MERTENS 1933, s. Farbtafel Foto Nr. 4), die v. a. durch den so genannten<br />

‚Unkenreflex‘ bekannt ist. Dieses spezielle Abwehrverhalten, durch <strong>das</strong> die<br />

leuchtende Unterseite sichtbar wird, wurde erstmals bei europäischen Unken<br />

beobachtet. Die Rückenstreifenschwarzkröte lebt nur in einem schmalen, wenige<br />

Kilometer breiten Küstenstreifen im Nordosten von Rio Grande do Sul <strong>und</strong> im<br />

südlichen Santa Catarina <strong>und</strong> gilt durch die rege Bautätigkeit in den Strandgebieten<br />

als stark gefährdet (GARCIA / VINCIPROVA 2003; KWET et al. 2005).<br />

Wie die meisten Melanophryniscus-Arten tauchen auch diese nur 25 mm langen<br />

Krötchen lediglich nach starken Regenfällen an den Laichgewässern auf, dann<br />

allerdings in kleinen Pfützen <strong>und</strong> Straßengräben explosionsartig <strong>und</strong> zu H<strong>und</strong>erten,<br />

um nach wenigen Tagen wieder spurlos im Erdboden zu verschwinden, wo<br />

sie den Großteil ihres Lebens verbringen.<br />

Die Ära Pedro Braun<br />

In den sechziger <strong>und</strong> siebziger Jahren des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts war es zunächst<br />

wiederum ein Deutscher, der sich näher mit der Herpetofauna von Südbrasilien<br />

befasste <strong>und</strong> im Rahmen von Forschungen an der Universität Saarbrücken auch<br />

Rio Grande do Sul <strong>und</strong> Santa Catarina bereiste, nämlich der Biogeograph Paul<br />

Müller (z. B. 1968, 1969a, b). Unter Müllers Betreuung verfasste auch der deutschstämmige<br />

Brasilianer Erno A. Böhler (1976) seine Dissertation. Nur wenige andere<br />

Herpetologen haben sich ab Mitte des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts mit den Amphibien <strong>und</strong><br />

Reptilien im Süden Brasiliens beschäftigt, unter ihnen v. a. die Amerikanerin Doris<br />

263


264<br />

M. Cochran (z. B. 1955) <strong>und</strong> Berta Lutz, eine Brasilianerin mit Schweizer Vorfahren,<br />

die neben ihrer bedeutenden Monografie der Laubfrösche Brasiliens (LUTZ<br />

1973), z. B. Aplastodiscus perviridis beschrieb, einen auf dem Araukarienplateau<br />

sehr häufigen Laubfrosch (LUTZ 1950).<br />

Etwa zur selben Zeit begann an der F<strong>und</strong>ação Zoobotánica in Porto Alegre, die<br />

damals die größte wissenschaftliche Sammlung beherbergte, die leider viel zu kurze<br />

Schaffensperiode von Pedro Canisio Braun. Der ebenfalls deutschstämmige<br />

Herpetologe beschäftigte sich intensiv mit den Amphibien von Rio Grande do Sul<br />

<strong>und</strong> veröffentlichte innerhalb von 10 Jahren knapp 30 wissenschaftliche Manuskripte.<br />

Teilweise geschah dies zusammen mit seiner Ehefrau Cristina Assunção<br />

Sirangelo Braun, nach der Pedro Braun (1973a) wie bereits erwähnt eine (heute<br />

nicht mehr gültige) Art der Urhornfrösche beschrieb, Proceratophrys cristinae. Im<br />

selben Jahr publizierte Braun (1973b) auch die Neubeschreibung der Schwarzkröte<br />

Melanophryniscus macrogranulosus, einer extrem seltenen Art, von der Braun<br />

lediglich ein älteres Alkoholgefäß mit insgesamt neun konservierten Exemplaren<br />

in der Sammlung fand, die man in der Nähe einer Höhle bei Torres, an der Grenze<br />

zu Santa Catarina, gesammelt hatte. Bis zum 30. April 2004, als zwei Biologiestudenten<br />

ein kleines unbekanntes Krötchen fingen, wurden keine weiteren Exemplare<br />

entdeckt, <strong>und</strong> so galt die Art in der Roten Liste von Rio Grande do Sul<br />

(GARCIA / VINCIPROVA 2003) als „möglicherweise ausgestorben“. Auch mit dem<br />

ersten <strong>und</strong> bislang einzigen Wiederf<strong>und</strong> (ESCOBAR et al. 2004) sind von dieser<br />

Art noch immer nicht mehr als zehn Exemplare bekannt, <strong>und</strong> auch deren Biologie<br />

<strong>und</strong> Lebensweise ist völlig unerforscht.<br />

Weitere Neubeschreibungen, z. B. der ebenfalls extrem seltenen Cambará-<br />

Schwarzkröte, Melanophryniscus cambaraensis (BRAUN 1979; s. Farbtafel Foto Nr.<br />

11 u. 12), die bisher nur von zwei F<strong>und</strong>orten in der Nähe von Cambará do Sul<br />

bekannt wurde, des Pfeiffrosches Physalaemus lisei (BRAUN / BRAUN 1977a) oder<br />

des Laubfrosches Hypsiboas leptolineatus (BRAUN / BRAUN 1977b), aber auch<br />

Erstnachweise von bisher für Rio Grande do Sul unbekannten Arten (z. B. BRAUN<br />

1974, BRAUN / BRAUN 1975) führten zu einem stetigen Anwachsen der Artenzahlen.<br />

Die allermeisten neuen Froscharten stammen vom Araukarienplateau im<br />

Nordosten des Staates, genau aus jener Region, in der auch wir seit 1995 tätig sind<br />

<strong>und</strong> viele Freilanddaten sammeln konnten (z. B. KWET / DI BERNARDO 1998;<br />

KWET 2001a; KWET 2004).<br />

Die Checkliste von Pedro <strong>und</strong> Cristina Braun (1980) umfasste insgesamt zwar<br />

schon 65 Amphibienarten <strong>und</strong> -unterarten in 24 Gattungen, doch <strong>das</strong>s dem wenige<br />

Jahre später verstorbenen Herpetologen noch immer einige Arten ‚durch die<br />

Lappen‘ gegangen waren, zeigen weitere Neunachweise (z. B. KWET 1997; KWET /<br />

MIRANDA 2001; s. Farbtafel Foto Nr. 10) <strong>und</strong> auch Neubeschreibungen, neben<br />

den beiden bereits erwähnten Proceratophrys brauni (KWET / FAIVOVICH 2001;<br />

s. Farbtafel Foto Nr. 9) <strong>und</strong> Adenomera araucaria (KWET / ANGULO 2002; s. Farbtafel<br />

Foto Nr. 1) vor allem zwei Arten aus eng verwandte ‚Artenpaaren‘, die im Hoch<strong>und</strong><br />

Tiefland von Rio Grande do Sul ‚getrennte Wege‘ gegangen sind: Während<br />

der aquatisch lebende, schon von Charles Darwin entdeckte Harlekinfrosch Pseudis<br />

minutus nämlich nur im Tiefland der Pamparegion vorkommt, ist die zweite damals<br />

noch unbeschriebene Spezies lediglich auf dem Araukarienplateau verbrei-


tet. Letztere trägt nun zu Ehren meines verstorbenen brasilianischen Kollegen<br />

Adão Cardoso den Namen Pseudis cardosoi (KWET 2000; s. Farbtafel Foto Nr. 3).<br />

Ähnlich verhält es sich bei zwei eigenartigen Engmaulfröschen aus der Familie<br />

Microhylidae, die wir als Ameisen- <strong>und</strong> Termitenfresser außerhalb der Paarungszeit<br />

nur unterirdisch antreffen (SOLÉ et al. 2002): im Flachland der gelbbäuchige,<br />

weit verbreitete Elachistocleis bicolor (s. Farbtafel Foto Nr. 13) <strong>und</strong> im Hochland<br />

eine bläulich <strong>und</strong> orange gefärbte Art mit rotem Bauch. Diesen auf dem<br />

Araukarienplateau endemischen Frosch beschrieben wir (KWET / DI BERNARDO<br />

1998) nach seinem kennzeichnenden Merkmal, eben dem roten Bauch, als<br />

Elachistocleis erythrogaster neu (griechisch: erythros = rot, gaster = Bauch).<br />

Deutsche Siedler <strong>und</strong> Forscher in Santa Catarina: Die Anfänge<br />

Nachdem im Herbst 1828 zwei Schiffe mit insgesamt 635 Immigranten (insbesondere<br />

Bauern, Handwerker <strong>und</strong> Soldaten aus der Moselregion von Hunsrück<br />

<strong>und</strong> Eifel) in Desterro, der heutigen Hauptstadt Florianópolis, angelandet waren,<br />

wurde am 1. März 1829 im Vale do Rio Imaruim mit São Pedro de Alcântara dann<br />

auch im Nachbarstaat Santa Catarina die erste deutsche Kolonie gegründet. Die<br />

weitere Besiedelung Santa Catarinas verlief bekanntlich zunächst schleppend, bis<br />

der Apotheker Dr. Hermann Blumenau (1819-1899) aus Hasselfelde im Harz, motiviert<br />

durch Alexander von Humboldt, 1846 für zwei Jahre nach Südbrasilien<br />

reiste 2 <strong>und</strong> vier Jahre später, gefördert durch den Hamburger Kolonisationsverein,<br />

mit 17 weiteren Kolonisten die nach ihm benannte Stadt gründete, die heute<br />

unter den erfolgreichsten Industriestädten Brasiliens rangiert. Ebenfalls gefördert<br />

vor allem durch den Hamburger Kolonisationsverein schlossen sich dann in kurzer<br />

Folge Gründungen weiterer deutscher Siedlungen an: Am 9. März 1851 z. B.<br />

die Colônia Dona Francisca, <strong>das</strong> heutige Joinville <strong>und</strong> mit einer halben Million<br />

Einwohner mittlerweile die größte Stadt in Santa Catarina, oder dann São Bento<br />

do Sul, Brusque, Pommerode; heute sind etwa 35 % der Bewohner Santa Catarinas<br />

deutschen Ursprungs.<br />

Nach Blumenau kam 1852 auch einer der bedeutendsten deutschen Biologen,<br />

Johann Friedrich Theodor Müller, genannt Fritz Müller (1821-1897), der<br />

begabte <strong>und</strong> vielseitig interessierte Biologe (nach dem z. B. die Müllersche Mimikry<br />

benannt ist), der ja mit Charles Darwin in regem Briefkontakt stand (welcher<br />

ihn als „den Fürsten der Beobachter“ bezeichnete) <strong>und</strong> der später längere Zeit<br />

auch als Lehrer in Desterro (Florianópolis) lebte. In einem seiner Briefe an Darwin<br />

vom 21. Januar 1879 findet sich die erste Erwähnung <strong>und</strong> bildliche Darstellung<br />

der faszinierenden Brutpflege innerhalb der Gattung Flectonotus (ZILLIG<br />

1997, S. 214; s. Farbtafel Foto Nr. 14), also noch vor der ersten offiziellen Erwähnung<br />

dieser hochspezialisierten Fortpflanzungsstrategie durch Boulenger (1895).<br />

Bei diesen in Südostbrasilien lebenden, so genannten Rückenbrüterfröschen,<br />

die Fritz Müller noch als Hylodes? bezeichnete <strong>und</strong> die von vielen heutigen<br />

Herpetologen auch in die eigene Gattung Fritziana gestellt werden, entwickelt<br />

sich der Nachwuchs nämlich in der verdickten, zu einer ringförmigen Falte auf-<br />

2. Für nähere Informationen zu den Umständen <strong>und</strong> Ergebnissen dieser Reise s. z. B. RICHTER 2006.<br />

265


266<br />

gewölbten Rückenhaut des Weibchens. Bei der Paarung verteilt <strong>das</strong> Männchen<br />

mit seinen Hinterbeinen zunächst die wenigen großen Eier mit einem klebrigen<br />

Eileitersekret auf dem Rücken des Weibchens. Die mit reichlich Dottervorrat<br />

versehenen Larven werden nach dem Schlupf noch eine Zeit lang mitgetragen<br />

<strong>und</strong> schließlich in mit Regenwasser gefüllte Bromelientrichter gesetzt, wo sie ihre<br />

Metamorphose vollenden.<br />

Die auf einem Foto beruhende Zeichnung Fritz Müllers, dem für seine großartigen<br />

Leistungen von der Universität Tübingen 1874 die Ehrendoktorwürde verliehen<br />

wurde, zeigt <strong>das</strong> eiertragende Weibchen einer noch unbeschriebenen Art<br />

dieser Gattung, <strong>das</strong> er in einer großen Bromelie in der Nähe von Blumenau gef<strong>und</strong>en<br />

hatte <strong>und</strong> dessen geschlüpfte Larven er noch eine zeitlang lebend erhalten<br />

konnte. Bei unseren Untersuchungen an der Bromelienfauna Santa Catarinas,<br />

130 Jahre später <strong>und</strong> ebenfalls von der Universität Tübingen gefördert (in Kooperation<br />

mit der UFSC in Florianópolis), konnten wir diese seltene Art erstmals auch<br />

auf der Ilha de Santa Catarina beobachten (KWET / ZILLIKENS, unpubl.), neben<br />

den ebenfalls neu nachgewiesenen Laubfröschen Hypsiboas albomarginatus<br />

(KWET et al. 2004) <strong>und</strong> Scinax argyreornatus (KWET / ZILLIKENS 2005). Fritz Müller<br />

(ZILLIG 1997, S. 214) erwähnt im selben Brief übrigens noch eine besondere<br />

Kaulquappe („sapinho“, also Krötchen) mit ungewöhnlich langem Schwanz, die<br />

er an Wasserfällen auf nassen Felsen beobachten konnte. Diese Beobachtung<br />

bezieht sich wohl auf die speziell angepassten, nicht direkt im Wasser, sondern im<br />

feuchten Luftraum der Spritzwasserzone lebenden Larven der Pfeiffroschgattung<br />

Cycloramphus, von der mehrere Arten in Santa Catarina vorkommen.<br />

700 km entfernt von Florianópolis, im Westen von Santa Catarina, war die<br />

Wirkungsstätte von Fritz Plaumann. Die preußische Auswandererfamilie Plaumann<br />

war nach beschwerlicher Anreise – die letzten 80 km mit kleinem Gepäck auf dem<br />

Rücken eines Esels – erst 1924 in Nova Teutônia im heutigen Munizip Seara angekommen.<br />

Der naturbegeisterte, damals 22-jährige Sohn Fritz machte sich alsbald<br />

einen guten Namen als Entomologe <strong>und</strong> wurde mit 80.000 Exemplaren in 17.000<br />

Arten zu einem der bedeutendsten Insektensammler in ganz Lateinamerika. Nebenbei<br />

sammelte Plaumann auch andere Naturalien, u. a. Amphibien, die er an Kollegen<br />

weitergab. Einen von Fritz Plaumann gesammelten Pfeiffrosch beschrieb Ernst<br />

Ahl (1936) dem Entomologen zu Ehren als Leptodactylus plaumanni. Diese Art wurde<br />

später mit dem äußerlich kaum unterscheidbaren L. gracilis synonymisiert, doch<br />

unsere bioakustischen Untersuchungen (KWET et al. 2003) ergaben, <strong>das</strong>s dies zu<br />

Unrecht geschehen war. Tatsächlich besitzen beide Arten extrem unterschiedliche<br />

Paarungsrufe: Jener von L. plaumanni gleicht dem Zirpen einer Grille, jener von L.<br />

gracilis dem Gluckern einer unter Wasser gehaltenen Flasche, aus der die Luft entweicht.<br />

Heute erinnert in Nova Teutônia ein kleines Museum an den am 22. September<br />

1994 in hohem Alter verstorbenen Naturforscher.<br />

Wilhelm Ehrhardt<br />

Das vielleicht wichtigste Datum für die Entdeckung der Amphibien von Santa<br />

Catarina ist aber <strong>das</strong> Jahr 1897, als die Hanseatische Kolonisationsgesellschaft,<br />

neben der Kolonie Hansa-Hammonia (heute Ibirama), auch die Kolonie Hansa-


Humboldt (heute Corupá) gründete. Am 7. Juli 1897 wurde diese neue Siedlung<br />

im Nordosten Santa Catarinas von dem deutschen Emigranten Otto Hillbrecht<br />

zusammen mit Familienangehörigen <strong>und</strong> einem gewissen Wilhelm Ehrhardt „ins<br />

Leben gerufen“ (KORMANN 1985). Jener Wilhelm Ehrhardt, der am 17.11.1860 in<br />

Berbice (heute New Amsterdam in Britisch-Guyana) vermutlich als Sohn eines<br />

professionellen Tiersammlers (A. Ehrhardt, Vorname unbekannt) geboren wurde<br />

<strong>und</strong> danach v. a. in Hamburg <strong>und</strong> Corupá lebte, war eine ungewöhnliche Persönlichkeit<br />

(GUTSCHE et al. 2007). Er versuchte sich u. a. als Schlosser, Kolonialwarenhändler<br />

<strong>und</strong> – parallel dazu – als Präparator <strong>und</strong> Tiersammler.<br />

Für die Erforschung der Amphibien Südbrasiliens erwies sich Wilhelm<br />

Ehrhardt als Glücksfall. Obwohl er selbst wissenschaftlich nicht aktiv war, belieferte<br />

er Naturk<strong>und</strong>emuseen in ganz Europa mit biologischen Objekten, vor<br />

allem Berlin, Hamburg, Frankfurt, München <strong>und</strong> Tübingen, aber auch London<br />

oder Rio de Janeiro. Von 1907-1930 gelangten allein ans Berliner Museum<br />

mehr als 2.400 präparierte Amphibien <strong>und</strong> Reptilien, <strong>und</strong> eine vergleichbare<br />

Anzahl findet sich heute in der Hamburger Sammlung; ja, selbst in nordamerikanischen<br />

Museen tauchen seine Präparate auf. Zum weitaus größten Teil entstammt<br />

<strong>das</strong> Material dem Umfeld seines Wohnsitzes im heutigen Corupá (im<br />

Flussgebiet des Rio Novo, Rio Humboldt <strong>und</strong> Rio Itapocú), zum Teil kommt es<br />

aber auch aus dem Amazonasgebiet, von wo es vermutlich über den von ihm<br />

beauftragten, aus Ungarn stammenden Sammler Carl Lako zu ihm gelangte<br />

(GUTSCHE et al. 2007).<br />

Am 17. Februar 1933 brach Wilhelm Ehrhardt zu seiner letzten Reise von Hamburg<br />

nach Brasilien auf. Die letzte Sendung mit Sammlungsmaterial datiert von<br />

1935, danach verliert sich seine Spur. Auch unsere Nachforschungen im Januar<br />

2006, als wir z. B. in Stadtämtern <strong>und</strong> Archiven von Corupá nachforschten, erbrachten<br />

keine weiteren Anhaltspunkte. Vermutlich starb Ehrhardt verarmt im<br />

Jahr 1936, denn bereits die Kosten für seine vorletzte Schiffsreise (also von Brasilien<br />

nach Deutschland) im Jahr 1932 in Höhe von 420 Reichsmark konnte er<br />

nicht mehr selbst bezahlen <strong>und</strong> unterzeichnete der Hamburg-Südamerikanischen<br />

Dampfschifffahrts-Gesellschaft stattdessen einen Verpflichtungsschein, den <strong>das</strong><br />

Berliner Museum einlösen musste.<br />

Interessant ist ein ‚Gutachten‘ des Berliner Naturk<strong>und</strong>emuseums auf eine<br />

informelle Anfrage des damaligen Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung<br />

<strong>und</strong> Volksbildung vom 9. Juli 1936 (also posthum?), <strong>das</strong> die Tätigkeit Wilhelm<br />

Ehrhardts folgendermaßen zusammenfasst: „Ehrhardt war zwar nicht als<br />

Forscher tätig, stand aber als Sammler im Dienste der Wissenschaft. Seine Dienste<br />

waren wertvoll, sie brachten der Wissenschaft gut konserviertes <strong>und</strong> etikettiertes<br />

Forschungsmaterial, <strong>das</strong> viel neue Ergebnisse zeitigte.“ Und weiter: „Da<br />

er sehr zuverlässig war, ausgezeichnet präparierte <strong>und</strong> dazu noch ganz erstaunlich<br />

billige Preise hatte, so hatte er stets gute K<strong>und</strong>schaft unter den Museen, die<br />

gern sein Material abnahmen.“ In der Tat zeichnen sich die exzellent in Alkohol<br />

fixierten Amphibien <strong>und</strong> Reptilien durch eine für jene Zeit ungewöhnliche lebensnahe,<br />

fast schon ästhetisch zu nennende Darstellung aus, wie Ehrhardt<br />

selbst mitteilte: „Die Reptilien sind nach dem Leben gespannt, ebenso die Amphibien<br />

[...]“ (GUTSCHE et al. 2007).<br />

267


268<br />

Mehrere Neubeschreibungen<br />

gehen auf <strong>das</strong> von Ehrhardt<br />

gesammelte Material zurück,<br />

z. B. der Winkerfrosch<br />

Hylodes perplicatus (MIRANDA-<br />

RIBEIRO 1926), der Glasfrosch<br />

Hyalinobatrachium uranoscopum<br />

(MÜLLER 1924, s.<br />

Farbtafel Foto Nr. 15) oder auch<br />

der erst kürzlich von mir (KWET<br />

2007) revalidierte Zwerg-Pfeiffrosch<br />

(MÜLLER 1922).<br />

Dem eifrigen Sammler zu<br />

Ehren beschrieb der an der<br />

Münchner Staatssammlung<br />

tätige Müller (1924) schließlich<br />

auch Hyla ehrhardti. Den<br />

Der von Wilhelm Ehrhardt gesammelte Holotypus des<br />

Glasfrosches Hyalinobatrachium uranoscopum befindet<br />

sich in der Münchner Staatssammlung <strong>und</strong> wurde<br />

ursprünglich als Laubfrosch, Hyla uranoscopa, beschrieben.<br />

Paarungsruf dieses prächtig grünen, heute als Aplastodiscus ehrhardti bekannten<br />

Laubfrosches (s. Farbtafel Foto Nr. 16) konnten wir vor kurzem erstmals beschreiben<br />

(CONTE et al. 2005). Eine ähnliche Art mit völlig unterschiedlichem Ruf, die<br />

im gleichen Lebensraum wie A. ehrhardti vorkommt, durch ihr Leben hoch in den<br />

Baumkronen offenbar aber nicht von Ehrhardt gef<strong>und</strong>en wurde, ist der nicht<br />

weniger herrlich gezeichnete A. albosignatus (s. Farbtafel Foto Nr. 17).<br />

Viele der von Ehrhardt an die diversen Museen geschickten Frösche wurden<br />

von den dort arbeitenden Wissenschaftlern nicht richtig identifiziert (z. B. im Hamburger<br />

Museum ein falsch als Hyla pardalis ettiketiertes Exemplar des Knochenkopflaubfrosches<br />

Itapotihyla langsdorffii), manche wurden nicht einmal als wissenschaftlich<br />

neu erkannt, z. B. im Fall einiger Pfeiffroscharten wie Cycloramphus<br />

diringshofeni, C. izecksohni (s. Farbtafel Foto Nr. 18), Proceratophrys subguttata oder<br />

Leptodactylus notoaktites, die dann allesamt erst Ende des vergangenen Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

anhand frisch gesammelten Materials beschrieben wurden.<br />

Cycloramphus izecksohni, eine mehrerer Arten, von<br />

denen Wilhelm Ehrhardt Exemplare gesammelt<br />

<strong>und</strong> an diverse Museen geschickt hatte, die damals<br />

aber nicht als wissenschaftlich neu erkannt wurden<br />

(hier ein Exemplar im Berliner Museum).<br />

Ehrhardt-Präparat des extrem seltenen<br />

Laubfroschs Itapotihyla langsdorffii. Dieses<br />

Exemplar im Hamburger Naturk<strong>und</strong>emuseum<br />

wurde fälschlich als Hyla pardalis<br />

bestimmt.


Dies gilt z. B. auch für den Makifrosch Phyllomedusa distincta, den Berta Lutz<br />

erst 1950 beschrieb <strong>und</strong> der, wie bei dieser Gattung üblich, spezielle Blattnester<br />

für seine Eigelege anfertigt. Bei der Paarung werden nämlich Pflanzenblätter mit<br />

den klebrigen Eiern <strong>und</strong> dem Eileitersekret der Weibchen zu einer Art Tüte verklebt,<br />

<strong>und</strong> eine gallertartige Substanz schützt <strong>das</strong> Gelege zusätzlich vor Austrocknung<br />

<strong>und</strong> kleinen Eiräubern wie Wespen. Nach einigen Tagen zerfällt <strong>das</strong> Nest<br />

durch den Schlupf der Larven <strong>und</strong> die zappelnden Kaulquappen springen in <strong>das</strong><br />

darunter liegende Gewässer, wo sie ihre Entwicklung vollenden (z. B. KWET /<br />

SCHLÜTER 2002).<br />

Auch der bereits erwähnte, noch immer namenlose Rückenbrüterfrosch von<br />

Fritz Müller findet sich unerkannt in Ehrhardts Sammlungen. Zwei der auffälligsten<br />

Froschlurche freilich, der knapp 10 cm lange Schmied-Laubfrosch (Hypsiboas<br />

faber, s. Farbtafel Foto Nr. 19) <strong>und</strong> der mächtige, noch einmal fast doppelt so<br />

große Hornfrosch Ceratophrys aurita waren bereits 100 Jahre vor Ehrhardts<br />

Tätigkeiten beschrieben worden. Die Männchen des Schmied-Laubfroschs konstruieren<br />

zur Paarungszeit kraterartige Vertiefungen am Gewässerrand, die sie<br />

für einige Tage vehement gegen Eindringlinge verteidigen (z. B. KWET 2001a).<br />

Dabei fechten die Männchen zum Teil heftige territoriale Kämpfe aus, bei denen<br />

sich die Kontrahenten durch Dornen am Ansatz des Daumens böse verletzen<br />

können. Der in den Kraternestern deponierte Laich ist sehr empfindlich, denn<br />

die an der Wasseroberfläche des Nestes schwimmenden, sauerstoffbedürftigen<br />

Eier sterben ab, sobald sie durch äußere Einflüsse auf den Boden sinken. Die<br />

Miniaturaquarien, in denen vor Fischen <strong>und</strong> anderen Wasserräubern geschützt<br />

die Ei- <strong>und</strong> frühe Larvenentwicklung verläuft, werden in der Regel nach ausgiebigen<br />

Regenfällen überflutet, so <strong>das</strong>s die Kaulquappen mit einer größeren Länge<br />

schließlich ins offene Wasser gelangen. Diese Art einfacher Brutfürsorge vergrößert<br />

deren Überlebenschancen – bei Ausbleiben des Regens allerdings geht die<br />

gesamte Brut zugr<strong>und</strong>e.<br />

Auch der Hornfrosch Ceratophrys aurita ist in den Sammlungen Ehrhardts durch<br />

spektakuläre Präparate belegt – u. a. befindet sich in Hamburg ein ausgewachsenes,<br />

fast 18 cm langes Exemplar, in dessen riesigem Maul ein ebenfalls adulter Laubfrosch<br />

der Art Trachycephalus mesophaeus steckt. Hornfrösche sind gefräßige Räuber, die<br />

auch vor Mäusen, jungen Vögeln <strong>und</strong> Artgenossen keinen Halt machen, <strong>und</strong> sie<br />

konnten im Norden Santa Catarinas seit langer Zeit nicht mehr beobachtet werden.<br />

Auch unser Nachfragen bei älteren<br />

Bewohnern Corupás, die nach<br />

eigenen Angaben in ihrer Jugend<br />

noch mit den aggressiven <strong>und</strong><br />

beißlustigen Tieren ‚gespielt‘ hatten,<br />

ergab nur, <strong>das</strong>s diese Art dort<br />

heute nicht mehr anzutreffen ist.<br />

Dies hängt vermutlich mit der Vernichtung<br />

der Laichgewässer im ursprünglichen<br />

Regenwald <strong>und</strong> der<br />

Anlage zahlloser Bananenmonokulturen<br />

in Verbindung mit ent-<br />

269


270<br />

sprechendem Pestizideinsatz zusammen – in Santa Catarina gilt Corupá als „Hauptstadt<br />

der Bananen“. Auch heute noch bildet Ehrhardts Material also einen wichtigen<br />

wissenschaftlichen F<strong>und</strong>us in naturhistorischen Sammlungen, <strong>und</strong> sei es nur,<br />

um damit <strong>das</strong> lokale Aussterben einer Art dokumentieren zu können.<br />

Die Forschungen der letzten Jahre<br />

Seit den Zeiten Wilhelm Ehrhardts in Santa Catarina <strong>und</strong> Pedro Brauns in Rio<br />

Grande do Sul lag die Erforschung der Amphibienfauna in den beiden südbrasilianischen<br />

Staaten mehr oder weniger brach. Erst Mitte der 1990er Jahre<br />

begannen wieder Freilandstudien, die zu neuen Erkenntnissen führten, welche<br />

wiederum die Gr<strong>und</strong>lage zum Schutz der bedrohten Lurchfauna darstellen. Meine<br />

eigenen Studien, die 1995 im Waldschutzgebiet Pró-Mata begannen (KWET<br />

2001a), konzentrierten sich zunächst auf die Amphibienfauna im Nordosten von<br />

Rio Grande do Sul, die ich teilweise zusammen mit Kollegen wie Marcos Di<br />

Bernardo <strong>und</strong> Mirco Solé untersuchte (z. B. KWET / DI-BERNARDO 1998; DI-<br />

BERNARDO et al. 2004). Seit 2000 dehnte sich mein Untersuchungsfeld dann aus<br />

auf den Nachbarstaat Santa Catarina (z. B. mit Anne Zillikens <strong>und</strong> Rodrigo Lingnau)<br />

sowie nach Uruguay (mit Raúl Manyero).<br />

Thema meiner Dissertation an der Universität Tübingen war die ökologische<br />

Rolle der Amphibien in dem stark gefährdeten Lebensraum des Pró-Mata-Schutzgebiets<br />

am südöstlichen Rand des Araukarienplateaus (KWET 2001a). So untersuchte<br />

ich u. a. die ökologische Einnischung der Laubfrösche in den unterschiedlichen<br />

Mikro- <strong>und</strong> Makrohabitaten sowie die Unterschiede im saisonalen<br />

<strong>und</strong> tageszeitlichen Auftreten der Tiere. Auch Räuber-Beute-Beziehungen <strong>und</strong><br />

die Nahrungsökologie der Frösche anhand von Magenuntersuchungen wurden<br />

näher beleuchtet; hierbei konnten wir die Technik der Magenspülung weiterentwickeln,<br />

durch die mit Hilfe eines Infusionsschlauchs <strong>und</strong> einer Spritze auf<br />

einfache Weise wertvolle Daten zur Ernährung gewonnen werden können, ohne<br />

den Frosch dabei zu schädigen (SOLÉ et al. 2005). Ansonsten standen im Vordergr<strong>und</strong><br />

meiner Arbeit auch die Bioakustik, z. B. die bei der Artentstehung <strong>und</strong><br />

Artunterscheidung eine wichtige Rolle spielenden Rufe der Arten, sowie gr<strong>und</strong>legende<br />

biologische Daten zu derer Lebensgeschichte, insbesondere zur<br />

Fortpflanzungsweise.<br />

Einige Besonderheiten der Fortpflanzung wurden bereits erwähnt; ein weiterer<br />

Reproduktionsmodus, den insbesondere Pfeiffrösche für sich ‚entdeckt‘ haben<br />

<strong>und</strong> der für Mitteleuropäer exotisch anmuten mag, ist die Anlage eines speziellen<br />

Schaumnestes. Beim Bau desselben sitzt <strong>das</strong> Männchen im Amplexus (Paarungsumklammerung)<br />

auf dem Weibchen <strong>und</strong> schlägt eiweißhaltiges Eileitersekret durch<br />

schnelle Hinterbeinbewegungen zu Schaum. Bei jeder der kurz aufeinander folgenden<br />

Schlagphasen wird <strong>das</strong> austretende Sekret zusammen mit den Eiern <strong>und</strong><br />

dem Sperma jeweils einige Sek<strong>und</strong>en lang kräftig durchgequirlt. Nach zahlreichen<br />

Durchgängen entsteht schließlich ein stabiles Schaumnest, in dem sich die<br />

pigmentlosen Eier gut geschützt vor Austrocknung, Sonneneinstrahlung <strong>und</strong> Feinden<br />

entwickeln können. Vermutlich entfalten chemische Wirkstoffe im Schaum<br />

zusätzlich eine pilz- <strong>und</strong> bakterientötende Funktion.


Gerade bei diesen Schaumnestbauern zeigt sich eine zunehmende Abwendung<br />

der Amphibien vom Wasser als Fortpflanzungsmedium. Während die meisten<br />

Arten, z. B. der mächtige Augenfleckpfeiffrosch Leptodactylus ocellatus oder<br />

der hübsche Physalaemus olfersii (s. Farbtafel Foto Nr. 20), ihr Schaumnest noch<br />

direkt an der Gewässeroberfläche anlegen, bauen es manche auch an Land in der<br />

feuchten Uferzone (z. B. Physalaemus nanus, s. Farbtafel Foto Nr. 21) oder – einen<br />

Schritt weiter – in eine selbst gegrabene Erdhöhle in der Nähe einer Pfütze (z. B.<br />

Leptodactylus plaumanni). Aus diesem gut geschützten Versteck werden die Kaulquappen<br />

durch Überflutung frei oder tropfen nach dem Schlupf mit dem flüssiger<br />

werdenden Schaum über einen Verbindungsgang ins Gewässer, wo sie sich weiter<br />

entwickeln. Und noch spezialisierter ist die in Santa Catarina mit mehreren z. T.<br />

noch unbeschriebenen Arten (KWET /<br />

ANGULO 2002; KWET 2007) verbreitete<br />

Gattung Adenomera, bei der <strong>das</strong><br />

Schaumnest weitab von Gewässern im<br />

Waldboden angelegt wird. Innerhalb<br />

des zähflüssigen Schaums vollzieht sich<br />

im Erdloch die gesamte Entwicklung<br />

der Larven bis hin zur Metamorphose.<br />

Die Kaulquappen leben in dieser Zeit<br />

ausschließlich von ihrem Dottersackvorrat,<br />

<strong>und</strong> was <strong>das</strong> Nest später verlässt,<br />

sind die winzigen, bereits fertig entwikkelten<br />

Jungfröschchen.<br />

Doch nicht nur ökologisch, auch<br />

taxonomisch wird in Südbrasilien wie-<br />

Die Männchen des Augenfleckpfeiffroschs,<br />

Leptodactylus ocellatus, besitzen extrem verdickte<br />

Oberarme (Exemplar im Hamburger Museum)<br />

der geforscht. So beschrieb der brasilianische Herpetologe Paulo C. A. Garcia<br />

(1996) mit Eleutherodactylus manezinho einen neuen Pfeiffrosch von der Ilha de<br />

Santa Catarina, <strong>und</strong> Garcia / Vinciprova (1998) konnten mehrere Froscharten<br />

erstmals für Rio Grande do Sul bzw. Santa Catarina belegen. Eine aus evolutionsbiologischer<br />

Sicht besonders interessante, aber zugleich auch sehr unübersichtliche<br />

Gruppe von Laubfröschen ist insbesondere der Artenkomplex um Hypsiboas<br />

semiguttatus. Hierbei handelt es sich um eine Verwandtschaftsgruppe aus mehreren<br />

sehr ähnlichen <strong>und</strong> eng miteinander verwandten Arten, die auf dem südbrasilianischen<br />

Araukarienplateau <strong>und</strong> in Bergbächen der Mata Atlântica vorkommen.<br />

Ein charakteristisches Merkmal dieser Gruppe sind u. a. die muskulös<br />

verdickten (hypertrophierten) Unterarme <strong>und</strong> die scharfen Dorne an der Daumenbasis<br />

der Männchen, ähnlich wie bei dem bereits erwähnten Schmied-Laubfrosch.<br />

Diese Daumendorne werden bei innerartlichen Auseinandersetzungen eingesetzt,<br />

<strong>und</strong> v. a. ältere Männchen besitzen daher oft zahlreiche Narben auf dem<br />

Rücken, die von schweren Kämpfen zeugen.<br />

Hypsiboas semiguttatus selbst galt bis vor kurzem noch als eine einzige, sehr<br />

variable Spezies (KWET / DI-BERNARDO 1998), doch repräsentieren mehrere der<br />

teilweise stark voneinander abweichenden Populationen offenbar eigenständige<br />

Arten, die zurzeit wissenschaftlich bearbeitet werden. Als Extremfälle finden sich<br />

an größeren Bächen stattliche 5 cm lange Tiere mit satten, teilweise metallisch<br />

271


272<br />

glänzenden Grün-, Braun- oder Gelbtönen sowie dunklen, parallel verlaufenden<br />

Streifen oder Längsreihen unregelmäßiger Flecken, während an kleineren Bächen<br />

unscheinbar bräunliche, nur etwa 3 cm lange Exemplare mit <strong>und</strong>eutlichem Rückenmuster<br />

vorkommen. Während die erstgenannte Form kürzlich als Hypsiboas joaquini<br />

revalidiert wurde (GARCIA et al. 2003; s. Farbtafel Foto Nr. 22), besitzt die zweite,<br />

kleinere Variante noch keinen gültigen Namen. Neben diesen beiden Offenlandbewohnern<br />

kommen noch mindestens vier weitere Verwandte in den unzugänglichen<br />

<strong>und</strong> dicht bewaldeten Berghängen am Rand des Araukarienplateaus<br />

vor. Eine davon ist der im Norden von Rio Grande do Sul lebende, einfarbig grüne<br />

Hypsiboas marginatus, der von Garcia et al. (2001) revalidiert wurde, nachdem<br />

meine bioakustischen Daten (KWET 2001a) den Artstatus ebenfalls belegt hatten.<br />

Die zweite Art ist der ‚echte‘ Hypsiboas semiguttatus, der offenbar nur im Norden von<br />

Santa Catarina vorkommt, während die dazwischen liegende Bergregion von zwei<br />

wissenschaftlich noch unbeschriebenen Arten besiedelt wird.<br />

Der gesamte semiguttatus-Komplex ist – ähnlich wie die beiden Gattungen<br />

Adenomera <strong>und</strong> Cycloramphus – ein hervorragendes Beispiel für die in Südbrasilien<br />

<strong>und</strong> speziell in den Hangwäldern der südlichen Mata Atlântica stattfindenden<br />

Artbildungsprozesse, denn alle drei Froschgruppen befindet sich offenbar in einer<br />

evolutiven Aufspaltung, die in ferner Zukunft zu unterschiedlichen Arten führen<br />

wird. Die Entdeckung einer weiteren unbeschriebenen Hypsiboas-Art in der Nähe<br />

von Santa Cruz do Sul im Zentrum von Rio Grande do Sul schließlich (KWET, in<br />

Vorbereitung) zeigt, <strong>das</strong>s hier <strong>das</strong> letzte Wort noch längst nicht gesprochen ist.<br />

Durch den tragischen Tod meines engen herpetologischen Kollegen <strong>und</strong> persönlichen<br />

Fre<strong>und</strong>es Marcos Di- Bernardo (1963-2006), der am 16. Juni einem Krebsleiden<br />

erlag (KWET 2006b), haben meine Forschungsaktivitäten allerdings einen<br />

großen Dämpfer erhalten. So wird auch die Beschreibung eines prachtvollen, fast<br />

8 cm langen Krötenlaubfroschs aus der Gattung Trachycephalus, die wir zusammen<br />

publizieren wollten, nur noch posthum erscheinen (KWET / SOLÉ, in Vorbereitung;<br />

s. Farbtafel Foto Nr. 23). Den vielleicht spektakulärsten Froschlurch<br />

von ganz Rio Grande do Sul aber, die Prachtkröte Melanophryniscus admirabilis<br />

(s. Farbtafel Foto Nr. 24) mit ihrer leuchtend gelbgrünen, ‚genoppten‘ Oberseite<br />

<strong>und</strong> der herrlich gefärbten, schwarz, rot, grün <strong>und</strong> gelb gezeichneten Bauchseite,<br />

konnte mein verstorbener Kollege noch selbst entdecken <strong>und</strong> beschreiben<br />

(DI-BERNARDO et al. 2006).<br />

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3. Pseudis cardosoi 4. Melanophryniscus dorsalis<br />

5. Phyllomedusa tetraploidea 6. Proceratophrys bigibbosa


7. Eleutherodactylus henselii 8. Belostomatidae (Wasserwanzen - hier mit<br />

Beute)<br />

9. Proceratophrys brauni 10. Hypsiboas prasinus<br />

11. Melanophryniscus cambaraensis 12. Melanophryniscus cambaraensis


13. Elachistocleis bicolor 14. Flectonotus spec.<br />

15. Hyalinobatrachium uranoscopum 16. Aplastodiscus ehrhardti<br />

17. Aplastodiscus albosignatus 18. Cycloramphus izecksohni


19. Hypsiboas faber 20. Physalaemus olfersii<br />

21. Physalaemus nanus 22. Hypsiboas joaquini<br />

23. Trachycephalus spec. 24. Melanophryniscus admirabilis


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Dr. Axel Kwet, Diplombiologe, geboren 1965 in Esslingen am Neckar. Studium der Biologie<br />

an der Universität Tübingen. Seit 1995 zahlreiche Forschungsaufenthalte in Südbrasilien, 2000<br />

Promotion über die Biologie der Amphibien im Araukarienwald von Rio Grande do Sul. Seit<br />

2000 am Staatlichen Museum für Naturk<strong>und</strong>e Stuttgart, Abteilung Zoologie. Seit 2006 selbständige<br />

Tätigkeit als Redakteur <strong>und</strong> Lektor im NT-Verlag, Münster. 2. Vorsitzender der Deutschen<br />

Gesellschaft für Herpetologie <strong>und</strong> Terrarienk<strong>und</strong>e (DGHT). Forschungsschwerpunkt:<br />

Amphibien <strong>und</strong> Reptilien in Rio Grande do Sul, Santa Catarina <strong>und</strong> Uruguay sowie europäische<br />

Herpetofauna. Homepage mit zahlreichen Infos, Froschrufen <strong>und</strong> Fotos unter: http://<br />

www.kwet.de.


Der fünfte Stern im Kreuz des Südens –<br />

Die brasilianische Fahne <strong>und</strong><br />

ihre „interstellare“ Geschichte<br />

Ingrid Schwamborn<br />

Bonn / Fortaleza<br />

Resumo: Este artigo descreve a evolução da bandeira brasileira para<br />

sua forma atual e m<strong>und</strong>ialmente conhecida. Aponta-se<br />

para os elementos simbólicos trazidos de Portugal e para<br />

os aspectos que foram modificados ao longo dos séculos<br />

XIX e XX. Explica-se esta simbologia e abordam-se os problemas<br />

ligados à sua história, a forma como a bandeira foi<br />

introduzida em 19 de novembro de 1889, o conjunto de<br />

estrelas na esfera azul, com a quinta estrela no Cruzeiro do<br />

Sul, ali reproduzido, além do fato de a constelação aparecer<br />

‚invertida‘. É discutida ainda a afirmação de que esta<br />

imagem representaria o céu estrelado em 15 de novembro<br />

de 1889 – embora no hemisfério sul o Cruzeiro do Sul<br />

só seja visível de janeiro a junho. Comenta-se a origem do<br />

lema „ORDEM e PROGRESSO“ na faixa branca sobre a esfera<br />

azul, bem como o significado, para o Brasil e sua bandeira,<br />

do „positivismo“ criado por Auguste Comte, que<br />

deixou como legado o primeiro Templo Positivista inaugurado<br />

em 1881 no Rio de Janeiro, em funcionamento ainda<br />

hoje. Por último, mencionam-se os eventos programados<br />

para 2008 no Rio de Janeiro em comemoração do<br />

bicentenário da chegada da Corte Portuguesa ao Brasil,<br />

quando sempre se verão juntas as atuais bandeiras desses<br />

dois países – dando oportunidade de se perceber o estreito<br />

parentesco entre elas.<br />

Abstract: This article describes the evolution of the actual Brazilian<br />

flag, known in the whole world, and it is shown which<br />

symbolic elements have been brought from Portugal and<br />

which aspects have been modified in the course of the 19 th<br />

and 20 th centuries. The discussion revolves aro<strong>und</strong> this<br />

symbology and the problems associated with its history,<br />

the way how the flag was introduced on November 19 th ,<br />

1889, the set of stars in the blue circle and the fifth star in<br />

the Southern Cross there represented, besides the fact that<br />

this constellation appears ‚inverted‘; and furthermore the<br />

assertion will be discussed that the figure would represent<br />

277


278<br />

the starry sky of November 15th, 1889 – though in the southern<br />

hemisphere the Southern Cross can only be seen between<br />

January and June. The origin of the motto „ORDEM<br />

e PROGRESSO“ on the white belt over the blue circle will be<br />

explained, as well as the significance, for Brazil and its flag, of<br />

the „positivism“ created by Auguste Comte, which also led<br />

to the inauguration of the first Positivist Temple in Rio de<br />

Janeiro in 1881, still operating today. At last the events programmed<br />

for 2008 in Rio de Janeiro to commemorate the<br />

bicentenary of the arrival of the Portuguese Court in Brazil<br />

will be mentioned, when the actual flags of both countries<br />

will be always seen together – giving the opportunity to the<br />

reader to perceive the close relationship between them.<br />

Das „Kreuz des Südens“<br />

Wenn man in Deutschland einen<br />

Laien bittet, <strong>das</strong> Kreuz des Südens<br />

zu zeichnen, wird man meist<br />

ein Kreuz mit vier Sternen erhalten,<br />

die die Eckpunkte des christlichen<br />

Kreuz-Symbols darstellen.<br />

Wenige scheinen in Deutschland<br />

zu wissen, <strong>das</strong>s dieses Sternbild<br />

fünf Sterne umfasst <strong>und</strong> auf<br />

der Südhalbkugel nur in der ersten<br />

Hälfte des Jahres am Nachthimmel<br />

sichtbar ist. In der zweiten<br />

Jahreshälfte wird Das Kreuz des Südens von Orion („Himmelsjäger“) als bekanntestem<br />

zentralen Sternbild abgelöst. In der Nähe des ‚Kreuzes‘, an seiner linken<br />

Seite, sieht man am Himmel ein anderes,<br />

leicht zu erkennendes Sternbild, den<br />

seit der Antike so genannten Skorpion:<br />

drei Sterne sind fächerartig angeordnet,<br />

mit einem großen Schweif, der wie der<br />

untere Bogen eines Notenschlüssels erscheint.<br />

(Die drei in einer Linie angeordneten<br />

Sterne, die die Mitte des Orions<br />

markieren <strong>und</strong> durch die der ‚Himmelsäquator‘<br />

geht, werden in Brasilien populär<br />

„As três Marias“ genannt – sie kommen<br />

jedoch auf der brasilianischen Fahne<br />

nicht vor).<br />

Wer den Himmel von Rio de Janeiro<br />

im Januar oder im Juni betrachtet <strong>und</strong><br />

Karte des Sternbilds Skorpion<br />

anschließend auf die brasilianische Fah-


ne blickt, wird sich verw<strong>und</strong>ert die Augen reiben.<br />

Auf den ersten Blick erkennt man, <strong>das</strong>s es sich im<br />

Zentrum der Fahne um <strong>das</strong> Sternbild des ‚Kreuzes‘<br />

handelt, jedoch seitenverkehrt – der Skorpion<br />

befindet sich hier rechts neben dem Kreuz des<br />

Südens <strong>und</strong> der fünfte Stern liegt links, statt rechts<br />

unter der Querachse des Kreuzes.<br />

Auf meine entsprechende Frage hin, antwortete<br />

mir vor einigen Jahren der bekannte<br />

brasilianische Astronom Ronaldo Rogério de<br />

Freitas Mourão, Rio de Janeiro, mit einem Lächeln,<br />

es handele sich in diesem Fall um <strong>das</strong><br />

Sternbild, so wie es sich einem Betrachter weit, sehr weit draußen im Weltraum<br />

bieten würde. Das erschien mir seltsam, <strong>das</strong> wollte ich bei Gelegenheit<br />

genauer untersuchen.<br />

Thomas Reiter, der deutsche Astronaut, der sich von Juli bis Dezember 2006<br />

in der Internationalen Raumstation (ISS) aufhielt <strong>und</strong> dabei sogar im Weltraum<br />

spazieren ging oder vielmehr arbeitete, könnte Auskunft darüber geben, was er<br />

von dort oben gesehen hatte, aber die 400 km Entfernung von der Erde sind bei<br />

Weitem nicht ausreichend für eine externe Sicht des Weltraumes. Nicht einmal<br />

ein Blick vom Mars auf unseren Planeten wäre dafür ausreichend. Ein Mensch<br />

oder ein Roboter müsste über den Weltraum hinaus gelangen, um <strong>das</strong> seitenverkehrte<br />

Sternbild des Kreuzes ‚in natura‘ zu sehen. Somit wäre die brasilianische<br />

Fahne tatsächlich die Fahne einer sehr fernen Zukunft (cf. Schlagwort<br />

„Brasilien – Land der Zukunft“).<br />

Ein verwirrendes Sternenbild<br />

Eine mögliche Erklärung für die seitenverkehrte Abbildung dieses Ausschnitts<br />

aus dem Sternenhimmel auf der brasilianischen Fahne könnte man darin finden,<br />

<strong>das</strong>s in der Eile, eine neue Fahne innerhalb einer Woche (15.- 19.11.1889) zu schaffen,<br />

die Frauen aus Benjamin Constant Botelho de Magalhães’ Familie, die die erste<br />

Fahne stickten, als Vorlage ein<br />

transparentes Blatt hatten, <strong>das</strong> sie<br />

ungewollt umgedreht zum Abpausen<br />

mit Stecknadeln auf den blauen<br />

Kreis in der grün-gelben Fahne<br />

geheftet haben könnten (cf.<br />

Das Gemälde A Pátria, 1919, von<br />

Pedro Bruno im Palácio da República,<br />

Rio de Janeiro).<br />

Dies erklärt allerdings nicht,<br />

warum der „Skorpion“ auf der<br />

brasilianischen Fahne nicht nur<br />

seitenverkehrt, sondern im oberen<br />

Teil – heute – nur zwei, im Pedro Bruno: A Pátria (Ölgemälde, 1919)<br />

279


280<br />

unteren dagegen drei Sterne aufweist <strong>und</strong> dadurch zusätzlich von oben nach<br />

unten gedreht, doppelt ‚invertiert‘ erscheint.<br />

Diese verwirrende Sternbildgalerie soll den Sternenhimmel über Rio de Janeiro<br />

am Morgen des 15. November 1889, um 8 Uhr 30, darstellen, dem Augenblick der<br />

Verkündung der Abschaffung der Monarchie <strong>und</strong> der Einführung der Republik!<br />

So liest man es im Internet, wenn man „Bandeira do Brasil“ eingibt, wobei die<br />

anonymen Autoren von Wikipedia sich zweifellos auf offizielle Informationen der<br />

brasilianischen Regierung berufen.<br />

Dort steht auch Erstaunliches geschrieben: Die nicht ordnungsgemäße Wiedergabe<br />

dieser Anordnung der Sterne sei strafbar! Viele brasilianische Hobbykünstler<br />

müssten sich demnach in Acht vor dem Gesetz nehmen, denn auf vielen kunsthandwerklichen<br />

Objekten oder T-Shirts werden die Sterne auf der gemeinten<br />

Landesfahne haufenweise <strong>und</strong> nach Gutdünken der Künstler angeordnet (die Verfasserin<br />

dieser Zeilen hat eine Sammlung „Falscher brasilianischer Fahnen“ angelegt).<br />

Viele Leute in Brasilien <strong>und</strong> anderswo scheinen nicht bemerkt zu haben, <strong>das</strong>s<br />

die Sterne in der brasilianischen Flagge <strong>das</strong> Sternbild des Kreuz des Südens, den<br />

Skorpion, dazu noch <strong>das</strong> Südliche Dreieck, den Großen H<strong>und</strong> <strong>und</strong> weitere einzelne<br />

Sterne aus dem Bild der Wasserschlange <strong>und</strong> der Jungfrau darstellen sollen.<br />

Diese Fahne wurde von dem Philosophen, Mathematiker <strong>und</strong> Anhänger des<br />

Positivismus, Raim<strong>und</strong>o Teixeira Mendes (1855-1927) geplant. Zusammen mit Miguel<br />

Lemos (1854-1917), dem Gründer der Positivistischen Religion in Brasilien, <strong>und</strong><br />

Benjamin Constant Botelho de Magalhães (1836-1891), dem Ingenieur, General<br />

<strong>und</strong> Professor an der Polytechnischen Schule <strong>und</strong> später an der Escola Militar von<br />

Rio de Janeiro, wurde diese Fahne entworfen. Die Anordnung der Sterne in unterschiedlicher<br />

Größe (1 bis 5) lieferte der Ingenieur Manuel Pereira Reis (1837-1922),<br />

seit 1881 Professor für Astronomie, ebenfalls an der Polytechnischen Schule (Technische<br />

Hochschule) von Rio de Janeiro. Die künstlerische Ausführung wurde dem<br />

‚positivistischen‘ Maler Décio Vilares (1851-1931; nach ihm ist auch eine Straße in<br />

Copacabana benannt) aus Rio de Janeiro übertragen (MOURÃO 1998, S. 86).<br />

Sterne <strong>und</strong> Streifen<br />

Am Morgen des 15. November 1889 brach in Rio de Janeiro eher zufällig –<br />

vergleichbar dem „Mauerfall“ in Berlin, am 9. November 1989! – die Brasilianische<br />

Republik aus, unter Führung der Militärs, die darauf nicht wirklich vorbereitet waren.<br />

Noch Jahre danach stritt man sich darüber, wer der Urheber der Ausrufung<br />

der Republik <strong>und</strong> somit des Endes der Monarchie gewesen sei. In einem Gedicht<br />

von Arthur de Azevedo wurde dies 1895 in der Zeitung, O Paiz (Das Land), in einem<br />

Gedicht zusammengefasst, in dem es heißt, in einem Gemälde werde Benjamin als<br />

„f<strong>und</strong>ador“, als Begründer, Deodoro als „proclamador“, Verkünder, Floriano (Peixoto)<br />

als „consolidador“, Stabilisator, <strong>und</strong> Prudente (de Morais) als „pacificador“, eine Art<br />

„Streitschlichter“ der Republik dargestellt (CARVALHO 2006, S. 37).<br />

Marschall Deodoro da Fonseca (1827-1892) stellte sich an die Spitze der neuen<br />

Bewegung. Er schwenkte zuerst seinen Hut, wie man auf einem Gemälde von<br />

Henrique Bernadelli sehen kann (ibd., S. 97), manche meinten, er grüße noch<br />

Kaiser Pedro II., dessen persönlicher Fre<strong>und</strong> er war. Die bisherige Fahne der bra-


silianischen Monarchie konnte er nicht mehr hochhalten <strong>und</strong> eine neue Fahne<br />

stand ihm zu diesem Zeitpunkt, am frühen Vormittag des 15. November 1889,<br />

nicht zur Verfügung.<br />

Die Anhänger der ersten brasilianischen Republik holten eher aus Verlegenheit<br />

die Fahne hervor, die eigentlich als Fahne des „Clubs der Republikaner“, der<br />

„Liberalen“ unter Führung des Arztes, Diplomaten <strong>und</strong> späteren Senators Lopes<br />

Trovão, gedacht war: ein längliches Rechteck mit breiten grün-gelben Streifen im<br />

Querformat <strong>und</strong> oben links in einem schwarzen Quadrat 20 weiße Sterne, entworfen<br />

nach dem Vorbild der Fahne der USA, „stars and stripes“. Mit dieser ersten<br />

Fahne marschierten sie durch die Straßen von Rio de Janeiro, bis José do<br />

Patrocinio, einer der Kämpfer für die Abschaffung der Sklaverei, sie in der Câmara<br />

Municipal, im Rathaus der brasilianischen Hauptstadt Rio de Janeiro, aufstellte.<br />

Ein anderes Exemplar der neuen Fahne, jedoch mit blauem Quadrat für die<br />

weißen, aufgereihten Sterne, wehte auf dem Marine-Schiff Alagoas, mit dem der<br />

entthronte Kaiser Pedro II. <strong>und</strong> seine Familie am Morgen des 17. November 1889<br />

ins Exil nach ‚Europa‘ (Lissabon, Paris) gebracht wurden. Die erste Fahne befindet<br />

sich heute im Historischen Stadt-Museum, die zweite wurde von dem Schiff entfernt,<br />

als es auf der Höhe von São Vicente Brasilien verließ. Sie wurde zunächst im<br />

Marine-Museum aufbewahrt, bevor sie ins Museu da República in Rio de Janeiro<br />

gelangte (CARVALHO 2006, S. 110-111, 105).<br />

Die zwanzig Sterne auf dieser Fahne sollten den damaligen zwanzig Provinzen<br />

der neuen Republik entsprechen, wie beim Vorbild der nordamerikanischen Fahne.<br />

Diese Flagge galt jedoch nur vom 15. bis 19. November 1889. (Nach dem<br />

Verlust der Provinz Uruguay im Jahre 1828 unter Pedro I. hätte die Fahne von<br />

1822 mit den 19 Sternen einen Stern verlieren sollen, aber statt dessen erhöhte<br />

1870 sein Sohn Pedro II. die Zahl der Sterne auf 20, indem er die beiden durch<br />

Teilung der Provinz Grão-Pará neu geschaffenen Provinzen Amazonas <strong>und</strong> Pará<br />

als zwei weitere Sterne in den blauen Ring um <strong>das</strong> Kreuz des Christusordens in<br />

seinem monarchischen Emblem aufnahm; cf. Bandeira do Brasil, Wikipedia,<br />

„Curiosidades“, Stand: 19.06.2007; siehe Farbtafel 2 nach S. 320).<br />

Zeitweise hatte man auch daran gedacht, die französische Fahne zu übernehmen,<br />

es wurde anfangs auch die Marseillaise gesungen, <strong>das</strong> Lied der französischen<br />

Revolutionäre von 1789, <strong>das</strong> Rouget de Lisle im April als Kampflied für die Rheinarmee<br />

komponiert hatte <strong>und</strong> <strong>das</strong> am 10. August 1792 bei der Ausrufung der Republik<br />

gesungen <strong>und</strong> 1794 offiziell anerkannt wurde (CARVALHO 2006, S. 122-123).<br />

Dieses Lied ist heute immer noch die französische Nationalhymne (gesungen auch<br />

am 6. Mai 2007 von Anhängern des neu gewählten französischen Präsidenten,<br />

Nicolas Sarkozy, der seine erste Rede am Wahlabend mit „Vive la République!“ beendete.<br />

Die unterlegene Sozialistin, Madame Royal, hätte dies ebenso getan).<br />

Auch „A República“ wurde nach französischem Vorbild als hübsche junge Frau mit<br />

rosa Wangen <strong>und</strong> „phrygischer Mütze“ (cf. die kuriose weiße Mütze der blauen Comic-Zwerge,<br />

der „Schlümpfe“) wie eine griechische Göttin von Décio Vilares gemalt<br />

(Museu da República, Rio de Janeiro), fand jedoch beim brasilianischen Volk keinen<br />

Anklang (ibd., S. 100). Ebensowenig fand eine neue positivistische Zeitrechnung oder<br />

die Anrede „cidadão“ nach dem Vorbild des „citoyen“ Anklang.<br />

Vor allem vermochten die neuen Republikaner auch nicht eine eigene brasilia-<br />

281


282<br />

nische Nationalhymne durchzusetzen, die durch einen Wettbewerb ermittelt<br />

wurde. Es handelte sich um ein Arrangement des Leiters der Musikhochschule<br />

von Rio de Janeiro, Leopoldo Miguez, <strong>und</strong> einen an die Marseillaise angelehnten<br />

Text des Schriftstellers Medeiros e Albuquerque. Diese Hymne erhielt daher als<br />

Trost die Bezeichnung „Hymne der Ausrufung der Republik“ (ibd., S. 127).<br />

Das Volk verlangte nach der altbewährten Hymne der Unabhängigkeit von 1822<br />

<strong>und</strong> der Monarchie mit der Musik von Francisco Manuel da Silva (1795-1865), der<br />

ein modernisierter Text von Joaquim Osório Duque Estrada (1870-1927) unterlegt<br />

wurde. Gemäß Dekret Nr. 171 vom 20. Januar 1890 wurde dieses recht komplizierte<br />

Lied zur „Hymne der Republik der Vereinigten Staaten von Brasilien“ erklärt, was<br />

1922 <strong>und</strong> 1971 erneut bestätigt wurde (cf. MOURÃO 1998, S. 115). Und diese Hymne<br />

wird heute noch z. B. vor jedem internationalen Fußballspiel von den brasilianischen<br />

Berufsspielern gesungen: „ ... Ó Pátria amada... Pátria amada Brasil!“<br />

Neue Konstellationen<br />

Wie mit dem neuen, fremden Lied, so waren viele Brasilianer auch mit der<br />

neuen Fahne mit den Sternen <strong>und</strong> Streifen nicht einverstanden. Der Legende<br />

nach gehörte auch der Präsident der Provisorischen Regierung, Marschall Deodoro<br />

da Fonseca, zu dieser Gruppe. Er soll wütend seine Ablehnung der „nordamerikanischen“<br />

Fahne mit folgenden Worten begründet haben: „Senhores, mudamos o<br />

regime, não a patria!“ (Meine Herren, wir haben eine neue Regierung, aber kein<br />

neues Vaterland! – Cf. Deodoro da Fonseca, Wikipedia, Stand: 20.6.2007, S. 5).<br />

Am 19. November 1889 wurde die Nachahmung des amerikanischen Sternenbanners,<br />

die „Provisorische Fahne“, von einer – auf den ersten Blick – völlig<br />

neuen Fahne abgelöst.<br />

Doch diese neue Fahne knüpfte so intelligent an die Fahne der Tradition an <strong>und</strong><br />

wies so deutlich in die Zukunft, <strong>das</strong>s sie trotz des anfänglichen Widerstands einiger<br />

Anhänger der Monarchie oder des nordamerikanischen Vorbilds noch heute Gültigkeit<br />

hat <strong>und</strong> als untrennbar zur brasilianischen Nation gehörig empf<strong>und</strong>en wird.<br />

Im Zentrum dieser neuen, revolutionären Fahne steht <strong>das</strong> Sternbild des Kreuz<br />

des Südens mit fünf Sternen, rechts daneben erkennt man als erstes <strong>das</strong> Sternbild<br />

des Skorpions. Die blaue Kugel, der Sternenhimmel, verläuft in einer gelben Raute,<br />

umgeben von einem grünen, länglichen Rechteck. Quer über der blauen Kugel<br />

mit den weißen Sternen verläuft ein weißes Band, <strong>das</strong> in einem Bogen von der<br />

Mitte links oben leicht nach rechts unten verläuft <strong>und</strong> die Ekliptik (Umlaufbahn)<br />

oder den Tierkreis (Zodiak) darstellen soll (alles seitenverkehrt). Es trägt ein erstaunliches<br />

Motto, <strong>das</strong> stets mit grünen Großbuchstaben geschrieben sein muss:<br />

ORDEM E PROGRESSO (CARVALHO 2006, S. 105; siehe Farbtafel).<br />

Mit dem Dekret Nr. 4 wurden am 19. November 1889 diese Fahne <strong>und</strong> ein<br />

neues Staatswappen (Brasão do Estado; siehe Farbtafel), <strong>das</strong> ebenfalls <strong>das</strong> Kreuz des<br />

Südens im Zentrum hat, von der Provisorischen Regierung, d. h. von Marschall<br />

Deodoro da Fonseca, als neue Staatssymbole institutionalisiert. Sie gelten mit kleinen<br />

Änderungen bis heute, <strong>und</strong> der 19. November wird als Dia da Bandeira jedes Jahr, vor<br />

allem in den Schulen, gefeiert. In Portugal ist der 1. Dezember der Dia da Bandeira, zur<br />

Erinnerung an die Einführung der Fahne der neuen Republik am 1. Dezember 1911.


Zu den anfänglichen 20 Sternen in der Fahne, entsprechend den 20 brasilianischen<br />

Provinzen in den letzten Jahren der Monarchie, kam für die Stadt Rio de<br />

Janeiro als Distrito Federal ein weiterer Stern hinzu. Das Staatswappen wies in dem<br />

Ring um <strong>das</strong> Kreuz des Südens (nicht seitenverkehrt!) ebenfalls 21 Sterne auf.<br />

Später mussten bei Änderung der Zahl der B<strong>und</strong>esstaaten in der Fahne <strong>und</strong> im<br />

Staatswappen die neuen Sterne hinzugefügt werden.<br />

So kamen zu den ab 1968 bereits 23 Sternen am 11. Mai 1992 während der<br />

Regierung von Präsident Fernando Collor (von Präsident José Sarney vorbereitet)<br />

bisher vier neue Sterne hinzu, die die neu gegründeten B<strong>und</strong>esstaaten Rondônia,<br />

Roraima, Amapá <strong>und</strong> Tocantins repräsentieren. Insgesamt findet man heute im blauen<br />

Kreis des brasilianischen Staatswappens <strong>und</strong> auf der Fahne in der blauen Kugel<br />

26 Sterne, die die verschiedenen B<strong>und</strong>esstaaten repräsentieren. Der Distrito Federal<br />

mit Brasilia, seit 1960 neue Hauptstadt der B<strong>und</strong>esrepublik Brasilien, wird durch den<br />

untersten Stern in diesem Bild, den südlichen Polarstern (Polaris Australis, Sigma<br />

Octantis), vertreten. Insgesamt heute also 27 Sterne (MOURÃO 1998, S. 92-93). (Zufällig<br />

hat die blaue EU-Fahne nun ebenfalls 27 Sterne).<br />

Auf jeder brasilianischen Schullandkarte findet man die einzelnen Entsprechungen,<br />

z. B. ist dem fünften <strong>und</strong> kleinsten Stern im Kreuz des Südens, dem Epsilon, der<br />

B<strong>und</strong>esstaat Espirito Santo zugeordnet. Die B<strong>und</strong>esstaaten Minas Gerais <strong>und</strong> Bahia<br />

sowie Rio de Janeiro <strong>und</strong> São Paulo wurden, entsprechend ihrer geographischen<br />

Verteilung <strong>und</strong> zentralen Bedeutung in der neuen Republik Brasilien, durch die<br />

weiteren vier Sterne des Kreuz des Südens im Zentrum der Fahne repräsentiert.<br />

Die traditionelle Nummerierung der Sterne einer Konstellation wird nach<br />

Helligkeitsgrad mit den Buchstaben des griechischen Alphabets vorgenommen.<br />

Wer eine Sternenkarte aufschlägt (z. B. Die Sterne, Hallwag-Verlag), wird sofort<br />

erkennen, <strong>das</strong>s zum Sternbild Crux fünf Sterne (im Uhrzeigersinn) gehören: Alpha,<br />

Beta, Gamma, Delta <strong>und</strong> Epsilon. Dieser letztere <strong>und</strong> schwächste wird kurioserweise<br />

auf brasilianisch „a intrometida“, der „Eindringling, Eingeschobene“ genannt.<br />

Der fünfte Stern wird in der Flagge von Australien (gültig seit 1909) wiederge-<br />

283


284<br />

geben, dagegen hat die Flagge von Neuseeland (seit 1869, gültig seit 1902) nur<br />

vier Sterne (siehe Farbtafel). Offensichtlich ein Problem der Wahrnehmung.<br />

Wer ist der „Autor“ des „Kreuz des Südens“?<br />

Dies führt zur Frage, wer dieses Sternbild, <strong>das</strong> „Kreuz des Südens“, zum ersten<br />

Mal gesehen, beschrieben <strong>und</strong> benannt hat.<br />

War es der deutsche Astronom <strong>und</strong> Jurist Johannes Bayer (1572-1625) in seinem<br />

Himmelsatlas Uranometria<br />

(Augsburg 1603), wo er innerhalb<br />

des Sternbildes des Zentaurs<br />

<strong>das</strong> ‚Kreuz‘ mit nur vier Sternen<br />

identifizierte? Bayer hat auch als<br />

erster in den Sternbildern die<br />

Nummerierung der Sterne mit<br />

dem griechischen Alphabet im<br />

Uhrzeigersinn eingeführt, beginnend<br />

mit dem hellsten Stern.<br />

Oder war es der bekannte dänische<br />

Astronom Tycho Brahe<br />

(1546-1601), der in Rostock stu-<br />

Johannes Bayer: Centaurus<br />

dierte <strong>und</strong> ab 1599 in Prag für Kaiser<br />

Rudolf II. als Astronom tätig war? Sein Assistent wurde Johannes Kepler. In<br />

Wandsbeck bei Hamburg veröffentlichte Tycho Brahe seine Himmelsmechanik,<br />

Astronomiae Instauratae Mechanica, 1598 („Die Neuere Astronomische Instrumentenlehre“,<br />

Reprint 1996, Prag).<br />

Oder war es der deutsche Astronom Jakob Bartsch? Laut Internettext von W.<br />

Tost, 01/99, herausgegeben von der Wilhelm-Foerster-Sternwarte (Berlin), habe<br />

Bartsch 1624 dem Sternbild den Namen Kreuz des Südens gegeben <strong>und</strong> es aus<br />

dem Sternbild Zentaur, dem es bis dahin zugeordnet gewesen sei, herausgelöst.<br />

Dies die deutsche Sicht der Sachlage.<br />

Mestre João<br />

Unter den Lusitanisten besteht jedoch kein Zweifel, wer <strong>das</strong> ‚Kreuz‘ zum ersten<br />

Mal beschrieben <strong>und</strong> gezeichnet hat: Der als „Mestre João“ bekannte Verfasser<br />

des Briefes an Dom Manuel II. war der Arzt („físico“), auch Physiker, <strong>und</strong> Chirurg<br />

(„cirurgião“) des portugiesischen Königs. Er hat erstmals die Sternenkonstellation<br />

beschrieben, die ein Kreuz darstellt, <strong>und</strong> geschildert, wie man die Entfernung zum<br />

Südpol messen könne. Er nannte dieses Sternenbild Crux, „<strong>das</strong> Kreuz“ <strong>und</strong> stellte<br />

einen Vergleich mit dem „carro“, dem Großen Wagen bzw. Großen Bär als Leitbild<br />

her, dem bekannten Sternbild in der Nähe des Nordpols, <strong>das</strong> man von überall auf<br />

der Nordhalbkugel sehen kann. Die Sterne des Kreuzes seien fast so groß wie die<br />

des Großen Wagens, aber die genaue Position der Sterne könne er mit den „indischen<br />

Tafeln“ („las tablas de la India“, Sonnenstandstabellen) nicht angeben, da<br />

<strong>das</strong> Schiff voll beladen <strong>und</strong> sehr klein sei <strong>und</strong> ständig schwanke. Um die Position<br />

Tartu Observatory Virtual Museum


des Schiffes <strong>und</strong> damit die gewünschte Fahrtrichtung zu bestimmen, sei es besser,<br />

mit dem Astrolabium die Höhe der Sonne im Zenit zu messen.<br />

Mit diesem Instrument hatten Mestre João, der Lotse des Flottenkapitäns Pedro<br />

Álvares Cabral <strong>und</strong> der Lotse von Sancho de Tovar die Position des ersten Landeplatzes<br />

der Portugiesen in Brasilien gemessen: Am Montag, dem 27. April 1500, um<br />

zwölf Uhr mittags stellten sie mit dem Astrolabium 56 Grad zur Höhe der Sonne<br />

fest, dies bedeute, <strong>das</strong>s sie sich auf dem 17. Breitengrad befänden (PÖGL 1986,<br />

S. 91; GARCIA 2000, S. 35-36). Heute wird der Breitengrad von Porto Seguro mit<br />

16° 26’ bzw. 16° 43’ angegeben (GARCIA 2000,<br />

S. 36, Anm. 204: „a ponta da Coroa Vermelha<br />

na baía de Cabrália, 16° 20´“).<br />

Wer dieser „Mestre João“ war, ist umstritten.<br />

Carl Oberacker gibt eine offenbar in São Paulo<br />

aufgetauchte Meinung wieder, es handele sich<br />

bei „Mestre João“, der seinen Brief tatsächlich<br />

mit „Johns“, d. h. Johannes, signierte, um den<br />

deutschen Gelehrten Johann Emenelaus oder<br />

Emmerich (OBERACKER 1968, S. 52-53).<br />

Mourão spricht von „Mestre João Faras“, ohne<br />

dies genauer zu erklären (MOURÃO 2000, S.<br />

130, 133, 144, 146, 377). Garcia berichtet von<br />

„João Farras“, der die Übersetzung des Werkes<br />

De situ Orbis von Pompónio Mela ins Spanische<br />

ausgeführt <strong>und</strong> sich dort vorgestellt habe als<br />

„Mestre Joan Faras, bachirel em artes y mediçina,<br />

fisico y sororgiano dell muj alto Rey de Purtugall<br />

Dom Manuell“. Die Unterschrift des Briefes aus<br />

Brief des Mestre João<br />

Brasilien deutete Garcia, etwas mutig, als<br />

„Joahnes artium et medicine bachalarius“. Gut lesbar ist die von Garcia wiedergegebene<br />

Einleitung der verschlüsselten Unterschrift, links im Bild: „Do criado de vossa<br />

alteza e vosso leal servidor“. (GARCIA 2000, S. 35). Offensichtlich eine Höflichkeitsformel<br />

in portugiesischer Sprache. „Mestre João“, diese historische Persönlichkeit<br />

verdiente es, weiter erforscht zu werden.<br />

Seine Angaben zur Ortsbestimmung machte Mestre João in dem vorwiegend<br />

auf Spanisch geschriebenen Brief, den er dem von Gaspar de Lemos kommandierten<br />

Proviant-Schiff mitgab, <strong>das</strong> Pedro Álvares Cabral mit der Nachricht von der<br />

‚Entdeckung‘ Brasiliens nach Lissabon zu seinem König am 2. Mai 1500 zurückschickte,<br />

während die Flotte am nächsten Tag weiter in Richtung Indien fuhr.<br />

Zusammen mit dem Brief des Pero Vaz de Caminha <strong>und</strong> eines namenlos gebliebenen<br />

Lotsen ist dies <strong>das</strong> einzige erhaltene Dokument, <strong>das</strong> diese erste offizielle Entdeckungsreise<br />

der Portugiesen nach Brasilien dokumentiert.<br />

Dieser Brief enthält einen Satz, der Historikern viel Kopfzerbrechen bereitet<br />

hat: Um zu wissen, wo <strong>und</strong> in welchem Land sich die Flotte an diesem Tag befinde,<br />

solle sich seine Königliche Hoheit nur die Weltkarte bringen lassen, die Pero Vaaz<br />

Bisagudo besitze (Pögl 1986, S. 91).<br />

In seinem 2002 veröffentlichten Sachbuch, 1421 - Als China die Welt entdeckte,<br />

285


286<br />

vertritt der pensionierte britische U-Boot-Kapitän Gavin Menzies die Meinung, es<br />

könne sich hierbei nur um die Weltkarte handeln, die die Chinesen nach ihrer<br />

Weltumseglung im Jahre 1421 erstellt hatten <strong>und</strong> von der der portugiesische<br />

König eine geheime Kopie von 1428 besessen habe, die ihm von Heinrich dem<br />

Seefahrer (1394-1460) vererbt worden sei. Dieser hatte sie vermutlich von seinem<br />

weniger bekannten, aber weit gereisten Bruder Dom Pedro erhalten, der sie 1428<br />

in Venedig erworben habe. Dorthin habe sie vermutlich der Venezianer Niccolò<br />

da Conti (ca. 1395-1469), ein bedeutender Kaufmann aus dem Orient, gebracht.<br />

Kolumbus habe „sicherlich“ eine Kopie dieser Karte besessen (MENZIES 2003,<br />

S. 104, 122, 126; zu Dom Pedro S. 128f.).<br />

Menzies behauptet ebenfalls, die Chinesen hätten „<strong>das</strong> Kreuz des Südens“ gekannt<br />

<strong>und</strong> sich bei ihrer Seefahrt auf der Südhalbkugel an diesem Sternbild orientiert<br />

(Menzies 2003, S. 108, 151f, 166f, 172). Einen Beweis für diese Behauptung<br />

bleibt Menzies schuldig.<br />

Der Flottenkapitän Pedro Álvares Cabral kannte selbstverständlich die Möglichkeit,<br />

sich nach diesem Sternbild auf der Südhalbkugel zu orientieren <strong>und</strong> mit Hilfe der<br />

Position des südlichsten Sterns den Abstand zum Südpol zu berechnen. Die Schiffslotsen<br />

richteten sich jahrh<strong>und</strong>ertelang nach den Sternen, deren ‚Mechanismus‘ sie<br />

kennen mussten. Auch heute noch sind diese Kenntnisse für den Notfall hilfreich.<br />

Cabrals Eile<br />

Historische Tatsache ist, <strong>das</strong>s nach der Rückkehr der Überlebenden der ersten<br />

Flotte von Vasco da Gama aus Indien nach Lissabon am 9. September 1499 der<br />

portugiesische König große Eile hatte, eine neue Flotte zusammenzustellen. Am 15.<br />

Februar 1500 wurde Pedro Álvares Cabral von König Manuel II. zum Flottenkapitän<br />

ernannt (cf. MOURÃO 2000, S. 248). Überraschend ist auch heute noch die Tatsache,<br />

<strong>das</strong>s – soweit bekannt – der Adlige Cabral nie zuvor zur See gefahren war!<br />

Er musste sich also ganz auf die Fachleute des Schiffbaus <strong>und</strong> der Navigation,<br />

wie zum Beispiel den erfahrenen bürgerlichen Kapitän Bartolomeu Dias verlassen,<br />

der die gesamte Küste um Afrika herum <strong>und</strong> sicher noch weitere Gebiete <strong>und</strong><br />

Meeresströmungen experimentell erforscht hatte. Weiterhin gehörte Nicolau<br />

Coelho zu den Kapitänen der neuen Flotte, er war mit Vasco da Gama nach vielen<br />

Kämpfen <strong>und</strong> Entbehrungen nach Portugal zurückgekehrt.<br />

Nur ein halbes Jahr nach der Rückkehr Vasco da Gamas verließ am Montag,<br />

dem 9. März 1500, die bis dahin größte Flotte der Welt die Anlegestelle in Restelo,<br />

im heutigen Lissabonner Vorort Belém („Torre de Belém“): 13 Schiffe mit 1200<br />

Mann Besatzung, wie der Geschäftsmann <strong>und</strong> Gelehrte João de Barros 1552 berichtet<br />

(Ausg. BAIÃO 1932, S. 171).<br />

Am 22. April 1500 sahen sie Land <strong>und</strong> einen Berg, einen Meilenstein an der<br />

Küste, den man von weitem erkennen konnte, vielleicht sogar die erste sichtbare<br />

Erhöhung, wenn man von Norden kam. Segler richten sich nach solchen geographischen<br />

Markierungen: Dieser Berg erstaunte weder Pero Vaz de Caminha noch<br />

Mestre João – er war offensichtlich in Portugal bekannt! Und Cabral hatte sofort<br />

einen – bis heute gültigen – Namen für ihn: Monte Pascoal, Osterberg.<br />

Ebenso hatte er sofort einen Namen für <strong>das</strong> neue Land, von dem sie noch


nicht wussten, ob es Festland oder eine große Insel war: Ilha da Vera Cruz, Insel des<br />

Wahren Kreuzes (Caminha, Carta, Ausg. ARROYO 1976, S. 45, 64). Von Dom Manuel<br />

wurde es dann in einem Brief an die spanischen Könige am 29. Juli 1501 offiziell<br />

„Terra de Santa Cruz“, Land des Heiligen Kreuzes, genannt (Ausg. GARCIA 2000, S.<br />

41-42): Die Expedition war vom Ordem de Cristo, der portugiesischen Nachfolgeorganisation<br />

des 1312 von Papst Clemens V. verbotenen Templerordens, gesponsert<br />

worden! João de Barros berichtet, <strong>das</strong>s bei der Messe zur Verabschiedung der Flotte<br />

in Belém am Sonntag, dem 8. März 1500, „uma bandeira da cruz da ordem da<br />

cavalaria de Christo“ vom Bischof Diogo Ortiz gesegnet <strong>und</strong> anschließend dem<br />

capitão-mor Pedro Álvares Cabral übergeben worden sei (BAIÃO 1932, S. 171).<br />

Diese Fahne, „a nossa bandeira“, mit dem roten Kreuz auf weißem Gr<strong>und</strong> (s. Farbtafel),<br />

nicht die Fahne des portugiesischen Königs, wurde am ersten Sonntag in Brasilien,<br />

am 26. April 1500, während der kleinen ersten Messe neben dem improvisierten<br />

Altar aufgestellt: „Ali estava com o Capitão a bandeira de Christo, com que saíra de<br />

Belém“, <strong>und</strong> am Freitag, dem 1. Mai 1500, bei der ersten großen Messe mit indianischem<br />

Publikum wurde sie vermutlich neben einem großen Holzkreuz in den brasilianischen<br />

Boden eingepflanzt (ARROYO 1976, S. 51, 61). Aber, wie bekannt, konnte<br />

sich der christliche, offizielle Name von Beginn an nicht gegen „Brasil“, <strong>das</strong> „rote<br />

Holz“, durchsetzen, worin Barros <strong>das</strong> „Werk des Teufels“ sah (BAIÃO 1932, S. 175).<br />

Am 2. Mai 1500 (es galt noch der „julianische“ Kalender, 1582 wurde der heute<br />

gültige „gregorianische“ Kalender in Portugal eingeführt) fuhr die Flotte bereits<br />

weiter, der erst nord-südlichen, dann west-östlichen Meeresströmung folgend,<br />

zielsicher in Richtung „Kap der Guten Hoffnung“ <strong>und</strong> Indien, dem eigentlichen<br />

Reiseziel der Flotte.<br />

Cabral wußte allem Anschein nach, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Sternbild des „Kreuzes“ nur in der<br />

ersten Jahreshälfte – von Januar bis Juni – auf der Südhalbkugel nachts sichtbar<br />

ist. Der südlichste <strong>und</strong> hellste Stern dieser Konstellation, Alphacrux, in Brasilien<br />

auch „estrela de Magalhães“ genannt (MOURÃO 1998, S. 94) zeigt meist in Richtung<br />

Südpol. Daher Cabrals Eile, aus Brasilien fortzukommen.<br />

Jedoch in der Nähe des Kaps der Guten Hoffnung wurde die Flotte am 24. Mai<br />

1500 (GARCIA 2000, S. 11, Anm. 16) von einer Monsterwelle überrollt, fünf Schiffe<br />

versanken plötzlich <strong>und</strong> spurlos, darunter <strong>das</strong> Schiff mit dem Entdecker der afrikanischen<br />

Küste für Portugal, Bartolomeu Dias!<br />

Ob Mestre João ebenfalls zu den Verunglückten zählte, ist nicht bekannt, aber<br />

wahrscheinlich, da man später nichts mehr von ihm hörte. Auch der Schreiber<br />

des heute berühmten Briefes, Pero Vaz de Caminha, kehrte nicht nach Lissabon<br />

zurück, er wurde in Indien, wo er Stadtkämmerer der Portugiesen in Calicut war,<br />

bei einem Aufstand der Einheimischen am 16. Dezember 1500 ermordet (ibd., S.<br />

17). Cabral kehrte mit nur vier Schiffen, wie Kolumbus, über die Azoren, mit Hilfe<br />

der „volta do largo“ (ALBUQUERQUE 1983, S. 31), dem Umweg oder Rückweg<br />

über <strong>das</strong> Weite Meer, dem Golfstrom folgend, nach Lissabon zurück.<br />

Auf seiner ersten Fahrt, die am 8. Juli 1497 ebenfalls in Restelo an der Mündung<br />

des Tejo-Flusses bei Lissabon begann (GIERTZ 1990, S. 35) folgte auch Vasco da<br />

Gama auf dem Weg nach Indien den Meeresströmungen im Südatlantik, so<strong>das</strong>s er<br />

höchstwahrscheinlich an der brasilianischen Küste entlangfuhr, <strong>und</strong> zusammen mit<br />

der Rückkehr eine Art ‚Achterbahnschleife‘ vollzog, entsprechend den Meeresströ-<br />

287


288<br />

mungen <strong>und</strong> Winden im Nord- <strong>und</strong> Südatlantik (s. Karte der Meeresströmungen bei<br />

MENZIES 2003, S. 115). Gama hatte tatsächlich Cabral empfohlen, nach den<br />

Capverdischen Inseln „a volta do mar“ in Richtung Süden zu nehmen, also den „weiten<br />

Bogen im Meer“ – d. h. an der brasilianischen Küste entlang (GARCIA 2000, S. 11).<br />

Mestre João <strong>und</strong> die fünf Sterne<br />

Alle Dokumente, die die Schifffahrt betrafen, wurden von der portugiesischen<br />

Krone zur Geheimsache erklärt: Die Konkurrenz, vor allem die spanische, sollte<br />

nicht davon profitieren. Der Brief des Pero Vaz de Caminha wurde erst 1817 entdeckt<br />

<strong>und</strong> von dem Pater Aires de Casal in seiner Corografia Brasilica in Rio de<br />

Janeiro – mit Kürzungen – veröffentlicht. In der ersten Auflage von Robert Southeys<br />

History of Brazil (London 1810), hatte noch der Spanier Vincente Pinzon als „Entdecker<br />

Brasiliens“ gegolten (SOUTHEY 1976, S. 23). Nach der Rekonstruktion dieser<br />

Reise 1975 durch den brasilianischen Admiral <strong>und</strong> Historiker Max Justo Guedes<br />

soll der Spanier Vincente Pinzón im Januar 1500 den heutigen Hafen der Stadt<br />

Fortaleza, Mucuripe, erreicht haben (MOURÃO 2000, S. 418). Dies hatte jedoch<br />

keine politische Bedeutung, denn dieses Land war – sicher nicht zufällig – bereits<br />

seit dem Vertrag von Tordesillas 1494 von Papst Alexander VI. der portugiesischen<br />

Krone zugeteilt worden, da dies der portugiesische König João II. durch eine Revidierung<br />

des Vertrags von 1493 gefordert hatte!<br />

Der Brief des Mestre João wurde von Francisco Adolfo<br />

Varnhagen entdeckt <strong>und</strong> erstmals 1843 in der kurz zuvor<br />

gegründeten Revista do Instituto Histórico e Geográfico<br />

Brasileiro veröffentlicht (VARNHAGEN 1943). Das Original<br />

befindet sich, wie auch Caminhas Brief, im portugiesischen<br />

Nationalarchiv, Torre do Tombo, in Lissabon.<br />

Dieser wertvolle <strong>und</strong> zugleich geheimnisvolle Brief<br />

des Meister Johannes bringt eine Zeichnung des Sternbildes<br />

des „Kreuzes“ (PÖGL 1986, S. 95; GUEDES /<br />

LOMBARDI 1990, S. 164) <strong>und</strong> seine Beziehung zum<br />

Südpol. Ohne Zweifel: Das Kreuz des Mestre João besteht<br />

aus fünf Sternen! Der fünfte Stern ist allerdings<br />

etwas zu weit nach links (oder rechts) platziert, so<strong>das</strong>s<br />

<strong>das</strong> Bild eines ‚echten‘ Kreuzes entsteht.<br />

Etwa zur gleichen Zeit soll Amerigo Vespucci nur<br />

vier Sterne in diesem Kreuz gesehen haben, wie<br />

Eduardo Prado (1860-1901, Sohn eines wohlhabenden<br />

brasilianischen „Kaffeebarons“, Sammler, Reisen-<br />

Zeichnung des Mestre João<br />

(Ausschnitt aus Abb. S. 285)<br />

der, Journalist, Autor <strong>und</strong> Mitbegründer der Brasilianischen Literaturakademie)<br />

in seiner posthum veröffentlichten Streitschrift A Bandeira Nacional (1903) berichtet:<br />

Auf einer Graphik von Philippe Gallé (1557-1612) aus seinem Besitz könne man<br />

Amerigo Vespucci sehen, wie er – mit einem Astrolabium in der Hand – <strong>das</strong> Kreuz<br />

des Südens betrachte, mit folgender Unterschrift:<br />

Americus Vespuccius cum quattuor stellis, crucem silente nocte reperit. 1<br />

(PRADO 1903, S. 24-25).


Vermutlich wurden Vespucci <strong>und</strong> seine Berichterstatter von Ptolomäus<br />

beeinflusst, der ca. 150 Jahre nach Christi Geburt in seinem erst im Mittelalter<br />

wieder entdeckten Lehrbuch Almagest auch nur vier Sterne eines Kreuzes innerhalb<br />

des Sternbildes Zentaur beschrieben haben soll.<br />

Dass Ptolomäus, ein Grieche, 1400 Jahre vor Mestre João in Alexandria ein<br />

Sternbild mit dem griechischen Namen Zentaur sehen <strong>und</strong> benennen konnte,<br />

lag an der für Laien erstaunlichen Tatsache, <strong>das</strong>s die Konstellation Zentaur <strong>und</strong><br />

der Skorpion zu dieser Zeit noch über dem Äquator sichtbar waren. Sie haben<br />

sich im Laufe der Jahrh<strong>und</strong>erte aufgr<strong>und</strong> der Verschiebung der Erdachse, der<br />

Präzession, scheinbar nach Süden verschoben, wie Mourão im ausführlichen<br />

Anhang zu seiner umfangreichen Studie A astronomia na época dos descobrimentos<br />

im „Dicionário dos Descobrimentos“, beim Stichwort Cruzeiro do Sul bestens<br />

erklärt (MOURÃO 2000, S. 336-337).<br />

Warum aber bezog Mestre João im Gegensatz zu der bis dahin unbestrittenen<br />

Autorität des Claudius Ptolomäus den fünften Stern mit in <strong>das</strong> Bild des Kreuzes ein?<br />

Offensichtlich ein Problem der Wahrnehmung: Man sieht, was man sehen will<br />

oder gewohnt ist, zu sehen.<br />

As Quinas, die fünf Schilde<br />

Mestre João war vermutlich Spanier, ohne Zweifel aber im Dienste des portugiesischen<br />

Königs Manuel II., dem nach dem Vertrag von Tordesillas die eine Hälfte der<br />

Weltkugel ‚gehörte‘ (mit dem echten Indien <strong>und</strong> den später so genannten Philippinen,<br />

wo bereits der Islam Fuß gefasst hatte). Die Schiffe der zweiten Indien-Flotte<br />

waren alle mit der Fahne des Ordem de Cristo geschmückt: schlankes rotes Kreuz auf<br />

weißem Gr<strong>und</strong>. Wie oben erwähnt, wurde eine solche Fahne am 26. April in der<br />

„Neuen Welt“ aufgestellt, für die kleine Messe am Sonntag nach Ostern, dem „Weißen<br />

Sonntag“ („Domingo de Pascoela“), <strong>und</strong> danach für die erste große katholische Messe<br />

am 1. Mai 1500 zusammen mit dem großen Holzkreuz, zum Abschied vor der Weiterreise<br />

am nächsten Tag <strong>und</strong> als Zeichen der offiziellen Besitznahme dieses Landes für<br />

Portugal. Damit ersetzte dieses Holzkreuz den bis dahin entlang der afrikanischen<br />

Küste üblichen, kreuzförmigen „Padrão“, den portugiesischen Markierungsstein. Es ist<br />

zu vermuten, <strong>das</strong>s die christliche Fahne die Flotte weiter bis nach Indien begleitete<br />

(ARROYO 1976, S. 50-51, 61; cf. <strong>das</strong> Gemälde A Primeira Missa, von Victor Meirelles,<br />

1861, wo jedoch ein Pater eine Fahne mit <strong>und</strong>eutlichem Emblem hält; hierzu<br />

SCHWAMBORN 2000 <strong>und</strong> Victor Meirelles, Wikepedia, Stand: 23.06.2007).<br />

Aber hinter dieser Fahne des Christusordens stand seit h<strong>und</strong>erten von Jahren,<br />

seit ca. 1200, die Fahne der portugiesischen Könige: Die Fahne mit den Quinas,<br />

den von Anfang an blauen fünf Schilden in Kreuzform, umgeben von allmählich<br />

auf sieben reduzierten gelben Türmen, auf zunächst weißem, zuletzt dann auf<br />

grünrotem Hintergr<strong>und</strong> (s. Farbtafel). Eine volkstümliche Erklärung für dieses „uralte“<br />

Emblem: Die sieben Türme symbolisierten die Burgen, die D. Afonso III von<br />

den Mauren 1249 zurückerobert habe, die fünf Schilde sollen für die fünf W<strong>und</strong>en<br />

Christi stehen (cf. MEDINA 2006, S. 86f) (s. Farbtafel). Dieses im Gr<strong>und</strong>e<br />

1. Etwa: „Amerigo Vespucci, wie er in stiller Nacht <strong>das</strong> Kreuz mit vier Sternen betrachtet.“<br />

289


290<br />

achth<strong>und</strong>ertjährige Wappen auf der portugiesischen Fahne gilt, mit dem neuen<br />

grün-roten Hintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> der goldenen Armillarsphäre (s. Farbstafel) heute noch,<br />

seit 1910 unverändert! Keine andere europäische Fahne hat eine solch lange Geschichte<br />

wie die portugiesische <strong>und</strong> somit auch als deren bedeutendster ‚Ableger‘<br />

die heute in der ganzen Fernsehwelt bekannte brasilianische Fahne.<br />

Als Mestre João die Quinas in der Kreuzform am Süd-Himmel entdeckte, musste<br />

er an die Bestimmung Portugals als „Herrscherin der Südmeere“ <strong>und</strong> an die Verbreitung<br />

des christlichen Glaubens im Kampf gegen die ebenfalls aufkommende<br />

Weltherrschaft des Islam geglaubt haben. Das Kreuz am Himmel spiegelte sich auf<br />

der Erde in den Köpfen der „Entdecker“ <strong>und</strong> Eroberer wider. Was bisher kaum<br />

beachtet wurde: Das Kreuz des Südens mit dem fünften Stern war zur Zeit<br />

des Mestre João <strong>das</strong> christliche <strong>und</strong> speziell portugiesische Sternbild.<br />

Bezeichnenderweise wählte keine Regierung eines Spanisch sprechenden Landes<br />

Lateinamerikas <strong>das</strong> Kreuz des Südens als Symbol für die jeweilige Fahne, obwohl<br />

man auch in Argentinien, Peru, Chile, usw. <strong>das</strong> Kreuz des Südens in der ersten<br />

Jahreshälfte am Abendhimmel mit bloßem Auge erblicken kann. Und ebenso wenig<br />

hatten allem Anschein nach die Holländer mit Johann Moritz von Nassau ein<br />

‚Kreuz‘ am Südhimmel erkannt, jedenfalls berichtet Gaspar Barleus 1647 nichts<br />

darüber, er beschreibt jedoch basierend auf den Beobachtungen<br />

<strong>und</strong> Berechnungen von Nassaus „Astronom“,<br />

Georg Markgraf, die erste Sonnenfinsternis in<br />

diesen Breiten, am 13. November 1640 (BARLÉU 1974,<br />

S. 205). Sie fanden sich jedoch, wie es scheint, auch<br />

ohne ‚Kreuz‘ auf den Südmeeren zurecht.<br />

Das Logo des Mercosul oder Mercosur hat übrigens<br />

nur vier in Kreuzform angeordnete Sterne!<br />

Die portugiesische <strong>und</strong> die brasilianische Fahne – 1808-1889/1910<br />

Ein Vergleich der Geschichte der portugiesischen <strong>und</strong> der brasilianischen Fahne<br />

zeigt, wie eng beide miteinander verb<strong>und</strong>en sind.<br />

Als der Kronprinz João als ‚Flüchtling‘ vor Napoleons Heerscharen mit dem<br />

gesamten Hofstaat Portugals 1808 in Rio de Janeiro ankam, begann er <strong>das</strong> dortige<br />

Staatswesen neu zu ordnen, u. a. gründete er die noch heute bedeutendste brasilianische<br />

Bank, die auch in jeder Kleinstadt vertretene Banco do Brasil. Er brachte<br />

auch die bis dahin gültige portugiesische Flagge mit.<br />

Nachdem seine Mutter, Maria I., 1815 gestorben war, wurde er als João VI. per<br />

Akklamation zum König von Portugal erkoren, danach ernannte er sich selbst zum<br />

König von Portugal, Algarve <strong>und</strong> Brasilien, wodurch Brasilien als einziges Land in<br />

Südamerika plötzlich von einer Kolonie in den Stand eines „Königreichs“ erhoben<br />

wurde. Dadurch wurden zugleich auch alle Bestrebungen im Lande, nach nordamerikanischem<br />

Vorbild eine Republik zu gründen, unterdrückt, der Fähnrich „Tiradentes“<br />

war bereits 1791 den Märtyrertod für ein unabhängiges Brasilien gestorben.<br />

Für den neuen Verb<strong>und</strong> an Königreichen schuf João VI. per Dekret am 13. Mai<br />

1816 eine neue Fahne, die die Symbole beider Länder vereinte: Über die bis dahin<br />

gültige schlichte Fahne der Kolonie Brasilien – blauer Hintergr<strong>und</strong> mit goldener


Armillarsphäre, inspiriert von dem persönlichen Wappen Dom Manuel II. mit der<br />

damals neuen Armillarsphäre – wurde <strong>das</strong> Wappen der portugiesischen Könige<br />

gelegt: die fünf Schilde, umgeben von sieben Türmen in einem roten Quadrat,<br />

darüber die Königskrone (cf. Mourão 1998, S. 105; s. Farbtafel). Diese Fahne galt in<br />

Brasilien <strong>und</strong> in Portugal, in Portugal bis 1830, in Brasilien nur bis 1822, bis zur<br />

Unabhängigkeitserklärung des Königreichs Brasilien von Portugal.<br />

Am 18. September 1822 wurde von Pedro I. in Brasilien die erste eigene, brasilianische<br />

Fahne geschaffen, die sich jedoch eng an die vorherige anlehnte: auf einer<br />

goldenen Armillarsphäre in blauer Kugel nicht mehr die fünf Schilde in Kreuzform,<br />

sondern ein Kreuz des Ordem de Cristo, umgeben von einem blauen Sternenkranz mit<br />

19 weißen Sternen (s. Farbtafel). Diese Symbole werden eingerahmt von einem Kaffeepflanzenzweig<br />

auf der linken <strong>und</strong> einem Tabakzweig auf der rechten Seite. Über dem<br />

Wappen schwebt eine Krone. Die auffälligste Änderung sind die Farben <strong>und</strong> Formen<br />

des Hintergr<strong>und</strong>es: grün <strong>und</strong> gelb, die Farben der Familien Braganza <strong>und</strong> Habsburg,<br />

eine gelbe Raute in einem grünen Rechteck (Mourão 1989, S. 105). Diese Fahne<br />

wurde von dem Ratsherren <strong>und</strong> Minister (Conselheiro) José Bonifácio de Andrada<br />

<strong>und</strong> dem bekannten französischen Maler Jean-Baptiste Debret entworfen.<br />

Ab Januar 1823 trug <strong>das</strong> nun brasilianische Wappen eine veränderte Krone,<br />

mit kuppelartig angeordneter ‚Haube‘. Das separate Staatswappen <strong>und</strong> <strong>das</strong> Wappen<br />

auf der grün-gelben Fahne waren identisch, nach der Änderung der Anzahl<br />

der Sterne von 19 auf 20 im Jahr 1870 galten sie bis zum 15. November 1889.<br />

Zur Zeit des brasilianischen (1822-1889) <strong>und</strong> des portugiesischen „Imperiums“<br />

(1830-1910) galten die beiden jeweiligen Fahnen, die deutlich einen engen Zusammenhang<br />

zeigten (s. Farbtafel).<br />

Revolution mit fünf Sternen<br />

Als sich die Brasilianer 1889 von den Portugiesen <strong>und</strong> der Monarchie endgültig<br />

loslösten <strong>und</strong> genau h<strong>und</strong>ert Jahre nach der Französischen Revolution ebenfalls<br />

endlich eine Republik gründen wollten, brauchten sie auch neue Symbole <strong>und</strong> eine<br />

neue Fahne. Da die französische Revolution von 1789 <strong>das</strong> große Vorbild der ‚Umstürzler‘<br />

war, sangen einige Anhänger des französischen Vorbildes sogar die Marseillaise<br />

<strong>und</strong> wollten die Tricolore (Blau-weiß-rot-gestreifte Fahne) übernehmen.<br />

Dagegen setzte sich die positivistische Gruppe um Benjamin Constant Botelho<br />

de Magalhães, Miguel Lemos <strong>und</strong> Teixeira Mendes mit ihren Ideen durch: Die<br />

neuen Republikaner kehrten wieder zu dem uralten portugiesischen Symbol zurück,<br />

dem Kreuz, nun mit fünf Sternen, innerhalb eines Kreises, der Weltkugel,<br />

ohne Armillarsphäre. Insgesamt ein Abbild des Sternenhimmels vom Äquator bis<br />

zum Südpol, was allerdings wenig realistisch geraten war.<br />

Beachtlich ist, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> ebenfalls 1889 geschaffene Staatswappen („Brasão de<br />

armas do Brasil“), <strong>das</strong> z. B. Präsident Lula beim Besuch des amerikanischen Präsidenten<br />

George W. Bush im März 2007 deutlich sichtbar auf seiner hellgrauen Sportjacke<br />

trug – eine Art Sheriffstern, in dem <strong>das</strong> Kreuz des Südens reliefartig abgebildet<br />

ist – heute mit derselben seitenverkehrten Anordnung der Sterne wie auf der Fahne<br />

eingesetzt wird. Bis vor kurzem jedoch zeigte dieses Staatswappen, <strong>das</strong> in allen öffentlichen<br />

Regierungsgebäuden angebracht werden muss, die seit 1889 übliche rea-<br />

291


292<br />

listische Anordnung der Sterne des Kreuz des Südens, so wie man <strong>das</strong> Sternbild von<br />

Brasilia oder Rio de Janeiro aus von Januar bis Juni tatsächlich am wolkenfreien<br />

Himmel erkennen kann. Mit fünf Sternen, der fünfte, schwach helle Stern, „Epsilon“,<br />

rechts unten zwischen den hell leuchtenden Gamma- <strong>und</strong> Alpha-Sternen.<br />

Anscheinend ist jemandem in Brasilia der Widerspruch zwischen dem Kreuz<br />

des Südens auf der Fahne <strong>und</strong> dem des Staatswappens aufgefallen, die angeglichen<br />

wurden – nun beide auf gleiche Weise ‚seitenverkehrt‘, sofort erkennbar an<br />

der ‚falschen‘ Position des fünften Sterns, links statt rechts (siehe Farbtafel).<br />

Sogar <strong>das</strong> Logo der Panamerikanischen Spiele, die vom 13.-29. Juli 2007 in Rio de<br />

Janeiro stattfanden, zeigt fünf stilisierte Vögel, die eine Raute darstellen,<br />

ein verrutschtes Kreuz mit fünf Vögeln (eigentlich gedacht<br />

als Anspielung auf die fünf olympischen Ringe, es handelt sich um<br />

die gesamtamerikanische Variante der Olympischen Spiele, die jeweils<br />

ein Jahr vor den globalen Olympischen Spielen stattfinden).<br />

Nicht unerwähnt bleiben soll, <strong>das</strong>s auch <strong>das</strong> Logo der<br />

Deutsch-Brasilianischen Gesellschaft, mit Sitz in Bonn <strong>und</strong> Berlin<br />

(Motto: „Zwei Länder, eine Gesellschaft“), <strong>das</strong> seit der Schaffung<br />

der Schriftenreihe „Deutsch-Brasilianische Hefte“ 1960 <strong>das</strong><br />

Kreuz des Südens mit fünf Sternen in der ‚realistischen‘ Anordnung<br />

hatte, nun seit 2000 einen kreisr<strong>und</strong>en schwarzen B<strong>und</strong>esadler zeigt, auf<br />

dessen rechter Seite sich <strong>das</strong> Kreuz des Südens ausbreitet, mit fünf goldenen Sternen.<br />

Dieses Logo wurde glücklicherweise von einem Kenner des südlichen Himmels<br />

<strong>und</strong> der Heraldik entworfen.<br />

Ordnung <strong>und</strong> Fortschritt<br />

Viele Fahnen der Länder <strong>und</strong> Vereine der Welt tragen ein Kreuz in vielen<br />

Varianten: keltisches Kreuz, koptisches Kreuz, Sankt-Georgs-Kreuz, Andreaskreuz,<br />

Johanniterkreuz, etc. Aber keine Fahne ist so ansprechend <strong>und</strong> originell, sogar<br />

heiter <strong>und</strong> optimistisch wie die brasilianische.<br />

Denn zu den vielen Sternen in der blauen Kugel gehört noch ein weißes Band, ein<br />

Überbleibsel der Armillarsphäre von König Manuels Wappen, der Weltkugel mit den<br />

vielen Ringen, die die Bahnen der Satelliten der Erde darstellten, wie sie die Astronomen<br />

im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert anfertigten, als unbestreitbar war, <strong>das</strong>s die Erde keine Scheibe<br />

war, aber immer noch im „Zentrum“ des Weltbildes stand. Auf dem weißen Band<br />

liest man ORDEM g PROGRESSO (mit griechischem g= epsilon), ein Teil des Mottos<br />

der ‚Positivistischen Religion‘, wie es über den Säulen des Tempels im Portal der Positivistischen<br />

Kirche in Rio de Janeiro (Rua Benjamin Constant 74), des weltweit ersten<br />

Tempels dieser Art, geschrieben steht:<br />

O amor por principio, e a ordem por base, o progresso por fim 2 .<br />

Auguste Comte (1798-1857) stammte aus Montpellier, lebte <strong>und</strong> schrieb aber<br />

jahrzehntelang in seinem Haus in Paris, heute Maison de Auguste Comte, <strong>das</strong> 1930<br />

2. „Die Liebe als Prinzip, <strong>und</strong> die Ordnung als Basis, der Fortschritt als Ziel.“ Originalfassung:<br />

„L´amour pour principe et l’ordre pour base: le progrès pour but.“


von dem Brasilianer <strong>und</strong> Anhänger Comtes, Paulo E. de Berredo Carneiro (1901-<br />

1982), vor dem Abriss gerettet wurde (cf. Carneiros Werk Vers un nouvel humanisme).<br />

Auguste Comte, dem eine feste Stelle im französischen Bildungssystem verwehrt<br />

geblieben war, beeinflusste jedoch mit seinen Ideen einige junge Brasilianer der<br />

nächsten Generation (auch Argentinier, Nordamerikaner, Engländer <strong>und</strong> Deutsche)<br />

derart, <strong>das</strong>s sie sich mit ihren Wünschen nach einer neuen Gesellschaft auf<br />

ihn beriefen (cf. LEPENIES 2006).<br />

Benjamin Constant Botelho de Magalhães, Miguel Lemos <strong>und</strong> vor allem Teixeira<br />

Mendes wollten neue Institutionen, die Trennung von Kirche <strong>und</strong> Staat, zivile<br />

Ehe, staatliche, religionsunabhängige Friedhöfe, die Einbeziehung der unterprivilegierten<br />

Klasse, einen ideologiefreien Sozialstaat für die neue Nation der Brasilianer,<br />

alles geordnet in einer „republikanischen Diktatur“ (so wie sie tatsächlich<br />

nach französischem Beispiel in Brasilien eingeführt wurde; heute noch sei der<br />

französische Präsident ein „Wahlmonarch mit absoluter Entscheidung“, schrieb Michael<br />

Stürmer, Die Welt, 5.5.2007).<br />

Für Auguste Comte waren die Fachgebiete, die er auf der Polytechnischen<br />

Schule in Paris studiert hatte, die Astronomie, gefolgt von der Biologie, danach<br />

Chemie <strong>und</strong> Physik, die Basis der Wissenschaft von der Erforschung der unabänderlichen<br />

Naturgesetze, zu denen an erster Stelle die Evolution gehörte. Was ihn<br />

nicht hinderte, gegen Ende seines Lebens – ausgelöst durch seine unerfüllte Liebe<br />

zu Clothilde de Vaux (cf. LEPENIES 2006, S. 27-35) – eine neue Religion, die „Positivistische<br />

Religion der Menschheit“ mit Priestern, einem neuen Kalender, einem<br />

Katechismus <strong>und</strong> dem Dienst an der „Menschheit“ zu gründen. Er gilt auch als<br />

Schöpfer des Wortes Soziologie <strong>und</strong> Altruismus. Die altruistische, selbstlose Haltung<br />

schloss einen Verzicht der Positivisten auf eine Stelle als Staatsdiener ein, was<br />

nicht funktionieren konnte, sobald sich ihre Ideologie durchgesetzt hatte. Benjamin<br />

Constant nahm <strong>das</strong> Amt des Kriegsministers an, wurde jedoch wenig später<br />

als Postminister kalt gestellt (CARVALHO 1990, S. 40, 114).<br />

Bereits 1881 war von den Anhängern dieser neuen Religion der erste positivistische<br />

Tempel, ähnlich einem griechischen Tempel, in Rio de Janeiro erbaut worden<br />

– mit einer Ausrichtung des Hauptschiffes nach Paris, dem Zentrum der<br />

zivilisierten neuen Welt („o centro do Ocidente“), wie die Positivisten (meist Nachkommen<br />

von Portugiesen aus der neuen brasilianischen ‚Mittelschicht‘!) predigten<br />

(Mourão 1998, S. 108; cf. Tyr 2006 3 ).<br />

Mit diesen Ideen von einer neuen Gesellschaft <strong>und</strong> einer neuen, von der Bibel,<br />

dem Koran oder ähnlichen Ursprüngen unabhängigen „Religion der Menschheit“<br />

(„Religion de l´Humanité“) hat Auguste Comte geholfen, den Umsturz, eine<br />

Revolution in Brasilien, vorzubereiten. In der Verfassung der ersten brasilianischen<br />

Republik, der so genannten „Alten Republik“, wurden tatsächlich zum größten Teil<br />

positivistische Forderungen, vor allem die nach der Trennung von Kirche <strong>und</strong><br />

Staat, durchgesetzt (SANTOS et al. 2002, S. 227).<br />

Diese Revolution, die Abschaffung der Monarchie in Brasilien, verlief unblutig,<br />

3. Der Film von Alain Tyr: Le drapeau brésilien et Auguste Comte zeigt den Autor auf den Spuren<br />

von Auguste Comte in Brasilien. Exzellenter Dokumentarfilm zum 150. Todestag von Auguste<br />

Comte (5.7.2007).<br />

293


294<br />

auch, weil sie zunächst nur in der intellektuellen <strong>und</strong> militärischen Elite stattfand. Das<br />

Volk, <strong>das</strong> heißt die wenig gebildete oder schlecht informierte Bevölkerung, nahm<br />

staunend davon Kenntnis. Erst später gab es Tote, bei einer Art Konter-Revolution,<br />

der „Revolta da Armada“, dem Aufstand einiger Marinesoldaten, 1893-1895, als sogar<br />

die Stadt Rio de Janeiro mit großen Kanonen bombardiert wurde (ibd., S. 238-240).<br />

Obwohl die neue Fahne dem neuen brasilianischen Staat <strong>und</strong> seinen Bürgern<br />

per Dekret ‚aufs Auge gedrückt‘ wurde, sollte sie doch keinen Bruch darstellen,<br />

sondern den Anschluss an die Tradition bringen <strong>und</strong> gleichzeitig in die Zukunft<br />

weisen, sogar mit der Zeit patriotische Gefühle erzeugen, wie Teixeira Mendes in<br />

seiner „Philosophischen Bewertung“ („Apreciação Filosófica“) der Fahne am<br />

24.11.1889 im Diário Oficial (cf. Anhang II, Mourão 1998, S. 104-108) schreibt, um<br />

die anscheinend lauten Proteste gegen diese neue Kreation der Positivisten abzuwiegeln.<br />

Die Zukunft sollte ihm Recht geben.<br />

In der Positivistischen Kirche in Rio de Janeiro ist der Prototyp dieser Fahne ausgestellt,<br />

auf Papier <strong>und</strong> in den Farben, Formen <strong>und</strong> der Größe, wie sie von dem Maler<br />

Decio Vilares ausgeführt wurde. Mit dem „seitenverkehrten“ Sternensystem. Angeblich<br />

der Originalentwurf, eine heute wenig bekannte Reliquie.<br />

Wann diese Fahne gezeichnet wurde, ist aus den Quellen nicht eindeutig ersichtlich.<br />

Zum ersten Mal wird sie auf einer Karikatur vom 16.11.1889 gezeigt, mit<br />

weißem Band, aber noch ohne <strong>das</strong> Motto ORDEM g PROGRESSO (CARVALHO<br />

1990, S. 117). Vermutlich war diese Fahne aber schon einige Monate oder Wochen<br />

vorher geplant oder skizziert worden.<br />

Das offenbar in letzter Minute aufgedruckte Motto ORDEM g PROGRESSO auf<br />

der ‚Banderole‘ ist Auguste Comtes Schriften entnommen, Die positivistische Versöhnung<br />

von Ordnung <strong>und</strong> Fortschritt (COMTE 1994, S. 60-67). Es gibt die<br />

Fortschrittsgläubigkeit der Intellektuellen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

formelhaft wieder: Man meinte, die Überwindung früherer Stadien der<br />

Menschheit, nach Comte des so genannten „theologischen“, dann „metaphysischen“,<br />

sei nun <strong>das</strong> „positive“, <strong>das</strong> heißt fortschrittlich-wissenschaftliche Stadium<br />

(„l´état positif “) erreicht oder in Kürze erreichbar (COMTE 1974, S. 8-14). Es sollte<br />

auch <strong>das</strong> Motto für die künftige Entwicklung des neuen Staates sein, was viele<br />

Gegner des Neuen, auch die katholische Kirche, als Affront empfanden.<br />

Der Sternen-Himmel über Rio de Janeiro<br />

Heutzutage ist die Meinung weit verbreitet – auch in dem neuen Fahnen-<br />

Büchlein von Merian wird sie wiederholt –, <strong>das</strong>s es sich bei der Sternenkonstellation<br />

auf der brasilianischen Fahne um eine Darstellung des Sternenhimmels über Rio<br />

de Janeiro am 15. November 1889 handele.<br />

Prado bringt in seiner Streitschrift A Bandeira Nacional (1903), erstmals einen<br />

Nachdruck des Textes von Teixeiras Mendes’ „Rechtfertigung“ (cf. MOURÃO 1998,<br />

S. 104-108). Daraus wird ersichtlich, <strong>das</strong>s Teixeira Mendes sagte, der auf der brasilianischen<br />

Fahne wiedergegebene Ausschnitt solle den Sternenhimmel wiedergeben,<br />

wenn sich <strong>das</strong> Kreuz des Südens im Meridian über der Hauptstadt der Vereinigten<br />

Staaten von Brasilien befinde, also wenn die Sonne über Rio de Janeiro am<br />

höchsten steht. Von einem bestimmten Datum spricht er nicht (ibd., S. 106).


Auf diesen Zusammenhang zwischen den Sternen auf der brasilianischen Fahne<br />

<strong>und</strong> dem Himmel am Morgen des 15. November 1889 hatte Jens Soentgen am<br />

22.4.2000 in einem brillanten Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als Beitrag<br />

zur 500-Jahrfeier der „Entdeckung“ Brasiliens für deutsche Leser erstmals<br />

hingewiesen. Er gab damit die offizielle Version der brasilianischen Regierung wieder<br />

(erweiterte Fassung in Tópicos, SOENTGEN 2000). Er bringt sogar ein Foto<br />

des Kreuz des Südens mit der Überschrift: „Der Sternenhimmel ist ein<br />

Schnappschuss, die Momentaufnahme der Nacht über Rio de Janeiro am Morgen<br />

des 15. November 1889, <strong>und</strong> zwar zwischen sechs <strong>und</strong> sieben Uhr morgens.“<br />

Es handelt sich offensichtlich um eine Fotomontage: Zuckerhut bei Nacht, riesiges<br />

Kreuz des Südens <strong>und</strong> eine brasilianische Fahne mit dem seitenverkehrten<br />

Kreuz des Südens (s. Titelbild von Tópicos 3/2000).<br />

Meines Wissens taucht die „romantische Idee“ (Mourão 1998, S. 102), <strong>das</strong>s es<br />

sich um den Himmel über Rio am 15. November, um 8 Uhr 30 (Sternzeit 12 Uhr)<br />

handeln solle, erstmals in dem Dekret Nr. 5.443 vom 28. Mai 1968, zur Brasilianischen<br />

Fahne auf. Dies wurde mit dem Dekret Nr. 5.700 vom 1. September 1971<br />

wiederholt (cf. Abdruck in ibd., S. 90).<br />

Es muss aber später jemandem aufgefallen sein, <strong>das</strong>s man am Morgen des 15.<br />

November keinerlei Sterne über Rio de Janeiro beobachten kann, der Zeitpunkt<br />

wurde daher in dem neuen Dekret 8.421 vom 11. Mai 1992 auf den Abend desselben<br />

Tages verlegt, statt 8 Uhr 30 nun auf 20 Uhr 30.<br />

Auch die Verfasser des Textes im Internet bei Wikipedia w<strong>und</strong>ern sich über<br />

diesen Widerspruch, den man erfährt, wenn man „Bandeira do Brasil“ eingibt. Es<br />

werden beide Erklärungen des Gesetzes hintereinander zitiert, man erhält jedoch<br />

keine Erläuterung für dieses unnatürliche Phänomen. In der offiziellen Deutung<br />

wird jedoch erläutert, warum dieser auf der brasilianischen Fahne abgebildete<br />

Sternenhimmel für einen Menschen von der Erde aus so nicht sichtbar ist:<br />

Dekret von 1968, Artigo 3, § 1: As constelações que figuram na Bandeira Nacional<br />

correspondem ao aspecto do céu, na cidade do Rio de Janeiro, às 8 horas e 30<br />

minutos do dia 15 de novembro de 1889 (doze horas siderais) e devem ser<br />

considera<strong>das</strong> como vistas por um observador situado fora da esfera celeste.<br />

[Die Sternbilder, die auf der brasilianischen Fahne zu sehen sind, entsprechen<br />

dem Himmelsbild über der Stadt Rio de Janeiro, um 8 Uhr 30,<br />

am 15. November 1889 (12 Uhr Sternzeit) <strong>und</strong> entsprechen dem Bild, <strong>das</strong><br />

ein Beobachter außerhalb der Himmelsphäre von ihnen hätte.]<br />

Dekret von 1992, Artigo 3, § 1°: „[...] um 20 Uhr 30 […]“. (Bandeira do<br />

Brasil, Wikipedia, Stand: 19.6 2007, S. 2; Hervorh. d. Verf.).<br />

Fakt: Am 15. November ist weder morgens noch abends <strong>das</strong> Kreuz des Südens in Rio<br />

de Janeiro sichtbar, es taucht (scheinbar) erst im Januar abends wieder auf, wie jeder<br />

in Rio de Janeiro beobachten kann. Mourão führt die Daten von Januar bis Juni an,<br />

wenn <strong>das</strong> Kreuz des Südens jeweils am 15. des Monats nachts über dem Himmel von<br />

Rio de Janeiro in der Konstellation zu sehen ist, wie sie – seitenverkehrt <strong>und</strong> phantasievoll<br />

abgewandelt – auf der brasilianischen Fahne zu sehen sei (MOURÃO 1998, S. 93).<br />

Meines Erachtens handelt es sich bei dem Ausschnitt der Sternbilder in der<br />

brasilianischen Flagge um die Abbildung der Sterne am Südhimmel am 20. Septem-<br />

295


296<br />

ber, um 12 Uhr mittags, nur dann entspricht dieses Bild auch der angegebenen<br />

Sternzeit (12 Uhr). Nur dann steht <strong>das</strong> Kreuz des Südens in etwa in der Mitte des<br />

Himmelsausschnitts. Dieser Ausschnitt passt tatsächlich auch zum 15. November,<br />

um 8 Uhr 30 morgens, aber dann zur Sternzeit 15 Uhr 45, <strong>und</strong> nach ‚links‘ verschoben.<br />

Zu diesen Angaben von Datum <strong>und</strong> Zeit müsste noch der Standort des Betrachters<br />

kommen, was (mir) z. Zt. nicht möglich ist:<br />

Drehbare Welt-Sternkarte (cf. KARKOSCHKA 2004)<br />

Mourão legt im Einzelnen dar, was alles an dieser Sternenzeichnung „unrealistisch“<br />

oder falsch sei, so vor allem die übermäßige Größe des Kreuz des Südens im<br />

Verhältnis zu den anderen Sternbildern, sowie die Verlagerung des sehr hellen<br />

Spiga-Sterns der Jungfrau über den „Äquator“, da er doch nur innerhalb der Ekliptik<br />

oder verdeckt vom Tierzeichenband vorhanden sei (Mourão 1998, S. 91).<br />

Teixeira Mendes hatte dies damit begründet, <strong>das</strong>s er <strong>und</strong> seine Fre<strong>und</strong>e sich die<br />

künstlerische Freiheit genommen hätten, auch einen Stern über dem weißen Band<br />

zu platzieren. Auf diese Art werde symbolisiert, <strong>das</strong>s Brasilien auch Land über dem<br />

Äquator besitze (ibd., S. 108); heute wird mit diesem Stern der B<strong>und</strong>esstaat Pará<br />

repräsentiert. Der gröbste Fehler sei jedoch, <strong>das</strong>s der gesamte Ausschnitt aus dem<br />

Sternenhimmel auf der brasilianischen Fahne seitenverkehrt, „invertido“, sei.


Der seitenverkehrte <strong>und</strong> der ‚richtige‘ Himmel – Tradition <strong>und</strong> Neues<br />

Mourão bringt eine für den heutigen Laien verblüffende Erklärung für den<br />

„seitenverkehrten Himmel“ in dieser blauen Kugel: Der Astronom Pereira Reis<br />

benutzte ein anderes System der Wiedergabe des Sternenhimmels als es heute<br />

üblich ist: Er benutzte einen „Himmelsglobus“. Darauf hatte bereits 1890 (veröffentlicht<br />

1903) Eduardo Prado in seinem Protest-Essay A Bandeira Nacional hingewiesen<br />

(S. 39). Bei dieser Methode wird der Sternenhimmel auf einen Globus<br />

projeziert, wodurch folgendes geschieht:<br />

Himmelsglobus, die karthographische Darstellung des Sternhimmels<br />

<strong>und</strong> seines Koordinatensystems auf einer Kugeloberfläche. Ein Himmelsglobus<br />

zeigt eine unverzerrte, aber spiegelbildliche Lage der Sterne, da<br />

der Beobachter in der Natur auf die „Innenseite“ der Himmelskugel,<br />

bei einem Himmelsglobus aber auf dessen Außenseite schaut. (Brockhaus<br />

2006, S. 170)<br />

Dies ist wohl die einzige Erklärung <strong>und</strong> zugleich Rechtfertigung für den „seitenverkehrten<br />

Sternenhimmel“ auf der brasilianischen Fahne. (Der zusätzlich von<br />

oben nach unten verdrehte Skorpion entstand offensichtlich erst 1992 durch<br />

Hinzufügen eines weiteren Sterns am unteren, rechten Ende des Sternbildes).<br />

Pereira Reis <strong>und</strong> Luis Cruls hatten 1887 bzw. 1896 derartige, unzeitgemäße Sternkarten<br />

<strong>und</strong> Globen hergestellt, wie Mourão berichtet (Mourão 1998, S. 92). Er<br />

führt auch weiter aus, <strong>das</strong>s diese Himmelsgloben sogar lange vor den Erdgloben<br />

von den Astronomen angefertigt worden seien (MOURÃO 2000, S. 164). Der erste<br />

Erdglobus, auf den man auch ‚von außen‘ blickt, was man heute als Selbstverständlichkeit<br />

akzeptiert, wurde von Martin Behaim aus Nürnberg 1492 in Lissabon<br />

geschaffen (cf. GUEDES / LOMBARDI 1990, S. 68).<br />

Auch war es teilweise üblich, die Karten von Norden nach Süden anzulegen, so<br />

<strong>das</strong>s Süden oben <strong>und</strong> Norden unten auf den Blättern zu sehen war. Auch Hans<br />

Stadens Landkarte von Brasilien ist auf diese Art angelegt, so wie die Seeleute <strong>das</strong><br />

Land antrafen, wenn sie von Norden kamen. (Wer mit der TAP von Frankfurt nach<br />

Lissabon fliegt, wird auf den Bildschirmen auch schon diese ‚realistische‘ Flugroute<br />

gesehen haben, mit Lissabon oben in der geographischen Computeranimation).<br />

Pereira Reis behielt die nordeuropäische Version der „genordeten“ Karten bei, wie<br />

er in einem <strong>und</strong>atierten Schreiben darlegt (MOURÃO 1998, S. 109-110).<br />

Den ersten modernen Sternen-Atlas in <strong>und</strong> für Brasilien hat offenbar erst<br />

Rogerio Ronaldo Rogerio de Freitas Mourão selbst 1995 <strong>und</strong> 1997 veröffentlicht<br />

(cf. ibd., Bibliographie).<br />

Auf den Fahnen einiger südlicher Länder erscheint <strong>das</strong> Kreuz des Südens, so wie<br />

man es von der Erde aus sehen kann, z. B. Australien, Neuseeland <strong>und</strong> Papua-Neuguinea,<br />

nur Australien hat noch einen weiteren Stern auf seiner Fahne, den großen<br />

„Toliman“ oder „Rigel Kentauri“ aus dem Zentaurbild (ibd., S. 97; s. Farbtafel).<br />

Carvalho <strong>und</strong> Mourão schildern, wie groß der Widerstand gegen die neue<br />

Fahne war, die Marschall Deodoro Fonseca als Chef der Provisorischen Regierung<br />

mit dem Dekret Nr. 4 vom 19. November 1889 in Brasilien einführte; u. a.<br />

weigerte sich auch der Flugpionier Alberto Santos Dumont, diese Fahne „einer<br />

297


298<br />

Sekte“ zu akzeptieren. Wenn es nötig war, habe er daher eine neutrale, grün-gelbe<br />

Fahne geschwenkt (ibd., S. 88).<br />

In seiner Verteidigung oder Rechtfertigung der neuen Fahne vom 24. <strong>und</strong> 26.<br />

November 1889 legt Teixeira Mendes dar, <strong>das</strong>s es sich um einen „idealisierten<br />

Himmel“ („céu idealisado“) handele, der <strong>das</strong> „Gefühl“ wiedergebe, <strong>das</strong> man empfinde,<br />

wenn man den w<strong>und</strong>erschönen Himmel über Rio de Janeiro betrachte. Das Sternenkreuz<br />

des Südens sei eine moderne Art, <strong>das</strong> alte christliche Symbol darzustellen; <strong>das</strong><br />

sei für alle akzeptabel, unabhängig von jeglicher Religion, <strong>und</strong> werde daher mit der<br />

Zeit patriotische Gefühle bei allen wecken. Er sollte Recht behalten (ibd., 107).<br />

Jeder Fernsehzuschauer kennt heute die unverwechselbare brasilianische<br />

Fahne, denn die jungen Leute tragen oder schwenken sie voller Stolz, z. B. bei<br />

Sportveranstaltungen, wickeln sich sogar darin ein. Auch Papst Benedikt XVI.<br />

wurde im Mai 2007 mit einem brasilianischen Fähnchenmeer in São Paulo empfangen.<br />

Dagegen ist auf Bikinis, T-Shirts, Taschen oder Grillschürzen die – richtige<br />

oder falsche – Darstellung der brasilianischen Fahne nicht erlaubt, aber niemand<br />

schert sich um dieses Gesetz der ‚unbotmäßigen‘ <strong>und</strong> unkorrekten Verwendung<br />

des nationalen Symbols.<br />

In seiner Rechtfertigung hatte Teixeira Mendes weiterhin erläutert, die Kaffee- <strong>und</strong><br />

die Tabakpflanze, die <strong>das</strong> Kreuz in der monarchischen Fahne umrankten, seien nicht<br />

mehr zeitgemäß, nun gebe es auch andere Agrarprodukte <strong>und</strong> Bodenschätze, <strong>und</strong><br />

beide seien auf der neuen Fahne durch die grüne <strong>und</strong> gelbe Farbe ausreichend<br />

charakterisiert („produções da natureza viva e da natureza morta“; cf. ibd., S. 106).<br />

Aber in dem neuen Staatswappen, <strong>das</strong> unabhängig von der Fahne in allen<br />

offiziellen Dokumenten eingesetzt wird, wurden diese Zweige aus dem vorherigen,<br />

monarchischen Staatswappen beibehalten. Sie sind gewissermaßen <strong>das</strong><br />

Verbindungsband zwischen Tradition <strong>und</strong> dem Neuen, sie umranken heute noch<br />

den blauen Ring mit damals 21, heute 27 Sternen, der damals <strong>das</strong> ‚richtige‘, heute<br />

<strong>das</strong> ‚falsche‘ Kreuz des Südens einfasst. 1889 trug <strong>das</strong> Wappen den Schriftzug,<br />

República dos Estados Unidos do Brasil, „Republik der Vereinigte Staaten von Brasilien“,<br />

seit 1968 República Federativa do Brasil, „Föderative Republik Brasilien“.<br />

Fausto Cunha, ein bekannter brasilianischer Autor, beschwerte sich 1990 über<br />

all diese Komplikationen, die es jedem Ausländer schwer machten, die brasilianischen<br />

Staatssymbole zu verstehen oder richtig wiederzugeben, wie z. B. die fehlerhafte<br />

Reproduktion im Petit Larousse zeige. Man laufe Gefahr, sich im Ausland<br />

damit lächerlich zu machen (ibd., 102-103).<br />

Besonders über <strong>das</strong> Motto ORDEM g PROGRESSO wird oft von Brasilianern<br />

selbst gewitzelt, auch dies hat Tradition, schon auf einer Karikatur von 1889<br />

sieht man „Frau Republik“ rückwärts auf einem Esel reiten, <strong>und</strong> auf dem wehenden<br />

Banner liest man Desordem e Retrocesso („Unordnung <strong>und</strong> Rückschritt“;<br />

CARVALHO 2006, S. 121).<br />

Langes Leben der Symbole<br />

Im ganzen Jahr 2008 wird in Rio de Janeiro von offizieller Seite daran erinnert<br />

werden, <strong>das</strong>s vor zweih<strong>und</strong>ert Jahren der portugiesische Hof auf der Flucht vor<br />

Napoleons Heer mit seiner Kultur <strong>und</strong> seinen Ritualen sich in Rio de Janeiro


niederließ, wodurch die ‚Bande‘ zwischen Portugal <strong>und</strong> Brasilien erneut gefestigt<br />

wurden. Dies kann man demnächst jeden Tag an den stets nebeneinander wehenden<br />

Fahnen der beiden Länder sehen. Dann wird auch die Geschichte <strong>und</strong><br />

die erstaunliche Langlebigkeit dieser Symbole deutlich, vielleicht <strong>das</strong> Produkt einer<br />

von weither gekommenen positivistischen Sternenalchemie.<br />

Literatur<br />

ARROYO, Leonardo (Hrsg.) ( 2 1976): A carta de Pero Vaz de Caminha. São Paulo.<br />

ALBUQUERQUE, Luis de (1983): Ciência e experiência nos Descobrimentos portugueses. Lisboa.<br />

ALBUQUERQUE, Luis de (1985): Os descobrimentos portugueses. Lisboa.<br />

BAIÃO, António (Hrsg.) (1932): Ásia de Joam de Barros. Dos feitos que os portugueses fizeram no<br />

descobrimento e [na] conquista dos mares e [<strong>das</strong>] terras do oriente. Primeira Década. Quarta edição<br />

revista e prefaciada por Antonio Baião conforme a edição princeps. Coimbra. [Erste Ausgabe 1552].<br />

BARLÉU, Gaspar (1974). História dos feitos recentemente praticados durante oito anos no Brasil. São<br />

Paulo / Belo Horizonte. [Übersetzung aus dem Lateinischen ins Portugiesische von Claudio Brandão].<br />

BARROS, siehe BAIÃO<br />

BAYER, Johannes (1603): Uranometria. Augsburg.<br />

BROCKHAUS, Der (2006): Astronomie. Planeten, Sterne, Galaxien. Mannheim / Leipzig.<br />

CABRAL, siehe PÖGL, dt., <strong>und</strong> ARROYO oder GARCIA, port.<br />

CAMINHA, siehe PÖGL, dt. <strong>und</strong> ARROYO oder GARCIA, port.<br />

CARNEIRO, Paulo Estevão de Berredo (1970): Vers un nouvel humanisme. Paris.<br />

CARVALHO, José Murilo de (2006 [ 1 1990]): A formação <strong>das</strong> almas. O imaginário da República no<br />

Brasil. São Paulo.<br />

COIMBRA, Raim<strong>und</strong>o Olavo (1972): A Bandeira do Brasil – Raizes Histórico-Culturais. Rio de Janeiro.<br />

COMTE, Auguste (1963): Sociologie. (Textes choisis. Hrsg. von Jean Laubier). Paris.<br />

COMTE, Auguste (1970): Ecrits de jeunesse (1816-1828). Textes établis et présentés par Paulo E. de<br />

Berredo Carneiro et Pierre Arnaud. Paris.<br />

COMTE, Auguste (1974): Philosophie des sciences. (Textes choisis. Hrsg. von Jean Laubier). Paris.<br />

COMTE, Auguste (1994): Rede über den Geist des Positivismus. (Hrsg. von Irving Fetscher). Hamburg.<br />

CRULS, Luiz (1896): Atlas Celeste do Brasil. (Edição „fac-similada“). Rio de Janeiro.<br />

CUNHA, Fausto – siehe MOURÃO, 1998.<br />

GAMA, siehe GIERTZ<br />

GARCIA, José Manuel (Hrsg.) (2000): O descobrimento do Brasil nos textos de 1500 a 1571. Lisboa.<br />

[Enthält: Instruções de Vasco da Gama para Pedro Álvares Cabral; Relação da viagem da frota<br />

comandada por Pedro Álvares Cabral; Carta de Pêro Vaz de Caminha para D. Manuel; Carta de<br />

mestre João para D. Manuel; Cartas de italianos; Carta de D. Manuel para os Reis Católicos etc.].<br />

GIERTZ, Gernot (Hrsg.) (1990): Vasco da Gama. Ein Augenzeugenbericht, 1497-1499. Stuttgart.<br />

GUEDES, Max Justo/ Lombardi, Gerald (Hrsg.) (1990): Portugal-Brazil: The Age of Atlantic Discoveries.<br />

[Katalog zur Ausstellung in The New York Library; enthält Essays von Luis de Albuquerque, Charles R.<br />

Boxer, Francisco Leite de Faria, Max Justo Guedes, Francis M. Rogers, Wilcomb E. Washburn, etc.].<br />

KARKOSCHKA, Erich (2004): Drehbare Welt-Sternkarte. Für den nördlichen <strong>und</strong> den südlichen Sternenhimmel.<br />

Stuttgart.<br />

LEPENIES, Wolf ( 2 2006): Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur <strong>und</strong> Wissenschaft. Frankfurt<br />

am Main.<br />

MEDINA, João (2006): Portuguesismo(s). Acerca da Identidade Nacional. Lisboa.<br />

MENDES, Raim<strong>und</strong>o Teixeira ( 2 1920): A bandeira nacional. Rio de Janeiro. [Nachdruck in PRADO<br />

1903, S. 64-89].<br />

MENZIES, Gavin (2003): 1421 - Als China die Welt entdeckte. München. [Engl. Originalausgabe<br />

London 2002, brasilianische Ausgabe Rio de Janeiro 2005]<br />

“Mestre João”, siehe PÖGL, dt., <strong>und</strong> GARCIA, port.<br />

MOURÃO, Ronaldo Rogério de Freitas (1995): Carta Celeste do Brasil. Rio de Janeiro.<br />

MOURÃO, Ronaldo Rogério de Freitas ( 2 1996): Dicionário Enciclopédico de Astronomia e Astronáutica.<br />

Rio de Janeiro.<br />

MOURÃO, Ronaldo Rogério de Freitas ( 8 1997): Atlas Celeste. Petrópolis.<br />

299


300<br />

MOURÃO, Ronaldo Rogério de Freitas (1998): A história da bandeira da República, sob o ponto de<br />

vista da astronomia. In: Revista do Instituto Histórico e Geográfico Brasileiro (RIHGB), (85) 398, Rio<br />

de Janeiro, S. 85-126.<br />

MOURÃO, Ronaldo Rogério de Freitas (2000): A astronomia na época dos descobrimentos. A<br />

importância dos árabes e dos judeus nas descobertas. Rio de Janeiro.<br />

OBERACKER, Carlos H. (1968): A contribuição teuta à formação da nação brasileira. Rio de Janeiro.<br />

PEREIRA REIS – siehe MOURÃO, 1998.<br />

PÖGL, Johannes (Hrsg.) (1986): Die reiche Fahrt des Pedro Álvares Cabral. Seine Indische Fahrt <strong>und</strong> die<br />

Entdeckung Brasiliens, 1500-1501. Stuttgart. [Enthält u. a. die deutsche Version des Briefes von<br />

Mestre João/Meister Johannes].<br />

PRADO, Eduardo (1903): A bandeira nacional. Paris.<br />

REIS, siehe PEREIRA REIS<br />

SANTOS, Ana Maria dos et al. (2002): História do Brasil – De terra ignota ao Brasil atual. Rio de<br />

Janeiro. [A primeira constituição republicana, S. 227-228].<br />

SCHWAMBORN, Ingrid (2000): Die Wiederentdeckung Brasiliens. Erläuterungen zu dem Film<br />

Descobrimento do Brasil, von Humberto Mauro (1937). In: Tópicos 3/2000, S. 24-29.<br />

SCHWAMBORN, Ingrid (2004): ‘Brasiliano’, ‘tupinambá’, ‘tupi’, ‘tapuia’, ‘tarairiu’: a questão dos<br />

títulos dos retratos de Albert Eckhout e de Zacharias Wagener (1641/1643). In: TOSTES, Vera et<br />

al.: (Hrsg.): A Presença Holandesa no Brasil: memória e imaginário. Rio de Janeiro, S. 89-144.<br />

SCHWAMBORN, Ingrid / SOARES, Maria Elias (Hrsg.) (2006): José de Alencar: Iracema. Edição<br />

bilingüe português-alemã. Fortaleza.<br />

SOENTGEN, Jens (2000): Die Bandeira Brasileira. In: Tópicos, 3/2000: 19-21. [cf. Frankfurter Allgemeine<br />

Zeitung, 22.04.2000].<br />

SOUTHEY, Robert (1976): História do Brasil. Bd. 1. [Übersetzung von Luiz Joaquim de Oliveira e<br />

Castro]. São Paulo. [Original: History of Brazil, London 1810].<br />

Sterne, Die / Les étoiles. Universumskarte. Information. Verzeichnis der Sternbilder (o. J.). Bern.<br />

STÜRMER, Michael (2007): Meister der Fassade. [Über Jacques Chirac, den scheidenden französischen<br />

Präsidenten]. In: Die Welt, 5. Mai 2007, Magazin, S. 10.<br />

TEIXEIRA MENDES – siehe MENDES<br />

VARNHAGEN, Francisco Adolfo de (1843): A carta do Mestre João. In: Revista do Instituto Histórico<br />

e Geográfico Brasileiro (RIHGB), tomo V, No. 19, S. 324-344.<br />

WAGNER, Dirk (2003): Flaggen der Welt. Merian Kompass. München.<br />

Filmmaterial<br />

TYR, Alain (2006): Le drapeau brésilien et Auguste Comte. Film documentaire. 52 min. Montpellier:<br />

Evasion/TVM/R-Prod. .<br />

Internetquellen<br />

Wikipedia: Artikel zu „Bandeira do Brasil“, „Bandeira de Portugal“, „Historia da Bandeira de Portugal“,<br />

“Jogos Panamericanos”, “Kreuz des Südens”, “Skorpion”.<br />

<br />

<br />

<br />

Dr. Ingrid Schwamborn, geboren in Berlin, studierte in Tübingen <strong>und</strong> Bonn; 1986 Promotion<br />

(Universität Bonn) über José de Alencars Indianerromane. Sie lebte mehrere Jahre in<br />

Brasilien (Fortaleza <strong>und</strong> Rio de Janeiro, DAAD), unterrichtete Deutsche Sprache, Landesk<strong>und</strong>e<br />

<strong>und</strong> Literatur an der UFC-Ceará <strong>und</strong> PUC-Rio; von 1984-1989 wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />

für französische, portugiesische <strong>und</strong> brasilianische Literatur am Romanischen Seminar<br />

der Universität Köln, später dort Lehrauftrag für brasilianische Literatur <strong>und</strong> Film (1995-2000).<br />

Seit 2004 wohnt sie in Bonn <strong>und</strong> Fortaleza. Zahlreiche Veröffentlichungen zur brasilianischen<br />

Literatur, sowie über Stefan Zweig <strong>und</strong> Brasilien (²2003), über die Holländer in Brasilien<br />

(2004), zuletzt zweisprachige portugiesisch-deutsche Ausgabe von Alencars Iracema (2006).


Wandsprüche – Lehrwort oder Leerwort?<br />

Ingrid Margareta Tornquist<br />

São Leopoldo<br />

Resumo: Ponto de partida desta pesquisa é uma coleção de ‚bordados<br />

de parede‘ encontrados em lares teuto-brasileiros no<br />

Rio Grande do Sul, baseada na qual se trata da questão da<br />

conexão entre a língua, o pensamento e a ação. Os valores<br />

afirmados tanto nesses bordados, quanto em depoimentos<br />

colhidos em entrevistas, são analisados enquanto expressão<br />

da mentalidade do grupo. Os provérbios são interpretados<br />

como a voz da mulher, em seu papel como mediadora<br />

da língua e transmissora da cultura dentro de uma minoria<br />

étnica. Uma análise comparativa com uma coleção de<br />

provérbios bordados provenientes da região de colonização<br />

italiana evidencia as semelhanças e as diferenças entre<br />

os valores realçados pelas diferentes culturas. Para a análise<br />

fez-se uso do modelo proposto pelo projeto de pesquisa<br />

internacional Conceitos Éticos e Culturas Mentais.<br />

Abstract: The article deals with the relationship between language,<br />

thought and action on the basis of a collection of embroidered<br />

wall hangings from German-Brazilian households in<br />

the state of Rio Grande do Sul. The values affirmed in the<br />

wall hangings, as well as those expressed in a series of interviews,<br />

are analyzed as an expression of group mentality. The<br />

sayings are interpreted as the voice of women, and their<br />

role as language mediators and bearers of culture within<br />

minority ethnic groups is highlighted. A comparative study<br />

with a collection of wall hangings originating from the Italian<br />

immigrant community in the same state shows both common<br />

gro<strong>und</strong> and differences in emphasis. The model proposed<br />

by the international research project Ethical concepts<br />

and mental cultures was used for the analysis.<br />

Alle brauchen Lehrwörter<br />

Im Schaufenster der Buchläden ebenso wie in den Verlagskatalogen mit Neuerscheinungen<br />

findet sich seit einigen Jahren eine steigende Anzahl von so genannten<br />

kleinen Wegweisern. Diese oft schön illustrierten Geschenkbüchlein erfreuen<br />

sich großer Beliebtheit. Sie enthalten Worte zum Trost <strong>und</strong> zur Ermunterung<br />

<strong>und</strong> bieten Lebensregeln für verschiedene Situationen an. Oft sind die<br />

Weisheitsworte thematisch geordnet unter Rubriken wie Fre<strong>und</strong>schaft, Liebe, Leid<br />

oder glücklich/gelassen/achtsam sein. Solche Büchlein können als ein Erbe der<br />

301


302<br />

Wandsprüche von gestern gesehen werden, deren Verse früheren Generationen<br />

Geleitworte auf dem Lebensweg bedeuteten.<br />

Vor nicht allzu langer Zeit hat man gestickte Wandsprüche mit herablassender<br />

Ironie betrachtet <strong>und</strong> die mit bunten Stickereien geschmückten Texte als Floskeln<br />

oder Leerwörter abgetan. Ihr Inhalt wurde als völlig unzeitgemäß angesehen,<br />

wenn nicht sogar als verdächtiger Zeuge eines längst vergangenen Gesellschaftssystems.<br />

Diese Situation hat sich aber in den letzten Jahren mancherorts geändert.<br />

Alte Wandschoner werden wieder hervorgesucht <strong>und</strong> dienen oftmals als<br />

Vorlagen zu neuen 1 . Ausstellungen <strong>und</strong> Wettbewerbe werden veranstaltet <strong>und</strong><br />

Sammlungen herausgegeben, was sicher mit dem neu erweckten Interesse für<br />

Lehrwörter überhaupt zusammenhängt. Als eine Reaktion auf die Auflockerung<br />

bestehender Normen im Namen der uneingeschränkten Freiheit sucht der Mensch<br />

neuerdings wieder ethische Maßstäbe <strong>und</strong> feste Regeln.<br />

Ethische Konzepte in Wandsprüchen<br />

Welche war die Botschaft der Wandsprüche <strong>und</strong> haben sie uns heute noch<br />

etwas zu sagen? Um feststellen zu können, welche Wertvorstellungen durch solche<br />

Sprüche in einer ethnischen Minoritätsgruppe verbreitet wurden, habe ich<br />

eine Sammlung von gestickten Wandsprüchen aus dem Gebiet der deutschen<br />

Einwanderung in Rio Grande do Sul untersucht. In diesem südlichsten Teilstaat<br />

von Brasilien siedelten sich seit 1824 deutsche Einwanderer an, deren Nachkommen<br />

auf ungefähr zwei Millionen geschätzt werden, von denen vielleicht noch die<br />

Hälfte Deutsch als erstgelernte Sprache hat. Bei meiner Untersuchung zu Sprache<br />

<strong>und</strong> Mentalität der Deutschstämmigen (TORNQUIST 1997) ging es darum, <strong>das</strong><br />

von Generation zu Generation durch die Sprache übergeführte Weltbild zu beschreiben.<br />

Eine ergiebige Quelle waren dabei die Wandsprüche, die vor wenigen<br />

Jahren in vielen deutschbrasilianischen Häusern zu finden waren <strong>und</strong> neuerdings<br />

also in einigen Gegenden wieder zu Ehren gelangt sind.<br />

Neben diesen <strong>und</strong> anderen schriftlichen Zeugnissen aus Lesebüchern <strong>und</strong><br />

Kalendern habe ich auch Interviews in verschiedenen Gegenden der deutschen<br />

Einwanderung aufgenommen, in denen nach den Wertvorstellungen gefragt<br />

wurde, welche die Informanten meinten, durch die elterliche Erziehung — besonders<br />

durch den Einfluss der Mutter — mitbekommen zu haben, später verstärkt<br />

<strong>und</strong> bestätigt durch Schule <strong>und</strong> Kirche. Die Informanten im Alter von 20 bis<br />

95 Jahren waren überwiegend Frauen. Im Laufe der Arbeit verlagerte sich mein<br />

Forschungsinteresse nämlich immer stärker auf die Rolle der Frau als Sprachvermittlerin<br />

<strong>und</strong> Kulturträgerin in einer solchen ethnischen Minderheit.<br />

Im vorliegenden Artikel wird eine Analyse der in der Sprachgruppe vorherrschenden<br />

Wertvorstellungen vorgenommen, die in den Wandsprüchen <strong>und</strong> in<br />

den Interviews zum Vorschein kamen. Außerdem werden die Forschungsergebnisse<br />

mit einer ähnlichen Untersuchung aus dem Gebiet der italienischen Einwanderung<br />

in Rio Grande do Sul verglichen. Diese wurde als ein sozialgeschichtliches<br />

Projekt an der Universität Unisinos in São Leopoldo durchgeführt<br />

1. Vgl. z. B. <strong>das</strong> Projekt Memórias Histórico-Afetivas. 40 Anos Bordando sua História, Ivoti, RS, 2004.


mit dem Ziel, den Prozess der Weiterführung <strong>und</strong> Bewahrung kultureller Werte im<br />

Gebiet der italienischen Einwanderung in Rio Grande do Sul aufzuzeigen. Das<br />

Ergebnis liegt in Form einer CD (FAVARO 2001) vor, mit deren Hilfe ich Gelegenheit<br />

hatte, einen interkulturellen Vergleich anzustellen. Die Einwanderung aus<br />

Italien nach Rio Grande do Sul begann 50 Jahre nach der deutschen <strong>und</strong> hatte<br />

ungefähr denselben Umfang. Die beiden Ethnien wurden in getrennten Gebieten<br />

angesiedelt <strong>und</strong> hatten durch diese geographische aber auch sprachliche Barriere<br />

wenig Kontakt miteinander. Bei einem Vergleich der in den beiden Einwanderergruppen<br />

verbreiteten Wandsprüche wurden aber gemeinsame Wertvorstellungen<br />

deutlich, wenn auch einige unterschiedliche Schwerpunkte erscheinen.<br />

Wandsprüche – Die Stimme der Frau<br />

Die alte Sitte, <strong>das</strong> Haus durch Wandbehänge zu verzieren, sei es aus nützlichen<br />

oder ästhetischen Gründen, hatten die deutschen Einwanderer nach Brasilien<br />

mitgebracht. Im Laufe der Jahre wurden die Sprüche von späteren Generationen<br />

abgestickt oder durch andere ersetzt, an denen man Gefallen gef<strong>und</strong>en hatte. Die<br />

Quellen waren vor allem die auf der deutschbrasilianischen Kolonie weit verbreiteten<br />

Kalender <strong>und</strong> Jahresbücher sowie ältere deutsche Lesebücher. Aber auch<br />

die mündliche Überlieferung spielte dabei eine Rolle, wie eine meiner Informantinnen<br />

auf die Frage nach der Herkunft der Sprüche versichert: „Die habn sie im<br />

Kopf gehabt, habn sie vorrätig gehabt“. Oft zierten Blumen <strong>und</strong> Girlanden die sog.<br />

Wandschoner; manche enthalten auch Motive aus der brasilianischen Umwelt,<br />

was darauf deuten lässt, <strong>das</strong>s Rio Grande do Sul Heimat geworden ist.<br />

In meiner Untersuchung habe ich die Wandsprüche als Stimme der Frau gesehen,<br />

eine Möglichkeit für sie, der Familie ihre Ideale <strong>und</strong> ihre Wünsche täglich vor<br />

Augen zu führen. Hier konnte sie Mann <strong>und</strong> Kinder diskret <strong>und</strong> wiederholt an<br />

althergebrachte Lebensregeln erinnern, die ihr für den Zusammenhalt <strong>und</strong> <strong>das</strong><br />

Leben der Familie essenziell erschienen. Die Sprüche, von Frauen ausgewählt<br />

<strong>und</strong> gestickt, thematisieren oft Werte im zwischenmenschlichen Kontakt wie Liebe,<br />

Treue <strong>und</strong> Hoffnung. Es handelt sich also um eine bewusste Wahl der Frau mit<br />

der Absicht, einen wichtigen Leitsatz ohne Worte am Leben zu halten bzw. aktualisieren<br />

zu können. Ein solcher Spruch, der mit gewisser Mühe gestickt <strong>und</strong> verziert<br />

wurde, um dann an die Wand gehängt zu werden, hat uns etwas zu sagen,<br />

sowohl in Bezug auf die einzelne Frau als auch auf die Mentalität der Gruppe, hier<br />

einer ethnischen <strong>und</strong> sprachlichen Minorität.<br />

Die gestickte Botschaft ist gewissermaßen in der Idealwelt der Frau beheimatet.<br />

Einerseits sind es die Vorstellungen des jungen Mädchens, <strong>das</strong> vor der Hochzeit<br />

die Sprüche stickte, andererseits ist es die Hausfrau <strong>und</strong> Mutter, die durch den<br />

Wandspruch redet, die sich ermutigend oder ermahnend an ihre Familie oder<br />

ihre Gäste richtet. Nicht wenige Sprüche stellen aber auch eine Aufwertung ihrer<br />

Rolle als Ehegefährtin <strong>und</strong> Hausfrau dar. Der Spruch Das größte Glück für einen<br />

Mann, ist eine Frau, die kochen kann bekommt z. B. eine andere Bedeutung <strong>und</strong><br />

einen anderen Ton im M<strong>und</strong> einer Frau als von einem Mann gesprochen.<br />

Die Sprüche waren ein Mittel, die bewährten Wertvorstellungen an neue Generationen<br />

weiterzugeben. In der Küche, über dem Bett oder im Flur hängend,<br />

303


304<br />

waren die Sprüche im Alltagsleben der Familie immer gegenwärtig <strong>und</strong> alle wussten<br />

sie auswendig. Die meistens kurze, gereimte Form <strong>und</strong> die Bildhaftigkeit des Ausdrucks<br />

tragen dabei zur Einprägung bei. Oft war dies auch der erste geschriebene<br />

Text, an dem die Kinder herumbuchstabiert <strong>und</strong> lesen gelernt haben.<br />

Die Tatsache, <strong>das</strong>s sich viele meiner Informanten als Erwachsene an solche<br />

Wandsprüche aus dem Elternhaus erinnern konnten, hat meinen Eindruck bestärkt,<br />

<strong>das</strong>s es sich hier nicht um ‚Leerwörter‘ handelt, die eine ausschließlich dekorative<br />

Funktion haben <strong>und</strong> deren Botschaft wenig Spuren hinterlässt. Stattdessen<br />

sind es Texte, die Menschen ein ganzes Leben bewusst oder unbewusst mehr oder<br />

weniger begleitet <strong>und</strong> ihre Gedankenwelt mitgeformt haben. Sie lassen sich als Teil<br />

des Allgemeinwissens einer Person betrachten <strong>und</strong> gehören zu den sog. Maternalien 2 ,<br />

Spruchweisheiten <strong>und</strong> Redewendungen, die wir seit Kind auf von der Mutter hören,<br />

die sich dem kindlichen Gemüt durch ihre Form <strong>und</strong> Frequenz leicht einprägen<br />

<strong>und</strong> später im Leben in bestimmten Situationen abgerufen werden können.<br />

Das Sprichwort als Mikrotext<br />

Form <strong>und</strong> Inhalt<br />

Nach der Terminologie von einigen Sprichwortforschern (z. B. HOFMEISTER<br />

1995) kann man die Wandsprüche als sprichwortartige Mikrotexte bezeichnen.<br />

Der entsprechende Makrotext wäre dann der häusliche Kontext, der sowohl die<br />

Situation im Hause als auch die kulturelle Umwelt <strong>und</strong> <strong>das</strong> muttersprachliche<br />

Weltbild umfasst. Solche Sprichwörter werden als „hoch einzuschätzender Wissensspeicher“<br />

betrachtet, der Aufschlüsse über <strong>das</strong> kulturelle Selbstverständnis einer<br />

Gesellschaft gibt. Die in ihnen ausgedrückte Polarisierung zwischen dem Richtigen<br />

<strong>und</strong> dem Falschen, dem Erwünschten <strong>und</strong> dem Unerwünschten lässt die<br />

Weltsicht einer Kulturgemeinschaft deutlich werden. Ebenso hat laut Hofmeister<br />

die Auswahl <strong>und</strong> der Gebrauch in einer gewissen Situation etwas zu bedeuten,<br />

was auch auf die Wandsprüche zutrifft.<br />

Die Spruchsammlung die den Korpus meiner Untersuchung ergibt, umfasst<br />

133 verschiedene Wandsprüche aus deutschbrasilianischen Häusern in Rio<br />

Grande do Sul. Darunter sind ca. 20% echte Sprichwörter wie Ohne Fleiß kein Preis<br />

oder Ehrlichkeit währt am längsten; Zitate aus Gedichten, Liedstrophen, Bibelworten<br />

<strong>und</strong> Gebeten bilden den Rest. Auch an diesen Texten lassen sich einige Merkmale<br />

von Sprichwörtern nachweisen so wie die kurze <strong>und</strong> konzise, manchmal<br />

gereimte Form <strong>und</strong> die lehrhafte Tendenz.<br />

Sprichwort – Wahrwort?<br />

Die Frage, ob Sprichwörter auch „Wahrwörter“ sind, ist in der betreffenden<br />

Forschung wiederholt behandelt worden. Alle Forscher heben einerseits die<br />

Universalität der Sprichwörter hervor <strong>und</strong> sind sich einig, <strong>das</strong>s sie allgemein akzeptierte<br />

Weisheiten ausdrücken. Andererseits wird dem oft entgegengehalten,<br />

<strong>das</strong>s in ihnen unterschiedliche <strong>und</strong> manchmal widersprüchliche Verhaltensweisen<br />

empfohlen werden, wie z. B. Großzügigkeit <strong>und</strong> Sparsamkeit, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s da-<br />

2. Engl. Mommilies, vgl. WIENKER-PIPHO (1992), S. 43.


durch kontradiktorische Ratschläge gegeben werden, wie etwa in den beiden<br />

Sprüchen Eile mit Weile <strong>und</strong> Zeit ist Geld. Sie könnten also nicht Anspruch auf<br />

absolute Wahrheit erheben, sondern seien nur partiell gültige Lebensregeln, von<br />

Kontext <strong>und</strong> Situation abhängig.<br />

Dies ist jedoch eine Unterschätzung der Allgemeingültigkeit der Sprichwörter.<br />

In jeder Wahlsituation liegen nämlich zwei gr<strong>und</strong>legende Handlungsalternativen<br />

vor, wie etwa handeln oder sich zurückhalten, akzeptieren oder abweisen, bzw.<br />

geben oder behalten. Diese Alternativen entsprechen Auswegen, die einander<br />

gegenübergestellt <strong>und</strong> situationsgemäß abgewogen werden müssen, um <strong>das</strong> jeweils<br />

richtige Verhalten zu erkennen. Es muss also widersprüchliche Sprichwörter<br />

geben, damit sie den Normen der jeweiligen Kultur entsprechend in verschiedenen<br />

Situationen eingesetzt werden können.<br />

Kann man aber von solchen universellen Wahrheiten Schlüsse auf Nationaleigenschaften<br />

ziehen? Dieselbe Botschaft ist ja in vielen Ländern der Welt lexikalisiert<br />

worden. Trotzdem können meines Erachtens Gebrauchsfrequenz <strong>und</strong> Varianz<br />

Aufschlüsse über den Stellenwert eines Sprichworts in einer Sprachgemeinschaft<br />

geben <strong>und</strong> somit gewisse Schlüsse zur Prioritätensetzung der jeweiligen mentalen<br />

Kultur ermöglichen.<br />

Falsch <strong>und</strong> richtig in verschiedenen mentalen Kulture<br />

Ethische Konzepte <strong>und</strong> mentale Kulturen – ein Forschungsprojekt<br />

Um herauszufinden welche Eigenschaften <strong>und</strong> Verhaltensweisen in der untersuchten<br />

ethnischen Gruppe in Rio Grande do Sul durch die Wandsprüche<br />

priorisiert wurden, habe ich versucht, sämtliche 133 Sprüche zu analysieren<br />

<strong>und</strong> sie in Kategorien einzuteilen. Dabei habe ich <strong>das</strong> Beschreibungsmodell des<br />

internationalen Forschungsprojekts Ethische Konzepte <strong>und</strong> mentale Kulturen benutzt<br />

(s. STEDJE / STOEVA-HOLM 2004; TORNQUIST 2003). Hier wird versucht,<br />

<strong>das</strong> in der Sprache verborgene Wissen über Mentalitätsunterschiede methodisch<br />

aufzubereiten. Man geht davon aus, <strong>das</strong>s Sprache <strong>und</strong> Denken eng miteinander<br />

verknüpft sind <strong>und</strong> als gegenseitiger Spiegel fungieren können. Themen,<br />

Fragen, <strong>und</strong> Wertungen, die in einer Kultur aktuell sind, finden im Wortschatz<br />

der betreffenden Sprache ihren Ausdruck, während <strong>das</strong> weniger Bedeutsame<br />

sprachlich nicht repräsentiert wird. Eine Untersuchung der Sprache einer bestimmten<br />

Gruppe im ethischen Bereich müsste also vieles über die dort vorherrschende<br />

Mentalität aussagen.<br />

Durch vergleichende Wortschatzuntersuchungen zweier Sprachen in Bereichen,<br />

die menschliche Eigenschaften, Reaktionen <strong>und</strong> Verhaltensweisen beschreiben,<br />

wie Stolz, Fleiß, Wut, Großzügigkeit konnten in der Projektarbeit unterschiedliche<br />

Einstellungen in Bezug auf Selbstwert, Arbeit, Gefühlsdarbietung <strong>und</strong> Besitztum<br />

aufgezeigt werden. So findet man z. B. im Spanischen vergleichsweise mehr<br />

positiv wertende Ausdrücke für Stolz <strong>und</strong> dazugehörige Begriffe, im Deutschen<br />

wie im Schwedischen entsprechend mehr Wörter <strong>und</strong> Phraseme für Fleiß als für<br />

Erholung. Neuwörter machen hier Veränderungen <strong>und</strong> Modeerscheinungen der<br />

Zeit sichtbar, indem einerseits gewisses Verhalten empfohlen wird (Relax) <strong>und</strong><br />

andererseits vor Übertreibungen gewarnt wird (Workaholic, Kaufwut).<br />

305


306<br />

Auch historische Bedeutungsveränderungen lassen sich auf diese Weise belegen,<br />

indem Texte aus verschiedenen Epochen verglichen werden. So wurde z. B.<br />

im Projekt der Gebrauch <strong>und</strong> die Bedeutung des Wortes fromm im Laufe der Geschichte<br />

analysiert, ebenso wie die unterschiedliche Bewertung von Freigebigkeit<br />

<strong>und</strong> Sparsamkeit (vgl. KRULL 2004; MALMQVIST 2000).<br />

Für die Analyse wurde eine tentative Gliederung des ethischen Wissenssystems<br />

in 12 Bereiche gemacht (Abb. 1). In jedem Bereich stehen zwei komplementäre<br />

positive Eigenschaften (Tugenden) zwei negativen Untugenden kontrastiv gegenüber.<br />

Dabei wird deutlich, <strong>das</strong>s jede negative Eigenschaft, jedes Laster, immer<br />

auf ein Zuviel der einen Tugend <strong>und</strong> ein Zuwenig der anderen beruht. So werden<br />

z. B. im Bereich „Einstellung zu Besitz“ die zwei positiv angesehenen Eigenschaften<br />

Freigebigkeit <strong>und</strong> Sparsamkeit mit den negativen Geiz <strong>und</strong> Verschwendungssucht<br />

kontrastiert (Abb. 5). Es zeigt sich hierbei, <strong>das</strong>s Geiz sowohl die Übertreibung der<br />

Tugend Sparsamkeit als auch einen Mangel an Freigebigkeit beinhaltet. Verschwendungssucht<br />

wiederum ist eine Folge der allzu großen Freigebigkeit bzw. einer<br />

mangelnden Sparsamkeit. Jeder Wert muss sich also in Gleichgewicht zu einem<br />

Gegenwert befinden, um nicht in <strong>das</strong> Gegenteil, die Untugend, umzuschlagen.<br />

Dieses Analyseverfahren wird im Projekt <strong>das</strong> Vierfenstermodell genannt 3 . Es lassen<br />

sich weiterhin in allen Bereichen zwei unterschiedliche Verhaltensweisen<br />

aufzeigen, eine offene, zuwendende <strong>und</strong> eine andere die sich durch Abwendung<br />

<strong>und</strong> Geschlossenheit charakterisiert. Das Projektmodell stellt somit ein Gr<strong>und</strong>inventar<br />

menschlichen Verhaltens dar.<br />

Lassen sich Wandsprüche analysieren?<br />

Bei der Durchsicht des Gesamtkorpus zeigte es sich, <strong>das</strong>s einige der Wandsprüche<br />

mehr als eine Eigenschaft thematisieren wie z. B. Wer Arbeit liebt <strong>und</strong><br />

sparsam zehrt, der sich in aller Welt ernährt (Fleiß <strong>und</strong> Sparsamkeit). Solche Sprüche,<br />

die zwei oder mehr Eigenschaften beinhalten, sind auch mehrmals verzeichnet<br />

worden, so <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Korpus nun 146 Belege umfasst, davon 11 zweimal<br />

<strong>und</strong> 2 dreimal aufgeführt.<br />

Auch wenn ein Spruch ziemlich eindeutig in einen gewissen Bereich gehört,<br />

setzt er oft Eigenschaften bzw. Verhaltensweisen aus anderen Bereichen voraus,<br />

da <strong>das</strong> ethische System eine Ganzheit darstellt. In diesen Fällen wird der Terminus<br />

Polykonzept verwendet:<br />

Bewahret einander vor Herzeleid, kurz ist die Zeit, die ihr zusammen seid.<br />

Und wenn auch Jahre euch vereinen, einst werden wie Minuten sie<br />

erscheinen.<br />

Hier geht es um Selbstkontrolle (Bereich 4), die kaum ohne gegenseitige Achtung<br />

(Bereich 11) <strong>und</strong> Verantwortung (Bereich 8) möglich ist.<br />

Für die Interpretation der einzelnen Sprüche spielen natürlich Faktoren wie<br />

3. Ein ähnliches Analysemodell wird in Arbeiten des Psychologen F. Schulz von Thun (1999) zur<br />

Persönlichkeitsentwicklung verwendet. Dass es sowohl für eine sprachwissenschaftliche als<br />

auch für eine psychologische Analyse als Arbeitsmittel eingesetzt werden kann, ist ein<br />

Zeichen von der Allgemeingültigkeit des Modells.


der gedachte Sprecher oder die Gesamtsituation eine Rolle. Was schließlich aus<br />

dem Wandspruch ein Wahrwort <strong>und</strong> ein Lehrwort macht, ist die vom Rezipienten<br />

geleistete Verknüpfung zum Leben.<br />

Die 146 Sprüche ließen sich den zwölf Bereichen folgendermaßen zuordnen:<br />

Einstellung zu:<br />

1. Religion 28 7. Schicksal 13<br />

2. Arbeit 23 8. Verantwortung 03<br />

3. Gerechtigkeit 03 9. Selbstwert 04<br />

4. Gefühl 28 10. Gesetz 10<br />

5. Besitz 15 11. Achtung 10<br />

6. Handlungsfreiheit 07 12. Information 02<br />

Abb. 1: Wandsprüche – Anzahl pro Bereich<br />

Wenn die Belege gleichmäßig auf die zwölf Bereiche verteilt wären, würde dies<br />

eine Durchschnittszahl von 12 in jedem Bereich bedeuten. Wie aus der obigen<br />

Tabelle hervorgeht, weisen aber einige Bereiche überdurchschnittlich viele Belege<br />

auf, während andere kaum thematisiert werden. Schon hier zeigt sich also eine<br />

Prioritätensetzung, indem einige Tugenden in den Wandsprüchen stärker hervorgehoben<br />

werden als andere. Die Aufstellung zeigt, <strong>das</strong>s die Bereiche (Einstellung<br />

zu) Religion, Gefühle <strong>und</strong> Arbeit die meisten Belege sammeln, gefolgt von<br />

(der Einstellung zu) Besitz, Schicksal, Gesetz <strong>und</strong> Achtung/Respekt.<br />

Das Verhältnis zwischen Tugenden <strong>und</strong> Lastern<br />

Sieht man auf die einzelnen Eigenschaften, lässt sich erkennen, <strong>das</strong>s die<br />

Wandsprüche in erster Linie die Tugenden, vor allem Glaube, Fleiß, Emotionalität<br />

<strong>und</strong> Selbstbeherrschung thematisieren. Viele Belege gibt es auch zu Freigebigkeit,<br />

Geduld, Ehrlichkeit <strong>und</strong>, was man vielleicht nicht erwartet, auch zu<br />

Integritätswahrung.<br />

Bezeichnenderweise werden negative Eigenschaften, Unwerte oder Laster nur<br />

selten fokussiert: Im Ganzen gibt es dazu nur 14 Aussagen. Es ist verständlich, <strong>das</strong>s<br />

in den Wandsprüchen eher die guten Eigenschaften, die Geborgenheit <strong>und</strong> Glück<br />

im Hause fördern, hervortreten. Warnungen vor Lastern werden folglich lieber<br />

als positive Aufforderungen formuliert.<br />

Die Prioritätensetzungen lassen sich auch lexikalisch belegen. Bei einer Zählung<br />

der in den Wandsprüchen am häufigsten vorkommenden Wörter steht<br />

<strong>das</strong> Lexem Gott an erster Stelle mit 37 Belegen. Danach folgen Haus/Heim/Herd<br />

(27), Zusammensetzungen mit lieb- (25) <strong>und</strong> an vierter Stelle Glück (22). Andere<br />

sehr häufig vorkommende Lexeme sind mein, Leben, Fried-, Mensch, Herz,<br />

<strong>und</strong> Arbeit (je 17 bis 10 Belege).<br />

Ethische Konzepte in den deutschsprachigen Wandsprüchen<br />

Im Folgenden werden einige Beispiele aus der Wandspruchsammlung zu den<br />

am häufigsten thematisierten Eigenschaften aufgeführt. Wie zu erwarten, entspre-<br />

307


308<br />

chen diese den traditionellen Werten, die zum stereotypen Bild der ‚Deutschen‘<br />

gehören. Erstaunlich ist aber, <strong>das</strong>s sie 180 Jahre nach der Auswanderung noch<br />

erhalten sind. Bei der Analyse wird dem Projektmodell gefolgt <strong>und</strong> die Schlüsselwörter<br />

des Vierfenstermodells benutzt, in dem zwei positive Einstellungen (oben)<br />

zwei negativen (unten) entgegengestellt werden. Die Anzahl der Belege wird in<br />

jedem ‚Fenster‘ angegeben.<br />

Einstellung zur Religion (Bereich 1)<br />

Glaube, Vertrauen (28) Selbständiges Denken; Skepsis (0)<br />

Blinder Glaube, Fanatismus (0) Zweifel, Misstrauen (0)<br />

Abb. 2<br />

In der Welt der Wandsprüche nehmen die religiösen eine wichtige Stellung ein,<br />

entweder in der Form von Bitten um Gottes Schutz oder als Ermahnungen zu Gottvertrauen.<br />

Zur ersten Kategorie gehören einige der frequentesten Wandsprüche, z. B:<br />

Der Herr behüte dieses Haus<br />

<strong>und</strong> wer da gehet ein <strong>und</strong> aus.<br />

Gott halte treue Wacht<br />

in diesem Hause Tag <strong>und</strong> Nacht.<br />

Zur Kategorie der Ermahnungen zählen Sprüche wie:<br />

Wer Gott vertraut, hat wohl gebaut.<br />

Hoch über den Sternen steht geschrieben,<br />

der Mensch soll glauben, hoffen, lieben.<br />

Einstellung zur Arbeit (Bereich 2)<br />

Fleiß, Arbeitseifer (19) Erholungsbewusstheit (02)<br />

Arbeitssucht (0) Faulheit, Arbeitsscheu (02)<br />

Abb. 3<br />

Einen anderen Schwerpunkt stellen solche Sprüche dar, die zu Arbeitseifer <strong>und</strong><br />

Arbeitsfreude ermuntern. Neben Gläubigkeit ist Fleiß die Einzeleigenschaft, welche<br />

die meisten Belege aufweist (19), was nicht weiter verw<strong>und</strong>ert, da der hohe Stellenwert<br />

der Arbeit unter den deutschen Einwanderern <strong>und</strong> ihren Nachkommen als<br />

ein ethnisches Charakteristikum gilt. Zu dieser Gruppe zähle ich allgemein bekannte<br />

Sprichwörter wie Ohne Fleiß, kein Preis; Sich regen bringt Segen oder Jung gewohnt ist<br />

alt getan. Die Priorisierung von Fleiß wird auch in der entsprechenden Stigmatisierung<br />

seines Gegensatzes deutlich: Faulheit, Arbeitsscheu wird mit Armut <strong>und</strong> sogar<br />

mit Tod verknüpft: Faulheit lohnt mit Armut oder Ein unnütz Leben ist ein früher Tod.<br />

Ordnung <strong>und</strong> Reinlichkeit gehören auch zu den schon erwähnten Polykonzepten,<br />

die verschiedene Bereiche anschneiden. Die Mehrzahl der in meinem<br />

Material häufig vorkommenden Belege zu diesem Thema habe ich dem Bereich 2<br />

zugeführt als Ausdruck von Fleiß, obwohl sie auch Verantwortung (Bereich 8)<br />

<strong>und</strong> Sich-an-die-Regeln halten (Bereich 10) beinhalten.


Halte Ordnung, liebe sie,<br />

Ordnung spart dir viele Müh’.<br />

Ordnungssinn <strong>und</strong> Sauberkeit<br />

halte hoch für alle Zeit.<br />

Einstellung zu Gefühl/Emotionsdarbietung (Bereich 4)<br />

Sensibilität, Emotionalität (13) Selbstbeherrschung, -kontrolle (13)<br />

Unbeherrschtheit, Labilität (02) Gefühllosigkeit, Verklemmung (0)<br />

Abb. 4<br />

Dass so viele Wandsprüche <strong>das</strong> Thema ‚Gefühle haben <strong>und</strong> zeigen‘ fokussieren,<br />

ist weiterhin nicht erstaunlich. Wie schon gesagt, wird hier <strong>das</strong> Bild einer<br />

Idealwelt gezeichnet, in der die positiven, erstrebenswerten Gefühle überwiegen.<br />

Die Herstellerin der Wandsprüche wünscht sich folglich ein Zuhause, in dem alle<br />

guten Eigenschaften blühen können <strong>und</strong> wo man <strong>das</strong> Böse, <strong>das</strong> Verletzende <strong>und</strong><br />

Beleidigende fernhalten kann. Es geht hier um Liebe, Fre<strong>und</strong>lichkeit, Frieden,<br />

Einigkeit <strong>und</strong> Zusammenhalt. Wenn alle diese Elemente vorhanden sind, herrscht<br />

Glück. Vor Unbeherrschtheit wird ausdrücklich gewarnt. Ein gutes Gewissen garantiere<br />

jedoch Glück <strong>und</strong> Zufriedenheit:<br />

Lieben <strong>und</strong> geliebt zu werden<br />

ist <strong>das</strong> höchste Glück auf Erden.<br />

Geh nie im schnellen Zorn von deines Glückes Herd.<br />

Schau mancher ging, der nie zurückgekehrt.<br />

Zusammenhalten in Freud <strong>und</strong> Leid<br />

bringt Glück <strong>und</strong> Segen allezeit.<br />

Nichts ist umsonst, was mit dem Herzen getan wird.<br />

Lass draußen die Sorgen, bring Glück nur herein.<br />

Hier bist du geborgen, hier bist du daheim.<br />

Wenn du im Herzen Frieden hast, wird dir die Hütte zum Palast.<br />

Einstellung zu Besitz (Bereich 5)<br />

Freigebigkeit/Großzügigkeit (09) Sparsamkeit (02)<br />

Verschwendung(ssucht) (02) Geiz, Habgier (02)<br />

Abb. 5<br />

Im Bereich 5 „Einstellung zu Besitz“, gibt es in den Wandsprüchen Belege für<br />

alle vier Eigenschaften im Wertequadrat, allerdings mit deutlichem Übergewicht<br />

für Freigebigkeit, Gastfre<strong>und</strong>lichkeit, Großzügigkeit. Besonders viele Sprüche<br />

thematisieren die Gastfre<strong>und</strong>lichkeit, ein weiteres Merkmal des deutschbrasilianischen<br />

Hauses. Allerdings wird von dem Gast auch erwartet, <strong>das</strong>s er, wie<br />

die Beispiele zeigen, „froh“ oder „guten Glaubens“ ist <strong>und</strong> sich außerdem an die<br />

Spielregeln des Hauses hält:<br />

309


310<br />

Ein froher Gast ist niemandes Last.<br />

Wer guten Glaubens ist, herein,<br />

soll lieb hier <strong>und</strong> willkommen sein.<br />

Fünf sind geladen, zehn sind gekommen.<br />

Gieß Wasser zur Suppe, heiß alle willkommen.<br />

Besondere Aufmerksamkeit verdient meines Erachtens ein offensichtlich in<br />

Brasilien entstandener Spruch, in dem von Chimarrão gesprochen wird, <strong>das</strong> Trinken<br />

von Mate-Tee, eine ursprünglich indianische Sitte, die zuerst von den Gaúchos<br />

<strong>und</strong> dann von den Einwanderern übernommen wurde:<br />

Grüß Gott, du lieber Erdensohn<br />

Trink mit mir ein Chimarrão,<br />

erzähl mir Freud <strong>und</strong> Herzeleid<br />

<strong>und</strong> bleib mein Fre<strong>und</strong> in Ewigkeit.<br />

Neben der Gastfre<strong>und</strong>lichkeit werden hier treue Fre<strong>und</strong>schaft <strong>und</strong> vertrauensvolle<br />

Anteilnahme thematisiert. Stilistisch fällt <strong>das</strong> etwas hochtrabende Erdensohn<br />

auf. In der Minoritätssituation der Einwanderer in einer mehrkulturellen<br />

Gesellschaft könnte man <strong>das</strong> Lexem Erdensohn als eine allgemeinmenschliche,<br />

über Rassen <strong>und</strong> Nationalitäten stehende Bezeichnung deuten, die außerdem<br />

religiöse Assoziationen hervorruft.<br />

Einstellung zum „Schicksal“/Geschehen (Bereich 7)<br />

Tatkraft, Problemlösungsbereitschaft (02) Hinnahme, Geduld (08)<br />

Ungeduldiges Auflehnen, Hinterlist (01) Passivität, Resignation (02)<br />

Abb. 6<br />

In diesem Bereich werden in den Wandsprüchen vor allem die mehr nach<br />

innen gerichteten Eigenschaften Hinnahme, Geduld, Duldsamkeit <strong>und</strong> Langmut<br />

thematisiert. Es handelt sich dabei ausdrücklich um die Einstellung zum ‚Schicksal‘,<br />

zu einer übergeordneten Macht mit stark religiöser Prägung, was auch oft<br />

direkt ausgesagt wird, wie in Der Mensch denkt <strong>und</strong> Gott lenkt oder<br />

Alles auf Erden hat seine Zeit,<br />

Frühling <strong>und</strong> Winter, Freude <strong>und</strong> Leid.<br />

Im Glück nicht jubeln, im Leid nicht klagen,<br />

<strong>das</strong> Unvermeidliche mit Würde tragen.<br />

Glück <strong>und</strong> Glas – wie leicht bricht <strong>das</strong>!<br />

Einstellung zu Gesetz <strong>und</strong> Normen (Bereich 10)<br />

Redlichkeit, ‚Kontextabhängiges<br />

Ehrlichkeit (09) Befolgen von Gesetzen‘ (0)<br />

‚Starres Befolgen von Unehrlichkeit,<br />

Gesetzen‘ Prinzipienreiterei (0) Kriminalität (01)<br />

Abb. 7


Die Eigenschaft, die neben der Arbeitsamkeit den Einwanderer im allgemeinen<br />

Bewusstsein kennzeichnet <strong>und</strong> ihn auch von der Umwelt abhebt, ist zweifelsohne<br />

die Ehrlichkeit. Dies kommt in meinem Material deutlich zum Ausdruck. Im<br />

Bereich 10 „Einstellung zu Gesetz <strong>und</strong> Spielregeln der Gesellschaft“ ist die Diagonale<br />

Ehrlichkeit/Unehrlichkeit mit 10 Belegen vertreten, während die andere Diagonale<br />

keinen aufweist:<br />

Des Hauses bester Fre<strong>und</strong> ist Tugend,<br />

Sie ziert <strong>das</strong> Alter <strong>und</strong> die Jugend.<br />

Und willst den größten Reichtum wissen,<br />

bewahr ein ruhiges Gewissen.<br />

Neben Sprichwörtern wie Ehrlichkeit währt am längsten oder Ehrliche Hand<br />

geht durchs ganze Land fallen die beliebten dreizeiligen Ratschläge auf, die es in<br />

verschiedenen Variationen gibt (für diesen Bereich trifft die letzte Zeile zu):<br />

Trink was rein ist<br />

Denk was fein ist<br />

Nimm was dein ist.<br />

Wie ernst man es mit der Unehrlichkeit nahm, bezeugt folgender Spruch (einer<br />

der wenigen zu einem Laster), der wohl manchem Kind als Warnung diente:<br />

Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht,<br />

wenn er auch tausendmal die Wahrheit spricht.<br />

Einstellung zu Achtung/Respekt gegenüber anderen (Bereich 11)<br />

Respekt, Höflichkeit (01) Wahrung eigener Integrität (08)<br />

Unterwürfigkeit, Servilität (0) Missachtung, Verachtung (01)<br />

Abb. 8<br />

Ähnlich wie im schon erwähnten Bereich 7 sind hier unter den Wandsprüchen<br />

eher die mehr nach innen gerichteten Eigenschaften vertreten, nämlich Integritätswahrung<br />

<strong>und</strong> Selbstbehauptung. Anders als bei der religiös gefärbten Duldsamkeit<br />

im Bereich 7 bezieht man sich hier auf <strong>das</strong> zwischenmenschliche Verhalten.<br />

Auch der Gastgeber muss manchmal die eigenen Rechte <strong>und</strong> <strong>das</strong> eigene Haus<br />

verteidigen. Gleichzeitig sind diese Sprüche eine vorbeugende, sichtbare Mahnung<br />

an den Gast, sich an die Spielregeln des Hauses zu halten (Bereich 10):<br />

Wer hier an meinem Tische sitzt<br />

der nimmt an, wie bei mir die Sitte ist.<br />

Dient aber besser dir die deine<br />

dann streck unter deinem Tische die Beine.<br />

Ist dir dieses Haus nicht recht,<br />

Bau dir ein andres, <strong>das</strong> nicht so schlecht!<br />

Die vielen Wandsprüche, die Stolz über <strong>das</strong> eigene Haus ausdrücken, wurden<br />

auch zu diesem Bereich geführt. Es handelt sich hier wohl um ein universell-<br />

311


312<br />

menschliches Gefühl, <strong>das</strong> in vielen Sprachen belegt wird (eng. My home is my<br />

castle, schw. Egen härd är guld värd) aber in der Situation der Einwanderer einen<br />

besonders hohen Stellenwert hat. Das durch viel Mühe erarbeitete eigene Haus<br />

(<strong>und</strong> eigene Land) bekommt eine tiefere Bedeutung für denjenigen, der bestrebt<br />

ist, in einem neuen Land Wurzeln zu schlagen:<br />

Der Mensch braucht ein Plätzchen, <strong>und</strong> sei es noch so klein,<br />

von dem er kann sagen: Sieh hier, <strong>das</strong> ist mein!<br />

Spontane Aussagen zu ethischem Verhalten<br />

Meine Untersuchung von Sprache <strong>und</strong> Mentalität der Deutschstämmigen in<br />

Südbrasilien umfasste, wie schon gesagt, auch Interviews in verschiedenen Gegenden<br />

der deutschen Kolonie, die hier als Vergleich herangezogen werden 4 . In<br />

den Gesprächen ging es nämlich auch um ethische Wertvorstellungen. Diese<br />

spontanen Antworten der Informanten (309 Belege) wurden ebenso mit Hilfe des<br />

Beschreibungsmodells analysiert. Dabei werden schon bei einer Rangordnung<br />

der Bereiche die Divergenzen zwischen dem mündlichen <strong>und</strong> dem schriftlichen<br />

Material klar (vgl. Abb.1):<br />

Einstellung zu:<br />

1. Religion 22 7. Schicksal 14<br />

2. Arbeit 40 8. Verantwortung 21<br />

3. Gerechtigkeit 12 9. Selbstwert 21<br />

4. Gefühl 24 10. Gesetz 37<br />

5. Besitz 19 11. Achtung 35<br />

6. Handlungsfreiheit 22 12. Information 42<br />

Abb.9: Mündliches Material – Anzahl pro Bereich<br />

In den Interviews steht an erster Stelle Bereich 2 „Einstellung zu Arbeit“. Die Aussagen<br />

zu Fleiß zeigen auch im mündlichen Material die hierzu gehörige hohe Wertschätzung<br />

5 . So wurde z. B. gesagt: „In der elterlichen Erziehung wurde klar, <strong>das</strong>s die Arbeit<br />

ein Wert ist <strong>und</strong> nicht nur eine Verdammung, ein positiver Wert“, <strong>und</strong> weiter: „Die<br />

Arbeit war der Gr<strong>und</strong>satz, nach der meine Mutter praktisch alles beurteilte.“ Im Vergleich<br />

zu den Lusobrasilianern gilt der Fleiß, wie schon erwähnt, als ethnisches Merkmal:<br />

„Am Schaffen kennt man die“, wie eine Informantin erklärte.<br />

Anders als bei den Wandsprüchen wird auch die dem Fleiß entgegengesetzte<br />

Untugend, die Faulheit, in vielen Aussagen deutlich stigmatisiert, so z. B.: „Bei uns<br />

hat sich nie einer auf die faule Haut gelegt“. Aber auch vor dem komplementären<br />

4. Die Sprache der Interviewten ist unterschiedlich stark dialektal geprägt. Bei der Transkription<br />

der Aussagen habe ich die sog. literarische Umschrift benutzt, die <strong>das</strong> Alphabet der<br />

Schriftsprache ohne Sonderzeichen verwendet.<br />

5. Die Einwanderung nach Brasilien wurde im vorigen Jahrh<strong>und</strong>ert mit der Begründung gefördert,<br />

<strong>das</strong>s <strong>das</strong> Land arbeitswillige „Arme“ [„braços“] brauche. Es handelt sich aber bei den<br />

deutschbrasilianischen Kolonisten nicht um die Arbeit des unfreien Mannes, sondern um die<br />

des Eigentümers, man arbeitet für sich <strong>und</strong> für seine Familie auf eigenem Boden.


Laster Arbeitssucht wird in den Interviews gewarnt. Die allzu große Gewichtigkeit<br />

der Arbeit habe dazu geführt, <strong>das</strong>s andere positive Tätigkeiten vernachlässigt<br />

wurden, wie Spielen, Märchen erzählen oder sogar <strong>das</strong> Lernen. Die Eltern hätten<br />

keine Zeit dafür gehabt, wie folgende Äußerungen belegen:<br />

Märchen erzählen? Da hatten sie gar keine Zeit dafür.<br />

Abendgebet? Tischgebet? Selten mal, <strong>das</strong> mußte immer so hastig, so<br />

schnell alles gehen.<br />

Da musste man <strong>das</strong> Spielen vergessen, musste man an die Arbeit.<br />

Die Frau iss mol schroh uff die Arbeit, lasst nix langs gehe, tut die<br />

Kinner alle an die Arbeit stelle, durfte die Kinner net lerne.<br />

Interessanterweise sind Glaube <strong>und</strong> Gefühle Themen, die nicht so häufig im<br />

Gespräch angeschnitten werden, obgleich sie in den Wandsprüchen öfter<br />

thematisiert werden. Daraus ist aber nicht ohne weiteres auf ein geringes Interesse<br />

für diese Gebiete zu schließen. Eher kann man hier eine gewisse natürliche<br />

Scheu vor heiklen Themen annehmen, wie sie im folgenden Interviewzitat<br />

deutlich wird:<br />

Die Mutter war eine fromme Frau, so wie man es den Kolonisten beigebracht<br />

hatte, fromm zu sein. Es wurde zu Hause aber nicht über<br />

Religion gesprochen, es war kein häufiges Thema.<br />

Im Vergleich zu den Wandsprüchen kann im mündlichen Material im Bereich<br />

4 „Gefühl/Emotionsdarbietung“ eine unterschiedliche Gewichtung der<br />

beiden Tugenden Emotionalität <strong>und</strong> Selbstbeherrschung beobachtet werden.<br />

In den Interviews weist die eher reservierte, kontrollierte Einstellung mehr als<br />

dreimal so viele Belege auf als die emotionelle. Einige Äußerungen<br />

thematisieren <strong>das</strong> Fehlen von Emotionsdarbietung im Elternhaus, wie: „Unser<br />

Haus war sehr karg, sehr trocken“. Im familiären <strong>und</strong> nachbarlichen Umgang<br />

galt es vor allem, Streit <strong>und</strong> Auseinandersetzungen zu vermeiden, wie folgende<br />

Aussage bezeugt:<br />

Da ist man rechter ruhig, dreht sich um <strong>und</strong> geht fort, rechter tut man<br />

gar nichts antworten.<br />

Im Bereich 5 „Einstellung zum Besitz“ werden auch in den Interviews Gastfre<strong>und</strong>lichkeit<br />

<strong>und</strong> Generosität hervorgehoben, z. B.: „Wir hatten immer eine offene<br />

Tür“ oder „Bei uns sinn viele Leut zu Mittag gekommen, sie haben gewusst, <strong>das</strong>s<br />

der Papa tät essen geben“. Besonders die Generosität der Mutter gegenüber Leuten<br />

in der Nachbarschaft, die gerade Hilfe nötig hatten, wird von vielen betont:<br />

Die Mama hot immer im Gorde gearbeit, io, do wor von allem drin, do<br />

konnt man noch fir die ganz Nachborschlait [...] alle hon se Knoblauch<br />

unn Kraut unn Griins unn Rotriewe unn Gellriewe <strong>das</strong> sinn se all bei<br />

uns hole komm, unn nie keen Mill kobriert [nie hat sie was dafür verlangt],<br />

all so geschenkt fir die Nachborschlait, io, wann die in Not wore,<br />

sinn se bei uns komm, hon sich geholt, do wor immer, immer geweest.<br />

Aber auch die komplementäre Tugend Sparsamkeit ist im mündlichen Material<br />

313


314<br />

belegt. Man erinnert sich an Sprichwörter aus der Kindheit wie Wer spart in Zeit,<br />

hat in der Not. Ein Informant sagt:<br />

Was ganz groß geschrieben war bei uns zu Hause war <strong>das</strong> sparsame<br />

Leben. So bin ich erzogen. Etwas Abgebrauchtes <strong>das</strong> wurde bei uns<br />

immer aufgehoben, „wer weiß, <strong>das</strong> kann man noch gebrauchen“. Es ist<br />

uns ins Blut übergegangen.<br />

Vor den Untugenden Geiz <strong>und</strong> Verschwendungssucht wird allerdings ebenso<br />

gewarnt:<br />

Da hat nichts gefehlt bei der Mama, es ist am Essen nicht gespart<br />

worden, was übrigblieb, bekam <strong>das</strong> Vieh, nichts wurde weggeworfen:<br />

„Versauen net“, hat sie gesagt.<br />

Im Bereich 11 „Einstellung zu Achtung/Respekt gegenüber anderen“ überwiegt<br />

bei den Wandsprüchen eindeutig die Anzahl Belege für Integritätswahrung <strong>und</strong><br />

Selbstbehauptung. In den Interviews dagegen kommen diese Eigenschaften kaum<br />

zu Wort. Stattdessen wird von den komplementären Einstellungen Respekt, Höflichkeit<br />

gesprochen. Respekt vor den Älteren, Höflichkeit <strong>und</strong> Dankbarkeit waren<br />

demnach priorisierte Anliegen in der Erziehung:<br />

Wir haben nie über alte Leute gespottet, <strong>das</strong> hat es bei uns nicht gegeben.<br />

Man musste den Alten immer die Zeit bieten.<br />

Wenn ich was geschenkt bekomme, muss ich was abgeben, meine Mama<br />

hat immer gesagt „Eine Hand wäscht die andere“.<br />

Die entgegengesetzte Untugend Verachtung, Überheblichkeit wird wiederholt<br />

durch dialektale Ausdrücke exemplifiziert: So bedeutet stumbieren ‚schlecht behandeln,<br />

jemanden nicht zu seinem Recht kommen lassen‘ wie z.B.: „Die Brasilioner<br />

Männer tun die deitsche Mäd stumbiere“. Das oft benutzte Adjektiv schroh kann<br />

einen überheblichen, groben <strong>und</strong> unhöflichen Menschen bezeichnen.<br />

Identität <strong>und</strong> Solidarität sind Polykonzepte, die in den Wandsprüchen nicht<br />

direkt vorkommen, aber in den Interviews stark hervorgehoben wurden <strong>und</strong> zu<br />

mehreren Bereichen hingeführt werden können. Dazu gehören Eigenschaften<br />

wie Verantwortungsbewusstsein (8), Hilfsbereitschaft (6) <strong>und</strong> berechtigter Stolz (9).<br />

Der Bedarf an Solidarität <strong>und</strong> Zusammenhalten innerhalb der Gruppe motiviert<br />

dieses Verhalten:<br />

Deitsche Leit’ die halle’ fest.<br />

In der Arbeit waren sie sehr pünktlich, in der Besorgung der Felder,<br />

die Pflanzung reinhalten, nichts vor Unkraut umkommen lassen.<br />

Die gegenseitige Hilfe in der Kolonie war früher sehr stark. Es passierte eigentlich<br />

überhaupt nicht, <strong>das</strong>s einer mal den anderen im Stich gelassen hat.<br />

Die Rolle der Laster<br />

Der größte Unterschied zwischen dem mündlichen Material <strong>und</strong> den Wandsprüchen<br />

liegt in der Anzahl Belege zu negativen Eigenschaften (43% der Äußerungen),<br />

d. h. <strong>das</strong>s Tugenden <strong>und</strong> Untugenden im mündlichen Korpus beinahe


gleichmäßig belegt sind. Im Bereich 10 „Ehrlichkeit/Unehrlichkeit“ übertrifft die<br />

Anzahl der negativen Aussagen sogar die der positiven, ein einmaliges Ergebnis,<br />

<strong>das</strong> im restlichen Material nicht vorkommt. Wie schon gezeigt, werden Laster nur<br />

sehr spärlich in den Wandsprüchen fokussiert. Untugenden, die ausschließlich in<br />

den Interviews berührt werden, sind z. B. im Bereich 1 Aberglaube <strong>und</strong> Misstrauen,<br />

im Bereich 8 die beiden komplementären Laster Verantwortungslosigkeit bzw. übertriebenes<br />

Verantwortungsgefühl, im Bereich 9 Minderwertigkeitshaltung bzw. Hochmut<br />

<strong>und</strong> im Bereich 11 Unterwürfigkeit.<br />

Sehr oft beziehen sich die negativen Aussagen auf ‚die anderen‘, von denen<br />

man sich abgrenzen möchte, sei es „die Brasilianer“, „die Katholiken“, „die Städter“<br />

oder „die Blauen“. Vertreter anderer Ethnien werden mit gewisser Skepsis<br />

betrachtet: „Die Blaue’ kann man net traue’. So’ne Mistura“ oder „Sinn net so<br />

confiáveis“. Diese Tendenz der Ausschließung in den negativen Äußerungen<br />

erklärt auch ihr Fehlen bei den Wandsprüchen, die ja in ihrer Botschaft<br />

Allgemeingültigkeitsanspruch erheben. Gerade durch sprichworthafte, stilistische<br />

Elemente wie „Wer..., der...“ umfassen sie sowohl den direkt Angesprochenen<br />

als ‚die anderen‘.<br />

Die ‚italienischen‘ Wandsprüche in Rio Grande do Sul<br />

Selbstbild der italienischen Einwanderer<br />

Wie im Anfang des Artikels berichtet, gibt es in Rio Grande do Sul neben der<br />

deutschen eine ebenso große Einwanderergruppe italienischer Herkunft. In<br />

einem 1999 erschienenen Buch über ethnische Identität Nós, os Italo-Gaúchos<br />

(MAESTRI 1998) mit Beiträgen von r<strong>und</strong> 20 Personen italienischer Abstammung<br />

sieht sich der Italo-Riograndenser vor allem als arbeitsam, sparsam <strong>und</strong><br />

geschäftstüchtig, aber auch als emotiv, religiös <strong>und</strong> sehr mit seiner Familie<br />

verb<strong>und</strong>en. Diese Eigenschaften habe ich auch in Stichprobeninterviews feststellen<br />

können anhand des gleichen Fragebogens, der bei den deutschen Interviews<br />

gebraucht wurde.<br />

Das Forschungsprojekt von Unisinos<br />

Das in der Einleitung erwähnte sozialgeschichtliche Projekt Imagens e Palavras<br />

der Universität Unisinos in São Leopoldo hat sich zum Ziel gesetzt, die im italienischen<br />

Einwanderungsgebiet vorherrschenden Wertvorstellungen näher zu untersuchen<br />

<strong>und</strong> systematisch darzulegen.<br />

Bei der Durchführung des Projekts wurden in Feldarbeit diverse Textilien als<br />

Artefakte der materialen Kultur eingesammelt, u. a. 74 gestickte Wandsprüche.<br />

Manche Sprüche liegen mehrfach vor, zwei- oder dreimal, ab <strong>und</strong> zu mit kleinen<br />

orthographischen Abweichungen, <strong>und</strong> insgesamt sind es nur 55 verschiedene<br />

Texte. Bei dieser italienischen Wandspruchsammlung handelt es sich um ein<br />

begrenzteres Material, aus dem keine allzu bedeutsamen Folgerungen gezogen<br />

werden können <strong>und</strong> <strong>das</strong> natürlich nicht ausreicht, um ein ethisches Konzeptprofil<br />

dieser Kulturgemeinschaft aufzustellen. Es fällt aber auf, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> oben erwähnte<br />

Selbstbild der Italo-Riograndenser durch die Prioritätensetzung der Wandsprüche<br />

bestätigt wird: emotiv, religiös, arbeitsam <strong>und</strong> sparsam.<br />

315


316<br />

Vergleichende Analyse der ‚italienischen‘ Wandsprüche<br />

Im Vergleich zum deutschen Material liegt der größte Unterschied aber in der<br />

Sprache, indem die ‚italienischen‘ Sprüche durchweg auf portugiesisch geschrieben<br />

sind <strong>und</strong> nicht in der Muttersprache. Dies lässt sich zum Teil dadurch erklären,<br />

<strong>das</strong>s es keine Förderung der italienischen Schriftsprache in Brasilien gab, weder<br />

durch italienischsprachige Gemeindeschulen noch durch eine Kalenderliteratur<br />

wie unter den Deutschbrasilianern. Dies wiederum bestätigt indirekt den hohen<br />

Stellenwert der Muttersprache unter den deutschen Einwanderern. Die Texte<br />

sind meistens kürzer als die deutschen <strong>und</strong> nicht immer gereimt, was auf eine<br />

Übersetzung deuten könnte. Manchmal bestehen sie aus einfachen Höflichkeitsformeln<br />

wie Bom Dia ‚Guten Morgen‘ oder Bom Apetite ‚Guten Appetit‘. In zwei<br />

Fällen scheinen Übersetzungen aus dem Deutschen vorzuliegen:<br />

Um hóspede alegre jamais será um peso.<br />

‚Ein froher Gast ist niemandes Last.‘<br />

Amar e ser amado é a maior fortuna do m<strong>und</strong>o.<br />

‚Lieben <strong>und</strong> geliebt zu werden ist <strong>das</strong> höchste Glück auf Erden.‘<br />

Was die Herkunft der Sprüche betrifft, scheinen sie also entweder Übersetzungen<br />

von Texten aus der Heimat zu sein oder der multikulturellen brasilianischen<br />

Umwelt entnommen. Trotzdem können sie als für die Ethnie aussagekräftig betrachtet<br />

werden, da sie ja von Mitgliedern der Gruppe ausgewählt <strong>und</strong> innerhalb<br />

der Gruppe verbreitet wurden.<br />

Schon bei einem ersten Vergleich der beiden Korpora fällt beim italienischen<br />

Material die große Zahl der Nullfelder im Vierfenstermodell auf: von den 48 alternativen<br />

Verhaltensweisen des Projektmodells werden überhaupt nur 15 Eigenschaften<br />

thematisiert, <strong>und</strong> zwar alle positiv. In der Rangordnung der Bereiche<br />

steht an erster Stelle „Religion“, an zweiter „Arbeit“, <strong>und</strong> an die dritte kommt „Emotionen“<br />

(Bereich 4). Den vierten <strong>und</strong> den fünften Platz teilen sich die Bereiche 5<br />

„Besitz“ <strong>und</strong> 11 „Respekt/Achtung“.<br />

Wenn man zu den einzelnen Eigenschaften geht, wird deutlich, <strong>das</strong>s die Tugenden<br />

Glauben, Fleiß, Emotionalität prozentual stärker belegt sind als im deutschen<br />

Material. Weiterhin enthält <strong>das</strong> italienische Material proportional mehr Belege<br />

für Sparsamkeit 6 , Stolz <strong>und</strong> Respekt als die deutschen Wandsprüche.<br />

Anders als bei den deutschen habe ich unter den italienischen Wandsprüchen<br />

auch eine Aussage zum positiven Wert der Ruhe gef<strong>und</strong>en, Após o labor, o repouso<br />

renova o vigor, wörtlich übersetzt: ‚Nach der Arbeit erneuert <strong>das</strong> Ausruhen die<br />

Kräfte‘. Im Unterschied zum deutschen Material ist im Bereich 4 die Tugend Emotionalität<br />

viel stärker belegt als die Tugend Selbstbeherrschung (13,5% bzw. 2,7%).<br />

Auffallend wenige Belege gibt es aber im Bereich Ehrlichkeit – diese Eigenschaft<br />

scheint in der italienischen Erziehung nicht dieselbe Priorität gehabt zu haben wie<br />

in der deutschen, ein Bef<strong>und</strong>, der sich auch im Stichprobeninterview bestätigt<br />

6. Die große Gewichtung der Sparsamkeit unter den italienischen Einwanderern kommt auch<br />

im Interview zum Ausdruck, indem die Informantin folgende Redewendung zitiert: „O italiano<br />

não come ovos para não jogar fora a casca“ (‚Der Italiener isst keine Eier, um nicht die Schale<br />

wegzuwerfen‘).


hat. Auch werden im Gegensatz zu den deutschen Wandsprüchen die Tugenden<br />

Hilfsbereitschaft <strong>und</strong> Verantwortungsbewusstsein gar nicht thematisiert.<br />

Wenn man den Wandsprüchen glauben darf, scheint die Stellung der Frau in<br />

der italienischen Kolonie durch einen gewissen pragmatischen Materialismus gekennzeichnet<br />

zu sein. Nicht weniger als fünf Sprüche thematisieren <strong>das</strong> gute Essen<br />

als die hauptsächliche Anziehungskraft für den Ehemann, wie z. B:<br />

Um bom manjar prende o marido ao lar.<br />

‚Eine gute Mahlzeit bindet den Mann ans Haus‘. 7<br />

In einigen Fällen bietet <strong>das</strong> den Text begleitende Bild eine wertvolle Interpretationshilfe:<br />

Assim como os pássaros voltam ao ninho, assim volta o esposo ao lar<br />

que tem carinho.<br />

‚Wie die Vöglein ins Nest zurückkehren, so kehrt der Mann ins Haus<br />

zurück, wo Liebe herrscht‘.<br />

In diesem Wandspruch wird <strong>das</strong> Wort carinho ‚Liebe‘ eher als materielle Fürsorge<br />

verstanden (die Vöglein werden auf dem gestickten Bild gefüttert). Ein anderes<br />

Beispiel für die Aufwertung der Esskultur bei den Italienern ist folgender Spruch:<br />

O fogão é o altar da mulher.<br />

‚Der Ofen ist der Altar der Hausfrau‘.<br />

Eine Zählung der am häufigsten vorkommenden, leitmotivischen Wörter ergibt<br />

ein ähnliches Resultat wie bei den deutschen Wandsprüchen. Die meisten<br />

Belege zeigt <strong>das</strong> Wort Deus ‚Gott‘ (11) wozu auch 6 Belege von Senhor ‚Herr‘,<br />

Cristo <strong>und</strong> Maria gezählt werden können. Casa <strong>und</strong> lar, Lexeme, die dem deutschen<br />

Haus <strong>und</strong> Heim entsprechen, werden 7 bzw. 10 mal genannt. Danach folgen<br />

Zusammensetzungen mit am- (amar, amor, amado) ‚lieb(e, en)‘ (10). Von ‚Arbeit‘<br />

trabalho, labor wird neunmal gesprochen <strong>und</strong> von paz ‚Friede‘ sechs. Verglichen<br />

mit dem deutschen Material enthält <strong>das</strong> italienische mehr Wörter für Reichtum<br />

(rica, riqueza, fortuna, fartura, sorte) <strong>und</strong> die damit zusammenhängende Eigenschaft<br />

economia ‚Sparsamkeit‘.<br />

Interpretationen der beiden mentalen Kulturen<br />

Die <strong>das</strong> Projekt Imagens e Palavras begleitende Analyse gibt eine interessante,<br />

jedoch nicht ganz überzeugende Deutung von der Rolle der italienischen<br />

Wandsprüche in ihrem damaligen Kontext. Demnach werden sie nicht als Spiegel<br />

der Wirklichkeit, sondern als Traumbild der ersehnten <strong>und</strong> gerade nicht<br />

vorhandenen Verhältnisse verstanden. Wenn von guten Mahlzeiten, sauberen<br />

Küchen, friedvollem Zusammenleben gesprochen wird, sei <strong>das</strong> ein Zeichen<br />

der Abwesenheit gerade dieser Sachen. Die Wandsprüche würden <strong>das</strong><br />

ausdrücken, was die Einwanderer ersehnen, nämlich den Aufstieg in eine kleinbürgerliche<br />

Gesellschaft. Die Tatsache, <strong>das</strong>s man seine Wände mit solchen<br />

7. Man vergleiche <strong>das</strong> deutsche Sprichwort Die Liebe geht durch den Magen, <strong>das</strong> aber kein<br />

Thema für einen Wandspruch <strong>und</strong> in meiner Sammlung nicht belegt ist.<br />

317


318<br />

moralischen Sprüchen dekoriert, wird als Versuch interpretiert, ‚den anderen‘ zu<br />

zeigen, welche ethischen Werte von der Gruppe priorisiert werden.<br />

Im Verhältnis zu den deutschen Einwanderern bestanden während der ersten<br />

Jahrzehnte sozio-ökonomische Unterschiede. In den Augen vieler Italiener waren<br />

die Deutschen, die 50 Jahre vorher ins Land gekommen waren, ‚die Erfolgreichen‘.<br />

Vielleicht waren gerade sie ‚die anderen‘, denen man zeigen wollte, <strong>das</strong>s<br />

man dieselben ethischen Wertvorstellungen hatte?<br />

In der Projektanalyse wird die geistige <strong>und</strong> materielle Notlage der italienischen<br />

Einwanderer hervorgehoben, die mit der eher idyllischen Botschaft der<br />

Wandsprüche wenig Übereinstimmung zeige. Die traditionellen Tugenden Fleiß,<br />

Sparsamkeit, Eintracht, Duldsamkeit <strong>und</strong> Frohsinn, die für <strong>das</strong> Weiterbestehen<br />

einer solchen Minoritätsgruppe unverzichtbar waren, hätten laut dieser Interpretation<br />

ein stereotypes Bild von dem italienischen Einwanderer <strong>und</strong> seinen<br />

Nachkommen als Resultat gehabt. Mit der Zeit habe der Einwanderer dieses Bild<br />

als positiven Auto-Stereotyp angenommen <strong>und</strong> es weitergepflegt. Das Idealbild<br />

sei somit als Wirklichkeit aufgefasst worden <strong>und</strong> die dunklen Seiten Armut, Streit<br />

<strong>und</strong> Unrecht verschwiegen. Es handele sich also nach dieser Hypothese um<br />

eine durch äußere Umstände erworbene Identität <strong>und</strong> nicht um eine ererbte<br />

oder mitgebrachte.<br />

Wenn dies auch eine bestechende Theorie ist, scheint sie mir jedoch eine<br />

gewisse Vereinfachung der komplizierten Wirklichkeit zu sein. Für <strong>das</strong> deutsche<br />

Material trifft sie jedenfalls kaum zu. In der bisherigen Forschung zur deutschen<br />

Einwanderergeschichte ist man allerdings manchmal allzu leicht von einer aus<br />

der Heimat mitgebrachten kulturellen Identität ausgegangen, die sich durch reges<br />

Interesse für Religion <strong>und</strong> Bildung auszeichne <strong>und</strong> eine Reihe von gemeinsamen<br />

Wertvorstellungen umfasse. Es darf aber nicht vergessen werden, <strong>das</strong>s <strong>das</strong><br />

kulturelle Selbstverständnis auch in der neuen Heimat durch Einfluss der deutschsprachigen<br />

Kirche, Schule <strong>und</strong> Zeitung im Einklang mit den damals in Deutschland<br />

vorherrschenden moralischen Idealen bewusst gefördert worden ist. Diese<br />

Tatsache verstärkte auch die Abgrenzung gegen ‚die anderen‘. Bekanntermaßen<br />

definiert sich die ethnische Identität einer Gruppe einerseits durch positive Elemente<br />

der Zusammengehörigkeit, andererseits durch negative Elemente der Abgrenzung<br />

gegenüber anderen Gruppen.<br />

Trotzdem kann man eindeutig nicht – wie in der italienischen Projektanalyse<br />

– behaupten, <strong>das</strong>s diese kulturelle Identität erst in Brasilien entstanden ist <strong>und</strong><br />

in einem allmählichen Prozess von den Eingewanderten angenommen wurde.<br />

Es war ja tatsächlich so, <strong>das</strong>s die Einwanderer nicht nur ihre Sprache,<br />

sondern auch Elemente der materiellen Kultur wie Bibel, Gesangbuch <strong>und</strong><br />

eben die Wandschoner in die neue Heimat mitbrachten. Viele Quellen bezeugen,<br />

<strong>das</strong>s die letzteren durch jahrelangen Gebrauch <strong>und</strong> vieles Waschen verschlissen<br />

<strong>und</strong> verblichen wurden. Man hat sie durch neue ersetzt, wobei die<br />

alten Sprüche, die einen hohen Stellenwert für die Identität der Gruppe besaßen,<br />

abgestickt wurden.<br />

Die deutschen Einwanderer haben ihre Muttersprache <strong>und</strong> damit ihre Denkweise<br />

<strong>und</strong> ihr Weltbild mitgebracht <strong>und</strong> beibehalten, sogar weiterentwickelt. Mit<br />

dieser Sprache wurden auch die ethischen Konzepte tradiert <strong>und</strong> u. a. in den


Wandsprüchen zum Ausdruck gebracht. Gerade darin liegt ein wichtiger Unterschied<br />

zwischen den deutschen <strong>und</strong> den in der Landessprache verfassten ‚italienischen‘<br />

Wandsprüchen.<br />

Schlussfolgerungen<br />

Das Medium Wandsprüche <strong>und</strong> unser Bedarf an Lehrwörtern<br />

Die linguistische Mentalitätsgeschichte erforscht <strong>das</strong> Verhältnis zwischen Denken,<br />

Sprache <strong>und</strong> Handeln bzw. Einstellungen in einer Sprachgruppe. Sie beschäftigt<br />

sich dabei gerade mit den habituell gewordenen Gedanken <strong>und</strong> nicht mit den<br />

außergewöhnlichen <strong>und</strong> einzigartigen. Eine Sammlung von Wandsprüchen wie<br />

die hier vorgelegte gibt uns Zugang zu der Gedankenwelt, der Mentalität einer<br />

bestimmten Gruppe zu einer bestimmten Zeit. Mit Hilfe des Beschreibungsmodells<br />

konnte ich in Bezug auf die Wandsprüche zeigen, <strong>das</strong>s sie im Bereich der ethischen<br />

Konzepte eine kleinere Anzahl von Eigenschaften thematisieren <strong>und</strong> <strong>das</strong>s<br />

es sich dabei vor allem um Tugenden handelt. Mit wenigen Ausnahmen fehlen<br />

Aussagen zu Lastern ganz. Der Themenkreis umfasst in erster Linie Emotionen,<br />

Religiosität <strong>und</strong> Fleiß, aber auch Eigenschaften wie Gastfre<strong>und</strong>lichkeit <strong>und</strong> Stolz<br />

auf <strong>das</strong> eigene Heim gehören zu den Prioritäten, ebenso wie Geduld <strong>und</strong> Ehrlichkeit.<br />

Eine Analyse der mündlichen Aussagen zeigt, <strong>das</strong>s an denselben traditionellen<br />

Wertvorstellungen festgehalten wird, indem als stereotyp deutsch angesehene<br />

Tugenden <strong>und</strong> Laster positiv bzw. negativ kommentiert werden.<br />

Beim Vergleich mit der Wandspruchsammlung aus der italienischen Kolonie<br />

wird die Tendenz zur Konzentration auf wenige, nur positive Eigenschaften bestätigt.<br />

Die angeschnittenen Themen sind ebenfalls dieselben, wenn auch einige<br />

Unterschiede festgestellt werden konnten. In beiden Korpora geht es darum, nur<br />

die guten Gefühle zu zeigen, den anderen zu helfen <strong>und</strong> alles zu vermeiden, was<br />

andere verletzen könnte. Durch ein solches Verhalten trage man auch zum eigenen<br />

Glück bei. Der deutsche Spruch Das Leben ist kurz – Seid gut zueinander drückt<br />

diese Quintessenz aus.<br />

Die Wandsprüche geben also ein aufschlussreiches Bild der anzustrebenden<br />

mentalen Kultur der Familie in den verschiedenen Ethnien. Sie wollen im alltäglichen<br />

Leben in erster Linie trösten, helfen <strong>und</strong> ermutigen <strong>und</strong> bedeuten somit eine<br />

Lebenshilfe. Da sie als die Stimme der Frau angesehen werden können, heben sie<br />

die Rolle der Frau als Kulturträgerin hervor. Dass die Sprüche jahrzehntelang im<br />

Gedächtnis vieler Menschen gespeichert bleiben <strong>und</strong> in bestimmten Situationen<br />

abgerufen werden, ist wohl der beste Beweis dafür, <strong>das</strong>s es sich hier nicht um leere<br />

Worte handelt, sondern um Lehren, die einen <strong>das</strong> ganze Leben begleiten können.<br />

Literatur<br />

FAVARO, Cleci E. (Hrsg.) (2001): Imagens e palavras. Iconografia e linguagens no processo de transmissão<br />

e preservação de valores culturais na Região Colonial Italiana do Rio Grande do Sul. (Forschungsprojekt<br />

Unisinos, CD Rom). Sao Leopoldo.<br />

HERMANNS, Fritz (1995): Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte. In: GARDT, A. / MATTHEIER, K. /<br />

REICHMANN, O. (Hrsg.): Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen. Gegenstände, Methoden, Theorien.<br />

Tübingen, S. 68-101.<br />

319


320<br />

HOFMEISTER, Wernfrid (1995): Sprichwortartige Mikrotexte als literarische Medien, dargestellt an der<br />

hochdeutschen politischen Lyrik des Mittelalters. Bochum.<br />

KRULL, Kirsten (2004): Lieber Gott mach mich fromm.... Zum Wort <strong>und</strong> Konzept „fromm“ im Wandel der<br />

Zeit. (Diss.). Umeå.<br />

MAESTRI, Mário (Hrsg.) ( 2 1998): Nós, os Ítalo-Gaúchos. Porto Alegre.<br />

MALMQVIST, Anita (2000): Sparsamkeit <strong>und</strong> Geiz, Großzügigkeit <strong>und</strong> Verschwendung. Ethische Konzepte<br />

im Spiegel der Sprache. (Diss.). Umeå.<br />

SCHULZ VON THUN, Friedemann (1999): Miteinander reden 2. Stile, Werte <strong>und</strong> Persönlichkeitsentwicklung.<br />

Differentielle Psychologie der Kommunikation. Hamburg.<br />

STEDJE, Astrid / STOEVA-HOLM, Dessislava (2004): Das Projekt „Ethische Konzepte <strong>und</strong> mentale<br />

Kulturen“. In: JENDIS, M. (Hrsg.): Norden <strong>und</strong> Süden. Festschrift für K.Å. Forsgren. Umeå, S.<br />

226-248.<br />

TORNQUIST, Ingrid M. (1997): „Das hon ich von meiner Mama“ – zu Sprache <strong>und</strong> ethischen Konzepten<br />

unter Deutschstämmigen in Rio Grande do Sul. (Diss.). Umeå.<br />

TORNQUIST, Ingrid M. (2003): Linguagem e mentalidade entre teuto-gaúchos. In: CUNHA, J.L /<br />

GÄRTNER, A (Hrsg.): Imigração alemã no Rio Grande do Sul: História, Linguagem, Educação.<br />

Santa Maria, S. 159-186.<br />

WIENKER-PIEPHO, Sabine (1992): Sprichwörter: Goldene Lebensregeln oder Nonsens? In: Konturen.<br />

Magazin für Sprache, Literatur <strong>und</strong> Landschaft 3, S. 43-45.<br />

Dr. Ingrid Margareta Tornquist, geb. 1930 in Schweden, seit 1953 in Brasilien. Mitarbeiterin<br />

an der Deutschlehrerausbildung der Universität Unisinos, São Leopoldo, Rio Grande<br />

do Sul. Promovierte in Germanistik 1997 an der Universität Umeå, Schweden. Verschiedene<br />

Publikationen <strong>und</strong> Vorträge im Rahmen des Projekts Ethische Konzepte <strong>und</strong> mentale Kulturen.<br />

In Brasilien u. a. Beteiligung an Imigração Alemã no Rio Grande do Sul: História, Linguagem,<br />

Educação (Ed. UFSM 2003).


4. Flagge des Vereinigten Königreichs<br />

von Portugal, Brasilien<br />

<strong>und</strong> der Algarve (1816-1821)<br />

1. Fahne des Christusordens<br />

2. Portugiesische Flaggen aus dem 12., 13. <strong>und</strong> 15. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

7. Flagge des Königreichs<br />

Brasilien ab 1823-1889<br />

Illustrationen zu Artikel S. 277 - 300<br />

3. Aktuelle Flagge Portugals (seit 1910)<br />

5. Flagge Brasiliens im<br />

Vereinigten Königreich<br />

6. Flagge des Königreichs<br />

Brasilien Sept. - Dez. 1822<br />

8. Flagge Portugals<br />

1830-1910


9. Erste republikanische Fahne<br />

(15. - 19. Nov. 1889)<br />

11. Staatswappen in seiner ursprünglichen Form<br />

10. Urmodell der am 19. Nov. 1889 eingeführten Fahne<br />

13. Flaggen mit Kreuz des Südens<br />

Australien Neuseeland<br />

12. Staatswappen in seiner heutigen Form<br />

Papua Neuguinea<br />

Samoa Weihnachtsinsel<br />

Kokosinseln


Foto 2:<br />

Luftbild<br />

Cia. Hering,<br />

Blumenau<br />

Foto 1:<br />

Luftbild<br />

Sulfabril S. A.,<br />

Blumenau<br />

Foto 3:<br />

Luftbild<br />

WEG S. A.,<br />

Jaraguá do Sul


Regionale Identität <strong>und</strong><br />

industrielle Entwicklung<br />

in Nordost-Santa Catarina<br />

in Zeiten der Globalisierung<br />

Gerd Kohlhepp / Maria Luiza Renaux<br />

Tübingen / Blumenau<br />

Resumo: O artigo trata do desenvolvimento, da estrutura atual e da<br />

ordem espacial da indústria do nordeste de Santa Catarina,<br />

povoado por imigrantes alemães e italianos e seus descendentes.<br />

Desenvolveu-se um perfil regional específico<br />

com base em pequenas e médias empresas, de propriedade<br />

familiar, e na produção de qualidade. Apesar de toda a<br />

diversificação, a indústria ainda se baseia fortemente nas<br />

áreas têxteis e de vestuário, principalmente no vale do médio<br />

Itajaí, nos arredores de Blumenau, porém surgiram<br />

empresas em outros ramos industriais que hoje ocupam<br />

posições destaca<strong>das</strong> no Brasil. Paralelamente aos centros<br />

industriais tradicionais como Joinville, Blumenau e Brusque,<br />

a dinâmica cidade de Jaraguá do Sul e o cluster moveleiro<br />

nas proximidades de São Bento do Sul também se<br />

apresentam como localizações industriais bem situa<strong>das</strong>.<br />

Apesar da grande influência da globalização e dos processos<br />

de adaptação a esta, a indústria do nordeste de Santa<br />

Catarina manteve, em grande parte, a sua identidade regional<br />

com características históricas, sociais, sócio-culturais<br />

e econômicas.<br />

Abstract: The article deals with the development, the actual structure<br />

and the spatial order of the industry in northeast Santa<br />

Catarina, a region populated by German and Italian immigrants<br />

and their descendants. There, a specific regional<br />

profile has been developed on basis of small and middlesized<br />

companies in family property and of quality production.<br />

In spite of all diversification, the industry is still strongly<br />

based on the textile and clothing sector, specially in the<br />

middle valley of the river Itajaí aro<strong>und</strong> Blumenau, but there<br />

have come up companies in other industrial branches<br />

which nowadays range in leader positions in Brazil. Besides<br />

the traditional industrial centers like Joinville, Blumenau<br />

and Brusque, the dynamical town of Jaraguá do Sul<br />

321


322<br />

and the furniture cluster aro<strong>und</strong> São Bento do Sul figure<br />

as well situated industry locations. In spite of the great influence<br />

of globalization and the processes of adaptation to<br />

it, the industry in northeast Santa Catarina has preserved<br />

in a large part its regional identity with historical, social,<br />

socio-cultural and economical characteristics.<br />

Einleitung<br />

Die Industrie in Santa Catarina nimmt in Brasilien eine Sonderstellung ein, da<br />

ihre Entstehung in der Region – mit Ausnahme der Holz verarbeitenden Industrie<br />

– weder auf großen Rohstoffvorkommen, noch auf Bevölkerungskonzentrationen<br />

mit für Industrieprodukte aufnahmefähigen Märkten in Großstädten <strong>und</strong> Metropolen<br />

basierte. Die Catarinenser Industrie ist traditionell aufgr<strong>und</strong> lokaler Eigeninitiative<br />

<strong>und</strong> Unternehmungsgeist von deutschen <strong>und</strong> italienischen Einwanderern<br />

<strong>und</strong> ihren Nachkommen sowie Eigenkapital der Gründer <strong>und</strong> einer zuverlässigen<br />

Arbeiterschaft entstanden <strong>und</strong> in dieser Form kontinuierlich gewachsen.<br />

Im Gegensatz dazu beruhte die Industrialisierung Brasiliens in der Hauptphase<br />

seit Mitte der 1950er Jahre in starkem Maße auf hohen Investitionen ausländischer<br />

<strong>und</strong> multinationaler Unternehmen, dem Import maschineller Ausrüstung<br />

<strong>und</strong> anfangs auf der temporären Verfügbarkeit hoch qualifizierter ausländischer<br />

Techniker <strong>und</strong> Betriebsleiter sowie der Errichtung einer Filialwerk-Struktur internationaler<br />

Mutterkonzerne.<br />

Noch zu Beginn der 1960er Jahre war in Santa Catarina aufgr<strong>und</strong> der geographischen<br />

Lage abseits der großen Zentren, der verkehrstechnisch schlechten<br />

Anbindung <strong>und</strong> Engpässen in der Energieversorgung ausländisches Kapital nur<br />

in einigen wenigen Ausnahmefällen an der industriellen Entwicklung beteiligt.<br />

Dies änderte sich – in einigen Branchen – erst seit den 1980er <strong>und</strong> 90er Jahren,<br />

aber die großen Kapitaltransfers oder Betriebsneugründungen ausländischer<br />

Konzerne fanden bis heute in Santa Catarina nicht statt. So hat die deutsche<br />

Industrie, die in Brasilien vor allem in São Paulo sehr bedeutende Unternehmen<br />

gründete, <strong>das</strong> im Nordosten des Staates sehr stark von deutschen Einwanderern<br />

<strong>und</strong> deren Nachkommen geprägte Santa Catarina noch kaum ‚entdeckt‘.<br />

Obwohl die Auswirkungen der Marktöffnung Anfang der 1990er Jahre <strong>und</strong><br />

der Globalisierung auch die Catarinenser Industrie erfassten, hat diese im Nordosten<br />

des Staates ihre regionale Identität großenteils bewahrt.<br />

Historische Gr<strong>und</strong>lagen der regionalen Identität<br />

im Nordosten Santa Catarinas<br />

Zur Erfassung des Konzepts der regionalen Identität soll zunächst auf die historische<br />

Siedlungsentwicklung im Untersuchungsgebiet eingegangen werden. Dabei<br />

werden Kriterien der Identität einer europäischen, zunächst deutschen Einwandererbevölkerung<br />

erfasst, die ab 1824 große Teile Südbrasiliens erschloss <strong>und</strong><br />

ab Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts den Nordosten Santa Catarinas im Hinterland des<br />

von Portugiesen <strong>und</strong> Azorianern kolonisierten Küstenstreifens besiedelte.


Die deutsche Einwanderung nach Südbrasilien wurde als modernes Projekt<br />

zur Unterstützung der politischen Unabhängigkeit Brasiliens konzipiert. Mit diesem<br />

Projekt wurde ein neues Entwicklungsmodell verwirklicht, <strong>das</strong> auf Kleinbesitz, der<br />

Arbeitskraft der Einwanderer, der auf die Versorgung des Binnenmarktes mit Nahrungsmitteln<br />

ausgerichteten landwirtschaftlichen Polykultur, der Förderung regionaler<br />

Kapitalakkumulation <strong>und</strong> auf dem Anreiz gemeinschaftlicher Entscheidungen<br />

basierte.<br />

Dabei wurde auch deshalb an die Einwanderer aus deutschen Landen gedacht,<br />

da deren Ansiedlung als freie Kleinbauern in den USA erfolgreich war <strong>und</strong><br />

die deutschen Siedler als für Südbrasilien geeignet angesehen wurden. Nach<br />

Schwierigkeiten in der Anfangsphase in der Auseinandersetzung zwischen Zentralregierung<br />

<strong>und</strong> ländlicher Oligarchie der Plantagenbesitzer um die Landzuteilung<br />

an Kleinbauern wurde im Landgesetz 1850 die Verantwortlichkeit für die<br />

Einwanderung an die Provinzebene delegiert <strong>und</strong> privaten Kolonisationsgesellschaften<br />

übertragen. Im Gegensatz zu den tropischen Plantagengebieten<br />

mit Export von Agrarprodukten wurde in Südbrasilien die Einwanderung deutscher<br />

<strong>und</strong> später italienischer Kolonisten propagiert, die nach Land <strong>und</strong> Freiheit<br />

suchten. Santa Catarina übernahm in dieser zweiten Kolonisationsphase deutscher<br />

Einwanderung die Führung.<br />

In der dritten Phase ab 1880 kamen Einwanderer aus Thüringen, Sachsen,<br />

Baden <strong>und</strong> deutsche Weber aus Lodz, die die ersten Textilbetriebe in Blumenau,<br />

Joinville <strong>und</strong> Brusque gründeten (KOHLHEPP 1969). Dies war der Beginn einer<br />

später immer stärkeren wirtschaftlichen Ausrichtung auf die Industrie. Pioniere<br />

waren die „Tricotwarenfabrik Gebrüder Hering“ (1880) <strong>und</strong> die Kleiderstoffe produzierende<br />

Firma Röder, Karsten & Hadlich (1882) in Blumenau, die Textilfabrik<br />

Döhler (1881) in Joinville <strong>und</strong> in Brusque der Textilbetrieb Renaux (1892).<br />

Aufgr<strong>und</strong> der schwierigen topographischen Verhältnisse in der Region<br />

waren die besten Flächen <strong>und</strong> Böden bald schon vergeben, so <strong>das</strong>s durch<br />

neue Einwanderer oder durch Misserfolg in der Landwirtschaft Arbeitskräfte<br />

in die Industrie abwanderten oder als Arbeiter-Bauern eine solide wirtschaftlicheGr<strong>und</strong>lage<br />

anstrebten.<br />

Blumenau, Joinville<br />

<strong>und</strong> Brusque<br />

wurden durch weitere<br />

Betriebe in der<br />

Textil- <strong>und</strong> Bekleidungsindustrie<br />

zu<br />

Zentren der industriellen<br />

Aktivitäten<br />

<strong>und</strong> konzentrierten<br />

2/3 aller Betriebe<br />

in Santa Catarina<br />

(CUNHA 1981). Die<br />

Firmen Renaux in<br />

Brusque <strong>und</strong> Hering<br />

Fábrica de Tecidos Renaux in Brusque (gegr. 1892) Anfang des<br />

20. Jhdts. (Firmenfoto im Familienbesitz M. L. Renaux)<br />

323


324<br />

in Blumenau waren vor dem 1.Weltkrieg die führenden Produzenten mit bereits<br />

jeweils mehr als 200 Beschäftigten.<br />

Die europäischen Einwanderer brachten soziokulturelle Gr<strong>und</strong>lagen mit sich,<br />

die in Europa traditionell ihre Wurzeln in der Arbeitsdisziplin der Zünfte hatten.<br />

Die Handwerker der Zünfte stellten in den deutschen Städten des ausgehenden<br />

Hoch-Mittelalters bis zur Aufhebung der Vorrechte der Zünfte durch die Gewerbefreiheit<br />

im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert die soziale Mittelschicht, die durch ihre Arbeitsauffassung<br />

einen wesentlichen Teil der städtischen Gesellschaft bildete. Die Zünfte<br />

zeichneten sich durch strenge Satzungen <strong>und</strong> Zunftbräuche aus, die auf der patriarchalisch-autoritären<br />

Familienstruktur basierten, die in allen Ebenen der Gesellschaft<br />

vorherrschte. Gute Organisation <strong>und</strong> solide Lehrlingsausbildung, Preis- <strong>und</strong><br />

Qualitätsvorschriften waren wichtige Kriterien der Zünfte. Des Weiteren waren<br />

untadeliger Lebenswandel, Rechtschaffenheit <strong>und</strong> die starke Kontrolle innerhalb<br />

der Gemeinschaft Regeln, die Identität schufen, gleichzeitig eine Qualitätsarbeit<br />

garantierten <strong>und</strong> Fremde aus den Zünften fernhielten. Als Maschinen die handwerkliche<br />

Arbeit ersetzten, verließen viele Handwerker, Meister <strong>und</strong> kleine Unternehmer<br />

Deutschland (RENAUX 1995).<br />

In den deutschstämmigen Siedlungsgebieten in Santa Catarina identifizierte sich<br />

der neue Unternehmungsgeist mit der politischen Richtung der Republikaner. Deren<br />

wirtschaftliche Prinzipien konzentrierten sich u. a. auf den Ausbau der Infrastruktur,<br />

die Vereinfachung der juristischen Vorgänge, auf maximale Autonomie der<br />

Munizipien, gerechtere Erhebung <strong>und</strong> Verteilung der Steuern. Als Brasilianer naturalisierte<br />

Einwanderer bildeten republikanische Komitees <strong>und</strong> wurden auch als<br />

Abgeordnete gewählt, so Carlos Renaux für die republikanische Partei im Itajaí-Tal.<br />

Zwischen den beiden Weltkriegen ermöglichte die Politik der Importsubstitution<br />

eine Blüte der brasilianischen Industrieproduktion, auch der Catarinenser Textilindustrie.<br />

Für die Vertikalisierung der Betriebe wurden neue Maschinen importiert, die<br />

aber von ausgebildeten Technikern, vor allem aus Deutschland, installiert <strong>und</strong> bedient<br />

werden mussten. Die in Deutschland wütende Inflation, die in den 1920er Jahren<br />

viele Existenzen vernichtete, führte zu einer starken Auswanderung. Da die Fachleute<br />

ihren Beruf in einer Region ausüben wollten, in der sie sich auch sprachlich<br />

verständigen konnten, bot sich Santa Catarina <strong>und</strong> Südbrasilien als erste Wahl an.<br />

Diese Einwanderer brachten nicht nur technische Kenntnisse mit, die der Industrie<br />

einen sehr starken Impuls <strong>und</strong> ein innovatives Profil verliehen, sondern<br />

hatten auch einen f<strong>und</strong>ierten kulturellen Hintergr<strong>und</strong>. Innovation <strong>und</strong> Qualitätsstandard<br />

der Produktion wurden Charakteristika dieser Phase in Santa Catarina.<br />

Dies zu einer Zeit, in der die Industrie in São Paulo durch <strong>das</strong> völlige Fehlen einer<br />

systematischen Nutzung technischer <strong>und</strong> organisatorischer Ressourcen (PEREIRA<br />

1967) auffiel <strong>und</strong> auch in der brasilianischen Textilindustrie kaum f<strong>und</strong>ierte Fachkenntnisse<br />

<strong>und</strong> ausgebildete Unternehmer vorhanden waren (STEIN 1979).<br />

Die Catarinenser Textilindustrie gehörte zu den führenden Exporteuren. Als<br />

Beispiel für den Aufschwung in Santa Catarina kann der Verbrauch von Baumwolle<br />

<strong>und</strong> Wolle der Firma Renaux genommen werden, der sich zwischen 1918 <strong>und</strong> 1946<br />

verzehnfachte (HERING 1987). Dabei muss betont werden, <strong>das</strong>s die Anstrengungen<br />

zur technischen Verbesserung mit einer strengen Arbeitsauffassung <strong>und</strong> Arbeitsmoral<br />

sowie einer Mentalität verb<strong>und</strong>en waren, die für Nordost-Santa Catarina


die Aussage zulässt, <strong>das</strong>s diese Techniker die regionale Identität mit einer traditionsorientierten<br />

‚Fabrikkultur‘ <strong>und</strong> einer davon abhängigen Lebensweise verbanden.<br />

Die uniformierenden Tendenzen der Globalisierung stehen im Gegensatz zu<br />

den regionalspezifischen Entwicklungen, bei denen die historischen Traditionen,<br />

die kulturellen <strong>und</strong> kulturlandschaftlichen Besonderheiten die Lebensweise, den<br />

Wirtschaftsstil <strong>und</strong> die wirtschaftlichen Strategien der Akteure in intraregional<br />

bzw. lokal sehr differenzierter Weise prägen. Die Beteiligten sehen sich in einem<br />

lokalen <strong>und</strong> regionalen Sinnzusammenhang, der durch gemeinsames alltägliches<br />

Erleben <strong>und</strong> Handeln alle Teile der Bevölkerung subjektiv <strong>und</strong> emotional verbindet<br />

<strong>und</strong> mit rationalen, unpersönlichen Kontakten anderer Lebenswelten auf globaler<br />

Ebene kontrastiert. Um ein Gefühl des Dazugehörens bei einer bestimmten<br />

Gruppe entstehen zu lassen, müssen ein Bewusstsein für gemeinsame Ziele, Herkunft,<br />

Tradition, Kultur, landschaftliches Ambiente oder auch gemeinsame Probleme<br />

vorhanden sein, die ein ‚Wir-Gefühl‘ entwickeln.<br />

Zu den Kriterien, nach denen sich Individuen in einem bestimmten Kontext<br />

sehen, gehört auch die Arbeitswelt, die sich in der Industrie durch eine bestimmte<br />

‚technische Kultur‘ identifiziert. Dies gilt insbesondere für die im Nordosten<br />

Santa Catarinas untersuchten Städte Joinville, Jaraguá do Sul, Pomerode,<br />

Blumenau, Brusque, Itajaí <strong>und</strong> São Bento do Sul, industriewirtschaftliche Zentren<br />

im deutsch- <strong>und</strong> italo-brasilianischen Siedlungsgebiet, die durch lokale <strong>und</strong><br />

regionale Kriterien definiert sind <strong>und</strong> eine Pionierrolle bei der wirtschaftlichen<br />

Entwicklung der Region spielten.<br />

Das alltägliche Verhalten der Personen, die Formen der Sozialisierung, der Erziehung<br />

<strong>und</strong> der Arbeit schaffen ein lokales oder regionales Milieu, <strong>das</strong> sich von<br />

anderen Regionen unterscheidet. Die Selbstbeschreibung der Zugehörigkeit der<br />

Akteure ist <strong>das</strong> entscheidende Kriterium für die Gruppenidentität. Auslösender Faktor<br />

für <strong>das</strong> Bewusstsein <strong>und</strong> die Perzeption einer spezifischen regionalen Identität<br />

war in gewissem Sinne die Krise der Industrie mit der Öffnung des brasilianischen<br />

Marktes Anfang der 1990er Jahre. Diese Krise erforderte eine Analyse der regionalen<br />

Situation <strong>und</strong> als Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung eine<br />

industrielle Restrukturierung, aber auch eine regionalspezifische Strategie zur Überwindung<br />

der Probleme <strong>und</strong> zur Sicherung der industriellen Zukunft der Region.<br />

Standortbedingungen <strong>und</strong> heutige Industriestruktur<br />

im nordöstlichen Santa Catarina<br />

Obwohl Santa Catarina mit etwa 95.500 km² einer der kleinsten brasilianischen<br />

B<strong>und</strong>esstaaten mit 2005 nur 6,0 Millionen Einwohnern (= 3,2% Brasiliens) ist, kommt<br />

diesem Staat eine große industrielle Bedeutung zu. An Zahl der Betriebe nimmt Santa<br />

Catarina ebenso den vierten Rang in Brasilien ein wie bei der Zahl der Industriebeschäftigten.<br />

Im Jahre 2004 waren über 476.000 Beschäftigte in der verarbeitenden<br />

Industrie tätig. Nach São Paulo mit 2,07 Millionen <strong>und</strong> einem Anteil von 35,5%, Rio<br />

Grande do Sul (10,6%) <strong>und</strong> Minas Gerais (10,2%) stehen Santa Catarina <strong>und</strong> Paraná<br />

mit je 8,2% der 5,8 Millionen Industriebeschäftigten an vierter Stelle.<br />

Die Industrie im nordöstlichen Santa Catarina spielt in Brasilien in vielen Branchen<br />

eine bedeutende Rolle. Nach der Wertschöpfung im Jahre 2004 werden im<br />

325


326<br />

Produktionsbereich folgender Industriezweige hohe Anteile an der brasilianischen<br />

Gesamtproduktion erreicht:<br />

Elektromotoren, Generatoren, Transformatoren 37,7%, Bekleidung 24,4%, Elektrogeräte<br />

(Kühlschränke, Gefriertruhen) 23,5%, Gießereiprodukte 22,7%, Textilien<br />

15,7%, Möbel 13,5% (FIESC 2006).<br />

Die Industrie in Santa Catarina hat einen hohen Anteil an Klein- <strong>und</strong> Mittelbetrieben,<br />

weist aber auch einige Großbetriebe auf, die als internationale Marktführer<br />

weltweit mit an der Spitze stehen. Nur knapp 30% der Industriebeschäftigten<br />

sind in Großbetrieben tätig. Mit einer hohen Diversifizierung, aber auch herausragenden<br />

Clustern, z. B. in der Textil<strong>und</strong><br />

Bekleidungsbranche <strong>und</strong> der<br />

Möbelindustrie, zeichnet sich die Industrie<br />

in Santa Catarina nicht nur<br />

durch ihre Pionierstellung in einigen<br />

Branchen aus, sondern hat sich<br />

auch durch hohen Qualitätsstandard<br />

der Produktion einen Namen<br />

in Brasilien gemacht, der auch auf<br />

den Export ausstrahlt.<br />

Dies trifft vor allem auf die nordöstlichen<br />

Teile des B<strong>und</strong>esstaats zu<br />

(siehe Abb.1), der die anderen Regionen<br />

mit seiner industriellen<br />

Konzentration von Groß-, Mittel- <strong>und</strong><br />

Kleinbetrieben deutlich übertrifft. In<br />

der regionalen Industrieentwicklung<br />

ragen die seit Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

erschlossenen Siedlungsgebiete<br />

(siehe Abb.2) mit vorwiegend<br />

Abb.1<br />

deutschen <strong>und</strong> italienischen Einwanderern<br />

<strong>und</strong> deren brasilianischen<br />

Nachkommen besonders hervor (siehe Abb.3).<br />

Die Mikroregionen des Itajaí-Talsystems mit Blumenau, Brusque, Rio do Sul<br />

<strong>und</strong> Itajaí, von Joinville ( mit Jaraguá do Sul ) sowie im Hochland um São Bento<br />

do Sul beschäftigen über 55% der in Santa Catarina in der Industrie Tätigen (siehe<br />

Tab. 1, S. 328). Joinville, Blumenau, Jaraguá do Sul <strong>und</strong> Brusque sind dynamische<br />

städtische Zentren, in denen die Industrie zwischen 40 <strong>und</strong> 60% der Erwerbstätigen<br />

stellt (Gesamtregion Nordost-Santa Catarina: 52,6%).<br />

Während aber die großen Regionalzentren Joinville (2005: 487.000 Ew.) <strong>und</strong><br />

Blumenau (2006: 301.000 Ew.) neben der sehr bedeutenden industriellen Konzentration<br />

heute bereits einen starken Anstieg des Dienstleistungssektors aufweisen,<br />

sind in kleinen Mittelstädten wie Jaraguá do Sul <strong>und</strong> Brusque sowie Kleinstädten<br />

wie Timbó, Indaial <strong>und</strong> Pomerode zwischen 60 <strong>und</strong> 70% der Erwerbstätigen<br />

in der Industrie beschäftigt (siehe Tab.2). Mit ihren 264.000 Beschäftigten<br />

würde die Region Nordost-Santa Catarina in Brasilien immer noch den siebten<br />

Rang bei der industriellen Erwerbstätigkeit einnehmen.


Abb.2<br />

Abb.3<br />

327


Im Gegensatz zu den übrigen brasilianischen B<strong>und</strong>esstaaten hat die Hauptstadt<br />

Santa Catarinas, Florianópolis, mit Ausnahme des Software-Sektors nur eine<br />

sehr geringe industrielle Bedeutung <strong>und</strong> ist nach Joinville nur die zweitgrößte<br />

Stadt dieses Staates.<br />

Im nordöstlichen Santa Catarina ist trotz sich verändernder nationaler <strong>und</strong> globaler<br />

Rahmenbedingungen im Bereich der Industriestruktur, industrieller Betriebsformen<br />

<strong>und</strong> Produktionsprozesse sowie in der Bewertung der entscheidenden Standortfaktoren<br />

in hohem Maße Kontinuität <strong>und</strong> eine regionale Identität erhalten geblieben.<br />

Bei der regionalen Bevölkerung, insbesondere den Nachkommen deutscher<br />

<strong>und</strong> italienischer Einwanderer, zeigt sich eine mit der soziokulturell geprägten<br />

wirtschaftlichen Entwicklung verknüpfte spezifische Identitätsfindung, die mit Selbstvertrauen,<br />

Unternehmungsgeist, zum Teil aber auch konservativer Beharrung, hoher<br />

Arbeitsmoral <strong>und</strong> mit einem starken Regionalbewusstsein verb<strong>und</strong>en ist, <strong>das</strong> auf<br />

einer für Brasilien sehr günstigen Sozialstruktur basiert.<br />

Nordost-Santa Catarina war bis in die 1960er Jahre insbesondere aufgr<strong>und</strong><br />

der Verkehrssituation im brasilianischen Wirtschaftsraum relativ isoliert. Im Rahmen<br />

der Phase der Importsubstitution beruhte die Produktion nahezu ausschließlich<br />

auf dem Vorhandensein lokalen <strong>und</strong> regionalen Kapitals. Die Industriefirmen<br />

zeigten geringe betriebliche Verflechtungen. Aber bereits früher war ein Qualitätsprofil<br />

der Catarinenser Industrie (Qualitätssiegel „Blumenau“) entstanden, <strong>das</strong> –<br />

trotz damals allgemein defizitärer Infrastruktur der weiterführenden Schulen <strong>und</strong><br />

fehlender Universitäten – auf der gründlichen betrieblichen Ausbildung der Beschäftigten,<br />

dem Erfahrungsschatz eingewanderter Techniker <strong>und</strong> einer Perfektionierung<br />

traditioneller Produktionsmethoden aufbaute (KOHLHEPP 1968, 1971).<br />

Die Liberalisierung der Märkte Anfang der 1990er Jahre bewirkte den Einfluss<br />

der Globalisierung mit ausländischen Direktinvestitionen <strong>und</strong> Importerleichterungen<br />

einerseits, verursachte andererseits aber erstmals internationalen Wettbewerbsdruck<br />

von Niedrigstlohnländern (China, Indien) <strong>und</strong> dadurch starke<br />

Verluste an Arbeitsplätzen, eine Produktionsausrichtung auf globale Anforderungen<br />

(Design, Markenname etc.) sowie die Notwendigkeit der betrieblichen Vernetzung<br />

vor dem Hintergr<strong>und</strong> der Clusterbildung.<br />

Trotzdem ist <strong>das</strong> regionale Profil der Industrie erhalten geblieben. Die Mehrzahl<br />

der Betriebe ist weiterhin im Familienbesitz bzw. unter der Leitung lokaler <strong>und</strong><br />

regionaler Unternehmer. Ausländische Kapitalbeteiligung oder gar Filialbetriebe<br />

sind immer noch die Ausnahme, staatliche Betriebe der verarbeitenden Industrie<br />

sind nicht vorhanden. Aufgr<strong>und</strong> der ethnischen Herkunft der Unternehmer sind<br />

Geschäftsverbindungen nach Deutschland <strong>und</strong> Italien verstärkt worden, obwohl<br />

die Ausbildung der kommenden Führungsgeneration nicht mehr wie früher in<br />

Europa stattfindet <strong>und</strong> der europäische Markt für brasilianische Produkte viele<br />

Hindernisse bietet.<br />

Die regionale Identität wird teilweise – indirekt – von außen gestärkt, indem<br />

integrationswillige Fachkräfte aus Metropolen, vor allem aus São Paulo, sich nach<br />

Santa Catarina bewerben <strong>und</strong> damit einen zunehmenden Trend der Mobilität<br />

qualifizierter Kräfte von den Metropolen in Richtung dynamischer Mittelstädte<br />

aufgr<strong>und</strong> der besseren Lebensqualität, des günstigeren sozialen Umfelds <strong>und</strong> weit<br />

geringerer Sicherheitsprobleme bestätigen. Zusätzlich finden in jüngerer Zeit eini-<br />

329


330<br />

ge deutsche <strong>und</strong> italienische mittelständische Unternehmer in der Region interessante<br />

Investitions- <strong>und</strong> Produktionsmöglichkeiten, unter Nutzung der Vorteile<br />

der Globalisierung aus europäischer Sicht, in diesem Falle aber auch zum Vorteil<br />

der regionalen Industriestandorte <strong>und</strong> deren Arbeitsmarkt.<br />

Die relativ geringe Größe der Industriestädte, vor allem im mittleren Itajaí-Tal<br />

<strong>und</strong> im Itapocú-Tal, begünstigen <strong>das</strong> Vorhandensein einer Industriearbeiterschaft,<br />

die sehr stark in <strong>das</strong> lokale Umfeld eingeb<strong>und</strong>en ist. Zwar sind heute weithin nicht<br />

mehr die traditionellen Arbeiter-Bauern die typischen Arbeitnehmer, die noch in<br />

den 1960er Jahren große Bedeutung hatten (KOHLHEPP 1968). Aber die Arbeitskräfte<br />

sind doch mit dem lokalen <strong>und</strong> regionalen Milieu großenteils eng verzahnt<br />

<strong>und</strong> besitzen durch bessere Wohnverhältnisse, teilweise auch durch Eigenversorgung<br />

mit Nahrungsmitteln, Arbeitsplatznähe, ges<strong>und</strong>heitliche Versorgung <strong>und</strong><br />

Sozialleistungen der Betriebe eine privilegierte Situation im Verhältnis zu den Metropolen<br />

<strong>und</strong> anderen Regionen Brasiliens.<br />

Die starke Integration in ein wiedererwachtes traditionsorientiertes <strong>und</strong> intensives<br />

Vereinsleben, vor allem in den nahe der Hauptstandorte liegenden dörflichen<br />

<strong>und</strong> kleinstädtischen Wohngemeinden, fördert <strong>das</strong> Gemeinschaftsgefühl.<br />

Dazu kommt <strong>das</strong> immer noch vorhandene patriarchalische Verhaltensmuster von<br />

Unternehmern in kleinen <strong>und</strong> mittelgroßen Familienbetrieben der Catarinenser<br />

Kleinstädte, in denen die Betriebsinhaber nicht ‚abgehoben‘ sind.<br />

Allerdings ist durchaus zu beobachten, <strong>das</strong>s sich bei großen Mittel- <strong>und</strong> insbesondere<br />

Großbetrieben die Nachfolgesituation häufig gewandelt hat. Bei erfolgreichen<br />

Unternehmen sind nicht mehr automatisch Familienangehörige in allen<br />

leitenden Funktionen tätig, sondern die Betriebe sind – notgedrungen – an sehr<br />

gut ausgebildeten, erfahrenen <strong>und</strong> leistungsorientierten Fachleuten interessiert,<br />

die von außen angeworben werden. Nur in positiven Ausnahmefällen sind noch<br />

Söhne, Enkel <strong>und</strong> andere Familienmitglieder der Betriebsgründer in allein verantwortlicher<br />

Stellung tätig. Bei den bereits in der ersten Hälfte des 20.Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

gegründeten Betrieben wurde die männliche Nachfolgegeneration der Unternehmerfamilien<br />

traditionell sehr häufig nach Deutschland zur Ausbildung geschickt.<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben – aufgr<strong>und</strong> des Bruchs während der<br />

Kriegszeit <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> fehlender deutscher Sprachkenntnisse – oft die USA diese<br />

Funktion übernommen. In vielen Fällen erfolgte die gesamte Ausbildung aber<br />

auch in Brasilien, häufig in São Paulo.<br />

Auswirkungen der Globalisierung:<br />

Das Beispiel der Textil- <strong>und</strong> Bekleidungsindustrie<br />

Die Globalisierung hatte insbesondere für die Textil- <strong>und</strong> Bekleidungsindustrie<br />

gravierende Auswirkungen. Zunächst hat der aus Konkurrenzgründen notwendige<br />

Import moderner maschineller Ausrüstungen zu starker Rationalisierung auf<br />

dem Arbeitskraft-Sektor geführt. Die betrieblichen Strukturen wurden gestrafft <strong>und</strong><br />

verschlankt. Dann mussten aufgr<strong>und</strong> der asiatischen Konkurrenten, die 40 – 70%<br />

billiger produzieren, die großen Produzenten zahlreiche Arbeitskräfte entlassen<br />

<strong>und</strong> Produktionsteile tertiärisieren.<br />

Dies bewirkte eine existenzbedrohende Krise <strong>und</strong> einen nachhaltigen Schock


für <strong>das</strong> regionale branchenspezifische Selbstbewusstsein. Der Wettbewerbsdruck<br />

hat auch einige erste, zumeist erfolglose Versuche bewirkt, in Regionen Brasiliens<br />

mit niedrigeren Löhnen, so im Nordosten, Filialbetriebe einzurichten. Trotz staatlicher<br />

Subventionen (z.B. durch SUDENE 1 ) haben dort fehlende Facharbeiter<br />

<strong>und</strong> mangelnde industrielle Arbeitstradition sowie defizitäre Infrastruktur zunächst<br />

keine Alternative zur globalisierten Konkurrenz aus Asien zugelassen.<br />

Großbetriebe der Bekleidungsindustrie haben aber bereits seit Anfang der 1970er<br />

Jahre erfolgreich versucht, durch Auslagerung von Betriebsteilen, vor allem Nähereien,<br />

in die ländliche Umgebung die dort verfügbare billigere Arbeitskraft zu nutzen,<br />

insbesondere junge weibliche Arbeitskräfte. Für die Munizipien im Hinterland<br />

von Blumenau war dies eine sehr gute Möglichkeit, Frauen in den industriellen<br />

Arbeitsprozess einzubinden, ohne mit der landwirtschaftlichen Tradition sofort zu<br />

brechen <strong>und</strong> damit über relativ stabile soziale Verhältnisse zu verfügen.<br />

Dann kam es zur Tertiärisierung mit der zunehmenden Auslagerung von Fertigungsprozessen<br />

(z.B. Näharbeiten) in viele Dutzende neu entstandener Kleinbetriebe,<br />

die größtenteils von ehemaligen Mitarbeitern im Dunstkreis der Mutterfirma mit<br />

zum Teil von dort zur Verfügung gestellten Nähmaschinen eingerichtet wurden<br />

<strong>und</strong> bis zu 60 % der im Konfektionsbereich notwendigen Arbeiten übernehmen.<br />

Dabei nutzten die Unternehmen die Kenntnisse der ehemaligen Mitarbeiter in den<br />

Qualitätsanforderungen der Produktion, trennten sich gleichzeitig von Sozialabgaben,<br />

vermieden weitere Entlassungen <strong>und</strong> gaben saisonale Absatzschwankungen<br />

an diese Kleinbetriebe weiter, die sich auf flexiblere Arbeitsbedingungen – häufig<br />

auch auf informeller Basis unter Umgehung von Steuern <strong>und</strong> Beiträgen zur Sozialversicherung<br />

– einstellten. Für den Arbeitsmarkt bedeutete dies angesichts der Absatzprobleme<br />

der Großfirmen aber auch eine gewisse Arbeitsplatzsicherung durch<br />

Flexibilisierung der Service-Leistungen, vor allem für weibliche Arbeitskräfte.<br />

In jüngster Zeit wird aber aufgr<strong>und</strong> der wirtschaftlichen Entwicklung im Itajaí-<br />

Tal <strong>und</strong> der zunehmenden Verknappung an Arbeitskräften im Näherei-Sektor sowie<br />

aufgr<strong>und</strong> der relativ hohen Lohnkosten in den Städten Santa Catarinas von<br />

einigen Großbetrieben wieder in Regionen außerhalb des Staates ausgelagert. Die<br />

Arbeiten werden aber großenteils von firmenfremden Kräften durchgeführt. Heute<br />

geschieht dies z. B. in Goiás <strong>und</strong> Rio Grande do Norte.<br />

So hat die Cia. Hering, eines der führenden Unternehmen Lateinamerikas auf<br />

dem Bekleidungssektor, heute nur noch 56 % der Arbeitskräfte in den wichtigsten<br />

Sektoren am Hauptsitz in Blumenau <strong>und</strong> hier werden nur noch 60 % des Umsatzes<br />

erwirtschaftet. Während in Betriebsteilen in Indaial, Rodeio <strong>und</strong> Ibirama mit unterschiedlicher<br />

Ausrichtung auf den nationalen <strong>und</strong> internationalen Markt produziert<br />

wird, bedienen die Betriebe in Goiás ausschließlich den nationalen Markt.<br />

In Natal im Nordosten Brasiliens läuft die Produktion über outsourcing <strong>und</strong> damit<br />

Tertiärisierung von Arbeitsgängen wie Zuschneiden, Waschen <strong>und</strong> Appretur.<br />

Vertikalisierung im Produktionsprozess war im Untersuchungsgebiet lange Zeit<br />

von der Notwendigkeit zur Eigeninitiative mit Autarkiebestreben getragen. Vertikale<br />

Kooperation war für die größeren Unternehmen kaum notwendig, da diese<br />

Firmen komplett vertikal integriert waren (siehe Foto 1 vor S. 321) (MEYER-STAMER<br />

1. Superintendência do Desenvolvimento do Nordeste<br />

331


332<br />

1996, 2003). Auch horizontale Kooperation war nicht dringend gefordert, da der<br />

brasilianische Markt bis Anfang der 1990er Jahre abgeschottet war <strong>und</strong> unter diesen<br />

abgesicherten Bedingungen auf nationaler Ebene erfolgreich produziert werden<br />

konnte <strong>und</strong> auch der – subventionierte – Export funktionierte. Im Gegenteil,<br />

viele Betriebe versuchten, sich gegen lokale <strong>und</strong> regionale Konkurrenz abzusichern<br />

<strong>und</strong> möglichst wenig fachliche Details preiszugeben. Heute haben vertikale Desintegration<br />

<strong>und</strong> Spezialisierung in der Produktion nach K<strong>und</strong>enwünschen bzw. Modetrends<br />

bei der Bekleidungsbranche die große Bandbreite der traditionellen Produktionslinien<br />

in vielen Großbetrieben abgelöst. Seit jüngster Zeit bieten SENAI 2<br />

<strong>und</strong> die Universitäten in Munizipien mit Bekleidungsindustrie Mode-Kurse an.<br />

Im mittleren Itajaí-Tal (Médio Vale do Itajaí) gibt es traditionell eine starke Clusterbildung<br />

im Bereich der Textil- <strong>und</strong> Bekleidungsindustrie. Allerdings hat diese<br />

standortspezifische Konzentration bisher nicht zu besseren Kooperationsaktivitäten<br />

zwischen Betrieben gleicher Branche geführt. Mit Fusionen zur Stärkung der Angebotsstruktur,<br />

aber auch mit Abbau kostenintensiver Verwaltung wird die für<br />

diese Region typische Industrie (Wirkwaren, Freizeitkleidung, Frotteewaren, Bett<strong>und</strong><br />

Tischwäsche etc.) sich den Herausforderungen der Globalisierung stellen<br />

müssen, um weiterhin wettbewerbsfähig zu sein. Ein erster wesentlicher Schritt ist<br />

die 2004 ins Leben gerufene Initiative verschiedener Unternehmen in Blumenau,<br />

Jaraguá do Sul, Brusque, Criciúma etc. zur Gründung einer Organisation Santa<br />

Catarina Moda Contemporânea, die im Bekleidungs-Cluster die Chance zum Informationsaustausch<br />

<strong>und</strong> gemeinsamen Strategien zur Produktion von Modeartikeln<br />

nutzen möchten.<br />

Bisher stehen häufig mangelnde oder auch schlechte Erfahrungen, Eigeninteressen<br />

traditionsbewusster Unternehmerfamilien mit teilweise schwierigen<br />

Nachfolgeproblemen im Führungsbereich sowie Vorbehalte gegenüber einer Offenlegung<br />

der Firmensituation einer Kooperation entgegen. Durch Firmenkontakte<br />

<strong>und</strong> gemeinsame Übernahme von Infrastrukturprojekten (z. B. Kläranlagen<br />

für die Textil- <strong>und</strong> Bekleidungsindustrie), verstärkten privaten, aber auch der<br />

Forderung nach kommunalen oder staatlichen Service-Leistungen könnten Synergie-Effekte<br />

erzielt werden, die zur besseren Reaktionsmöglichkeit auf globale<br />

Herausforderungen <strong>und</strong> damit bessere internationale Wettbewerbsfähigkeit führen<br />

würden. Dazu gehören auch die jüngst in Blumenau erfolgreichen Anstrengungen<br />

zur Einrichtung eines Messegeländes (Parque Vila Germânica), um mit<br />

internationaler Konkurrenz ein gutes Produkt-Marketing zu erzielen.<br />

Die Industrie- <strong>und</strong> Handelskammern der Region haben ihre Aktivitäten stark<br />

intensiviert <strong>und</strong> versuchen, zusammen mit den Kommunalverwaltungen Probleme<br />

bei der Flächennutzungsplanung für weitere Industrieansiedlung zu lösen,<br />

Infrastrukturprojekte im Umweltschutz oder in Zusammenarbeit mit staatlichen<br />

Institutionen Verbesserungen der beruflichen Bildung zu erreichen. Die Kooperation<br />

zwischen Industrie <strong>und</strong> Universitäten lässt z. T. noch zu wünschen übrig. Dazu<br />

tragen auch bei einigen Universitäten <strong>das</strong> übermäßige parteipolitische Innenleben<br />

<strong>und</strong> die bestehenden Vorbehalte der Zusammenarbeit mit Unternehmern<br />

bei. Spezialisierte Kurse für Textiltechniker fehlen.<br />

2. Serviço Nacional de Aprendizagem Industrial [Nationaler Ausbildungsdienst für die Industrielehre]


Allerdings sind jüngere private Universitäts-Neugründungen an klein- <strong>und</strong><br />

mittelstädtischen Standorten außerordentlich aktiv, haben ein großes Einzugsgebiet<br />

der in Abendkursen Studierenden <strong>und</strong> kommen in ihrem Kursangebot stärker<br />

den Anforderungen der lokalen <strong>und</strong> regionalen Industrie nach. Ihre Positionierung<br />

als Fachhochschulen bringt eine Einstellung auf die industriellen Bedürfnisse<br />

mit sich <strong>und</strong> auch <strong>das</strong> Lehrpersonal verfügt häufig über fachpraktische Erfahrung<br />

aus betrieblicher Tätigkeit.<br />

Standortkonzentration <strong>und</strong> regionales<br />

Profil der Industrie im Nordosten Santa Catarinas<br />

In der räumlichen Ordnung der Industriestandorte hat sich zwar seit Jahrzehnten<br />

<strong>das</strong> Gr<strong>und</strong>muster mit spezifischen Branchen-Konzentrationen <strong>und</strong> Clustern<br />

erhalten, aber es haben sich räumlich durchaus differenzierte Prozesse der<br />

Strukturveränderung sowie der Wachstumsdynamik ergeben.<br />

Joinville ist mit heute bereits 0,5 Millionen Ew. die größte <strong>und</strong> wirtschaftlich<br />

bedeutendste Stadt in Santa Catarina. In der regionalen Konkurrenz mit Blumenau<br />

hat Joinville nicht nur in der Zahl der Industriebeschäftigten (siehe Tab. 2) deutliche<br />

Vorteile, sondern vor allem auch in der Branchendifferenzierung, der Öffnung<br />

für nicht-regionales sowie ausländisches Kapital <strong>und</strong> in der Entwicklungsdynamik.<br />

Joinville war noch bis in die 1960er Jahre aufgr<strong>und</strong> seiner relativ isolierten<br />

Lage – damals ohne Asphaltstraßenverbindung nach Curitiba <strong>und</strong> zum Hafen<br />

São Francisco do Sul – gegenüber Blumenau, <strong>das</strong> von der Entwicklungsachse im<br />

Itajaí-Tal <strong>und</strong> seinem Hinterland sowie der Asphaltstraße zum Hafen Itajaí profitierte,<br />

im Nachteil. Die Industrie in Joinville war aber stärker diversifiziert.<br />

Heute zeigt sich dies als großer Vorteil, da mit einer vielseitigen Metallindustrie,<br />

Maschinen- <strong>und</strong> Fahrzeugbau, Textil- <strong>und</strong> Bekleidungs- sowie Kunststoff- <strong>und</strong> chemischer<br />

Industrie eine große industrielle Bandbreite mit in ihrer Branche in Lateinamerika<br />

führenden Betrieben – Gießereiprodukte für die Automobilindustrie,<br />

Kühlschränke, Kompressoren, Plastikrohre <strong>und</strong> Rohrverbindungen – <strong>und</strong> z. T.<br />

ausländischem Kapital <strong>und</strong> internationalen Entwicklungsimpulsen vorhanden ist.<br />

Diese Diversifizierung zeigt sich auch an den Anteilen der einzelnen Branchen an<br />

der Zahl der Industriebeschäftigten (siehe Tab. 2).<br />

Aufgr<strong>und</strong> der Oberflächenverhältnisse hat die Industrie in Joinville, die in den<br />

1960er Jahren noch stark im Innenstadt-Bereich lokalisiert war (KOHLHEPP 1968),<br />

räumliche Expansionsmöglichkeiten an der städtischen Peripherie (Boa Vista <strong>und</strong><br />

Perini Business Park) genutzt, auch in den Nachbarmunizipien, wo jüngst größere<br />

Betriebe entstanden, so u. a. ein Walzwerk in São Francisco do Sul. Der in den<br />

letzten Jahren verstärkt ausgebaute gute Naturhafen São Francisco do Sul, die<br />

Fernstraßenverbindung nach Curitiba <strong>und</strong> in den Süden des Staates sowie ein<br />

ausbaufähiger Eisenbahnanschluss ins Hochland <strong>und</strong> der Flughafen sichern heute<br />

eine gute Verkehrsinfrastruktur.<br />

Durch die starke Entwicklung der Automobilindustrie im nur 130 km entfernten<br />

Curitiba hat sich die Standortsituation der Metall verarbeitenden Industrie<br />

<strong>und</strong> damit die strategische Lage von Joinville verbessert, obwohl die Ansiedlung<br />

eines der neuen großen Automobilwerke letztlich scheiterte, da der un-<br />

333


334<br />

günstigere Standort Juiz de Fora in Minas Gerais erfolgreich mit b<strong>und</strong>esstaatlichen<br />

Subventionen lockte. Heute sind aber allein 52 Zulieferbetriebe der Autoindustrie<br />

von São Paulo <strong>und</strong> Curitiba in Joinville lokalisiert. Die Stadt hat aufgr<strong>und</strong><br />

des hohen Arbeitsplatzangebots in den letzten Jahrzehnten vor allem aus<br />

dem von italienischen Einwanderern geprägten Süden des Staates <strong>und</strong> aus<br />

Paraná eine sehr starke Zuwanderung erlebt – 1965 hatte Joinville erst 65.000<br />

Ew. –, was erhebliche Probleme bei der Stadtentwicklung <strong>und</strong> der Wohnraumbeschaffung<br />

verursachte.<br />

Im Munizip Blumenau gibt es dagegen trotz aller outsourcing-Tendenzen <strong>und</strong><br />

dem Personalabbau weiterhin eine sehr starke Abhängigkeit von der Textil- <strong>und</strong><br />

Bekleidungsindustrie, in der heute noch 62,4% der Industriebeschäftigten tätig<br />

sind. Aufgr<strong>und</strong> der Topographie (siehe Foto 2) <strong>und</strong> der geringen Fläche des<br />

Munizips sind in Blumenau die für die Industrieansiedlung zu nutzenden Reserveflächen<br />

gering <strong>und</strong> häufig größere Erdarbeiten beim Gebäudebau notwendig.<br />

Zudem besteht die latente Gefahr von Überschwemmungen mit erheblichen Folgeschäden.<br />

Es hat sich ein Dezentralisierungsprozess in die Nachbarmunizipien,<br />

u. a. Indaial, Pomerode, Timbó, Gaspar, vollzogen, der aber bereits früher durch<br />

Auslagerung arbeitsintensiver Fertigungsteile (Näherei) der Großbetriebe der Textil-<br />

<strong>und</strong> Bekleidungsindustrie begonnen hatte.<br />

Die vor allem durch die Marktöffnung Brasiliens <strong>und</strong> Globalisierungseinflüsse<br />

verursachte Krise der Textil- <strong>und</strong> Bekleidungsindustrie bildet einen bedeutenden<br />

Unsicherheitsfaktor für Blumenau. Aber es wird versucht, mit Qualitätsproduktion<br />

(Mode, Freizeitkleidung, Frotteewaren) <strong>und</strong> zertifizierter Produktion,<br />

die in den letzten Jahren stark zugenommen hat (Umweltsiegel), verstärkt<br />

auf den anspruchsvollen Märkten in Europa <strong>und</strong> USA erfolgreich zu sein. Zur<br />

Verbesserung des Absatzes haben die großen Produzenten auch eigene Ladengeschäfte<br />

sowie zahlreiche Geschäfte im Franchising mit exklusivem Verkauf eigener<br />

Produkte im Inland, aber auch außerhalb Brasiliens – in einem Fall sogar<br />

in Saudi-Arabien – eingerichtet. Die Produktlinien werden heute auf alle sozialen<br />

Klassen <strong>und</strong> Altersgruppen ausgerichtet, wobei Kinder <strong>und</strong> Jugend besonders<br />

angesprochen werden. Als Innovation hat sich die Software-Industrie in<br />

Blumenau gut entwickelt (BERCOVICH/ SCHWANKE 2003) <strong>und</strong> wird durch neue<br />

Investoren weiter gestärkt.<br />

Die heimische Produktion wird durch sehr billige chinesische Importe bedrängt,<br />

die in jüngster Zeit zwar mit einem etwas höheren Zoll belegt wurden,<br />

aber häufig auch auf illegalem Wege auf den brasilianischen Markt kommen.<br />

Der früher stark auf Holzexporte ausgerichtete Hafen Itajaí ist heute ein unter<br />

räumlicher Enge leidender Container-Hafen an der Mündung des Itajaí-Açu,<br />

der durch den Bau des Hafens im Munizip Navegantes auf der anderen<br />

Flussseite infrastrukturell verbessert wird <strong>und</strong> für Blumenau <strong>und</strong> sein Hinterland<br />

von großer Bedeutung ist.<br />

Von den nahen Kleinstädten hat sich Pomerode (25.000 Ew.) zu einem<br />

diversifizierten Industriestandort entwickelt, in dem zwar die Bekleidungsindustrie<br />

einen Schwerpunkt bildet, aber auch der Maschinenbau, die Produktion<br />

von Pumpen <strong>und</strong> die Kunststoff- <strong>und</strong> Spielwarenproduktion zunehmend<br />

an Bedeutung gewinnen <strong>und</strong> die Porzellanproduktion Tradition hat. Die mit-


telständische Betriebsgründung eines deutschen Unternehmens sowie eine<br />

Betriebsverlagerung eines weiteren aus São Paulo sind Beispiele für den Aufschwung<br />

der Stadt, deren deutschstämmige Tradition – auch bei der deutschen<br />

Sprache – bewusst erhalten wird <strong>und</strong> mit ihrer landschaftlich reizvollen<br />

Umgebung für den nationalen sowie auch für den Tourismus aus Deutschland<br />

ein attraktives Ziel ist. Für betriebliche Neugründungen spielen die Arbeitskräfte<br />

‚aus lokaler Wurzel‘, die gute Verkehrsanbindung, <strong>das</strong> gute Betriebsklima<br />

ohne soziale Spannungen <strong>und</strong> die hohe Lebensqualität, vor allem die sehr<br />

geringe Kriminalität, eine große Rolle.<br />

Das zur Mikroregion Blumenau zählende Brusque (2005: 82.000 Ew.) besitzt<br />

eine lange Textiltradition <strong>und</strong> hat sich neben Blumenau als Zentrum der Textil<strong>und</strong><br />

Bekleidungsindustrie gehalten. Trotz aller Strukturprobleme dieses Industriezweigs<br />

sind heute dort noch über 72% der industriellen Arbeitskräfte in dieser<br />

Branche tätig. Brusque hat erfolgreich versucht, seine wirtschaftliche Stellung<br />

<strong>und</strong> den Absatz von Textilien als „capital da pronta entrega 3 “ zu verstärken <strong>und</strong> für<br />

auswärtige Käufer interessant zu machen. Der Kauftourismus mit zahlreichen Busreisenden,<br />

die zum Kauf bzw. zum späteren Wiederverkauf von Bekleidung nach<br />

Brusque kommen, gehört zum Stadtbild. Angesichts der latenten Branchenprobleme<br />

sind in Brusque in jüngerer Zeit auch Diversifizierungstendenzen zu<br />

erkennen, z. B. im Bereich der Metallverarbeitung.<br />

Als drittgrößter Standort in Santa Catarina hat sich inzwischen aber Jaraguá<br />

do Sul etabliert, dessen 29.000 Beschäftigte sich insbesondere auf die Bekleidungs-,<br />

Elektromotoren- <strong>und</strong> Nahrungs- <strong>und</strong> Genussmittelproduktion verteilen. Die industrielle<br />

Entwicklung der Stadt ist eine absolute Erfolgsgeschichte. Jaraguá, <strong>das</strong><br />

1960 erst 4.400 Ew. zählte, präsentiert sich heute als eine Mittelstadt von 120.000<br />

Einwohnern. Aufgr<strong>und</strong> der Abwanderung zu den nahen Zentren Joinville <strong>und</strong><br />

Blumenau hatte Jaraguá erst seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, aber dann<br />

sehr schnell, ein eigenständiges industrielles Profil entwickelt. Bereits vor 40 Jahren<br />

konnte konstatiert werden, <strong>das</strong>s Jaraguá in Klein- <strong>und</strong> kleinen Mittelbetrieben<br />

„mit die größte industrielle Vielseitigkeit“ der Region besitzt, die „die breite, leistungsstarke<br />

Gr<strong>und</strong>lage für eine zukünftige Weiterentwicklung“ bietet (KOHLHEPP<br />

1968, S. 320). Dies hat sich bis heute in besonderem Maße verwirklicht.<br />

Die Industriebetriebe, so der größte Elektromotoren-Hersteller Lateinamerikas<br />

(siehe Foto 3) mit sieben Betrieben in Brasilien <strong>und</strong> fünf im Ausland, darunter<br />

einem in der Volksrepublik China, insgesamt 14.000 Beschäftigten <strong>und</strong> einem Umsatz<br />

von ca. 1 Mrd. , sowie leistungsstarke Großbetriebe des Bekleidungssektors, sind<br />

in der Stadt fest verwurzelt. Zahlreiche soziale <strong>und</strong> kulturelle Einrichtungen werden<br />

von der Industrie getragen oder gesponsert. Der Aufbau einer kleinen dynamischen<br />

Universität hat neue Impulse auf dem Ausbildungssektor gebracht. Die<br />

Lebensqualität in Jaraguá do Sul ist für Brasilien vorbildlich, der HDI (Human<br />

Development Index) ist der höchste im Staate Santa Catarina. Das in Jaraguá do<br />

Sul erwirtschaftete BIP pro Kopf der Bevölkerung ist mit 20.500 R$ (2003) bei weitem<br />

höher als in Joinville (13.150 R$) <strong>und</strong> Bumenau (12.500 R$) <strong>und</strong> übertrifft den<br />

Durchschnittswert von Santa Catarina, <strong>das</strong> in Brasilien an fünfter Stelle aller Bun-<br />

3. „Hauptstadt der prompten Lieferung“.<br />

335


336<br />

desstaaten steht, um fast <strong>das</strong> Doppelte. Allerdings ist die Folge eines differenzierten<br />

aufnahmefähigen Arbeitsmarkts <strong>und</strong> günstiger Lebensbedingungen eine starke<br />

Zuwanderung, die absorbiert <strong>und</strong> integriert werden muss.<br />

Auf dem nordöstlichen Hochland Santa Catarinas haben sich mit São Bento<br />

do Sul (70.000 Ew.) <strong>und</strong> Rio Negrinho in den letzten Jahrzehnten auf traditioneller<br />

Wurzel der Nachkommen von Einwanderern aus dem Böhmerwald zwei wichtige<br />

Zentren zu einem Cluster der Möbel- <strong>und</strong> Holzindustrie entwickelt, wobei São<br />

Bento Tendenzen zur Branchendifferenzierung aufweist. In den 1990er Jahren<br />

vervielfachten sich die Exporte aus São Bento, <strong>das</strong> 1997 etwa die Hälfte der brasilianischen<br />

Möbelexporte stellte. Mit der wieder erstarkten Konkurrenz osteuropäischer<br />

<strong>und</strong> auch südostasiatischer Produzenten sind Probleme aufgetaucht, sich<br />

auf dem komplexen westeuropäischen Markt zu behaupten.<br />

Hauptproblem ist nach MEYER-STAMER (2003) die Rivalität der Unternehmer<br />

<strong>und</strong> <strong>das</strong> fehlende Wissen über die spezifische Marktsituation, so <strong>das</strong>s er São Bento<br />

als „Musterbeispiel für ein unkooperatives Cluster“ bezeichnet. Nur durch gemeinsame<br />

Anstrengungen der industriellen Akteure im Bereich von Design-Innovationen<br />

<strong>und</strong> Vermarktungseffizienz wird die internationale Wettbewerbsfähigkeit beibehalten<br />

werden können. Allerdings steht die Mikroregion São Bento nach<br />

Joinville, Blumenau <strong>und</strong> Jaraguá heute immer noch an vierter Stelle der<br />

Catarinenser Exporte von Industrieprodukten.<br />

Schlussbetrachtung<br />

Zwischen der Tendenz der Globalisierung von Wirtschaft <strong>und</strong> Kultur <strong>und</strong> dem<br />

Bedeutungsgewinn der regionalen Ebene in diesen Bereichen besteht ein komplexes<br />

Spannungsverhältnis. Globalisierungstendenzen sind heute ein immanenter<br />

Bestandteil der Regionalentwicklung <strong>und</strong> der aktualisierten Handlungsmuster<br />

der regionalen Akteure.<br />

Der Erfolg einer Region ist davon abhängig, <strong>das</strong>s wirtschaftliche Entwicklungen<br />

über lebensweltliche Beziehungen, vorurteilsfreie Zusammenarbeit <strong>und</strong> soziale<br />

Netzwerke ablaufen. Diese Form der regionalen Identitätsbildung basiert auf<br />

einem regionalen endogenen Entwicklungspotenzial <strong>und</strong> drückt sich in einem<br />

ges<strong>und</strong>en wirtschaftlichen Lokal- <strong>und</strong> Regionalpatriotismus aus, einem umfassenden<br />

Regionalbewusstsein, <strong>das</strong> als positives Ergebnis eine kooperative Erfolgsgeschichte<br />

ermöglicht <strong>und</strong> die Wettbewerbsfähigkeit auf nationaler <strong>und</strong> internationaler<br />

Ebene steigert.<br />

Ökonomische <strong>und</strong> soziokulturelle Faktoren greifen auf der regionalen<br />

Maßstabsebene sehr viel stärker ineinander, als bisher erkannt wurde. Sie erzeugen<br />

trotz aller Einflüsse der Globalisierung aufgr<strong>und</strong> der Flexibilisierungsstrategien<br />

der Unternehmen <strong>und</strong> angepassten Reaktionsmechanismen der beteiligten<br />

Akteure spezifische regionale Milieus, in denen gegenseitiges Vertrauen<br />

<strong>und</strong> Kooperationsbereitschaft negatives Konkurrenzdenken <strong>und</strong> Eigenbrötelei<br />

aber noch überwinden muss. Die ethnozentrische Abgrenzung der Besiedlungsgebiete<br />

europäischer Einwanderer in der Pionierphase durch die Ansiedlungspraktiken<br />

der staatlichen <strong>und</strong> privaten Akteure wurde in Santa Catarina durch<br />

die Entstehung eines neuen, brasilianischen Nationalgefühls der Nachkommen


der Einwanderer sowie infolge der Durchmischung durch Binnenwanderung<br />

überw<strong>und</strong>en. Insofern ist eine übergreifende regionale Identität entstanden,<br />

die sich allerdings klar von anderen Regionen Brasiliens (Nordosten, Norden<br />

etc.) in Lebensstil, Wirtschaftsweise <strong>und</strong> Zielorientierung der regionalen Entwicklung<br />

unterscheidet.<br />

Dies trifft auch auf den industrialisierten Nordosten von Santa Catarina zu, in<br />

dem der industrielle Umbruch zum Postfordismus im Gange ist <strong>und</strong> gemeinsame<br />

Antworten auf die Herausforderungen der Globalisierung gesucht werden. Dadurch<br />

könnten Wettbewerbsnachteile wie ein überhöhter Wechselkurs des Real,<br />

dessen Stärke in Relation zum US-Dollar in den letzten Jahren zum Nachteil des<br />

Exports immer weiter zugenommen hat, <strong>und</strong> enorm hohe Kreditzinsen ebenso<br />

wie erhebliche Lohnnebenkosten zumeist abgefedert werden.<br />

Für die Entscheidungsträger <strong>und</strong> die fachlichen Akteure werden erhöhte Investitionen<br />

in Fachwissen, Kontaktnetze, Marktstrukturen <strong>und</strong> Ausbildung in einer<br />

globalisierten Welt immer entscheidender. Kommunale <strong>und</strong> staatliche Wirtschaftsförderung<br />

sowie administrative Erleichterungen, u. a. beim Export, sind<br />

weitere stark ausbaufähige Stützpfeiler regionaler Entwicklung.<br />

In einer Region wie dem Nordosten Santa Catarinas, mit dem Vorteil von<br />

in brasilianischem Maßstab relativ geringen sozialen Konflikten, kann sich<br />

Regionalbewusstsein auf der Basis des industriellen Qualitätssiegels „Santa<br />

Catarina“ dann auch in der Stärkung der industriewirtschaftlichen Position<br />

auf dem nationalen <strong>und</strong> dem Weltmarkt äußern. Die Industrie im nordöstlichen<br />

Santa Catarina hat trotz aller Einflüsse der Globalisierung <strong>und</strong> der damit<br />

notwendig werdenden Anpassungsprozesse ihre historisch f<strong>und</strong>ierte <strong>und</strong><br />

angesichts der innerbrasilianischen regionalen Disparitäten klar umrissene,<br />

sozial, soziokulturell <strong>und</strong> ökonomisch f<strong>und</strong>ierte regionale Identität großenteils<br />

bewahrt.<br />

Anmerkungen<br />

1) Die Autoren führten in den Jahren 2000 bis 2007 zahlreiche Befragungen<br />

von Personen in Industriebetrieben, Berufsverbänden, Industrie- <strong>und</strong> Handelskammern,<br />

Gewerkschaften, Kommunalverwaltungen, staatlichen Institutionen,<br />

regionalen Universitäten <strong>und</strong> Vereinen sowie mit Akteuren auf allen beruflichen<br />

Ebenen durch. In industriellen Unternehmen wurden 72 Intensiv-Interviews geführt.<br />

Allen Befragten, Firmen <strong>und</strong> Institutionen sei auch an dieser Stelle für ihre<br />

Bereitschaft zur Mitarbeit <strong>und</strong> Unterstützung nochmals gedankt.<br />

Die Arbeiten erfolgten im Rahmen zweier Forschungsprojekte: Cultura<br />

Empresarial no Vale do Itajaí 1945 – 1990 (Maria Luiza Renaux: IPS, Blumenau,<br />

FURB 2000/2002) sowie Globalização e Identidade Regional: O caso do Nordeste<br />

Catarinense (Maria Luiza Renaux: CNPq/CEMOP, Blumenau, FURB 2004-2006; Gerd<br />

Kohlhepp: Geographisches Institut der Universität Tübingen/ Deutschland,<br />

Forschungsschwerpunkt Lateinamerika, 2002-2007).<br />

2) Besonderer Dank gilt Herrn Dipl. Ing. Hans Prayon, Blumenau, der mit seinem<br />

Fachwissen <strong>und</strong> Regionalkenntnissen sowie durch zahlreiche organisatorische<br />

Hilfen die Untersuchungen in dankenswerter Weise jederzeit unterstützte.<br />

337


338<br />

Literatur<br />

BERCOVICH, Néstor / SCHWANKE, Charles (2003): Cooperação e competividade na indústria de<br />

software de Blumenau. CEPAL. Santiago de Chile.<br />

CUNHA, Idaulo (1981): Evolução econômico-industrial de Santa Catarina. Florianópolis.<br />

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Florianópolis. (<strong>und</strong>: )<br />

HERING, Maria Luiza Renaux (1987): Colonização e indústria no Vale do Itajaí: o modelo catarinense<br />

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Beitrag zur Geographie eines deutschbrasilianischen Siedlungsgebietes. (Heidelberger Geographische<br />

Arbeiten 21). Heidelberg, 402 S.<br />

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Santa Catarina. In: Geographische R<strong>und</strong>schau 23 (1), S. 10-23.<br />

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zur Siedlungs- <strong>und</strong> Wirtschaftsentwicklung Südbrasiliens. In: Staden-Jahrbuch 23/24, S.77-94.<br />

MEYER-STAMER, Jörg et al. (1996): Industrielle Netzwerke <strong>und</strong> Wettbewerbsfähigkeit. Das Beispiel<br />

Santa Catarina/Brasilien. Deutsches Institut für Entwicklungspolitik. Berlin.<br />

MEYER-STAMER, Jörg (2003): Die Herausforderung der wissensbasierten Entwicklung. Perspektiven<br />

von Strukturwandel <strong>und</strong> Wettbewerbsfähigkeit in Brasilien. In: KOHLHEPP, Gerd (Hrsg.): Brasilien.<br />

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PEREIRA, José Carlos (1967): Estrutura e expansão da indústria em São Paulo. São Paulo.<br />

PREFEITURA MUNICIPAL DE BLUMENAU (2006): Blumenau: uma cidade de oportunidades.<br />

Blumenau.<br />

RENAUX, Maria Luiza (1995): O outro lado da história: O papel da mulher no Vale do Itajaí. Blumenau.<br />

SILVA, Marcos Aurélio da (2004): Reestruturação industrial na zona de colonização alemã catarinense:<br />

o caso do complexo têxtil. In: Geosul 19 (37), S. 67-93.<br />

STEIN, Stanley (1979): Origens e evolução da indústria têxtil no Brasil – 1880-1950. Rio de Janeiro.<br />

Prof. Dr. Maria Luiza Renaux, promovierte in Geschichte an der Universität São Paulo;<br />

Professorin des Mestrado für Regionalentwicklung an der Universität Blumenau (FURB).<br />

E-mail: luizarenaux@hotmail.com<br />

Prof. Dr. Gerd Kohlhepp, emeritierter Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialgeographie<br />

(1978-2005) am Geographischen Institut der Universität Tübingen/ Deutschland;<br />

Forschungsschwerpunkt Lateinamerika. E-Mail: gerd.kohlhepp@t-online.de.


Vor 80 Jahren –<br />

Beginn des Luftverkehrs in Brasilien<br />

Harro Fouquet<br />

São Paulo<br />

Resumo: Terra natal do pioneiro da aviação Alberto Santos Dumont,<br />

o Brasil somente começou a beneficiar-se do transporte aéreo<br />

comercial em 1927. Duas empresas aéreas foram então<br />

f<strong>und</strong>a<strong>das</strong> no país, ambas resultantes de associações entre<br />

investidores brasileiros e empresários alemães; esses últimos<br />

contribuíram acima de tudo com aviões, tecnologia e „knowhow“.<br />

Entre to<strong>das</strong> as companhias destacou-se a mais antiga,<br />

a VARIG, que conquistou gradativamente a liderança no<br />

Brasil e na América do Sul. Posicionada entre as vinte maiores<br />

empresas aéreas do m<strong>und</strong>o, nas últimas déca<strong>das</strong> do século<br />

XX seus jatos voavam para quatro continentes: América,<br />

Europa, Ásia e África. Uma seqüência de crises e dificuldades<br />

econômicas, que já causara o fechamento de outras<br />

duas empresas aéreas brasileiras, forçou a VARIG a ingressar<br />

no regime da Recuperação Judicial. Após o leilão da unidade<br />

operacional somente uma pequena parcela dos seus serviços<br />

aéreos anteriores continua sendo mantida. O encolhimento<br />

da VARIG acarretou múltiplas per<strong>das</strong> à nação brasileira,<br />

tanto de ordem econômica como social.<br />

Abstract: Home country of aviation pioneer Alberto Santos Dumont,<br />

Brazil only started to benefit from commercial air transport<br />

in 1927. Two airlines were then fo<strong>und</strong>ed in this country,<br />

both of them resulting from associations between Brazilian<br />

investors and German entrepreneurs; the latter contributed<br />

mainly with aircraft, technology and know-how. The<br />

oldest Brazilian airline, VARIG, gradually succeeded in becoming<br />

Brazil’s and South America’s leading air carrier.<br />

Ranking among the twenty largest airlines worldwide, its<br />

jet airplanes flew to four continents during the last decades<br />

of the 20 th century: America, Europe, Asia and Africa. A<br />

sequence of crises and economic difficulties, which had<br />

already led to the closure of two other Brazilian airlines,<br />

forced VARIG to file for Court ordered bankruptcy protection.<br />

After auctioning off the operational unit only a small<br />

portion of the former air services are being maintained.<br />

The shrinkage of VARIG has caused multiple losses to the<br />

Brazilian economy, including social aspects.<br />

339


340<br />

Beschwerlicher Anfang für VARIG – schnelle Expansion bei Condor<br />

Ähnlich wie im neunzehnten Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>das</strong> Dampfschiff <strong>und</strong> die Eisenbahn<br />

der menschlichen Tätigkeit ungeahnte neue Möglichkeiten erschlossen haben,<br />

ist unser Dasein im zwanzigsten Jahrh<strong>und</strong>ert, dank der Erfindung <strong>und</strong> rasanten<br />

Weiterentwicklung von Automobil, Flugzeug, Telekommunikation <strong>und</strong> Computer,<br />

gr<strong>und</strong>legend umgestaltet worden. Im Rückblick auf diese Entwicklung soll hier<br />

der Werdegang <strong>und</strong> <strong>das</strong> letztendliche Schicksal der beiden ältesten brasilianischen<br />

Luftverkehrsunternehmen zusammenfassend nachgezeichnet werden.<br />

Zuvor sei vermerkt, <strong>das</strong>s weltweit der Flugverkehr unmittelbar nach dem Ende<br />

des Ersten Weltkrieges begann. Als offizielles Datum gilt der 5. Februar 1919, an<br />

dem eine Maschine der Deutschen Luft-Reederei zum ersten planmäßigen Flug<br />

von Berlin nach Weimar startete. Weitere Dienste entwickelten sich in rascher<br />

Folge, hauptsächlich in Deutschland <strong>und</strong> anderen europäischen Ländern. Ausnahme<br />

war sicherlich die schon 1919 in Kolumbien mit deutscher Hilfe gegründete<br />

SCADTA. In Brasilien hingegen – wo die fliegerische Pionierarbeit von Alberto<br />

Santos Dumont naturgemäß allgemeines Interesse <strong>und</strong> Begeisterung ausgelöst<br />

hatte – führte selbst die damals vorausplanende Regierungspolitik anfänglich nicht<br />

zum ersehnten Ziel.<br />

In Brasilien ein bodenständiges Luftverkehrsunternehmen aufzubauen, hatte<br />

sich auch Otto Ernst Meyer-Labastille zur Aufgabe gemacht. Nach seinem Abschied<br />

von der preußischen Fliegertruppe war er 1921 eingewandert <strong>und</strong> hat<br />

sich, zwei Jahre später, in Porto Alegre niedergelassen. Nach intensiver <strong>und</strong> mühevoller<br />

Vorarbeit gelang es ihm, den Behörden <strong>und</strong> einem Großteil der<br />

riograndenser Gesellschaft die Vorteile des neuartigen Verkehrmittels nahe zu bringen.<br />

Ende 1926 erklärte sich deshalb eine Gruppe von Unternehmern bereit, <strong>das</strong><br />

benötigte Kapital für die bereits geplante Fluggesellschaft VARIG aufzubringen.


Während Meyer zwecks Verhandlungen zum Erwerb des benötigten Fluggerätes<br />

nach Deutschland gereist war, ging unabhängig davon die damals Aufsehen<br />

erregende Wirtschaftsmission des ehemaligen deutschen Reichskanzlers Hans<br />

Luther vonstatten. An Bord des dem Condor-Syndikat gehörenden Dornier Wal<br />

„Atlantico“ – einem zweimotorigem Flugboot für neun Fluggäste – flogen er <strong>und</strong><br />

seine Begleiter von Buenos Aires mit vielen Zwischenlandungen nach Rio de<br />

Janeiro. Am 1. Januar 1927 wurde dann der brasilianische Verkehrsminister Victor<br />

Conder von Rio nach Florianópolis befördert. Die dabei geleistete Überzeugungsarbeit<br />

muss sehr eindrucksvoll gewesen sein. Das in Berlin beheimatete Syndikat –<br />

eine Studiengesellschaft <strong>und</strong> Versuchskonsortium, an dem auch die Deutsche<br />

Lufthansa beteiligt war – erhielt schon wenig später Genehmigung, auf befristete<br />

Zeit planmäßigen Flugverkehr im Süden des Landes zu betreiben. Nach einem<br />

Eröffnungsflug am 3. Februar wurde kurz darauf der erste reguläre Flugdienst in<br />

Brasilien auf der Strecke Porto Alegre-Pelotas-Rio Grande aufgenommen <strong>und</strong> bis<br />

zum 15. Juni noch 66 mal beflogen.<br />

Unterdessen hatte in Porto Alegre am 7. Mai 1927 die Gründungsversammlung<br />

der S. A. Empreza de Viação Aérea Rio Grandense (VARIG) stattgef<strong>und</strong>en. Unter den<br />

etwa 500 Aktionären spielte dabei <strong>das</strong> Condor-Syndikat mit 21% des gezeichneten<br />

Kapitals eine besondere Rolle. Im Gegenzug kaufte VARIG den „Atlantico“, welcher<br />

somit als erstes in Brasilien registriertes Verkehrsflugzeug unter dem Kennzeichen P-<br />

BAAA in die Geschichte eingegangen ist. Als Direktoren wurden, neben Otto Ernst<br />

Meyer, noch Rudolf Cramer von Clausbruch, Fugkapitän der Lufthansa, sowie Fritz<br />

W. Hammer, Mitbegründer des Condor-Syndikats gewählt. Per Dekret vom 10. Juni<br />

wurden dem Unternehmen Verkehrsrechte erteilt, die sich allerdings auf <strong>das</strong> Gebiet<br />

des Staates Rio Grande do Sul <strong>und</strong> die Küstenregion des benachbarten Santa<br />

Catarina beschränkten. Die regulären Flüge der „Linha da Lagoa“ wurden am 22.<br />

Juni im Namen der neu gegründeten Gesellschaft wieder aufgenommen.<br />

Dornier Wal „Atlantico“ (VARIG-Archiv)<br />

341


342<br />

Auf Gr<strong>und</strong> der erwähnten Sondergenehmigung richtete <strong>das</strong> Condor-Syndikat<br />

seinerseits noch im selben Jahr Flüge von Rio über Santos, Paranaguá, São Francisco<br />

<strong>und</strong> Florianópolis nach Porto Alegre ein. Die deutschen Gesellschafter entschlossen<br />

sich jedoch, <strong>das</strong> Syndikat zu liquidieren. Zwei von ihnen – Fritz Hammer<br />

<strong>und</strong> Max Sauer – beteiligten sich sodann an dem am 1. Dezember 1927 in Rio de<br />

Janeiro gegründeten Syndicato Condor Ltda., gemeinschaftlich mit Conde Ernesto<br />

Pereira Carneiro <strong>und</strong> der Firma Hermann Stoltz & Cia. Verkehrsrechte für den<br />

gesamten brasilianischen Raum wurden am 28. Januar 1928 erteilt. Dadurch konnten<br />

die schon in Betrieb befindlichen Dienste weitergeführt <strong>und</strong> zugleich mit der<br />

Einrichtung neuer Verbindungen ab Rio de Janeiro in Richtung Salvador <strong>und</strong><br />

Recife begonnen werden. Friedrich Wilhelm (Fritz) Hammer, seit 1919 Vorreiter<br />

deutscher Pionierarbeit beim Aufbau des Flugverkehrs in Südamerika, verließ <strong>das</strong><br />

Syndicato Condor 1930 um sich neuen Aufgaben zu widmen. Er kam 1938 bei<br />

einem Flugzeugunfall in Ecuador ums Leben.<br />

Für die VARIG gestalteten sich die ersten Jahre, verkehrsmäßig bedingt, recht<br />

schwierig. Dreimal – 1928, 1929 <strong>und</strong> 1930 – unterbreitete <strong>das</strong> Syndicato Condor<br />

Vorschläge zur Übernahme, die jedoch abgelehnt wurden. Danach verkaufte <strong>das</strong><br />

deutsche Condor-Syndikat seine VARIG-Aktien an den Staat Rio Grande do Sul,<br />

während gleichzeitig <strong>das</strong> Flugboot „Atlantico“ zurückgegeben wurde. Das Inkrafttreten<br />

eines mit der Staatsregierung bereits abgeschlossenen Vertrags verzögerte<br />

sich jedoch infolge der Revolution von 1930 bis zum Ende 1931. Nur dem tatkräftigen<br />

Eintreten des Aufsichtsratsvorsitzenden Dr. Adroaldo Mesquita da Costa<br />

war es zu verdanken, <strong>das</strong>s die drohende Insolvenz verhindert wurde. Der Kauf<br />

von zwei Maschinen für fünf Fluggäste, vom Typ Junkers F-13, ermöglichte dann<br />

ab 1932 den schrittweisen Ausbau des Streckennetzes, dank auch der inzwischen<br />

gebauten Landebahnen. Hierzu muss noch bemerkt werden <strong>das</strong>s, den Realitäten<br />

der Zeit entsprechend, planmäßiger Flugverkehr in den meisten Fällen nur durch<br />

staatliche Subventionen wirtschaftlich abgesichert werden konnte.<br />

Trotz der anerkennungswerten Leistungen der VARIG im Staate Rio Grande<br />

do Sul ist nicht zu übersehen, <strong>das</strong>s bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges die<br />

Entwicklung des Flugverkehrs in Brasilien hauptsächlich vom Sindicato 1 Condor<br />

(Tochter der Lufthansa) <strong>und</strong>, ab 1930, auch von Panair do Brasil (Tochter der Pan<br />

American) bestimmt wurde. Systematisch bauten sie landesüberspannende Streckennetze<br />

aus, welche selbst entlegene Regionen einschlossen, wie <strong>das</strong> Amazonasbecken,<br />

Mato Grosso oder <strong>das</strong> Territorium Acre. So verfügte z. B. Condor schon<br />

1937 über eine Flotte von 16 Maschinen. Regelmäßig angeflogen wurden 42 Zielorte;<br />

für Flugsicherung <strong>und</strong> Kommunikation standen 24 eigene Funkstationen<br />

zur Verfügung. Technischer Höhepunkt wurde die 1939 erfolgte Inbetriebnahme<br />

von zwei Flugzeugen vom Typ Focke-Wulf Fw 200 „Condor“. Indessen fristeten<br />

VARIG – sowie die 1933 gegründete <strong>und</strong> 1935 von der Regierung des Staates São<br />

Paulo übernommene VASP – ein bescheideneres Dasein in ihren regionalen Bereichen.<br />

VASP hat sich jedoch durch den Einsatz von Ju-52-Maschinen auf der<br />

1936 eröffneten Strecke São Paulo-Rio besonders hervorgetan.<br />

Zusätzlich zu dem während der dreißiger Jahre von Lufthansa <strong>und</strong> Condor<br />

1. Nach der Orthografiereform von 1931 nicht mehr mit „y“.


gemeinschaftlich betriebenem<br />

Luftpostverkehr<br />

Europa-Südamerika soll<br />

bei dieser Gelegenheit<br />

auch an die Flüge des<br />

Luftschiffes „Graf Zeppelin“<br />

erinnert werden.<br />

Über mehrere Jahre hinweg<br />

wurden, bis 1937,<br />

auf der Strecke Friedrichshafen-Rio<br />

de Janei-<br />

„Graf Zeppelin“ bei Recife ro <strong>und</strong> zurück regelmäßig<br />

Fluggäste <strong>und</strong> Post<br />

befördert. So hatte der amtierende Präsident Getúlio Vargas schon 1933 Gelegenheit,<br />

<strong>das</strong> Luftschiff während eines 24-stündigen Fluges von Recife nach Rio kennen<br />

zu lernen. Ein in sehr fre<strong>und</strong>schaftlichem Ton gehaltener Telegrammwechsel<br />

mit Reichspräsident von Hindenburg war die Folge. Die große, noch funktionsfähige<br />

ehemalige Wartehalle des Zeppelin, steht heute im Dienst der Luftbasis Santa<br />

Cruz der brasilianischen Luftwaffe.<br />

Wie letztlich weltweit, führten auch in Brasilien die Kriegsereignisse zu einschneidenden<br />

Veränderungen bei vielen Flugverkehrsunternehmen <strong>und</strong> den<br />

jeweiligen Besitzverhältnissen. Das Sindicato Condor wurde 1942 nationalisiert.<br />

Die meisten deutschen Mitarbeiter wurden entlassen, unter ihnen auch Flugkapitän<br />

Cramer von Clausbruch. Präsident <strong>und</strong> Hauptaktionär der in Serviços Aéreos<br />

Cruzeiro do Sul umbenannten Gesellschaft wurde ihr vormaliger Rechtsberater,<br />

José Bento Ribeiro Dantas. Und bei Panair do Brasil wurde <strong>das</strong> Aktienkapital in drei<br />

Etappen – 1943, 1946 <strong>und</strong> 1961 – an brasilianische Investoren verkauft.<br />

2<br />

Höhenflug der VARIG<br />

Im Falle der VARIG verliefen die Dinge anders. Um als ehemaliger deutscher<br />

Staatsbürger die Existenz der Gesellschaft nicht zu gefährden, übergab Otto Ernst<br />

Meyer Anfang 1942 die Geschäftsleitung an seinen ersten Mitarbeiter, Ruben Martin<br />

Berta. Trotz der kriegsbedingten Schwierigkeiten konnte anschließend durch<br />

Zukauf von gebrauchtem Fluggerät die Transportleistung im Passagierverkehr bis<br />

1945 sogar beachtlich gesteigert werden. Um aber dem Unternehmen auch für<br />

die weitere Zukunft eine solide <strong>und</strong> sozial gerechte Kapitalbasis zu gewährleisten,<br />

gelang es Berta 1945, die Aktionäre – der Staat Rio Grande do Sul einbegriffen –<br />

zur Übergabe mehrheitlicher Aktienanteile an die neu gegründete F<strong>und</strong>ação dos<br />

Funcionários da Varig (heute F<strong>und</strong>ação Ruben Berta) zu bewegen. Während Bertas<br />

24-jähriger Amtszeit entwickelte sich die Airline zur wichtigsten Fluggesellschaft<br />

Brasiliens <strong>und</strong> Südamerikas. Nach seinem Ableben 1966 konnten seine Nachfolger<br />

– Erik de Carvalho (1966-1979) <strong>und</strong> Helio Smidt (1980-1990) viele Positionen<br />

sogar noch weiter ausbauen.<br />

2. Quelle: DAVIES, R. E. G.: Airlines of Latin America since 1919. Washington 1984.<br />

343


344<br />

Als Meilensteine dieser Entwicklung gelten: die Erweiterung des Streckennetzes<br />

von Porto Alegre über Florianópolis <strong>und</strong> Curitiba nach São Paulo <strong>und</strong> Rio<br />

(1946); Übernahme der Aero Geral, deren Flüge ab Rio neben anderen Zielorten<br />

Salvador, Recife <strong>und</strong> Natal erreichten (1952); Beginn der Langstreckenflüge nach<br />

New York (1955); Einsatz der ersten Düsenmaschinen – Caravelle (1959) <strong>und</strong> Boeing<br />

707 (1960). Ein bedeutender Schritt war die Übernahme (1961) des Consórcio<br />

Real, welches in nur 15 Jahren zur größten Fluggesellschaft Brasiliens <strong>und</strong> Südamerikas<br />

aufgestiegen war. Außer mehr als h<strong>und</strong>ert Zielorten in Brasilien bediente Real<br />

damals u. a. Miami, Mexico City <strong>und</strong> Los Angeles <strong>und</strong> besaß die Konzession der<br />

Flüge nach Japan. Ein weiterer großer Zuwachs kam mit der Überlassung der vormals<br />

von Panair do Brasil betriebenen Flüge nach Europa (1965). Zusätzlich sind zu<br />

erwähnen die ständige Erneuerung <strong>und</strong> Modernisierung der Flotte, mittels Einführung<br />

jeweils neuster Modelle von Boeing, McDonnell Douglas, Airbus <strong>und</strong> Embraer<br />

bis hin zur Boeing 777 (2001), sowie die Erstellung der großen Wartungshalle nebst<br />

Werkstätten <strong>und</strong> Prüfständen für Überholung von Fluggerät, Triebwerken <strong>und</strong> Zubehör,<br />

am Internationalen Flughafen von Rio de Janeiro.<br />

Über viele Jahre hinweg behauptete VARIG eine allgemein anerkannte führende<br />

Stellung in Südamerika. Im innerbrasilianischen Streckennetz waren Städte<br />

in sämtlichen Staaten vertreten. Die „Ponte Aérea“ <strong>und</strong> regionale Strecken, die<br />

von Rio Sul <strong>und</strong> Nordeste bedient wurden, r<strong>und</strong>eten <strong>das</strong> Angebot ab. Internationale<br />

<strong>und</strong> interkontinentale Flüge verbanden Brasilien <strong>und</strong> Südamerika mit einer<br />

Reihe von Zielen in Nordamerika <strong>und</strong> Europa, aber auch mit Afrika <strong>und</strong><br />

Asien, wo Städte wie Tokio, Nagoya, Bangkok <strong>und</strong> Hongkong erreicht wurden.<br />

Zugleich wurde auch <strong>das</strong> Frachtgeschäft mit Hilfe von zweckbestimmtem Fluggerät<br />

laufend ausgebaut. Die Infrastruktur umfasste, zusätzlich zu den schon<br />

erwähnten technischen Einrichtungen, Pilotenschule, Flugsimulatoren sowie<br />

andere Ausbildungs- <strong>und</strong> Trainingszentren. Eine Tochtergesellschaft war für <strong>das</strong><br />

gro<strong>und</strong> handling auf dutzenden von Flughäfen zuständig. Zu erwähnen ist noch<br />

die Cia. Tropical de Hoteis, die unter anderem die bekannten Hotels an den<br />

Iguaçú-Wasserfällen <strong>und</strong> in Manaus betrieb. Auch war <strong>das</strong> Unternehmen über<br />

viele Jahrzehnte lang aktives Mitglied der International Air Transport Association<br />

(IATA). Insbesondere aber wurde die schon 1965 unter Ruben Berta neu begonnene<br />

Zusammenarbeit mit Lufthansa laufend erweitert <strong>und</strong> vertieft. So war es<br />

nicht zuletzt ihrem damaligen Vorsitzenden – Dr. Jürgen Weber (Deutsch-Brasilianische<br />

Persönlichkeit 2006) – zu verdanken, <strong>das</strong>s VARIG im Jahre des siebzigsten<br />

Geburtstages als sechstes Mitglied zur Star Alliance kam.<br />

Aus der Stabilität in die Krise<br />

Nach Überwindung der krisenreichen Zeit der sechziger Jahre des vergangenen<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts hatte VARIG sich im darauf folgenden Jahrzehnt zu einem<br />

wirtschaftlich <strong>und</strong> finanziell soliden <strong>und</strong> technologisch aktualisierten Unternehmen<br />

entwickelt. Auch die 1975 erfolgte Übernahme der Cruzeiro do Sul (ehemals<br />

Sindicato Condor) war bald verkraftet <strong>und</strong> diese Airline, wie zuvor schon VARIG,<br />

an die Börse (Bovespa) gebracht. Doch <strong>das</strong> Wirtschaftsklima verschlechterte sich<br />

zu Anfang der achtziger Jahre, zuerst weltweit infolge der zweiten Ölkrise <strong>und</strong>


anschließend durch die länger währende brasilianische Finanzkrise, die schon<br />

1982 einen ihrer Höhepunkte erreicht hatte. Für die zu jenem Zeitpunkt schon<br />

angeschafften Maschinen vom Typ Boeing 747 war deshalb für VARIG als brasilianischem<br />

Unternehmen unerwartet keine Finanzierung durch US-amerikanische<br />

Institutionen mehr möglich. Diese wurde schließlich bei japanischen Banken in<br />

deren Landeswährung aufgenommen. Die spätere Aufwertung des Yen gegenüber<br />

dem Dollar machte aber die Tilgung unrealisierbar, was zur Rückgabe der<br />

Jumbos führte. Zusätzlich verblieben noch Schulden in Höhe von mehreren h<strong>und</strong>ert<br />

Millionen Dollar.<br />

Ähnlich verhängnisvoll wirkte sich die 1985 von der Regierung verfügte Kontrolle<br />

der internen Flugpreise aus. Die über Jahre hinweg unzureichenden Preisangleichungen,<br />

bei gleichzeitig immer höheren Inflationsraten – von teilweise<br />

weit über 1000% jährlich – stürzten alle Airlines in tiefe Schulden. Eine Entschädigung<br />

für die auf umgerechnet etwa 2,2 Milliarden US-Dollar bezifferten Einkommenseinbußen<br />

(VARIG-Gruppe r<strong>und</strong> 50% davon) ist von allen Gesellschaften<br />

1992 gerichtlich beantragt worden; die entsprechenden Verfahren sind jedoch<br />

bis heute nicht abgeschlossen. Ebenfalls ergebnislos verlief ein seinerzeit<br />

vom Luftfahrtministerium in Aussicht gestellter Plan zur Rekapitalisierung der<br />

betroffenen Unternehmen.<br />

Ein dritter Faktor war zweifellos die ab 1990 von den zuständigen Behörden<br />

befolgte verkehrspolitische Neuorientierung bei der Zuteilung von internationalen<br />

Flugstrecken. Als Prinzip wurde die so genannte Multi-Designation eingeführt,<br />

was zur gegenseitigen Konkurrenz brasilianischer Gesellschaften auf den wichtigsten<br />

Auslandsstrecken führte. Wie die Praxis erwiesen hat, ergaben sich daraus<br />

hohe Betriebsverluste sowie eine merkliche Schwächung aller hiesigen Betreiber<br />

gegenüber ihren ausländischen Konkurrenten.<br />

Wie für eine mehrheitlich im internationalen Sektor operierende Airline charakteristisch,<br />

ist auch VARIG besonders stark von den Folgen des Golfkrieges (1991)<br />

<strong>und</strong> des Attentats auf <strong>das</strong> World Trade Center (2001) betroffen worden. Die der<br />

globalen Zivilluftfahrt dadurch entstandenen dramatisch hohen Verluste werden<br />

im ersten Fall auf 20, im zweiten auf knapp 40 Milliarden Dollar beziffert. Zusätzlich<br />

sollten auch die Rückwirkungen der Finanzkrise in Asien, sowie die aus den zeitweilig<br />

gewaltigen Kursschwankungen Dollar x Real entstandenen Verluste, nicht<br />

unerwähnt bleiben. Selbstverständlich müssen auch die auf sämtliche Schulden<br />

anfallenden beträchtlich hohen Zinsen berücksichtigt werden.<br />

Wie die vormals aufgezeigten Fakten andeuten, musste die finanzielle Lage der<br />

VARIG – hauptsächlich wegen der nicht erfolgten Begleichung der seit 1992 eingeforderten<br />

Entschädigungszahlung – schon ab jenem Zeitpunkt als angeschlagen<br />

gelten. Der später erfolgte Zusammenbruch von TransBrasil <strong>und</strong> VASP bestärkt<br />

diese Erkenntnis. Zu keiner Zeit sind daraufhin Mittel <strong>und</strong> Wege zur Überwindung<br />

der Schwierigkeiten unversucht geblieben, wie die folgende exemplarische<br />

Zusammenfassung zeigt. Finanzielle Restrukturierungen in den Jahren 1994<br />

<strong>und</strong> 1999 erbrachten, mangels an Zuführung von neuem Kapital, nur kurzzeitige<br />

Erleichterung. Obwohl die Ruben-Berta-Stiftung sich schon im Jahre 2002 zum<br />

Verzicht ihrer kontrollierenden Position bereiterklärt hatte, blieben Versuche einer<br />

von der staatlichen Entwicklungsbank BNDES zu koordinierenden Kapitali-<br />

345


346<br />

sierung erfolglos. Auch die seinerzeit geplante Fusion mit TAM wurde als letztlich<br />

<strong>und</strong>urchführbar erkannt <strong>und</strong> gleichfalls aufgegeben. Parallel zu diesen Abläufen<br />

ist im operativen Sektor die Belegschaft von 28000 Mitarbeitern im Jahre 1991<br />

stufenweise bis Ende 2005 auf knapp 12000 verringert worden. Unabhängig hiervon<br />

ist noch zu erwähnen, <strong>das</strong>s im Jahre 1995 eine Hauptversammlung der Ruben-<br />

Berta-Stiftung die Änderung ihrer Satzungen beschloss. Die bis dahin in den Händen<br />

ihres Präsidenten vereinigten Befugnisse wurden einem siebenköpfigen – aus<br />

Mitarbeitern der VARIG bestehenden – Kuratorium übertragen, dessen Vorsitzender<br />

als Sprecher fungiert. Das Fehlen einer klaren Trennung zwischen Kompetenzen<br />

von ‚Aktionären‘ <strong>und</strong> ‚Firmenangehörigen‘ hat anschließend zu vielfachen<br />

Interessenskonflikten geführt, welche häufige Umbesetzungen an der Verwaltungsspitze<br />

ausgelöst haben. Die konkrete Einwirkung dieser Begebnisse auf <strong>das</strong> letztendliche<br />

Schicksal des Unternehmens muss aber, angesichts des ebenfalls extrem<br />

schwierigen äußeren Umfeldes, entsprechend relativiert werden.<br />

Zur Abwendung der drohenden Insolvenz wurde die Gesellschaft im Juni 2005,<br />

dank eines kurz zuvor erlassenen Gesetzes, unter gerichtlichen Schutz gestellt.<br />

Einige Zeit später sind dann zwei Tochtergesellschaften – VEM (Technik) <strong>und</strong><br />

VARIG-Log (Fracht) – veräußert worden. Im Juli 2006 sind schließlich die Verkehrsrechte<br />

der VARIG <strong>und</strong> der Rio Sul, nebst dazugehöriger operativer Aktiva, bei<br />

einer Versteigerung von VARIG-Log erworben worden. Sie wurden dann im März<br />

2007 an die Fluggesellschaft GOL weiterverkauft. Dieses nun „Neue VARIG“ genannte<br />

Unternehmen betreibt zurzeit mit einer erheblich verkleinerten Flotte ein<br />

entsprechend begrenztes Streckennetz in Brasilien <strong>und</strong> im Ausland. Die ‚alte‘<br />

VARIG hat – unter dem Namen „Nordeste“ – als Aufgabe die Verwaltung der übrigen<br />

Aktiva <strong>und</strong> Passiva behalten.<br />

Durch die Krise im Bereich der Luftfahrt sind der brasilianischen Wirtschaft tief<br />

greifende, teilweise nur schwer qualifizierbare Verluste zugefügt worden. Das bleibt<br />

nicht allein auf die sozialen Aspekte beschränkt, wo beispielsweise die Liquidierung<br />

einer Pensionskasse <strong>und</strong> auch massive Abwanderung von hoch qualifizierten Fachkräften<br />

zu beklagen sind. Unternehmen aus Bereichen wie Technik, flight training,<br />

catering oder gro<strong>und</strong> handling sind mehrheitlich in die Hände von ausländischem<br />

Kapital kontrollierter Finanzgruppen gekommen. Zum anderen ist durch die<br />

Schrumpfung von VARIG der Anteil brasilianischer Airlines am Auslandsgeschäft in<br />

letzter Zeit dramatisch <strong>und</strong> unverhältnismäßig stark zurückgegangen, wodurch dem<br />

Land entsprechend hohe Beträge an Devisen verloren gegangen sind.<br />

Angesichts der aufgeführten Tatsachen drängt sich die Erkenntnis auf, <strong>das</strong>s –<br />

auch unter Berücksichtigung punktueller, dem Management unterstellbarer Fehler<br />

– eine systematische Befolgung zielbewusster Verkehrspolitik, ein rechtzeitiges<br />

Eingreifen der Behörden, sowie eine weniger schleppend funktionierende Justiz,<br />

den betroffenen Unternehmen <strong>und</strong> der brasilianischen Gesellschaft viele bedauernswerte<br />

Erfahrungen hätten ersparen können.<br />

Rückblick <strong>und</strong> Ausblick<br />

Der entscheidende Beitrag, den deutsche Unternehmen <strong>und</strong> Einzelpersonen<br />

beim Aufbau des südamerikanischen <strong>und</strong> insbesondere des brasilianischen


Luftverkehrs geleistet haben, ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten.<br />

Ihre Pioniertätigkeit muss aber unter anderem als Basis für die Entstehung der<br />

jahrzehntelang bedeutendsten Airline der Region gelten. Nach dem Vorbild seiner<br />

deutschen <strong>und</strong> brasilianischen Gründer hat sich VARIG auch stets für den<br />

Erhalt <strong>und</strong> den Ausbau guter Beziehungen zwischen beiden Nationen eingesetzt.<br />

Förderung des Tourismus <strong>und</strong> Mitarbeit an den bilateralen Wirtschaftstreffen<br />

sollen dafür nur ein kleines Beispiel sein. Dessen eingedenk wollen wir<br />

der Hoffnung Ausdruck verleihen, <strong>das</strong>s die dem Unternehmen vor achtzig Jahren<br />

in die Wiege gelegten Werte durch den Fortbestand des Namens VARIG<br />

auch weiterhin erhalten bleiben.<br />

Die letztlich vornehmste Aufgabe des Flugverkehrs – Menschen aus allen Teilen<br />

unserer globalisierten Welt einander näher zu bringen – muss allerdings, in<br />

Anbetracht der damit verb<strong>und</strong>enen schweren Umweltbelastung, entsprechend<br />

neu bewertet werden. So wird es in den kommenden Jahrzehnten auch im Bereich<br />

der Luftfahrt nicht an neuen Herausforderungen für Techniker <strong>und</strong> Unternehmer<br />

mangeln.<br />

Harro Fouquet, geboren 1927 in São Paulo, ist seit 1948 in der Luftverkehrsbranche tätig. Er<br />

kam zur VARIG, als diese 1961 die damalige Fluggesellschaft REAL übernahm. Betriebswirt,<br />

arbeitete er hauptsächlich in den Bereichen Streckenplanung <strong>und</strong> Verkehrspolitik. Als Direktor<br />

für Planung trat er 1993 in den Ruhestand, ist aber seitdem weiterhin Mitglied von Aufsichtsräten,<br />

z. Zt. von VARIG-Log; zudem beschäftigt er sich mit der Aufarbeitung der Geschichte des<br />

brasilianischen Luftverkehrs.<br />

347


Figur des Hans Staden in der Wanderaustellung<br />

Unter Menschfresser-Leuthen / Entre as Gentes Antropófagas<br />

Hans Staden e o primeiro livro sobre o Brasil 1557 – 2007,<br />

die im August 2007 in São Paulo startete <strong>und</strong><br />

bis Mai 2008 in mehreren Städten Brasiliens zu sehen ist.


Aus der Arbeit des<br />

Martius-Staden-Instituts<br />

Kulturbericht 2007<br />

Martina Merklinger<br />

São Paulo<br />

Das Jahr 2007 stand im Zeichen der beiden Namenspatrone des Martius-<br />

Staden-Instituts: Hans Staden <strong>und</strong> Carl Friedrich Philipp von Martius. Die Erstveröffentlichung<br />

der Reiseberichte von Hans Staden, die berühmte Warhaftige Historia<br />

<strong>und</strong> Beschreibung eyner Landtschafft der Wilden / Nacketen / Grimmigen Menschfresser-Leuthen<br />

in der Newenwelt America gelegen... liegt nun 450 Jahre zurück, was<br />

<strong>das</strong> Martius-Staden-Institut dazu bewegte, einige Aktivitäten daraufhin auszurichten.<br />

2007 jährte sich auch der Beginn der legendären Expedition von Carl Fr. Ph.<br />

von Martius <strong>und</strong> Johann Baptist von Spix zum 190. Mal – ein Anlass, dem ein<br />

Textbeitrag im vorliegenden Jahrbuch gewidmet ist.<br />

450 Jahre Hans Staden<br />

Der Schwerpunkt des Kulturprogramms in diesem Jahr jedoch lag auf Hans<br />

Staden, der traditionell gewichtigeren Persönlichkeit in der Geschichte des Instituts,<br />

<strong>das</strong> ja bis 1997 allein dessen kompletten Namen getragen hat: Hans-Staden-<br />

Institut. Mit einem Forschungskolloquium zu Staden <strong>und</strong> der Vernissage der unter<br />

wesentlicher Mitwirkung des Martius-Staden-Instituts konzipierten Wanderausstellung<br />

Unter Menschfresser-Leuthen / Entre as Gentes Antropófagas im hessischen<br />

Wolfhagen wurde <strong>das</strong> Programmjahr des Instituts eröffnet. Die Ausstellung<br />

des Regionalmuseums Wolfhager Land enthält lange illustrierte <strong>und</strong> zweisprachige<br />

Textfahnen, die den Inhalt der Warhaftigen Historia resümiert wiedergeben,<br />

von den abenteuerlichen Erlebnissen Stadens als Expeditionsreisender bis<br />

hin zu seinen detailgetreuen Beschreibungen der Tupinambá-Indianer, in deren<br />

Gefangenschaft er geriet. Zudem werden die Umstände beleuchtet, in denen dieses<br />

erste Brasilien-Buch entstanden ist, <strong>und</strong> schließlich wird die Rezeption des<br />

Buches von der Renaissance bis in die Gegenwart aufgezeigt. Originalexponate,<br />

wie die niederländische Staden-Ausgabe <strong>und</strong> insbesondere ein Exemplar der<br />

Marburger Ausgabe von 1557 aus dem Besitz der Niedersächsischen Staats- <strong>und</strong><br />

Landesbibliothek Göttingen veredeln diese Jubiläumsschau.<br />

Die Ausstellung war noch bis Juli in Deutschland zu sehen – als letztes in<br />

Korbach, ein Ort in Hessen, der ebenfalls mit Staden <strong>und</strong> seiner Familie verb<strong>und</strong>en<br />

1. In Korbach bei Verwandten habe sich Staden 1555 aufgehalten, nachdem er von seiner Reise<br />

zurückgekehrt war <strong>und</strong> wo er schließlich <strong>das</strong> Handwerk des Salpetersiedens erlernt habe.<br />

Das letzte Dokument, <strong>das</strong> gesichert mit ihm in Zusammenhang gebracht wird, stamme<br />

ebenfalls aus Korbach. Vgl. Obermeier, Franz, in: Staden, Hans: Warhaftige Historia / Zwei<br />

Reisen nach Brasilien (1548-1555) / História de duas viagens ao Brasil, S. 407.<br />

349


350<br />

wird 1 – bevor sie schließlich nach São Paulo verladen wurde. Von da aus koordinierte<br />

<strong>das</strong> Martius-Staden-Institut – dank der Unterstützung des Auswärtigen<br />

Amtes <strong>und</strong> der Vermittlung des Goethe-Instituts 2 – eine Ausstellungstournée an<br />

mehrere Orte innerhalb Brasiliens: São Paulo <strong>und</strong> Valinhos, Florianópolis <strong>und</strong><br />

Curitiba. Für den Anschluss im neuen Jahr sind vorgesehen: Itanhaém, Recife,<br />

Porto Alegre <strong>und</strong> Bertioga.<br />

Die rege Resonanz vor allem bei jungen Besuchern hat bewiesen, <strong>das</strong>s vom<br />

Thema Hans Staden auch heute noch ein großer Reiz ausgeht, es Abenteuerlust<br />

weckt <strong>und</strong> die Fantasie anregt. Gerade der Aspekt des Kannibalismus, mit dem<br />

Hans Staden zu seiner eigenen Beunruhigung konfrontiert wurde, berührte sowohl<br />

seine wie auch noch unsere Zeitgenossen <strong>und</strong> lässt nach wie vor Raum für<br />

weitergehende Forschungen.<br />

Auch der in Hessen lebende brasilianische Künstler José De Quadros betont<br />

den anthropophagischen Gehalt der Warhaftigen Historia in seiner neuen Bilderserie<br />

zu Hans Staden, die zentraler Bestandteil einer weiteren Ausstellung des<br />

Martius-Staden-Instituts in diesem Jahr war: Staden revisto – Pinturas recentes<br />

de José De Quadros lautete der Titel der Schau mit insgesamt drei großformatigen<br />

Gemälden <strong>und</strong> eben dieser 20-teiligen Serie. Der Künstler arbeitet mit der<br />

Ikonographie der Holzschnitte aus dem Buch dieses deutschen Abenteurers <strong>und</strong><br />

bringt die Bilder mittels Selektion <strong>und</strong> Übermalung in einen aktuellen Zusammenhang.<br />

Sensibel ausgearbeitete Bilder in mehreren Farb- <strong>und</strong> Leseschichten charakterisieren<br />

die Serie, die eigens für dieses Jubiläum im Martius-Staden-Institut<br />

konzipiert wurde.<br />

Ebenfalls im Rahmen dieses bibliographischen Jubiläums wurde am 31. Mai<br />

gemeinsam mit der Eröffnung der Gemäldeausstellung ein neues Buch aus der<br />

Staden-Forschung vorgestellt: Hans Staden: Warhaftige Historia / Zwei Reisen<br />

nach Brasilien (1548-1555) / História de duas viagens ao Brasil, erschienen im<br />

Westensee Verlag unter der Mitherausgabe des Martius-Staden-Instituts. Es handelt<br />

sich dabei um die erste Staden-Ausgabe, die sowohl den historischen Text als<br />

Faksimile als auch eine von Joachim Tiemann sprachlich aktualisierte deutsche<br />

Version <strong>und</strong> eine portugiesische Übersetzung enthält. Ergänzt wird dieser Teil durch<br />

eine Zeittafel zu Hans Staden <strong>und</strong> seinem Werk sowie durch kritische Erläuterungen<br />

vom Herausgeber Franz Obermeier.<br />

Von Büchern <strong>und</strong> Büsten<br />

Zwei weitere Buchpräsentationen fanden in den Räumen des Martius-Staden-<br />

Instituts statt: Am 1. August stellte José Eduardo Heflinger Jr. aus Limeira seine<br />

Dokumentation über die Geschichte der Fazenda Ibicaba vor, 3 <strong>und</strong> am 13.<br />

November erfolgt die Präsentation des vorliegenden Martius-Staden-Jahr-<br />

2. Ein Teil der weiteren Ausstellungsstationen sind Goethe-Institute in Brasilien oder vom Goethe-Institut<br />

geförderte Kulturgesellschaften.<br />

3. Heflinger, José Eduardo Jr.: Ibicaba – O Berço da imigração Européia de Cunho Particular,<br />

Limeira 2007. Der Verlag nutzte die Gelegenheit zur Präsentation einer weiteren Publikation:<br />

Reynaldo Kuntz Busch: A História de Limeira, Limeira 32007.


uches. 4 Kurzweilig <strong>und</strong> heiter hatte uns Ignácio de Loyola Brandão bei der<br />

Jahrbuchvorstellung 2006 Denkanstöße aus seinem neuen Buch gegeben. Als Fortführung<br />

dieser im vergangenen Jahr erstmals vorgenommenen Lesung mit einem<br />

der Jahrbuch-Autoren wird auch dieses Mal ein Schriftsteller erwartet: Fernando<br />

Bonassi. 5 Ebenso der Literatur, aber auch der Bildenden Kunst gewidmet ist die für<br />

den Anschluss geplante feierliche Enthüllung jener Kopfbüste, an deren Pendant<br />

sich viele Paulistaner erinnern, als sie noch in der Nähe der Stadtbibliothek Mario<br />

de Andrade stand: Johann Wolfgang von Goethe. Es handelt sich um einen<br />

der in kleiner Auflage erstellten Abgüsse des im vergangenen Jahr verstorbenen<br />

Bildhauers Tao Sigulda. Die von Wolfgang Dietzius gestiftete Skulptur hat nun<br />

einen würdigen Platz auf dem Schulhof der Porto-Seguro-Schule (III) gef<strong>und</strong>en. 6<br />

Auszeichnung: der Martius-Staden-Preis 2007<br />

Der jährlich vergebene Martius-Staden-Preis geht in diesem Jahr an eine Institution,<br />

die seit 1923 in Brasilien existiert <strong>und</strong> sich hier insbesondere auf dem Gebiet der<br />

berufsbildenden Sozialarbeit verdient gemacht hat: <strong>das</strong> Kolping-Werk. Die Obra Kolping<br />

do Brasil, unabhängig von dem deutschen Kolping-Werk 7 , ist in Brasilien<br />

mittlerweile mit 423 Vereinen in 21 B<strong>und</strong>esstaaten aktiv <strong>und</strong> hat ihre Arbeit in diesem<br />

Jahr unter <strong>das</strong> Motto „Trabalhando em mutirão construiremos nosso chão“ gestellt.<br />

Musikalische Begegnungen<br />

Wie <strong>das</strong> Vorjahr war auch 2007 für <strong>das</strong> Martius-Staden-Institut ein besonders<br />

musikalisches Jahr. Begonnen hat es mit dem Besuch des Salonorchesters<br />

DaCapo, <strong>das</strong> vom Martius-Staden-Institut nach Brasilien eingeladen wurde <strong>und</strong><br />

dessen Tournée in Piracicaba begann. Von der dortigen Musikschule Escola de<br />

Música Piracicaba Ernst Mahle, inzwischen Partnerinstitution des Martius-Staden-<br />

Instituts, reiste es nach Valinhos (Porto-Seguro-Schule II) <strong>und</strong> einen Tag später<br />

zum didaktischen Konzert an die Porto-Seguro-Schule in São Paulo, <strong>das</strong> die acht<br />

Musiker dort unter lebhafter Beteiligung der Schüler gaben. Das Hauptkonzert<br />

schließlich fand im Club Transatlântico statt, als Kooperationsveranstaltung zwischen<br />

Club <strong>und</strong> Martius-Staden-Institut. Spritzige Rhythmen, darunter Walzer,<br />

Tangos <strong>und</strong> Czar<strong>das</strong> erfüllten den Saal, der durch Buffet <strong>und</strong> ansprechender Dekoration<br />

eine gemütliche Kaffeehausatmosphäre erhielt.<br />

4. Da die Einreichung dieses Textes noch vor Ablauf des Jahres erfolgt, sind die Veranstaltungen<br />

ab Oktober nur als verbindliche Planungen zu verstehen. Änderungen sind demnach<br />

noch möglich.<br />

5. Dieser Reihe liegt die Idee zu Gr<strong>und</strong>e, neben Wissenschaftlern auch Schriftsteller im Jahrbuch<br />

zu berücksichtigen, in deren Werk Erfahrungen aus/mit Deutschland deutlich werden.<br />

Ignácio de Loyola Brandão <strong>und</strong> Fernando Bonassi verbindet <strong>das</strong> Künstlerprogramm des<br />

DAAD, über <strong>das</strong> sie in Deutschland waren.<br />

6. Der erwähnte andere Abguss der Goethe-Büste wurde am 11. Dezember 1976 im Garten<br />

der Städtischen Bibliothek von São Paulo in Erinnerung an den Beginn der deutschen Einwanderung<br />

nach São Paulo enthüllt.<br />

7. Im Jahre 1849 wurde u. a. von Adolph Kolping der Kölner Gesellenverein gegründet, der als<br />

Keimzelle des heutigen Kolping-Werkes gilt.<br />

351


352<br />

Wenige Wochen später schon gab es <strong>das</strong> nächste Gemeinschaftskonzert dieser<br />

beiden Institutionen, bei dem <strong>das</strong> Trio Drei Martini 8 mit seiner Hommage an<br />

die Gesangsdiven Marlene Dietrich, Edith Piaf u. a. beeindruckte. Die bild- <strong>und</strong><br />

tonreiche Show erfolgte mit Unterstützung der Firma KS Kolbenschmidt <strong>und</strong> des<br />

Robert-Bosch-Instituts <strong>und</strong> wird sicherlich noch Wiederholungen haben.<br />

Musikalisch weiter ging es dann am 18. Mai mit einem Begegnungskonzert zwischen<br />

einer deutschen <strong>und</strong> einer brasilianischen Bigband. Die vom Goethe-Institut unterstützte<br />

Jugend Jazz Band Anhalt <strong>und</strong> die Big Band da Santa der Faculdade<br />

Santa Marcelina sorgten gemeinsam für einen schwungvollen Abend mit brasilianischen<br />

<strong>und</strong> internationalen Jazzrhythmen auf der Bühne der Porto-Seguro-Schule.<br />

Die nächste deutsch-brasilianische musikalische Begegnung wird im Oktober<br />

erfolgen, mit dem zweiten Konzert des Martius-Staden-Instituts im renommierten<br />

Konzerthaus Sala São Paulo. Erneut tritt dort <strong>das</strong> Sinfonische Orchester Sto. André<br />

mit einem Gast aus Deutschland auf. Auf Initiative des Dirigenten Flavio Florence<br />

stehen die Vier letzten Lieder (Richard Strauss) mit ihrem elegischen Charakter<br />

auf dem Programm. Dazu ist die Sopranistin Regina Klepper aus München<br />

eingeladen, die gerade eine CD mit diesem Werk produziert hat <strong>und</strong> dieses nun<br />

gemeinsam mit dem Sinfonischen Orchester auf die Bühne bringt.<br />

Neben diesen Musikveranstaltungen u. a. mit Gastmusikern aus Deutschland<br />

organisierte <strong>das</strong> Martius-Staden-Institut auch die Konzerte der großen Musikensembles<br />

der Porto-Seguro-Schule 9 . Der Porto-Seguro-Chor beispielsweise studierte<br />

<strong>das</strong> Mozart-Requiem ein, dessen Aufführung in der São-Luis-Gonzaga-Kirche<br />

aufgr<strong>und</strong> seiner musikalischen Qualität <strong>und</strong> der sakralen Atmosphäre einen<br />

besonderen Höhepunkt darstellte.<br />

Zum Jahresabschluss werden alle drei Ensembles <strong>das</strong> Weihnachtskonzert bestreiten,<br />

an dem dann schließlich auch der Kinderchor der Porto-Seguro-Schule<br />

teilnehmen wird.<br />

Weitere Aktivitäten des Martius-Staden-Instituts<br />

Kleinere Aktivitäten, die hier nicht detailliert aufgeführt werden, ergänzen <strong>das</strong><br />

Jahresprogramm des Martius-Staden-Instituts. An zwei ‚Offenen Samstagen‘<br />

wurde vor allem Berufstätigen die Gelegenheit gegeben, die Bibliothek <strong>und</strong> <strong>das</strong><br />

Archiv zu nutzen; <strong>und</strong> im Schulgebäude der Sprachschule D’kurs im Paulistaner<br />

Stadtteil Brooklin wurde mit ausgewählten Theaterplakaten aus dem Institutsbestand<br />

<strong>das</strong> Werk des Berliner Ensembles <strong>und</strong> Bertolt Brechts in Erinnerung gerufen.<br />

Auch im Dokumentationszentrum, d. h. in Archiv <strong>und</strong> Bibliothek des<br />

Martius-Staden-Insituts, gab es einige Neuerungen zu Bestandspflege <strong>und</strong> Nutzung.<br />

Die bedeutsamsten dabei sind die Informatisierung des Bibliothekskatalogs<br />

8. Drei Martini hat sich eigens für diese Show Marlene e Edith... canções que o m<strong>und</strong>o ouviu<br />

formiert: Jane Nassif (Mezzosopran), Leonardo Fernandes (Klavier) <strong>und</strong> Martin Willy (Gesang,<br />

Flöte <strong>und</strong> Saxophon). Ergänzt wird <strong>das</strong> Trio durch den künstlerischen Leiter Nick Ayer. Aus<br />

privaten Gründen konnte Martin Willy, der wesentlich an der Entwicklung des Programms<br />

beteiligt war, nicht teilnehmen <strong>und</strong> wurde von dem Saxophonisten Daniel Laleska vertreten.<br />

9. Erwachsenenchor unter der Leitung von Sérgio Assumpção, Kammerorchester unter der<br />

Leitung von Gretchen Miller, Orchester in Valinhos unter der Leitung von Flavio Florence.


Foto: Murillo Medina<br />

Foto: Murillo Medina<br />

Das Trio Drei Martini nach der Vorstellung<br />

Marlene e Edith... Canções que o m<strong>und</strong>o ouviu<br />

am 19. April 2007 im Club Transatlântico.<br />

Das Salonorchester DaCapo aus Süddeutschland am 15. März 2007 auf der Bühne des Club<br />

Transatlântico. Von links nach rechts: Mirek Jahoda (Violine), Carsten Schmidt-Hurtienne<br />

(Violine), Christof Maisch (Viola), Hans-Michael Eckert (Violoncello), Martin Meisenburg<br />

(Kontrabass), Jürgen Ochs (Piano <strong>und</strong> künstlerische Leitung), Armin Liebich (Klarinette).


José De Quadros,<br />

Canibal ou Vitalidade,<br />

2006, Rötel, Öl <strong>und</strong><br />

Acryl auf Papier <strong>und</strong><br />

Leinwand, 42 x 60 cm<br />

Ausstellungseröffnung Unter Menschfresser-Leuthen / Entre as Gentes Antropófagas –<br />

Hans Staden e o primeiro livro sobre o Brasil 1557–2007 am 14. August in der<br />

Porto-Seguro-Schule. Im Bild: Generalkonsul der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland Dr.<br />

Heinz-Peter Behr (Mitte), Eckhard E. Kupfer (links) <strong>und</strong> Alfried Plöger (rechts).


Büchertische bei<br />

Ausstellungseröffnung<br />

<strong>und</strong> Buchvorstellung<br />

Eröffnung der<br />

Ausstellung<br />

Staden Revisto –<br />

Pinturas Recentes<br />

de José<br />

De Quadros<br />

am 31. Mai 2007<br />

im Martius-<br />

Staden-Institut<br />

Fotos: Murillo Medina


Verleihung des Martius-Staden-Preises 2007 an Obra Kolping do Brasil,<br />

am 18. Oktober 2007. Im Bild (von links nach rechts): Pater Paulo Link <strong>und</strong> Sônia Aparecida<br />

Guilherme Teixeira als Vertreter des Kolping-Werkes, Alfried Plöger, Eckhard E. Kupfer.<br />

Konzert des Sinfonischen Orchesters Santo André<br />

am 21. Oktober 2007 in der Sala São Paulo.<br />

Im Bild: Flavio Florence (Dirigent)<br />

<strong>und</strong> Regina Klepper (Sopran).<br />

Fotos: Murillo Medina


<strong>und</strong> des Personenverzeichnisses, welche mittelfristig im Internet zur weltweiten<br />

Nutzung abrufbar sein werden sowie die vom Auswärtigen Amt unterstützte Restaurierung<br />

von Rarumbüchern aus dem Zeitraum von 1600 bis 1900.<br />

Gleichzeitig wird an der Aktualisierung <strong>und</strong> an der Erweiterung der Ressourcensammlung<br />

gearbeitet. Immer wieder erhält <strong>das</strong> Institut wertvolle Privatdokumente,<br />

die nach fachlicher Begutachtung in den Bestand übergehen <strong>und</strong> dazu beitragen,<br />

<strong>das</strong>s mit dem im Institut bereitgehaltenen Materialien ein zunehmend facetten<strong>und</strong><br />

umfangreicheres Bild der deutschen Präsenz in Brasilien gezeichnet werden<br />

kann. Insbesondere sind erwünscht: Fotos, Urk<strong>und</strong>en, Handschriften, die im Zusammenhang<br />

stehen mit den Deutschen in Brasilien. Ergänzend dazu hat – wie<br />

bereits im Vorwort dieses Jahrbuchs erwähnt – gerade ein Projekt begonnen, <strong>das</strong><br />

ebenfalls die aktive Teilnahme der Deutschen <strong>und</strong> Deutsch-Brasilianer in Brasilien<br />

erfordert. Anhand von – nach der Methodik der so genannten Oral History geführten<br />

– Interviews werden Lebenserfahrungen von deutschsprachigen Immigranten<br />

<strong>und</strong> deren Nachfahren dokumentiert, einer kritischen Auswertung unterzogen<br />

<strong>und</strong> damit späteren Forschungen zur Verfügung gestellt.<br />

Zudem ermöglicht <strong>das</strong> Generalkonsulat der Schweiz in São Paulo ein<br />

Forschungsprojekt zur Schweizer Einwanderung nach Brasilien, <strong>das</strong> vom Martius-<br />

Staden-Institut begleitet wird.<br />

Für sämtliche Aktivitäten gilt es, Partnerschaften mit anderen Institutionen zu<br />

gründen, um Synergieeffekte zu erzielen <strong>und</strong> gemeinsam neue Wege einzuschlagen.<br />

Diesen Partnern gebührt besonderer Dank: Stiftung Visconde de Porto Seguro,<br />

Generalkonsulat der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland, Club Transatlântico, Deutsch-<br />

Brasilianische Außenhandelskammer, Deutsch-Brasilianische Gesellschaft,<br />

Edunesp, Sociedade Pró Memória de Limeira, Generalkonsulat der Schweiz, Goethe-Institut,<br />

Stadtverwaltung <strong>und</strong> Sinfonisches Orchester der Stadt Sto. André,<br />

Regionalmuseum Wolfhager Land, Stadtmuseum São Caetano do Sul, Westensee<br />

Verlag Kiel <strong>und</strong> natürlich der Porto-Seguro-Schule. Auch danken wir den Mitgliedern<br />

10 , dem neu formierten Kulturbeirat 11 <strong>und</strong> den Sponsoren 12 , die oft tat- <strong>und</strong><br />

finanzkräftig die Aktivitäten des Martius-Staden-Instituts unterstützt haben <strong>und</strong><br />

mit denen wir optimistisch auf <strong>das</strong> nächste Programmjahr sehen.<br />

Weitere Informationen erhalten Sie auf unserer Homepage, die stetig wächst<br />

<strong>und</strong> zunehmend zur Dokumentation auch der vergangenen Aktivitäten dient.<br />

Sämtliche Veranstaltungen seit 2005 sind dort mit Text <strong>und</strong> umfangreichem Bildmaterial<br />

aufgeführt: www.martiusstaden.org.br.<br />

Martina Merklinger, geb. in Rastatt, ist seit April 2004 im Martius-Staden-Institut als<br />

Programmkoordinatorin tätig.<br />

10. Momentan zählt <strong>das</strong> Martius-Staden-Institut 53 Mitglieder, von denen 9 als Firmenmitglieder<br />

eingetragen sind: Instituto Robert Bosch; Schroeder Hermes Seguro; Schaeffler Group; Florence,<br />

Boltz Advogados; Moura Schwark; Degussa; CSR; Brasimet; Henkel.<br />

11. Am 12. April 2007 hat sich der neue Kulturbeirat konstituiert: Prof. Dr. Willi Bolle (Vorsitz),<br />

Renate Kutschat (Stellvertr. Vorsitz), Klaus Behrens, Ursula Dormien, Dr. Antiopy Lyroudias-<br />

Garbade, Karlheinz Pohlmann, Eduard M. Talmon-l’Armée <strong>und</strong> Hermann H. Wever.<br />

12. Im Jahr 2007 haben sich folgende Firmen <strong>und</strong> Institutionen als Sponsoren des Martius-<br />

Staden-Instituts hervorgetan: Bayer S.A., Henkel, Instituto Robert Bosch, wobei die Firma<br />

Henkel <strong>und</strong> <strong>das</strong> Robert-Bosch-Institut gleichzeitig auch Mitglieder sind.<br />

353


José De Quadros: História Verídica<br />

(Gemälde aus der Ausstellung Staden Revisto im Martius-Staden-Institut, 1. Juni - 27. Juli 2007).


Das atividades do<br />

Instituto Martius-Staden<br />

Relatório cultural 2007<br />

Martina Merklinger<br />

São Paulo<br />

O ano de 2007 transcorreu sob o signo dos patronos do Instituto Martius-Staden:<br />

Hans Staden e Carl Friedrich Philipp von Martius. Há quatrocentos e cinqüenta<br />

anos aparecia a primeira edição do relato de viagem de Hans Staden, a famosa<br />

Warhaftige Historia <strong>und</strong> Beschreibung eyner Landschafft der Wilden / Nacketen /<br />

Grimmigen Menschfresser-Leuthen in der Newenwelt America gelegen, motivo para o<br />

Instituto realizar algumas atividades volta<strong>das</strong> a esta data. Cumpriram-se também,<br />

neste ano, os 190 anos do início da lendária expedição de Carl Fr. Ph. von Martius e<br />

Johann Baptist von Spix; este Anuário traz uma matéria dedicada a esta viagem.<br />

450 anos Hans Staden<br />

O foco principal <strong>das</strong> atividades culturais neste ano porém, foi Hans Staden,<br />

tradicionalmente a personalidade de maior peso para o Instituto, que até 1997<br />

se chamava unicamente Instituto Hans Staden. Iniciaram-se as atividades comemorativas<br />

com um colóquio de pesquisa sobre Hans Staden e a vernissage da<br />

exposição itinerante Unter Menschfresser-Leuthen / Entre as Gentes Antropófagas<br />

em Wolfhagen, evento que contou com a f<strong>und</strong>amental colaboração e<br />

cooperação do Instituto. A exposição do Museu Regional de Wolfhagen compõe-se<br />

de longos banners trazendo textos bilíngües e ilustrações, que reproduzem,<br />

de forma resumida, o conteúdo do livro de Hans Staden, desde suas arrisca<strong>das</strong><br />

experiências como viajante até as descrições minuciosas dos tupinambás,<br />

em cujo cativeiro esteve. Além disso, a mostra esclarece as circunstâncias sob as<br />

quais este primeiro livro sobre o Brasil fora escrito, e detalha a recepção da obra<br />

desde os tempos da Renascença à atualidade. A edição original da obra em<br />

holandês bem como um exemplar da edição de Marburgo de 1557, propriedade<br />

da Biblioteca Estatal de Göttingen na Baixa Saxônia, enobrecem a exposição<br />

comemorativa.<br />

Até julho a mostra esteve aberta na Alemanha, por último na cidade de<br />

Korbach (Hesse) – que sempre é mencionada no contexto de Staden e sua família<br />

1 – de onde foi embarcada para São Paulo. Sob a coordenação do Instituto<br />

1. Seria em Korbach, em 1555, onde Staden teria permanecido na casa de parentes, após seu<br />

regresso, e onde teria aprendido o ofício de salitreiro. O último documento em que se<br />

menciona Staden também seria de Korbach. Cf. Obermeier, Franz, em: Staden, Hans:<br />

Warhaftige Historia / Zwei Reisen nach Brasilien (1548-1555) / História de duas viagens ao<br />

Brasil, Kiel 2007, pág. 407.<br />

355


356<br />

Martius-Staden – e graças ao apoio do Ministério <strong>das</strong> Relações Exteriores da<br />

Alemanha e à intermediação do Instituto Goethe 2 – se iniciou o itinerário brasileiro<br />

desta exposição: São Paulo e Valinhos; Florianópolis e Curitiba. Na seqüência<br />

estão previstas, para o ano que vem, as cidades de Itanhaém, Recife, Porto<br />

Alegre e Bertioga.<br />

A ressonância, principalmente entre o público jovem, demonstrou que o tema<br />

Hans Staden, até os dias de hoje, fascina, suscita espírito aventureiro, estimula a<br />

fantasia. O aspecto do canibalismo, que tanto inquietou Hans Staden quando<br />

pessoalmente confrontado com este, tocou tanto seus quanto nossos contemporâneos,<br />

e continua sendo matéria de contínuas pesquisas.<br />

José De Quadros, artista brasileiro residente em Hesse, também enfatiza o<br />

conteúdo antropofágico da Warhaftige Historia, em sua série de quadros com<br />

relação a Staden que constituiu o foco central de outra exposição do Instituto<br />

Martius-Staden neste ano: Staden revisto – Pinturas recentes de José De Quadros<br />

foi o título desta mostra, composta por três pinturas grandes e pela série<br />

mencionada. O pintor trabalha com a iconografia <strong>das</strong> xilogravuras do livro deste<br />

aventureiro e leva estas representações aos tempos atuais, através de uma seleção<br />

destas e pintura sobreposta. Quadros trabalhados de maneira sensível, em<br />

diversas cama<strong>das</strong> de cor ou leitura, são características desta série, especialmente<br />

concebida para o Instituto Martius-Staden por ocasião deste jubileu.<br />

Inserido neste contexto comemorativo foi lançado, por ocasião da vernissage<br />

da exposição em 31 de maio, produto de pesquisa extensa, o livro Hans Staden:<br />

Warhaftige Historia / Zwei Reisen nach Brasilien (1548-1555) / História de<br />

duas viagens ao Brasil. Trata-se de uma publicação da Editora Westensee, com<br />

a co-editoria do Instituto Martius-Staden.<br />

Esta edição abrange o texto histórico de Staden, em fac-símile, a transcrição<br />

deste original para um alemão atualizado, efetuada por Joachim Tiemann, e uma<br />

tradução ao português. Um quadro cronológico, referente a Staden e sua obra, e<br />

comentários críticos do editor Franz Obermeier complementam a edição.<br />

De livros e bustos<br />

Outras duas apresentações de livros aconteceram no recinto do Instituto: em<br />

1° de agosto José Eduardo Heflinger Jr. de Limeira trouxe sua documentação<br />

sobre a história da Fazenda Ibicaba 3 e, em 13 de novembro, ocorrerá o lançamento<br />

do Anuário Martius-Staden. 4 De forma divertida e alegre Ignácio de<br />

Loyola Brandão incitara a reflexões, por ocasião do lançamento do Anuário de<br />

2006, narrando passagens de seu livro a ser publicado. Dando continuidade a<br />

2. Parte dos outros locais de exposição são alguns Institutos Goethe ou Centros Culturais<br />

patrocinados pelo Instituto Goethe.<br />

3. Heflinger, José Eduardo Jr.: Ibicaba – O Berço da Imigração Européia de Cunho Particular,<br />

Limeira 2007. A Editora lançou, na mesma ocasião, outra publicação de Reynaldo Kuntz<br />

Busch: A História de Limeira, Limeira (3ª edição) 2007.<br />

4. Uma vez que a entrega deste texto ocorreu antes do final do ano, os eventos a partir de<br />

outubro tem caráter de planejamento definido; alterações porém, ainda podem ocorrer.


estas leituras, feitas por um dos autores do Anuário, espera-se para este ano outro<br />

escritor: Fernando Bonassi. 5<br />

Num ato dedicado tanto à Literatura como às Artes Plásticas será descerrada<br />

solenemente nesta ocasião um meio-busto de Johann Wolfgang von Goethe;<br />

muitos paulistanos se lembrarão de uma réplica deste, dos tempos quando ainda<br />

se encontrava nos jardins da Biblioteca Mario de Andrade. Trata-se de uma <strong>das</strong><br />

poucas moldagens desta peça do escultor Tao Sigulda, falecido no ano passado.<br />

A escultura, doada pelo Sr. Wolfgang Dietzius, recebeu um lugar digno no<br />

pátio do Colégio Visconde de Porto Seguro (Unidade III). 6<br />

Premiação: Obra Kolping do Brasil<br />

Neste ano o Premio Martius-Staden será outorgado a uma instituição que<br />

desde 1923 existe no Brasil e cujo mérito é o trabalho social-profissionalizante:<br />

a Obra Kolping.<br />

A Obra Kolping do Brasil , organização independente da Obra Kolping alemã<br />

7 , conta, no país, com 423 associações em 21 estados. Suas atividades deste<br />

ano tem como tema „Trabalhando em mutirão construiremos nosso chão“.<br />

Encontros musicais<br />

Como já o ano anterior, também este foi dedicado, de forma especial, à música.<br />

O Instituto convidara a Orquestra de Salão DaCapo que iniciou sua tournée<br />

no Brasil na cidade de Piracicaba. Da Escola de Música Piracicaba Ernst Mahle,<br />

entrementes instituição parceira do Instituto, os oito músicos viajaram para<br />

Valinhos (Porto Seguro Unidade II) para, no dia seguinte, fazer um concerto<br />

didático, na Unidade I em São Paulo, ocasião em que ocorreu uma animada<br />

interação com os alunos. A apresentação principal desta orquestra entretanto foi<br />

o concerto no Club Transatlântico, evento realizado em parceria entre o Instituto<br />

e dito clube. Ritmos alegres e vivos, dentre eles valsas, tangos ou czar<strong>das</strong> soavam<br />

no salão que, através de uma decoração agradável com bufê, emanava uma<br />

atmosfera aconchegante dos tradicionais salões de café.<br />

Poucas semanas mais tarde acontecia o próximo concerto, realizado em parceria<br />

<strong>das</strong> duas instituições, em que o Trio Drei Martini 8 fazia uma homenagem às<br />

5. Na intenção dos editores, ao lado de cientistas, também escritores, em cujo trabalho se<br />

manifestam experiências relaciona<strong>das</strong> com a Alemanha, deverão se fazer presentes no<br />

Anuário. Ignácio de Loyola Brandão e Fernando Bonassi, fizeram ambos parte do programa<br />

do DAAD, voltado a artistas, que possibilitou suas esta<strong>das</strong> na Alemanha.<br />

6. A outra moldagem mencionada desta herma de Goethe se inaugurara em memória da imigração<br />

alemã a São Paulo, nos jardins da Biblioteca Municipal desta cidade, em 11/12/1976.<br />

7. No ano de 1849 Adolph Kolping f<strong>und</strong>ara o Kölner Gesellenverein, considerado a célula mater<br />

da Obra Kolping dos dias de hoje.<br />

8. O conjunto Drei Martini formou-se especialmente para o show Marlene e Edith ... canções<br />

que o m<strong>und</strong>o ouviu: Jane Nassif (meio-soprano) Leonardo Fernandes (piano) e Martin Willy<br />

(canto, flauta e saxofone). A direção artística de Nick Ayer complementa o trio. Pela força de<br />

motivos particulares Martin Willy, essencialmente envolvido na elaboração do programa, não<br />

pôde fazer parte da apresentação e foi substituído pelo saxofonista Daniel Laleska.<br />

357


358<br />

grandes cantoras Marlene Dietrich e Edith Piaf, e outras, que a todos impressionou.<br />

O show, rico em imagens e som, contou com o apoio da empresa KS Kolbenschmidt<br />

e do Instituto Robert Bosch, e provavelmente terá mais apresentações.<br />

A programação continuou em 18 de maio com o encontro musical entre<br />

uma banda brasileira e uma alemã. A Jugend Jazz Band Anhalt, patrocinada<br />

pelo Instituto Goethe, e a Big Band da Santa, da Faculdade Santa Marcelina,<br />

trouxeram ritmos brasileiros e internacionais contagiantes, encantando o público<br />

no Porto Seguro.<br />

O próximo encontro musical brasileiro-alemão ocorrerá em outubro, quando<br />

do seg<strong>und</strong>o concerto organizado pelo Instituto, na renomada Sala São Paulo.<br />

Apresentar-se-á novamente a Orquestra Sinfônica de Santo André que contará<br />

com a participação de uma convidada da Alemanha. Por iniciativa do regente<br />

Flavio Florence constarão do programa os „Vier letzten Lieder“ (Quatro últimas<br />

canções), de Richard Strauss, uma composição de cunho elegíaco. Para interpretála<br />

convidou-se a soprano Regina Klepper, de Munique, onde esta acabou de lançar<br />

um CD com essa obra a ser apresentada aqui com a Orquestra Sinfônica.<br />

Ao lado destes eventos musicais, que contaram com a participação de músicos<br />

convidados da Alemanha, entre outros, o Instituto organizou os concertos<br />

<strong>das</strong> grandes formações concertantes do Porto Seguro. 9 O Coral Porto Seguro<br />

trabalhara o Réquiem de Mozart, cuja apresentação na Igreja de São Luis Gonzaga<br />

se destacou pela qualidade da interpretação em ambiente espiritual.<br />

As três formações musicais farão o concerto de Natal no qual haverá a<br />

participação do Coral Infantil.<br />

Outras atividades do Instituto<br />

Atividades menores, não menciona<strong>das</strong> especificamente, complementam a programação<br />

anual do Instituto. Assim realizou-se, já por duas vezes, um ‚Sábado de<br />

Portas Abertas‘, possibilitando aos interessados o acesso à Biblioteca e ao Arquivo<br />

para fins de pesquisa; na Escola de Línguas D’Kurs fez-se uma exposição com os<br />

pôsteres de teatro, do acervo do Instituto, evocando Bert Brecht e a atuação do<br />

Berliner Ensemble.<br />

No Centro de Documentação, ou seja no Arquivo e na Biblioteca do Instituto<br />

Martius-Staden, ocorreram inovações na manutenção e uso do acervo. Reveste-se<br />

de especial importância a informatização do catálogo da Biblioteca e do<br />

índice de pessoas, ambos disponibilizados, a médio prazo, na rede possibilitando um<br />

acesso m<strong>und</strong>ial, e o restauro <strong>das</strong> obras raras de 1600 a 1900, um projeto que conta<br />

com a participação e o apoio do Ministério <strong>das</strong> Relações Exteriores da Alemanha.<br />

Concomitantemente trabalha-se na complementação de recursos históricos,<br />

uma vez que o Instituto recebe constantemente documentos preciosos. Após<br />

avaliação profissional, estes são incorporados ao acervo existente, possibilitando<br />

destarte um quadro cada vez mais amplo e diferenciado da presença alemã no<br />

Brasil. Imagens, documentos manuscritos e atestados relacionados a esta são de<br />

9. Coral de adultos sob a regência de Sergio Assumpção, Orquestra de Câmara dirigida por<br />

Gretchen Miller, Orquestra de Valinhos tendo à sua frente Flavio Florence.


enorme valor e particularmente bem-vindos. Iniciou-se, outrossim, e como já<br />

mencionado no prefácio deste Anuário, um projeto que requer a participação<br />

ativa de alemães e descendentes destes no Brasil. A partir de entrevistas, que<br />

seguem o método da História Oral, são colhi<strong>das</strong> e documenta<strong>das</strong> experiências<br />

de vida dos imigrantes alemães e seus filiados e, após análise crítica,<br />

disponibilizados para futuras pesquisas.<br />

Além do mais, o Consulado Geral da Suíça em São Paulo possibilitou um projeto<br />

que visa ao levantamento da imigração suíça ao Brasil, projeto este que o<br />

Instituto acompanha.<br />

Para to<strong>das</strong> as atividades vale fazer parcerias com outras instituições, assim<br />

criando sinergias para novos caminhos. A estes parceiros dirigem-se os agradecimentos<br />

especiais: F<strong>und</strong>ação Visconde de Porto Seguro, Consulado Geral da República<br />

Federal da Alemanha, Club Transatlântico, Câmara de Comercio Exterior<br />

Brasil-Alemanha, Sociedade Brasil-Alemanha (DBG), Edunesp, Sociedade Pró Memória<br />

de Limeira, Consulado Geral da Suíça, Instituto Goethe, Prefeitura e Orquestra<br />

Sinfônica da cidade de Santo André, Museu Regional de Wolfhagen, Museu<br />

da Cidade de São Caetano, Editora Westensee (Kiel) e, certamente, ao Colégio<br />

Visconde de Porto Seguro. Agradecemos outrossim aos associados 10 , ao recém<br />

formado Conselho Cultural 11 , e aos patrocinadores 12 , que, por muitas vezes de<br />

maneira ativa e/ou financeira, apoiaram os eventos do Instituto, de forma que<br />

visualizamos um novo e profícuo ano de realizações.<br />

Mais informações se encontram na homepage do Instituto, sempre atualizada,<br />

mas voltada também à documentação <strong>das</strong> atividades realiza<strong>das</strong>. Desde<br />

2005 os eventos do Instituto ali têm seus registros ricos em textos e imagens:<br />

www.martiusstaden.org.br<br />

(Tradução: Renata Kutschat)<br />

Martina Merklinger, nascida em Rastatt, trabalha desde abril 2004 no Instituto Martius-<br />

Staden como coordenadora da programação cultural.<br />

10. Atualmente o Instituto Martius-Staden conta com 53 sócios; destes, 9 são empresas: Instituto<br />

Robert Bosch; Schroeder Hermes Seguros; Schaeffler Group; Florence, Boltz Advogados;<br />

Moura Schwark; Degussa; CSR; Brasimet; Henkel.<br />

11. Em 12 de abril de 2007 foi constituído o Conselho Cultural: Prof. Dr. Willi Bolle (presidente),<br />

Renata Kutschat (vice-presidente), Klaus Behrens, Ursula Dormien, Dra . Antiopy Lyroudias-<br />

Garbade, Karlheinz Pohlmann, Eduard M. Talmon-l’Armée e Hermann Wever.<br />

12. No ano de 2007 destacaram-se as seguintes empresas e instituições como patrocinadores do<br />

Instituto: Bayer S.A., Henkel, Instituto Robert Bosch, os últimos dois sendo sócios do Instituto.<br />

359


Neue Bücher in der<br />

Bibliothek des Martius-Staden-Instituts<br />

BOLLE, Willi. Grandesertão.br: o romance de formação do Brasil. São Paulo: 34, 2004.<br />

BON, Henrique. Imigrantes: a saga do primeiro movimento migratório organizado rumo<br />

ao Brasil às portas da independência. 2 ed. Nova Friburgo: Imagem Virtual, 2 2004.<br />

BORGES, Adélia. et. al. Desenho Anônimo: legado da imigração no sul do Brasil: Coleção<br />

Azevedo Moura. São Paulo: Museu da Casa Brasileira, 2007.<br />

BORSDORF, Axel (Ed.); HÖDEL, Walter (Ed.). Naturraum Lateinamerika: Geographische<br />

<strong>und</strong> biologische Gr<strong>und</strong>lagen. (¡Atención! Jahrbuch des Österreichischen Lateinamerika-Instituts.<br />

Bd. 10.). Wien: LIT, 2006.<br />

CAMPOS, Cynthia Machado. A política da língua na era Vargas: proibição do falar alemão<br />

e resistência no Sul do Brasil. Campinas: Editora da Unicamp, 2006.<br />

DIETRICH, Eva. (Ed.). et. al. Der Traum vom Glück: Schweizer Auswanderung auf brasilianische<br />

Kaffeeplantagen 1852-1888. Baden: hier +jetzt, Verlag für Kultur <strong>und</strong><br />

Geschichte, 2003.<br />

DIETZ, Carola. Nachgeholtes Leben: Helmuth Plessner 1892-1985. Göttingen: Wallstein,<br />

2006.<br />

D. Leopoldina: Cartas de uma imperatriz. São Paulo: Estação Liberdade, 2006.<br />

DREHER, Martin N. (Org.) et. al. Imigração & Imprensa. (XV Simpósio de História da<br />

Imigração e Colonização). Porto Alegre: EST Edições, 2004.<br />

ELY, Nilza Huyer. (Org.). Três Cachoeiras: marcas do tempo. (Simpósio sobre imigração<br />

alemã no litoral norte/RS). Porto Alegre: EST Edições, 2004.<br />

ELY, Nilza Huyer. (Org.). Arroio do Sal: marcas do tempo. (Simpósio sobre imigração<br />

alemã no litoral norte/RS). Porto Alegre: EST Edições, 2007.<br />

FONTELES, Bené. Bahia: Ausência e Presença em Gameleira do Assuruá. São Paulo:<br />

Movimento Artistas pela Natureza, 2004.<br />

FLUSSER, Vilém. Vogelflüge: Essays zu Natur <strong>und</strong> Kultur. München/Wien: Carl Hanser, 2000.<br />

FRÖSCHLE, Hartmut. Die Deutschen in Brasilien einst <strong>und</strong> jetzt. (Eckartschrift Bd. 183).<br />

Wien: Österreichische Landsmannschaft, 2006.<br />

GANS, Vitor Volker. Aus deutscher Dichtung / Da poesia alemã. Nova Petrópolis:<br />

Sociedade União Popular Theodor Amstad, 2004.<br />

GARCIA, Eugênio Vargas. Entre América e Europa: a política externa brasileira na década<br />

de 1920. Brasília: FUNAG, 2006.<br />

HEFLINGER, José Eduardo Jr. Ibicaba: O berço da imigração européia de cunho<br />

particular. Limeira: Unigráfica, 2007.<br />

361


362<br />

INSITUTO MOREIRA SALLES (Ed.). O m<strong>und</strong>o de Alice Brill. São Paulo: Instituto Moreira<br />

Salles, 2005.<br />

ISOLAN, Flaviano Bugatti. Das páginas à tela: cinema alemão e imprensa na década de<br />

1930. Santa Cruz do Sul: EDUNISC, 2006.<br />

KRÄHENBÜHL, René Robert. Família Krähenbühl: História da Emigração-Suíça/Brasil:<br />

1854/1857. Füllinsdorf/Campinas: Edição própria, 2006.<br />

KRIEK, Frederica. No sagrado território <strong>das</strong> lembranças. Recife: Bagaço, 2006.<br />

LICHT, Otavio Augusto Boni. Povoadores alemães do Rio Grande do Sul 1847-1849.<br />

Porto Alegre: EST, 2005.<br />

LIEBLICH, Karl. Rausch <strong>und</strong> Finsternis. Remscheid, Gardez!, 2006.<br />

LUSTOSA, Isabel. D. Pedro I. São Paulo: Companhia <strong>das</strong> Letras, 2006.<br />

MELLO, Evaldo Cabral de. Nassau. São Paulo: Companhia <strong>das</strong> Letras, 2006.<br />

MINDLIN, José (Ed.). Destaques da Biblioteca InDisciplinada de Guita e José Mindlin.<br />

São Paulo/Rio de Janeiro: Edusp/Fapesp/F<strong>und</strong>ação Biblioteca Nacional, 2005.<br />

MIRANDA, Mariza Santos. Estação Terenos: educação e presença alemã no sul de Mato<br />

Grosso: 1920/1934. São Paulo: All Print, 2005.<br />

MUELLER, Telmo Lauro. Imigração alemã: sua presença no RS há 180 anos. Porto Alegre:<br />

EST, 2005.<br />

ODEBRECHT, Rolf; ODEBRECHT, Renate Sybille. Cartas de Família: ensaio biográfico de<br />

Emil Odebrecht e ensaio de seu filho Oswaldo Odebrecht Sênior. Blumenau: Edição<br />

do autor, 2006.<br />

OLIVEIRA, IONE. Aussenpolitik <strong>und</strong> Wirtschaftsinteresse: in den Beziehungen zwischen Brasilien<br />

<strong>und</strong> der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland: 1949-1966. Frankfurt/M.: Peter Lang, 2005.<br />

OMAR, Daniel (Org.). Kant no Brasil. São Paulo: Escuta, 2005.<br />

PARTENHEIMER, Jürgen. Roma - São Paulo: Zeichnungen / Drawings. Düsseldorf: Richter,<br />

2006.<br />

PIRES, Zeca. Cinema e História: José Julianelli e Alfredo Baumgarten, pioneiros do cinema<br />

catarinense. Blumenau: EDIFURB/Cultura em Movimento, 2000.<br />

ROSA, Gilson Justino de. Imigrantes alemães: 1824-1853. Porto Alegre: EST, 2005.<br />

SCHAEBER, Petra. Die Macht der Trommeln: Olodum <strong>und</strong> die Blocos Afros aus Salvador<br />

/Bahia - afro-brasilianische Kultur <strong>und</strong> “Rassen”beziehungen. Berlin: Archiv der<br />

Jugendkulturen, 2006.<br />

SCHNEIDER, Eva. Die Löwin tanzt im Spätherbst: ein Leben in Brasilien <strong>und</strong> Deutschland.<br />

Frankfurt/M.: MEDU Verlag, 2005.<br />

SIOLI, Harald: Gelebtes, geliebtes Amazonien. Forschungsreisen im brasilianischen Regenwald<br />

zwischen 1940 <strong>und</strong> 1962. (Herausgegeben <strong>und</strong> bearbeitet von Gerd<br />

KOHLHEPP). München: Verlag Dr. Friedrich Pfeil, 2007.


SOARES, Maria Elias (Ed.); SCHWAMBORN, Ingrid (Ed.). José de Alencar: Iracema:<br />

Lenda do Ceará / Legende aus Ceará. Fortaleza: Edições UFC, 2006.<br />

SOUZA, Sergio Muniz de. Histórias que meus avôs e minas avós não me contaram. [s l.]:<br />

Metropol Digital, 2004.<br />

STADEN, Hans: Wahrhaftige Historia. Zwei Reisen nach Brasilien (1548-1555) / História<br />

de duas viagens ao Brasil. (Hrsg. Von Franz Obermeier). (Fontes Americanae. Bd.<br />

1). Kiel: Westensee, 2007.<br />

STUTZER, Therese. Marie Luise. Blumenau: Cultura em Movimento, 2002.<br />

TIRAPELI, Percival. São Paulo: artes e etnias. São Paulo: Editora UNESP/Imprensa Oficial<br />

do Estado de São Paulo, 2007.<br />

TRESSMANN, Ismael. Dicionário Enciclopédico Pomerano Português. Santa Maria de<br />

Jetibá: Ismael Tressmann, 2006.<br />

TRESSMANN, Ismael (Org.). Upm Land: up pomerisch språk. Santa Maria de Jetibá: [s.<br />

n.], 2006.<br />

VOIGT, André Fabiano. (Org.). Cartas revela<strong>das</strong>. A troca de correspondência entre Hermann<br />

Blumenau e Johann Jacob Sturz: algumas considerações. Blumenau: Cultura<br />

em Movimento, 2004.<br />

WILLKOMMEN IN BRASILIEN: Praktische Tipps zum Einleben in São Paulo <strong>und</strong> Rio de<br />

Janeiro. (Publikation der Deutsch-Brasilianischen Industrie- <strong>und</strong> Handelskammern<br />

São Paulo <strong>und</strong> Rio de Janeiro, des Martius-Staden-Instituts (IMS) <strong>und</strong> der<br />

Wirtschaftsjunioren São Paulo). São Paulo: Câmara de Comércio e Indústria<br />

Brasil-Alemanha, 2006.<br />

ZILLIG, Cezar. Dear Mr. Darwin: a intimidade da correspondência entre Fritz Müller e<br />

Charles Darwin. São Paulo: Sky/Anima Comunicação e Design, 1997.<br />

ZILLIG, Cezar. Fritz Müller, meu irmão. Blumenau: Cultura em Movimento, 2004.<br />

363


Instituto Martius-Staden / Martius-Staden-Institut<br />

Mantenedora / Institutsträger<br />

F<strong>und</strong>ação Visconde de Porto Seguro


Empresas Associa<strong>das</strong> / Firmenmitglieder


F<strong>und</strong>ação Visconde de Porto Seguro<br />

Mantenedora / Institutsträger<br />

Presidente Alfried K. Plöger 1. Vorsitzender<br />

Vice-Presidente Heiner J. G. L. Dauch Stellv. Vorsitzender<br />

1º Secretário Christian W. Buelau 1. Schriftführer<br />

2º Secretário Otto Max Widmer 2. Schriftführer<br />

1º Tesoureiro Nicolas Schaeffter 1.Schatzmeister<br />

2º Tesoureiro Manfred Michael Schmidt 2. Schatzmeister<br />

Diretor Vogal Mario Probst Beirat<br />

Editores e<br />

Jahrbuch / Anuário 2007<br />

Rainer Domschke Herausgeber <strong>und</strong><br />

Redação Eckhard E. Kupfer<br />

Renata S. G. Kutschat<br />

Martina Merklinger<br />

Redaktion<br />

Coordenação Gráfica Ivahy Barcellos Grafik<br />

Projeto Gráfico Alessandra Carignani Grafische Gestaltung<br />

ISSN - 1677-051X<br />

Instituto Martius-Staden<br />

Diretor Eckhard E. Kupfer<br />

Martina Merklinger<br />

Daniela Rothfuss<br />

Rainer Domschke<br />

Rua Itapaiúna, 1355 • 05707-001 • São Paulo - SP<br />

Fone: (11) 3744-1070 • Fax: (11) 3501-9488<br />

www.martiusstaden.org.br • contato@martiusstaden.org.br


®<br />

produções editoriais<br />

R. Turiaçu, 390 • cj 115<br />

05005-000 • São Paulo<br />

Fone/Fax (11) 3473-1282<br />

www.novabandeira.com<br />

novabandeira@novabandeira.com

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