Flüchtlinge und das ‚Aushandeln
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Martius-Staden-Jahrbuch<br />
2007 • Nr. 54<br />
Herausgeber:<br />
Rainer Domschke<br />
Eckhard E. Kupfer<br />
Renata S. G. Kutschat<br />
Martina Merklinger
Inhalt / Sumário<br />
Vorwort ......................................................................................................................................... 04<br />
Prefácio .................................................................................................................................... 06<br />
Identität <strong>und</strong> Weltkino: Ein Kurzporträt des brasilianischen<br />
Regisseurs <strong>und</strong> Produzenten Walter Salles<br />
Michael Korfmann ................................................................................................................... 09<br />
Índios Online. Verwendungen von Internettechnologie<br />
bei nordostbrasilianischen Indianern<br />
Nico Czaja ............................................................................................................................... 21<br />
A Junesche been ermi uramme: a versão fílmica da<br />
Verdadeira História dos selvagens, nus e ferozes devoradores de homens<br />
como ‚retupização‘ do encontro europeu-brasileiro<br />
Wolf Lustig............................................................................................................................... 45<br />
Africanismos e brasileirismos lexicais de matriz africana na imprensa brasileira<br />
Rosa Alice Cunha-Henckel ..................................................................................................... 65<br />
Annäherungen an die brasilianische Kultur:<br />
Anatol Rosenfelds frühe Beiträge zu den Staden-Jahrbüchern 1954-56<br />
Marcel Vejmelka ...................................................................................................................... 79<br />
„Die Blüte des Exils“: Ernst Feder <strong>und</strong> sein Brasilianisches Tagebuch<br />
Marlen Eckl ........................................................................................................................... 103<br />
Von deutschen Juden zu jüdischen Brasilianern: <strong>Flüchtlinge</strong> <strong>und</strong> <strong>das</strong> <strong>‚Aushandeln</strong>‘<br />
nationaler Identitäten in São Paulo in der Zeit von 1933-1945<br />
Jeffrey Lesser ......................................................................................................................... 125<br />
Imigração no Brasil e na Alemanha: contextos, conceitos, convergências<br />
Sérgio Costa .......................................................................................................................... 141<br />
„Nós sempre teremos Berlim“<br />
Fernando Bonassi ................................................................................................................. 165<br />
Cena brasileira<br />
Fernando Bonassi ................................................................................................................. 171<br />
Käthe Kollwitz e o meio artístico brasileiro: recepção e ressonância<br />
Eliana de Sá Porto De Simone .............................................................................................. 173
Protagonismo juvenil: Proposta para a formação de educadores sociais<br />
e agentes voluntários em projetos sócio-comunitários.<br />
A contribuição do pensamento de Paulo Freire<br />
Alexandre Magno Tavares da Silva ....................................................................................... 191<br />
Der Sertão <strong>und</strong> Amazonas von Spix <strong>und</strong> Martius:<br />
Von der Dürre, durch die Verheißung bis zur Öde<br />
Karen Lisboa .......................................................................................................................... 205<br />
Robert Avé-Lallemant (1812-1884) <strong>und</strong> seine Brasilienbücher<br />
Franz Obermeier .................................................................................................................... 221<br />
Koch-Grünberg <strong>und</strong> sein Meisterwerk Vom Roroima zum Orinoco<br />
Cristina Alberts-Franco .......................................................................................................... 241<br />
Zwei Jahrh<strong>und</strong>erte Amphibienforschung in Südbrasilien:<br />
Auf den Spuren deutscher Forscher in Rio Grande do Sul <strong>und</strong> Santa Catarina<br />
Axel Kwet .............................................................................................................................. 255<br />
Der fünfte Stern im Kreuz des Südens –<br />
Die brasilianische Fahne <strong>und</strong> ihre „interstellare“ Geschichte<br />
Ingrid Schwamborn.............................................................................................................. 277<br />
Wandsprüche – Lehrwort oder Leerwort?<br />
Ingrid Margareta Tornquist ................................................................................................... 301<br />
Regionale Identität <strong>und</strong> industrielle Entwicklung<br />
in Nordost-Santa Catarina in Zeiten der Globalisierung<br />
Gerd Kohlhepp / Maria Luiza Renaux .................................................................................. 321<br />
Vor 80 Jahren – Beginn des Luftverkehrs in Brasilien<br />
Harro Fouquet ....................................................................................................................... 339<br />
Aus der Arbeit des Martius-Staden-Instituts – Kulturbericht 2007<br />
Martina Merklinger ................................................................................................................ 349<br />
Das atividades do Instituto Martius-Staden – Relatório cultural 2007<br />
Martina Merklinger ................................................................................................................ 355<br />
Neue Bücher in der Bibliothek des Martius-Staden-Instituts .......................................... 361
Vorwort<br />
Jedes Jahr ist für uns ein Hans-Staden-Jahr, zumindest kann dieser Eindruck entstehen.<br />
2005, zum vierh<strong>und</strong>ertfünfzigsten Jahr der Rückkehr des hessischen Abenteurers,<br />
fand in Wolfhagen ein Kolloquium statt, verb<strong>und</strong>en mit einer Kunstausstellung des brasilianischen<br />
Künstlers José De Quadros. In der Jahrbuchausgabe desselben Jahres beschäftigte<br />
sich der bekannte Staden-Experte Franz Obermeier mit den Aufzeichnungen<br />
Juan de Salazars über <strong>das</strong> Leben der ersten Europäer in der portugiesischen Provinz<br />
Westindiens. Darin kam sowohl Hans Staden als auch der Regensburger Ulrich Schmidel<br />
vor, wohl die ersten Deutschen, die sich in dieser neu entdeckten Region aufhielten.<br />
In unserer Ausgabe Nr. 53 aus dem Jahr 2006 veröffentlichten wir dann die Beiträge<br />
der Stadenforscher Mark Münzel, Gernot Gerlach, Franz Obermeier <strong>und</strong> Dieter Gawora,<br />
die sie im Jahr zuvor in Wolfhagen präsentiert hatten.<br />
Natürlich konnten wir <strong>das</strong> Jahr 2007 nicht ohne Hans Staden vorüber ziehen lassen.<br />
Schließlich kommt diesem Datum eine besondere Bedeutung zu: Vor 450 Jahren, im Jahr<br />
1557 wurde die „Warhaftige Historia“ zum ersten Mal gedruckt <strong>und</strong> verkauft. Ein Buch, <strong>das</strong><br />
schon so lange auf dem Markt ist, dazu immer noch aktuell, sollte es wert sein, entsprechend<br />
gewürdigt zu werden. Zu diesem Anlass fand in Wolfhagen im März 2007 ein weiteres<br />
wichtiges Symposium statt. In diesem Zusammenhang erarbeitete <strong>das</strong> Regionalmuseum<br />
dieser Stadt zusammen mit dem Martius-Staden-Institut eine Wanderausstellung, die sich<br />
nochmals eingehend mit Stadens Erlebnissen in Brasilien <strong>und</strong> besonders eingehend mit<br />
der 450-jährigen Geschichte des Buchs befasst. Diese Ausstellung wird ab August 2007 für<br />
zehn Monate durch verschiedene Städte Brasiliens reisen, ehe sie im Mai 2008 zum Hessentag<br />
in den Geburtsort Stadens, nach Homberg zurückkehrt. Das deutsche Außenministerium<br />
ermöglichte diese Ausstellungstour.<br />
Das bereits in der Ausgabe Nr. 53 avisierte, neu aufgelegte <strong>und</strong> besonders komplette<br />
Staden-Buch liegt nun sowohl in Deutschland als auch in Brasilien zum Verkauf aus.<br />
Das Archiv der deutschen Einwanderung ist <strong>das</strong> ursprüngliche Standbein des Instituts,<br />
seit 1925 werden Dokumente über Einwanderer aus dem deutschsprachigen Raum<br />
gesammelt <strong>und</strong> registriert. Besonders interessant ist der Bestand, welcher sich auf die<br />
Immigration im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert bezieht. Nachdem wir uns aber bereits im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
befinden <strong>und</strong> die Einwanderungsströme auch im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert nach Brasilien<br />
anhielten, musste man an neue Techniken <strong>und</strong> Methoden denken, um diese Phasen zu<br />
dokumentieren. Ein wichtiges Instrument ist hierbei die „Zeitzeugenbefragung“ oder wie<br />
die vom Englischen geprägte Bezeichnung im Portugiesischen lautet, die „História Oral“.<br />
Das Institut hat sich entschieden, verstärkt auf diesem Gebiet zu arbeiten <strong>und</strong> diese in<br />
systematisch geführten Interviews gewonnenen Aussagen sowohl auf akustischen Datenträgern<br />
als auch als Transskriptionsdokumente im Archiv zu halten; damit wird ein bedeutender<br />
<strong>und</strong> unzureichend dokumentierter Erfahrungsschatz von Deutschsprachigen<br />
<strong>und</strong> Deutschstämmigen in Brasilien vor dem Vergessen bewahrt werden <strong>und</strong> Forschern<br />
sowie historisch Interessierten zukünftiger Generationen erhalten bleiben.<br />
Das nun vorliegende Jahrbuch Nr. 54 zeichnet sich durch eine besondere Vielfalt der<br />
angesprochenen Themen aus. Michael Korfmann hat sich den mittlerweile auch außerhalb<br />
Brasiliens sehr bekannten Regisseur Walter Salles vorgenommen <strong>und</strong> porträtiert<br />
sowohl ihn als auch sein Werk. Nico Czaja berichtet über die Verwendung von Internettechnologie<br />
bei Indianern im Nordosten Brasiliens. Wolf Lustig untersucht den Hans-<br />
Staden-Film des Regisseurs Luiz Alberto Pereira im Hinblick auf zeitgenössische kulturpolitische<br />
Intentionen seiner Gestaltung, die man im Vergleich mit der Buchvorlage <strong>und</strong><br />
vorherigen Filmversionen erkennen kann. Rosa Cunha-Henckel weist anhand von 21<br />
Wortbeispielen nach, <strong>das</strong>s die afrikanischen Sprachen im heutigen brasilianischen Portugiesisch<br />
einen tieferen Einfluss hinterlassen haben, als dies im Alltagsbewusstsein präsent ist.<br />
5
Marcel Vejmelka erinnert an den Theater- <strong>und</strong> Literaturkritiker Anatol Rosenfeld, der<br />
nach der Emigration nach Brasilien in seiner neuen Heimat eine wichtige Funktion im Kulturleben,<br />
besonders in São Paulo, erfüllte. Der Autor untersucht speziell Rosenfelds Artikel, die<br />
dieser in den ersten Staden-Jahrbüchern von 1954 bis 1956 veröffentlichte. Marlen Eckl<br />
erinnert an den Redakteur, Journalisten <strong>und</strong> Rechtsanwalt Ernst Feder, der bereits 1933<br />
Deutschland verließ <strong>und</strong> bis zum Kriegsbeginn in Paris arbeitete, ehe er schließlich im Jahr<br />
1941 nach Brasilien kam. Sogleich arbeitete er wieder als Journalist <strong>und</strong> schuf sich schnell<br />
einen Namen in brasilianischen intellektuellen Kreisen. Besonders soll hier noch seine bis<br />
zuletzt anhaltende Fre<strong>und</strong>schaft mit Stefan Zweig erwähnt werden. Jeffrey Lesser beschäftigt<br />
sich mit der Anpassung deutscher jüdischer Einwanderer in Brasilien in den Jahren 1933-<br />
1945. Sérgio Costa vergleicht die Immigrationspolitiken <strong>und</strong> -konzepte Brasiliens in den 1930er<br />
<strong>und</strong> 40er Jahren mit denen Deutschlands zum Ende des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />
Fernando Bonassi, brasilianischer Schriftsteller <strong>und</strong> Drehbuchautor, der als DAAD-Stipendiat<br />
in Deutschland lebte, schildert in aphoristischen Bildern <strong>und</strong> Szenen seine Eindrücke<br />
von diesem so anderen Land <strong>und</strong> daneben eine Szene im eigenen. Eliana De Simone untersucht<br />
die Rezeption der bekannten deutschen Künstlerin Käthe Kollwitz in Brasilien <strong>und</strong> den<br />
Einfluss ihrer Arbeiten auf bekannte brasilianische Grafik-Künstler. Alexandre Magno Tavares<br />
schlägt vor, wie in unterentwickelten Gebieten des Nordostens Brasiliens durch internationale<br />
Gemeinschaftsprogramme zwischen Brasilianern <strong>und</strong> u. a. Deutschen auf der Basis des<br />
Denkens von Paulo Freire Erzieher <strong>und</strong> Freiwillige ausgebildet werden <strong>und</strong> mit den Jugendlichen<br />
dieser Region zusammenarbeiten können. Karen Lisboa setzt sich kritisch mit der<br />
Reise von Carl Friedrich Philipp von Martius <strong>und</strong> Johann Baptist von Spix durch den Sertão<br />
<strong>und</strong> die Amazonasregion auseinander. Franz Obermeier bringt uns die Tätigkeit <strong>und</strong> Reisebeschreibungen<br />
des Arztes <strong>und</strong> Reiseschriftstellers Robert Avé-Lallemant wieder in Erinnerung.<br />
Cristina Alberts-Franco berichtet über ihre Übersetzungsarbeit des wichtigen Expeditionsberichts<br />
Vom Roroima zum Orinoco des bekannten Ethnologen Theodor Koch-Grünberg ins<br />
Portugiesische. Axel Kwet informiert uns in einem sehr eindrucksvollen Bericht über zwei<br />
Jahrh<strong>und</strong>erte Amphibienforschung in Südbrasilien <strong>und</strong> die Spuren, die dabei deutsche Forscher<br />
hinterließen. Ingrid Schwamborn beschäftigt sich mit der Deutung der Sterne in der<br />
brasilianischen Flagge <strong>und</strong> gibt dazu interessante Erklärungen. Margareta Tornquist sammelte<br />
Wandsprüche der deutschen Immigranten im Süden des Landes <strong>und</strong> untersucht, inwieweit<br />
diese Sprüche <strong>das</strong> Leben der Bewohner beeinflusst haben.<br />
Gerd Kohlhepp vergleicht, in Zusammenarbeit mit Maria Luiza Renaux, die industrielle<br />
Entwicklung im Nordosten des Staates Santa Catarina zwischen den 1960er Jahren <strong>und</strong><br />
heute. Die Autoren kommen dabei zu interessanten Ergebnissen. Harro Fouquet schließlich,<br />
der ein Arbeitsleben im Dienste der brasilianischen Fluggesellschaft VARIG zugebracht<br />
hat, rollt nochmals die Geschichte dieser von Deutschen gegründeten Gesellschaft auf.<br />
Zum guten Abschluss dieses 54. Jahrbuchs wollen wir die Leser <strong>und</strong> diejenigen, welche an<br />
unserer Arbeit interessiert sind, über die im Jahr 2007 durchgeführten Aktivitäten des Martius-<br />
Staden-Instituts informieren. Unsere Kollegin Martina Merklinger berichtet darüber. Desweiteren<br />
wollen wir ab dieser Ausgabe wieder eine alte Tradition aufnehmen, nämlich eine<br />
Bibliografie von neuen, uns zugesandten oder von uns erworbenen Büchern aus den Themenbereichen<br />
deutsche Einwanderung <strong>und</strong> Geschichte Brasiliens zu veröffentlichen.<br />
Dieses Jahrbuch ist wieder sehr umfangreich geworden. Der Redaktionsstab hofft, <strong>das</strong>s<br />
die Vielfalt der Themen <strong>und</strong> Materien den Leser von neuem anspricht <strong>und</strong> einen weiteren<br />
Beitrag zur kulturellen Verständigung zwischen Brasilien <strong>und</strong> Deutschland leisten kann.<br />
Eckhard E. Kupfer<br />
Leiter des Instituts
Prefácio<br />
É procedente a constatação de que dedicamos todos os anos a Hans Staden.<br />
Em 2005, em comemoração aos 450 anos do retorno deste aventureiro de Hesse à<br />
sua terra natal, organizou-se em Wolfhagen um colóquio e uma exposição do artista<br />
e pintor brasileiro José De Quadros. Fez-se publicar, no Anuário do mesmo<br />
ano, uma matéria de Franz Obermeier, perito pesquisador de Staden, que trata<br />
<strong>das</strong> anotações de Juan de Salazar sobre a vida dos primeiros europeus na província<br />
portuguesa da Índia Ocidental. Nestas, menciona-se não só Hans Staden mas<br />
também Ulrich Schmidel, de Regensburg, certamente os dois primeiros alemães<br />
nesta recém-descoberta região.<br />
Em nossa edição 53 do ano de 2006, publicamos as matérias apresenta<strong>das</strong> no<br />
ano anterior em Wolfhagen, dos pesquisadores de Staden Mark Münzel, Gernot<br />
Gerlach, Franz Obermeier e Dieter Gawora.<br />
No ano de 2007 também deu-se ênfase a Hans Staden: este ano é de importância<br />
especial, pois há 450 anos seu livro, a „Warhaftige Historia“, havia sido impresso e<br />
vendido pela primeira vez. Um livro que permanece no mercado livreiro por tanto<br />
tempo, e ainda atual, merece um reconhecimento condizente. Neste contexto aconteceu<br />
em Wolfhagen, em março de 2007, outro importante simpósio. Paralelamente<br />
a este evento, o Museu Regional de Wolfhagen e o Instituto Martius-Staden organizaram<br />
uma exposição itinerante voltada às experiências de Staden no Brasil e, em<br />
especial, à história de 450 anos de seu livro. Esta mostra poderá ser visitada a partir<br />
de agosto de 2007 em várias cidades do Brasil, onde permanece por dez meses, para<br />
retornar em maio de 2008 à cidade natal de Staden, Homberg, por ocasião do<br />
Hessentag, Dia de Hesse. O Ministério <strong>das</strong> Relações Exteriores da Alemanha possibilitou<br />
o itinerário brasileiro da exposição.<br />
A nova e mais completa edição do livro de Staden, também anunciada no 53º<br />
Anuário, já se encontra à venda tanto no Brasil como na Alemanha.<br />
O arquivo da imigração alemã ao Brasil é o pilar f<strong>und</strong>amental do Instituto, pois<br />
desde 1925 se colecionam e se registram documentos de imigrantes ori<strong>und</strong>os <strong>das</strong><br />
regiões de língua alemã. De especial interesse é o acervo que se refere à imigração<br />
ocorrida no século XIX. Por estarmos, porém, no século XXI e uma vez que o<br />
movimento imigratório ao Brasil continuou também durante o século XX, novos<br />
métodos e técnicas se tornaram imprescindíveis para proceder o registro desta<br />
fase. Um instrumento para tanto é a assim chamada História Oral. É decisão do<br />
Instituto trabalhar efetivamente esta área e arquivar estes depoimentos, feitos<br />
através de entrevistas conduzi<strong>das</strong> de forma sistemática, tanto em formato de<br />
áudio como em transcritos documentais; assim são preserva<strong>das</strong> as experiências<br />
de pessoas de língua alemã e seus descendentes, no Brasil, e resguarda<strong>das</strong> do<br />
esquecimento, para estarem disponíveis a pesquisadores e interessados de gerações<br />
vindouras.<br />
Este 54° Anuário destaca-se sobretudo pela grande variedade de temas abordados.<br />
A matéria de Michael Korfmann desenha um retrato do diretor Walter Salles e<br />
seus filmes, entrementes conhecidos m<strong>und</strong>o afora. Nico Czaja informa sobre o uso<br />
da tecnologia de internet entre populações indígenas do nordeste brasileiro. Wolf<br />
Lustig analisa o filme de Luiz Alberto Pereira sobre Hans Staden à luz da intenção<br />
política-cultural desta criação, comparando-a ao livro e às versões cinematográficas<br />
anteriores. Rosa Cunha-Henckel demonstra, a partir do exemplo de vinte e uma<br />
palavras, que os idiomas africanos influenciaram mais prof<strong>und</strong>amente o português<br />
atual do Brasil, do que, no dia-a-dia, se tem consciência.<br />
O texto de Marcel Vejmelka evoca o crítico literário e de teatro Anatol Rosenfeld,
que, após sua imigração ao Brasil,teve papel importante na vida cultural da sua<br />
nova pátria, especialmente em São Paulo. O autor examina os textos de Rosenfeld,<br />
publicados entre 1954 e 1956, nas edições do Anuário do Instituto. A matéria de<br />
Marlen Eckl se foca em Ernst Feder, redator, jornalista e advogado, que, após<br />
deixar a Alemanha em 1933, trabalhou até o início da guerra em Paris, para em<br />
1941 imigrar ao Brasil. Imediatamente retomou suas atividades como jornalista,<br />
tornando-se notável nos círculos intelectuais do país. Destaca-se a amizade de<br />
Feder com Stefan Zweig, a quem acompanhou até seu trágico fim. Jeffrey Lesser<br />
discorre sobre a adaptação de imigrantes judeus, de origem alemã, ao Brasil, nos<br />
anos de 1933 a 1945. Sérgio Costa traz um estudo comparativo <strong>das</strong> políticas e<br />
conceitos de imigração brasileiros nos anos de 1930 a 1940 àqueles em vigor na<br />
Alemanha no final do século XX.<br />
O escritor e roteirista Fernando Bonassi, que na qualidade de bolsista do DAAD<br />
viveu na Alemanha, conta, por intermédio de cenas e quadros aforísticos, suas<br />
impressões deste país tão diferente, ao lado de uma cena brasileira. A recepção no<br />
Brasil da obra da conhecida artista alemã Käthe Kollwitz, e a influência de seus<br />
trabalhos nos de gravuristas brasileiros, são analisa<strong>das</strong> por Eliana de Simone. O<br />
texto de Alexandre Magno Tavares traz a proposta de como se viabiliza o trabalho<br />
com jovens <strong>das</strong> regiões subdesenvolvi<strong>das</strong> do nordeste, por meio de parcerias entre<br />
brasileiros e alemães, entre outros, através do treinamento destes baseado nos princípios<br />
de Paulo Freire. Karen Lisboa faz uma análise crítica da viagem empreendida<br />
por Carl Friedrich Philipp von Martius e Johann Baptist von Spix pelo Sertão e pela<br />
região do Amazonas. Franz Obermeier traz uma matéria que evoca tanto as atividades<br />
como os relatos de viagem do médico e viajante Robert Avé-Lallemant. O desafio<br />
que representou a tradução ao português da obra de Theodor Koch-Grünberg<br />
Vom Roraima zum Orinoco é o cerne da matéria de Cristina Alberts-Franco. Axel<br />
Kwet informa, por meio de uma descrição impressionante, sobre os dois séculos de<br />
pesquisa de anfíbios e os rastros que estudiosos alemães, envolvidos nesta, deixaram.<br />
A exegese <strong>das</strong> estrelas na bandeira brasileira, e explicações inerentes a esta são<br />
o foco da matéria de Ingrid Schwammborn. A autora Margareta Tornquist coletou<br />
os „bordados de parede“ <strong>das</strong> residências de imigrantes alemães no sul do país e<br />
examinou até que ponto estes influenciaram a vida daqueles.<br />
Gerd Kohlhepp, em colaboração com Maria Luiza Renaux, compara o desenvolvimento<br />
industrial no nordeste de Santa Catarina da época de 1960 àquele dos dias de hoje.<br />
Os autores chegam a conclusões interessantes. E esta edição finaliza com um artigo de<br />
Harro Fouquet que, tendo dedicado sua vida profissional integralmente à VARIG, arrola<br />
a história desta companhia aérea f<strong>und</strong>ada por alemães.<br />
A conclusão deste 54° Anuário se dirige aos leitores e interessados em nosso<br />
trabalho, informando sobre atividades e eventos do Instituto Martius-Staden no<br />
ano de 2007, relatados por nossa colega Martina Merklinger. Retomaremos, outrossim,<br />
uma antiga tradição: a partir desta edição publicaremos a bibliografia dos livros<br />
tanto adquiridos como recebidos pelo Instituto, relacionados à temática da<br />
imigração e à história do Brasil.<br />
Este Anuário resultou num intenso volume. A equipe editorial espera que a diversidade<br />
de temas e matérias agrade aos leitores, e que se constitua em mais um<br />
contributo para o entendimento cultural entre Brasil e Alemanha.<br />
Eckhard E. Kupfer<br />
Diretor do Instituto
Identität <strong>und</strong> Weltkino:<br />
Ein Kurzporträt des brasilianischen<br />
Regisseurs <strong>und</strong> Produzenten Walter Salles<br />
Michael Korfmann<br />
Porto Alegre<br />
Resumo: A partir da chamada „retomada“ do cinema brasileiro, por<br />
volta de 1995, formam-se dois pólos no cenário nacional:<br />
de um lado, as produções da Globo Filmes, com películas<br />
de grande audiência e uma estética freqüentemente<br />
televisiva; do outro, os filmes de Walter Salles e sua empresa<br />
VideoFilmes, que tentam estabelecer um contrapeso através<br />
de produções mais autorais e de caráter genuinamente<br />
cinematográfico. O artigo traça primeiramente um quadro<br />
geral da situação atual do cinema brasileiro e, a seguir,<br />
apresenta um perfil do diretor e produtor Walter<br />
Salles: sua trajetória a partir de filmes documentários, sua<br />
inserção na história do cinema brasileiro, bem como sua<br />
tentativa de combinar elementos regionais com um cinema<br />
de expressão m<strong>und</strong>ial.<br />
Abstract: Since the Brazilian cinema retook its activities aro<strong>und</strong> 1995<br />
one may identify two basic poles of production. On the<br />
one hand, we find Globo Filmes and their economically<br />
very successful movies which are frequently based on a<br />
more television-like esthetic; and on the other hand, the films<br />
of Walter Salles and his production company VideoFilmes try<br />
to establish a counterbalance with rather authorial and<br />
genuinely cinematographic productions. Initially, the article<br />
traces a general picture of the current situation of the<br />
Brazilian cinema. It will then show a profile of director and<br />
producer Walter Salles, his roots in documentary films, his<br />
insertion into the history of the Brazilian cinema as well as<br />
his attempt to combine regional elements with a cinema of<br />
international appeal.<br />
1. Zur Lage des brasilianischen Films<br />
Die jüngere brasilianische Filmgeschichte weist zwei Einschnitte auf: zum einen<br />
<strong>das</strong> Jahr 1990, in dem der damalige Präsident Fernando Collor u. a. die<br />
zentralen Filmförderungsprogramme <strong>und</strong> steuerlichen Begünstigungen strich <strong>und</strong><br />
damit die Filmproduktion zum Erliegen brachte. So kam etwa 1992 ein einziger,<br />
9
10<br />
teilweise brasilianischer Film auf den Markt, A Grande Arte, gedreht von Walter<br />
Salles nach einer Romanvorlage von Rubem Fonseca <strong>und</strong> als amerikanisch–brasilianische<br />
Koproduktion zudem mit englischem O-Ton. Der Film erreichte nur<br />
einen Marktanteil von weniger als einem Prozent. Als historischer Wendepunkt<br />
hin zu einer Wiederbelebung der Filmszene in Brasilien wird im Allgemeinen der<br />
Streifen Carlota Joaquina – Princesa do Brasil von Carla Camurati aus dem Jahr<br />
1995 gesehen <strong>und</strong> <strong>das</strong> Phänomen zunächst unter dem Begriff der retomada analysiert.<br />
Das Schlagwort von der retomada, also der Wiederaufnahme des Filmbetriebes<br />
in den letzten 12 Jahren, ist aber mittlerweile eher zu einem Allgemeinplatz<br />
geworden, so <strong>das</strong>s mehrere Kritiker ihn inzwischen nur noch in Anführungszeichen<br />
benutzen oder von der „so genannten retomada“ sprechen. Einige zentrale<br />
Punkte wurden bereits von Ute Hermanns in ihrem Artikel Favela, Sertao <strong>und</strong><br />
Pampa – Tendenzen des neuen brasilianischen Films in der letzten Ausgabe des<br />
Martius-Staden-Jahrbuches (2006, S. 297-312) skizziert. Und natürlich gibt es<br />
auch in Brasilien selbst zahlreiche Versuche, diese Phase aufzuarbeiten, wie etwa<br />
Cinema Brasileiro 1995-2005: Ensaios sobre uma década (CAETANO 2005), eine<br />
Buchpublikation verschiedener Essays, die ursprünglich in der elektronischen<br />
Zeitschrift Contracampo erschienen sind. Hier steht man dem Begriff retomada<br />
durchaus kritisch gegenüber, da man ihn eben nicht auf eine bestimmte formalinhaltliche<br />
Qualität der Filme beziehen könne, sondern einfach die neuen steuerlichen<br />
Begünstigungen für Filmproduktionen ab Mitte der neunziger Jahre<br />
zur Gr<strong>und</strong>lage habe: In dieser Zeit habe „<strong>das</strong> brasilianische Kino keine solide<br />
Kinematographie aufgebaut. Es wurden keine ästhetischen Bewegungen eingeleitet<br />
[...]. Diese Zeit besitzt keine Namen oder Gesichter“ (CAETANO 2005, S. 6).<br />
Weniger radikal analysiert Luiz Zanin Oricchio, Kritiker der Zeitung Estado de<br />
São Paulo, in seinem im Jahr 2003 veröffentlichten Buch Cinema de Novo: Um<br />
Balanço Crítico da Retomada die Filme dieser Zeit unter thematischen Gesichtpunkten<br />
wie z. B. „Geschichte <strong>und</strong> Film“ oder „Privatsphäre <strong>und</strong> Öffentlichkeit“,<br />
oder „Sertão <strong>und</strong> Favela“, eine Vorgehensweise, wie man sie in etwa auch in<br />
dem schon zitierten Artikel von Ute Hermanns findet.<br />
Der Kritiker Pedro Butcher kommt in seinem Buch Cinema Brasileiro Hoje (2005)<br />
ebenfalls zu dem Schluss, <strong>das</strong>s, anders als etwa <strong>das</strong> cinema novo der 60er Jahre,<br />
die Filme der retomada keine gemeinsame ideologisch-ästhetische Basis haben,<br />
sondern an Stelle einer gemeinsamen Programmatik in erster Linie die Absicht<br />
vorherrsche, sich einen bestimmten Marktanteil zurückzuerobern <strong>und</strong> damit dem<br />
brasilianischen Kino auch wieder als ökonomischem Faktor Geltung zu verschaffen.<br />
Kennzeichnend dafür stehe etwa, <strong>das</strong>s Carlota Joaquina der erste brasilianische<br />
Film seit den 80er Jahren sei, der mehr als eine Million Zuschauer in die<br />
Kinos lockte. Zuletzt sei noch Cinema Brasileiro: Das Origens à Retomada (2005)<br />
von Sidney Ferreira Leite erwähnt, der nach einem historischen Abriss der brasilianischen<br />
Kinogeschichte auch auf die wichtige <strong>und</strong> natürlich umstrittene Rolle<br />
von Globo Filmes im Kontext der Filmproduktionen der letzten Dekade eingeht.<br />
Dazu einige Zahlen: Globo Filmes wurde 1998 gegründet <strong>und</strong> hat bisher über 40<br />
Filme produziert, mit insgesamt mehr als 50 Millionen Zuschauern. Viele dieser<br />
Filme kommen mit etwa 200-300 Kopien in die Kinos, was in etwa den Zahlen der<br />
amerikanischen blockbuster entspricht, während Low-budget- <strong>und</strong> häufig auf Fe-
stivals erfolgreiche Filme wie z. B. Amarelo Manga von Cláudio Assis (2002) sich mit<br />
14 Kopien <strong>und</strong> etwa 120.000 Zuschauern begnügen müssen. Drei andere, mit<br />
zahlreichen Preisen ausgezeichnete Filme der letzten Jahre (De passagem,<br />
Narradores de Javé <strong>und</strong> Contra todos) erreichten nur jeweils zwischen 10.000 <strong>und</strong><br />
67.000 Zuschauer (ÉPOCA, 2005). Insgesamt gesehen besitzt Globo Filmes einen<br />
Anteil von etwa 20% an der brasilianischen Filmproduktion, kommt aber aufgr<strong>und</strong><br />
der zahlreichen Publikumserfolge auf einen Anteil von circa 80% in Bezug auf die<br />
Einnahmen an den Kinokassen (FONSECA o. D.), wobei logischerweise der eigene<br />
Fernsehsender als zentrales Werbemedium zum Zuge kommt. 1 Zu den erfolgreichsten<br />
Filmen gehören Cidade de Deus, Carandiru, Cazuza – O Tempo Não Pára,<br />
Olga <strong>und</strong> 2 Filhos de Francisco, der kommerziell erfolgreichste brasilianische Film<br />
der letzten Jahre. Jeder dieser Filme erreichte zwischen 2 <strong>und</strong> 3 Millionen Zuschauer.<br />
Man kann natürlich von daher auch folgende Argumentation vertreten:<br />
Bei der Gründung von Globo Filmes machte <strong>das</strong> brasilianische Kino weniger als<br />
1% des Inlandsmarktes aus, mittlerweile liegt dieser Anteil – in erster Linie als Resultat<br />
der sehr erfolgreichen Globo-Filme – bei etwa 25% <strong>und</strong> erfüllt damit teilweise<br />
die immer wieder, auch gerade aus dem linken politischen Spektrum erhobene<br />
Forderung nach einem „nationalen Kino“, zumindest, was die rein quantitative<br />
Seite betrifft. Die Konzentration der brasilianischen Filmproduktion auf einige<br />
wenige erfolgreiche Titel zeigen abschließend folgende Zahlen sehr deutlich: In<br />
der ersten Jahreshälfte 2006 erreichten 83% der brasilianischen Filme Zuschauerzahlen<br />
unter 50.000. „Dies bedeutet, <strong>das</strong>s von den 5,8 Millionen Zuschauern<br />
dieses Zeitraums allein 5,2 Millionen auf drei Globo-Filme fielen: Se Eu Fosse Você,<br />
Didi – O Caçador de Tesouros <strong>und</strong> Xuxinha e Guto Contra os Monstros do Espaço<br />
(MECCHI / VALENTE o.D.).<br />
Wenn man also die Entwicklung des brasilianischen Films in den letzten 10-15<br />
Jahren nicht so sehr unter thematischen Gesichtspunkten betrachtet sondern<br />
innerhalb dieser sich bildenden Marktstrukturen, die nur z. T. auch ästhetischinhaltlich<br />
bestimmte Tendenzen erkennen lassen, zeichnen sich zumindest zwei<br />
größere Referenzen ab: zum einen die eher (aber nicht nur) kommerziell bzw. am<br />
Publikumsgeschmack ausgerichteten <strong>und</strong> an eine erprobte Fernsehsprache angelehnten<br />
Produktionen von Globo Filmes <strong>und</strong> zum anderen die Filme von Walter<br />
Salles sowie die von ihm bzw. seinem Bruder, dem Dokumentarfilmer João Moreira<br />
Salles, geleitete <strong>und</strong> 1987 gegründete Produktionsfirma VideoFilmes, die nicht nur<br />
viele der kommerziell eher marginalen, kleineren Projekte fördert, sondern auch<br />
als Vertreiber eher künstlerisch ausgerichteter Filme (wie problematisch dieser<br />
Bergriff auch sein mag) anbietet. VideoFilmes produzierte z. B. Streifen wie O Céu<br />
de Suely (2006), Cidade Baixa (2005), Madame Satã (2002), Cidade de Deus (2002 –<br />
über die Produktionsfirma O2 zusammen mit Globo Filmes), Abril Despedaçado<br />
(2001), Lavoura Arcaica (2001) oder Central do Brasil (1998), die zum großen Teil ja<br />
auch in Deutschland oder Frankreich auf verschiedenen Festivals erfolgreich<br />
liefen. Als Vertriebsfirma hat VideoFilmes Streifen wie die deutsche Produktion Die<br />
Fetten Jahre sind vorbei (2004) oder Klassiker des engagierten Films wie Batalla de<br />
1. Die Geschichte <strong>und</strong> Bedeutung von Globo Filmes untersucht Pedro Butcher in seiner Magister-<br />
Arbeit (BUTCHER 2006).<br />
11
12<br />
Chile (erschienen 1979) oder Memorias del subdesarrollo (erschienen 1968; die<br />
DVD-Fassung mit einem Film-Kommentar von W. Salles) im Programm. 2<br />
2. Walter Salles<br />
Es mag von daher nicht verw<strong>und</strong>ern, <strong>das</strong>s Walter Salles von der<br />
brasilianischen Zeitschrift Veja kürzlich zu einer der einflussreichsten<br />
Persönlichkeiten des Landes gewählt worden ist. Regelmäßig bei<br />
internationalen Festivals wie Cannes oder der Berlinale vertreten,<br />
wird er den meisten deutschen Zuschauern von zwei Filmen<br />
her bekannt sein: Central Station (Central do Brasil), die Geschichte<br />
der abgeklärten Dora <strong>und</strong> des plötzlich mutterlosen Jungen<br />
Josué, die sich zusammen auf die Suche nach dem Vater von<br />
Josué machen <strong>und</strong> auf dieser Reise von der Metropole Rio de<br />
Janeiro in den Nordosten auch zueinander finden. Film <strong>und</strong><br />
Hauptdarstellerin erhielten 1998 auf der Berlinale die Hauptpreise,<br />
Central Station wurde zum besten nichtenglischen Film<br />
auch bei den British Academy Awards <strong>und</strong> den Golden Globes gewählt, gar nicht zu<br />
reden von den zahlreichen lateinamerikanischen Auszeichnungen. Und vor kurzem<br />
lief in den deutschen Kinos ein weiterer Film von Salles über eine Reise, die<br />
des jungen Guevara (Die Reise des jungen Che, Originaltitel: Diários de motocicleta),<br />
nominiert für den besten ausländischen Film der Golden Globes sowie mit einem<br />
Preis bei der Oscar-Verleihung 2005 bedacht, für <strong>das</strong> Lied Al otro lado del río des<br />
uruguayischen Songschreibers Jorge Drexler. Die International Movie Data Base<br />
(IMDB) errechnet insgesamt 39 Auszeichnungen sowie weitere 14 Nominierungen<br />
für den Regisseur Walter Salles.<br />
Wie in den meisten road-movies geht es natürlich auch bei Central Station <strong>und</strong><br />
Die Reise des jungen Che um die Suche nach einer zweifachen Identität, die der<br />
Protagonisten als Individuen sowie ihr Schicksal im Kontext der brasilianischen<br />
bzw. lateinamerikanischen Geopolitik. Gerade dieser Aspekt war sicher ausschlaggebend<br />
dafür, <strong>das</strong>s der Che-Film im Jahre 2005 auf dem Weltsozialforum – dem<br />
alternativen Gegenpol zu Davos – in Porto Alegre gezeigt wurde. Auch Salles<br />
selbst nahm auf Einladung der Landlosen-Bewegung (MST) am Forum teil. Seine<br />
Produktionsfirma VideoFilmes war zudem mit zwei weiteren Filmen vertreten:<br />
Entreatos, ein Dokumentarfilm seines Brudes João Moreira Salles über den Wahlkampf<br />
des jetzigen Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Silva sowie Peões von<br />
Eduardo Coutinho über Lulas Zeit als militanter Gewerkschaftler Ende der 70er<br />
Jahre. Walter Salles hat in zahlreichen Interviews immer wieder betont, <strong>das</strong>s<br />
gerade die Dreharbeiten zu der Reise des jungen Che eine Art Solidarerlebnis<br />
bedeuteten, <strong>das</strong> seine bisherige minuziöse Arbeitsweise durch Intuition, Improvisation<br />
<strong>und</strong> gemeinsame Erarbeitung des Filmstoffes ersetzte <strong>und</strong> alle an den Dreharbeiten<br />
Beteiligten – Argentinier, Chilenen, Peruaner, Mexikaner <strong>und</strong> Brasilianer<br />
– zusammenbrachte. So versteht Salles seinen Film auch als Ausdruck einer künst-<br />
2. Ein vollständige Liste unter: http://www.imdb.com/company/co0061824/<br />
VideoFilmes
lerisch-politischen Haltung, die gemeinsam erarbeitet, <strong>und</strong> nicht, wie häufig im<br />
globalen Kulturbetrieb, von außen aufgezwungen wurde.<br />
Dass man aber die Filme von Salles nicht auf ein simples Nord-Süd-Gefälle<br />
reduzieren kann, zeigt allein die Tatsache, <strong>das</strong>s etwa Central Station <strong>und</strong> Die Reise<br />
des jungen Che erst durch die Zusammenarbeit mit Robert Redford <strong>und</strong> dem<br />
S<strong>und</strong>ance Festival zustande gekommen sind. Central Station erhielt den S<strong>und</strong>ance-<br />
Drehbuchpreis <strong>und</strong> erst dadurch den finanziellen Rahmen zur Realisierung des<br />
Projekts. Und die Verfilmung der Tagebücher des jungen Guevara war seit Jahren<br />
ein Projekt des Amerikaners, der sich dazu Salles als Regisseur holte. Diese Verbindung<br />
von regionalen Landschaften, Stimmungen <strong>und</strong> Gesichtern mit Problematiken<br />
<strong>und</strong> Geschichten, die eher universell angelegt sind, ist sicherlich ein Kennzeichen,<br />
<strong>das</strong> den Filmen von Walter Salles ein weltweites Publikum einbringt, aber<br />
eben auch zugleich viele brasilianische Kritiker, besonders aus dem akademischen<br />
Bereich, eher skeptisch reagieren lässt. So grassierte eine Zeit lang der Begriff der<br />
cosmética da fome (Kosmetik des Hungers) als negative Kennzeichnung der Filme<br />
von Salles oder Fernando Meirelles (Cidade de Deus <strong>und</strong> z. Z. bei den Dreharbeiten<br />
der Verfilmung des Romans Versuch über die Blindheit von José Saramago).<br />
Der Begriff stammt von Ivana Bentes <strong>und</strong> ist als eine ironische Anspielung auf<br />
Glauber Rochas estética da fome (Ästhetik des Hungers) zu verstehen, eines der<br />
zentralen programmatischen Manifeste des cinema novo aus dem Jahr 1965. Bentes<br />
meint damit, <strong>das</strong>s Filme wie etwa Central Station den kargen, armen Nordosten<br />
eher als folkloristisches Massenspektakel inszenieren <strong>und</strong> hinter die radikalen Filmvisionen<br />
des cinema novo zurückfallen. Generell scheinen immer noch zahlreiche<br />
Kritiker dem cinema novo als dem Nonplusultra nationaler Filmkunst sehnsüchtig<br />
nachzutrauern <strong>und</strong> stehen dementsprechend der relativ großen thematischästhetischen<br />
Vielfalt der brasilianischen Filme der letzen 5-10 Jahre, die zu einem<br />
beträchtlichen Teil im Umkreis von VideoFilmes entstanden sind, eher misstrauisch<br />
gegenüber, da sie eben nicht so ein klares Identitätspontenzial bieten wie möglicherweise<br />
die Produktionen der 60er Jahre.<br />
These classic films of the 60s created an aesthetics based on the dry<br />
cut, the nervous framing, the overexposure, the handheld camera,<br />
the fragmented narrative which mirrored the cruelty of the sertão.<br />
This is the Cinema Novo aesthetics, whose purpose was to<br />
avoid turning misery into folklore. Those films proposed an<br />
ethics and an aesthetics for the images of pain and revolt.<br />
However the idea rejected by those films of expressing the<br />
intolerable through beautiful landscapes, thus glamorizing<br />
poverty, emerges in some contemporary films, in which<br />
conventional language and cinematography turn the sertão<br />
into a garden or a museum of exoticism, thus ›rescuing‹ it<br />
through spectacle. (NAGIB 2003, S.124)<br />
Wie gesagt, die zwei bekanntesten Filme von Salles, Central<br />
Station <strong>und</strong> Die Reise des jungen Che, entstanden aus einer internationalen<br />
Zusammenarbeit. Diese regional-globale Referenz<br />
zeigt sich auch bei Behind the Sun (Abril despedaçado) aus dem Jahre 2001, ein<br />
13<br />
VideoFilmes
14<br />
Film der auf der Romanvorlage Der zerrissene April des albanischen Schriftstellers<br />
Ismail Kadaré beruht (siehe hierzu BUTCHER / MÜLLER 2002). Salles überträgt<br />
hier die archaische Geschichte über die Blutrache in Albanien auf den Nordosten<br />
Brasiliens zu Anfang des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts, übrigens von Kadaré selbst als gelungene<br />
Adaptation gelobt. Nachdem sich Salles mit Film-Exkursionen in die lateinamerikanische<br />
Geschichte <strong>und</strong> Gegenwart einen Namen gemacht hatte, kam seine<br />
Regiearbeit im Jahre 2005 für <strong>das</strong> Hollywood-Remake des japanischen Dark<br />
Water (Buch: Suzuki Koji, der auch The Ring verfasst hatte) ziemlich überraschend.<br />
Salles zufolge war zwar die amerikanische Dreharbeit eine interessante Erfahrung,<br />
<strong>und</strong> er konnte endlich einen Film ohne die sonst bei ihm übliche langjährige<br />
Vorbereitungszeit fertig stellen, aber danach zog es ihn nun doch wieder zurück in<br />
den Autorenfilm: Nach der Beteiligung an dem Projekt Paris, je t’aime (2006), bei<br />
dem zwanzig internationale Filmemacher je ein Pariser Arrondissement ganz persönlich<br />
porträtierten, wobei die einzelnen Beiträge dann zu einer atmosphärischen<br />
Geschichte zusammengeflochten wurden, wirkte Salles an einem ähnlichen<br />
Projekt mit, <strong>das</strong> bei den 60. Filmfestspielen in Cannes 2007 uraufgeführt<br />
wurde: Chacun son cinéma, einem kollektiven Werk über <strong>das</strong> Kino von 33 renommierten<br />
Regisseuren wie Theodoros Angelopoulos, Bille August, Jane Campion,<br />
David Cronenberg, Lars von Trier oder Wim Wenders. Als aktuelles work in<br />
progress ist weiterhin die Verfilmung des Kult-Romans On the road aus dem Jahr<br />
1957 von Jack Kerouac zu nennen, dessen Rechte seit 1979 bei Francis Ford<br />
Coppola liegen <strong>und</strong> der Salles als Regisseur verpflichtet hat. Das Drehbuch wird,<br />
wie bei Die Reise des jungen Che, von José Rivera verfasst, <strong>und</strong> geplant ist eine<br />
Schwarz-weiß-Verfilmung, die voraussichtlich 2009 auf den Markt kommen soll.<br />
Interessant ist in diesem Zusammenhang die von Salles gewählte Perspektive,<br />
die sich explizit an dem Einwanderungs-Hintergr<strong>und</strong> der zentralen Protagonisten<br />
orientiert. Er betont demnach bei der beat-generation eher den Konflikt in<br />
Bezug auf die ihnen vorgesehene Rolle als marginale Einwanderergeneration<br />
<strong>und</strong> nicht als allgemeine Auflehnung gegen die Lebensformen der 50er Jahre in<br />
den USA. Kerouac selbst war ja Sohn von Franko-Kanandiern, Ginsberg von<br />
Osteuropäern mit kommunistischem Engagement <strong>und</strong> die Beat-Poeten<br />
Lawrence Ferlinguetti <strong>und</strong> Diane di Prima italienischer Herkunft. Um diesen<br />
Hintergr<strong>und</strong> möglichst umfassend auszuleuchten sowie eventuelle „Bezüge zur<br />
Gegenwart“ (STRECKER 2006, S. 4) zu reflektieren, drehte Salles zunächst einen<br />
Dokumentarfilm, der sozusagen als historische Rahmenreferenz die Koordinaten<br />
des eigentlichen, fiktiven Spielfilms setzen soll.<br />
Damit setzt sich im Prinzip ein weiteres zentrales Merkmal – neben der regionalglobalen<br />
Kombinatorik – in der Filmarbeit von Walter Salles fort, nämlich die Verbindung<br />
von Fiktion <strong>und</strong> Dokumentation, die den Ausgangspunkt für seine internationale<br />
Karriere bildet. Ganz konkret waren es zwei dokumentarische Kurzfilme,<br />
die den Anstoß zu Central do Brasil <strong>und</strong> damit der weiteren erfolgreichen Kinoarbeit<br />
gaben: zum einen ein Porträt des polnischen Bildhauers Franz Krajcberg<br />
(Krajcberg – O poeta dos vestígios) aus dem Jahr 1987 <strong>und</strong> zum andern sein Treffen<br />
mit der ehemaligen Gefängnisinsassin Socorro Nobre, filmisch festgehalten im<br />
gleichnamigen Werk von 1995.<br />
Dazu im Folgenden mehr. Zunächst jedoch ein kurzer biographischer Über-
lick. Salles, 1956 in Rio de Janeiro geboren, entstammt einer begüterten Familie:<br />
Sein Vater war Bankier <strong>und</strong> Diplomat. Zwischen 1962 <strong>und</strong> 1969 wohnt die Familie<br />
in Paris, danach geht Salles nach Rio de Janeiro zurück, wo er an der PUC Wirtschaftswissenschaften<br />
studiert. Im Anschluss absolviert er einen Master-Studiengang<br />
im Bereich Audiovisuelle Kommunikation an der University of California.<br />
Zwischen 1983 <strong>und</strong> 1993 ist er verantwortlich für die Interview-Serie Conexão<br />
Internacional des Fernsehsenders Manchete mit Gästen wie Federico Fellini, Vittorio<br />
Gassman oder Marcello Mastroianni. Hinzu kommen ausführliche Länderstudien<br />
zu Japan <strong>und</strong> China sowie Reportagen über kulturelle Themenbereiche, wie etwa<br />
über die Künstler Tomie Ohtake oder Rubens Gerchman, der übrigens auch auf<br />
Einladung des DAAD 1982 ein Jahr in Berlin verbrachte, sowie Dokumentarfilme<br />
für ARTE, France 3 <strong>und</strong> die BBC. 1987 dreht Salles einen weiteren Dokumentarfilm<br />
für <strong>das</strong> Fernsehen, der, wie schon gesagt, ausschlaggebend für seine weitere<br />
Karriere werden sollte. Es handelt sich um <strong>das</strong> Portrait von Frans Krajcberg<br />
(Krajcberg – O poeta dos vestígios), dessen Drehbuch von seinem Bruder João<br />
Moreira Salles, Dokumentarfilmer <strong>und</strong> Partner der gemeinsamen Produktionsfirma<br />
VideoFilmes, verfasst wurde. Krajcberg, geboren 1921 in Polen, flieht nach der<br />
Ermordung seiner Familie durch die Nazis nach Russland, schließt sich dort der<br />
Roten Armee an, studiert kurzeitig im damaligen Leningrad Kunst, wird aber dann<br />
in die zweite polnische Armee eingezogen. Bei Kriegsende, mit 24 Jahren <strong>und</strong><br />
ohne überlebende Familienangehörige, ein „verbrannter Mensch“, geht er ausgerechnet<br />
nach Deutschland, <strong>und</strong> zwar zu dem Künstler Willi Baumeister nach Stuttgart.<br />
Er beschäftigt sich dort mit der künstlerischen Moderne, dem Bauhaus <strong>und</strong><br />
der abstrakten Kunst. Mit einem Empfehlungsbrief von Baumeister zieht er 1947<br />
nach Paris zu Fernand Léger weiter <strong>und</strong> kommt dann 1948 nach Brasilien, wo er<br />
seit den 60er Jahren mit seinen Skulpturen <strong>und</strong> Installationen die Zerstörung der<br />
Natur anprangert <strong>und</strong> zu einem der international bekanntesten Öko-Künstler avanciert.<br />
3 Ein Zeitungsartikel über den Künstler, der verbranntes Holz in Skulpturen<br />
umformt <strong>und</strong> ihnen damit sozusagen neues Leben verleiht, findet den Weg zu<br />
Socorro Nobre, einer zu 36 Jahren Haft verurteilten Frau, die<br />
dem Bildhauer daraufhin einen Brief schreibt, in dem sie ihm<br />
mitteilt, <strong>das</strong>s sie von seiner künstlerischen Arbeit sehr beeindruckt<br />
war <strong>und</strong> diese ihrem eigenen Leben neue Impulse gegeben<br />
habe. Diese Geschichte sowie ein Treffen zwischen den<br />
beiden zeigt Salles in dem Kurzfilm Socorro Nobre (1995). Die<br />
Idee, <strong>das</strong>s etwas so Prosaisches wie ein Brief es schaffen kann,<br />
ein Leben zu ändern, beschäftigt Salles weiterhin <strong>und</strong> formt<br />
die Gr<strong>und</strong>idee zu Central Station.<br />
Ich habe vor zwei Jahren einen Dokumentarfilm (Socorro<br />
Nobre) über den Briefwechsel einer Frau, die zu 36 Jahren<br />
Haft verurteilt war, <strong>und</strong> dem in Brasilien lebenden<br />
Bildhauer Frans Krajcberg gedreht. Der Film erzählt davon,<br />
wie die Frau eines Tages im Gefängnis einen Artikel in einer Zeit-<br />
3. Einen Überblick bietet der Artikel FRANS KRAJCBERG: Brazil’s Eco Sculptor von Leon Kaplan.<br />
Zu finden unter der Adresse: http://www.artfocus.com/Krajcberg.html<br />
VideoFilmes<br />
15
16<br />
schrift über diesen Bildhauer entdeckt, der im Amazonasgebiet, wo<br />
ganze Landstriche niedergebrannt wurden, verbranntes Holz in Skulpturen<br />
umformte <strong>und</strong> ihnen damit eine Art zweite Geburt gab. Die Frau<br />
schrieb dem Bildhauer dann gleich einen Brief, daß sie sehr gerührt<br />
war von seiner künstlerischen Arbeit <strong>und</strong> daraus neuen Lebensmut<br />
schöpfen konnte. Mich hat <strong>das</strong> stark beeindruckt als eine sehr radikale<br />
Kunstform, die ein Leben ändern kann <strong>und</strong> einen sehr emotionalen<br />
Effekt auf jemanden hatte <strong>und</strong> ich finde, daß die Kunst generell diese<br />
Radikalität verloren hat. Zudem war ich wirklich erstaunt, daß am Ende<br />
des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts, im Zeitalter des Computers <strong>und</strong> der virtuellen<br />
Kommunikation, etwas so Prosaisches wie ein Brief es schafft, ein Leben<br />
zu ändern. Das hat mich längere Zeit beschäftigt, <strong>und</strong> ein paar<br />
Monate später wachte ich mit der Idee zu Central do Brasil auf <strong>und</strong><br />
schrieb alles an einem Tag nieder, <strong>und</strong> die ganze Architektur war da.<br />
(HOFMANN / DRÖGE o. D.)<br />
Das fertige Skript erhielt dann den Drehbuchpreis, den <strong>das</strong> S<strong>und</strong>ance-Festival zum<br />
100. Geburtstag des Kinos ausgeschrieben hatte <strong>und</strong> so konnte <strong>das</strong> Projekt starten, in<br />
dem Socorro Nobre in einer Nebenrolle selbst Präsenz zeigte (s. SALLES 1998).<br />
Seinen ersten Kinofilm dreht Salles aber, wie bereits erwähnt, schon 1991,<br />
eine brasilianisch-amerikanische Koproduktion mit englischem<br />
Original-Ton. Es handelt sich dabei um die Verfilmung des brasilianischen<br />
Romans A grande Arte (Die hohe Kunst) von Rubem<br />
Fonseca, ein mit unzähligen kulturellen Anspielungen<br />
versehener schwarzer Kriminalroman. Trotz einiger visuell überzeugender<br />
Szenen muss der Film im Ganzen betrachtet eher<br />
als nicht ganz geglücktes Einstiegswerk gesehen werden, wie<br />
auch Salles selbst dies immer wieder betont. Im Jahr 1995<br />
kommt sein in schwarz-weiß gedrehter Low-budget-Film Terra<br />
Estrangeira (Fremdes Land; Co-Regie: Daniela Thomas) in die<br />
Kinos, ein Streifen über die Rückkehr eines jungen Brasilianers<br />
in <strong>das</strong> Kolonisationsland Portugal, wo er erfolglos versucht,<br />
eine neue Existenz aufzubauen (s. CARVALHO 1997). Der darauf folgende<br />
internationale Erfolg von Central Station bringt Salles dann auch Einladungen<br />
zu Produktionen wie 2000, gesehen von... (produziert vom deutsch-französischen<br />
Sender Arte), in dem zehn Filmemacher aus zehn Ländern ihre Sicht zum<br />
Millenniumswechsel präsentierten <strong>und</strong> für den Salles, wieder zusammen mit<br />
Daniela Thomas, die Folge Mitternacht beisteuert. Kaleidoskopartig verbinden<br />
sich die Geschichten von einem Mann, der kurz vor Neujahr seine Frau – eine<br />
Pädagogin am Rande des Selbstmordes – verlässt, von einem Gefängnisinsassen,<br />
der einen guten Fre<strong>und</strong> umbringen muss, um der Haft zu entkommen sowie von<br />
einem alten Mann, der <strong>das</strong> Ende der Welt beschwört.<br />
Danach dreht Salles dann Behind the Sun (Abril despedaçado). Die Dreharbeiten<br />
ziehen sich hin, die Darsteller müssen sich wochenlang den harten Existenzbedingungen<br />
der Film-Figuren nähern. Zur Vorbereitungsphase gehört auch die<br />
Diskussion filmhistorischer Streifen. Gezeigt wird, neben Werken von Eisenstein<br />
VideoFilmes
<strong>und</strong> Pudovkin u. a. auch der brasilianische Stummfilm Limite (1931) von Mário<br />
Peixoto, einer legendären Figur des brasilianischen Kinos <strong>und</strong> neben Regisseuren<br />
wie Martin Scorsese, Nelson Pereira, Tomás Gutiérrez, Wim Wenders oder Michelangelo<br />
Antonioni eine der zentralen Inspirationsquellen für die eigene Filmkarriere.<br />
Walter Salles lernte Peixoto (1908-1992) Ende der 80er Jahre persönlich kennen,<br />
unterstützte den in Not geratenen Regisseur <strong>und</strong> Schriftsteller finanziell <strong>und</strong> gründete<br />
nach seinem Tod <strong>das</strong> Arquivo Mário Peixoto, <strong>das</strong> in seiner Produktionsfirma<br />
VideoFilmes untergebracht ist. 4 Mário Peixoto drehte 1930 als junger Mann von 22<br />
Jahren seinen ersten <strong>und</strong> einzigen Film, Limite (Uraufführung 1931), einer der großen<br />
Avantgarde-Filme, aber alle Versuche, einen weiteren Film fertig zu stellen,<br />
scheiterten (s. KORFMANN 2006). Eine neu restaurierte Fassung von Limite wurde<br />
2007 bei den Filmfestspielen in Cannes im Programm Cannes Classics als ein Beitrag<br />
der von Martin Scorsese ins Leben gerufenen World Cinema Fo<strong>und</strong>ation gezeigt <strong>und</strong><br />
von Salles vorgestellt. Peixotos (unvollendetes) zweites Werk hatte den Arbeitstitel<br />
Onde a terra acaba (Wo die Erde aufhört, nach Luís Vaz de Camões). Dies ist auch<br />
der Titel eines Dokumentarfilms über Mário Peixoto, gedreht im Jahr 2001 von<br />
Sérgio Machado, dem langjährigen Assistenten von Walter Salles. Peixoto schrieb<br />
außerdem einen 6-bändigen, etwa 2000 Seiten umfassenden Roman mit autobiographischen<br />
Zügen (O inútil de cada um), von dem bisher leider nur der erste Band<br />
erschienen ist. Behind the Sun enthält mehrere versteckte Referenzen zu Peixoto; so<br />
heißt etwa eine der Hauptfiguren „Breves“ – Peixoto hieß laut Geburtsurk<strong>und</strong>e Mário<br />
Rodrigues Breves Peixoto –, <strong>und</strong> es findet sich eine Dialogsequenz, die direkt aus<br />
dem Roman von Peixoto übernommen wurde.<br />
Zusammenfassend lassen sich also in der Arbeit als Regisseur <strong>und</strong> Produzent<br />
von Walter Salles folgende Gr<strong>und</strong>muster ausmachen: zum einen die bewusste<br />
Einordnung seiner Werke in die brasilianische Filmtradition, wobei es nicht so<br />
sehr um die Aufnahme oder Weiterentwicklung bestimmter stilistischer Elemente<br />
geht – seine eigene Filmästhetik etwa zeigt keinerlei Parallelen zu den experimentellen<br />
Formen Peixotos –, sondern in erster Linie um die Absicht, <strong>das</strong> nationalregionale<br />
Kino in seiner ganzen Vielfalt zu begreifen <strong>und</strong> fortzusetzen. Dazu gehört<br />
eben auch, <strong>das</strong>s die häufig geäußerten Erwartungen an ein primär sozialkritisch-realistisch<br />
geprägtes Kino aus Brasilien oder Lateinamerika als Fremdbestimmung<br />
<strong>und</strong> als reduktionistisch zurückgewiesen werden. Im Zusammenhang<br />
damit kann man zum Zweiten die Bemühungen verstehen, Filme zu drehen <strong>und</strong><br />
zu fördern, die – jeder auf eigene Art – kinematographisch kreativ sind <strong>und</strong> nicht<br />
zu einer televisiven Erzählform verkommen, sich also zum einen aus den Traditionen<br />
eines internationalen Weltkinos heraus entwickeln, andererseits aber auch<br />
regionale Geschichte, Landschaften, Gesichter <strong>und</strong> Thematiken einbeziehen. Drittens<br />
kommt noch die Annäherung von Dokumentar- <strong>und</strong> Spielfilm hinzu, wobei<br />
der erste sozusagen ein vorläufiges Abtasten des Themas bedeutet, einen Rahmen<br />
absteckt bzw. ein Netzwerk bildet, in dem die eigentliche Filmarbeit dann<br />
auch Raum zu Improvisation <strong>und</strong> Variation lässt. Ob dieser Spagat zwischen Weltkino<br />
<strong>und</strong> regionaler Identität im Einzelfall immer geglückt ist, soll dahingestellt<br />
bleiben. So kann man tendenziell sicher feststellen, <strong>das</strong>s die Anfangssequenzen von<br />
4. Einen Überblick zu Peixoto bietet die website www.mariopeixoto.com<br />
17
18<br />
Filmen wie Behind the sun oder Die Reise des jungen Che zweifellos dynamisch <strong>und</strong><br />
kinematographisch herausragend sind, sich die Filme aber im Laufe der Geschichte<br />
hin zu symbolischen Konfiguration verdichten, die dann doch sehr deutliche,<br />
oder wie einige Kritiker meinen, zu deutliche Botschaften vermitteln. 5 Der Grat<br />
zwischen Allgemeinplätzen <strong>und</strong> künstlerischem Kino, „Individuum <strong>und</strong> Menschlichkeit,<br />
ganz Persönlichem <strong>und</strong> allgemeineren Fragen zu der Welt, aus der wir<br />
kommen“ (SALLES zitiert nach DREYFUS 2005) ist schmal. Bleibt zu hoffen, <strong>das</strong>s<br />
der Wunsch nach kultureller Identität <strong>und</strong> Reflexion derselben sich die Waage<br />
halten können, wie es Salles selbst einmal programmatisch so formuliert hat:<br />
Das Kino ist in erster Linie die Projektion einer kulturellen Identität,<br />
die auf der Leinwand Leben gewinnt. Es spiegelt diese Identität wider,<br />
oder sollte es zumindest.<br />
Aber <strong>das</strong> ist nicht alles. Es<br />
sollte diese auch „erträumen“.<br />
Oder in Fleisch <strong>und</strong><br />
Blut verwandeln, mit all den<br />
implizierten Widersprüchen.<br />
Im Gegensatz zu Europa sind<br />
wir Gesellschaften, in denen<br />
sich die Identitäts-Frage noch<br />
nicht herauskristallisiert hat.<br />
Und vielleicht brauchen wir<br />
<strong>das</strong> Kino deswegen so dringend,<br />
damit wir uns in den<br />
vielen gegensätzlichen Spiegeln<br />
sehen können, die uns<br />
reflektieren. (SALLES 2004)<br />
Walter Salles<br />
5. Siehe dazu etwa die Kritik des FILMSPIEGEL zu Die Reise des jungen Che unter der im<br />
Literaturverzeichnis angegebenen Internetadresse.<br />
VideoFilmes
Literatur<br />
BUTCHER, Pedro (2005): Cinema Brasileiro Hoje. São Paulo.<br />
BUTCHER, Pedro (2006): A Dona da História: Origens da Globo Filmes e seu impacto no audiovisual<br />
brasileiro. .<br />
BUTCHER, Pedro / MÜLLER, Anna Luiza (2002): Abril despedaçado. São Paulo.<br />
CAETANO, Daniel (Org.) (2005): Cinema Brasileiro (1995-2005): ensaios sobre uma década. Rio de<br />
Janeiro.<br />
CARVALHO, Walter (1997): Terra estrangeira. Rio de Janeiro.<br />
DREYFUS, Dominique (2005): Interview Walter Salles. [26. 05. 2005].<br />
ÉPOCA (2005): Filmes brasileiros premiados saem em DVD. In: Revista ÉPOCA, 22.06.2005. [03. 02. 2007].<br />
FILMSPIEGEL: Die Reise des jungen Che. <br />
[15. 09. 2006].<br />
FONSECA, Rodrigo: O poder da Globo Filmes no cinema brasileiro. [19. 01. 2007].<br />
HERMANNS, Ute (2006): Favela, Sertão <strong>und</strong> Pampa – Tendenzen des neuen brasilianischen Films.<br />
In: Martius-Staden-Jahrbuch 53, S. 297-312.<br />
HOFMANN, Sonja / DRÖGE, Donata: Was wir machen, ist organischer... Interview mit Walter Salles.<br />
[19. 11. 2006].<br />
KAPLAN, Leon: Frans Krajcberg: Brazil’s Eco Sculptor. <br />
[25. 03. 2006].<br />
KORFMANN, Michael (2006): Ten contemporary views on Mario Peixoto’s Limite. Münster.<br />
LEITE, Sidney Ferreira (2005): Cinema Brasileiro – Das Origens à Retomada. São Paulo.<br />
MECCHI, Leonardo / VALENTE, Eduardo: Cinema brasileiro para quem? [12. 01. 2007].<br />
NAGIB, Lucia (2003): The New Brazilian Cinema. London, New York.<br />
ORICCHIO, Luiz Zanin (2003): Cinema de novo: um balanço crítico da retomada. São Paulo.<br />
SALLES, Walter (1998): Central do Brasil. Rio de Janeiro.<br />
SALLES, Walter (2004): I have seen the light. In: The Guardian, 02. 04. 2004. [28. 07. 2005].<br />
STRECKER, Marcos (2006): Dois cineastas on the road. In: Folha de São Paulo, 26.11.2006, Caderno<br />
Mais, S. 4.<br />
Dr. Michael Korfmann studierte Germanistik, Amerikanistik <strong>und</strong> Lateinamerikanistik in<br />
Heidelberg <strong>und</strong> Berlin (FU). Er war als Dozent im Goethe-Institut Berlin, São Paulo <strong>und</strong> Porto<br />
Alegre <strong>und</strong> als DAAD-Lektor an der Universität Porto, Portugal, tätig. Seit 1995 Hochschullehrer<br />
an der Universidade Federal do Rio Grande do Sul (UFGRS) in Porto Alegre. Herausgeber<br />
der elektronischen Zeitschrift CONTINGENTIA (www.revistacontingentia.com). Ausführlicher<br />
Lebenslauf mit Publikationsliste unter: http://lattes.cnpq.br/6551987991905815.<br />
19
http://www.indiosonline.org.br/
Índios Online.<br />
Verwendungen von Internettechnologie<br />
bei nordostbrasilianischen Indianern<br />
Nico Czaja<br />
Hamburg<br />
Resumo: Este artigo pretende descrever e comentar os processos<br />
complexos envolvidos no desenvolvimento de produtos<br />
midiáticos, motivado por intenções de cunho étnico. Para<br />
este efeito, serão apresenta<strong>das</strong> observações feitas durante<br />
a minha participação no projeto de uma ONG, no qual<br />
aldeias indígenas na região do Nordeste brasileiro foram<br />
provi<strong>das</strong> de computadores, acesso à internet, câmaras<br />
digitais e um website. Ali, os índios podiam publicar na<br />
internet imagens, videoclips e textos, documentando, deste<br />
modo, sua cultura, sua história e sua vida cotidiana, para<br />
um público externo assim como para si mesmos. O texto se<br />
baseia nos resultados apresentados na minha tese de<br />
mestrado (CZAJA 2005).<br />
Abstract: The article wants to describe and comment upon the processes<br />
involved in the development of ethnically motivated<br />
media products. For this purpose, the article documents<br />
observations made during my participation in a NGO<br />
project. The latter provided indigenous villages in the<br />
northeastern region of Brazil with computers, internet access,<br />
digital cameras and a website. There, the indigenous<br />
could publish pictures, video clips and texts on the internet<br />
documenting their culture, their history and their common<br />
life, for an external public as well as for themselves.<br />
The text is based on the results presented in my M. A. thesis<br />
(CZAJA 2005).<br />
Einführung<br />
Während die Globalisierung voranschreitet <strong>und</strong> die kulturelle Vormachtstellung<br />
des Westens sich dabei stetig vergrößert, sind indigene Gruppen weltweit<br />
vom Aussterben bedroht – wie schade... Da bleibt der unglücklicher- aber<br />
notwendigerweise unaufhaltsamen westlichen Forschrittsmaschinerie wohl<br />
nur eines zu tun: Wege zu finden, die unausweichliche Assimilierung ethnischer<br />
Differenz in die sie von allen Seiten umzingelnde Mainstream-Kultur so<br />
human wie möglich zu gestalten.<br />
21
22<br />
So oder ähnlich denken nicht wenige <strong>und</strong> geben damit auch ihren Zweifeln<br />
an der Sinnhaftigkeit der Wissenschaft von der kulturellen Differenz Ausdruck,<br />
der Ethnologen sich widmen. Mit fatalistischer Melancholie den bevorstehenden<br />
Untergang aller kultureller Heterogenität anzukündigen, ist schon seit dem frühesten<br />
Anbeginn dessen, was man etwas unscharf unter dem Begriff Globalisierung<br />
zusammenfasst, ein Leitmotiv der diesen Prozess begleitenden Hintergr<strong>und</strong>musik<br />
– ebenso lange allerdings widerspricht die empirische Beweislage diesem düsteren<br />
Ausblick auf die Zukunft der Ethnizität. Insbesondere indigene Völker sind<br />
anderer Meinung. Trotz – oder gerade wegen – der rasant zunehmenden Vernetzung<br />
scheinbar aller Dinge, trotz – oder gerade wegen – der weltweiten Beweglichkeit<br />
von Menschen <strong>und</strong> Bildern werden allerorts ethnische Identitäten neu<br />
<strong>und</strong> schärfer ausformuliert. Kulturelle Differenz beharrt also offenbar durchaus<br />
auf ihrem Platz in einer globalisierten Welt.<br />
Ein besonders prägnantes Beispiel für die wachsende Wahrnehmung ethnischer<br />
Identitäten auf lokaler wie globaler Bühne ist der Nordosten Brasiliens, der<br />
noch bis in die 1990er Jahre hinein zumindest im Hinblick auf seine indigenen<br />
Bewohner <strong>und</strong> deren Kulturen selbst in der brasilianischen Ethnologie weitestgehend<br />
unsichtbar blieb. Dies gilt umso mehr für die Wahrnehmung der Region<br />
durch die brasilianische Öffentlichkeit, die noch heute schwierig davon zu überzeugen<br />
ist, <strong>das</strong>s es richtige Indianer in diesem Gebiet geben soll, <strong>das</strong> bei der Kolonisierung<br />
des Landes durch die Portugiesen an erster Stelle stand <strong>und</strong> nun schon<br />
über 500 Jahre Zivilisierung hinter sich hat.<br />
Dieses Problem haben die Indianer des Nordostens erkannt <strong>und</strong> zu ihrem eigenen<br />
gemacht: In einem komplexen Zusammenspiel westlicher Stereotypen von<br />
Indianität <strong>und</strong> indigenem Bewusstsein von Andersartigkeit konstruieren, rekonstruieren<br />
<strong>und</strong> inszenieren sie Indianer-Sein zum einen für die eigene Gruppe, der<br />
in einer langen Kontaktgeschichte mit der nicht-indianischen Bevölkerung viel<br />
kulturelle Eigenheit mit Gewalt ausgetrieben worden ist, <strong>und</strong> zum andern für eine<br />
Öffentlichkeit, die eigentlich nur bereit ist, an Indianer zu glauben, wenn diese<br />
fremdartige Sprachen sprechen, fast nackt gehen, wie Asiaten aussehen <strong>und</strong> mit<br />
Pfeil <strong>und</strong> Bogen schießen.<br />
Dies geschieht auf verschiedenen Wegen – unter anderem unter Zuhilfenahme<br />
genau der Mittel, die oft gemeinhin als Hauptwerkzeug globaler kultureller<br />
Gleichschaltung angesehen werden, nämlich der modernen Kommunikationstechnologien.<br />
Geschichte des indigenen Nordeste<br />
Paulo Titiá: Als der SPI [Serviço de Proteção ao Índio] noch hier<br />
war, was haben sie da mit euch gemacht?<br />
Dona Maria: Angefangen, uns zu töten, <strong>das</strong> haben sie gemacht! Weil<br />
die fazendeiros uns unseren Platz hier wegnehmen wollten <strong>und</strong> weil<br />
wir ihn nicht hergeben wollten, sind sie gekommen <strong>und</strong> haben Zé<br />
Martinho getötet, haben Manoel meinen Vetter getötet… […]. Sie haben<br />
die Indianer mitgenommen, haben dabei nach ihren Fersen getreten<br />
wie bei Tieren. […] Wir haben schon alle im Busch geschlafen,<br />
<strong>und</strong> die jagunços wollten uns töten, wollten allem ein Ende machen.
Und wir sind im Busch schlafen gegangen, <strong>und</strong> an manchen Tagen hat<br />
es geregnet, an manchen schien die Sonne… oh mein Gott im Himmel.<br />
Und die Frauen trugen ihre Kinder unter die Bäume, alles um sich zu<br />
verstecken. Wenn es Morgen wurde, liefen die Alten in die Häuser, um<br />
schnell eine farofa zu machen <strong>und</strong> sie den Kindern im Busch zu bringen.<br />
Und so haben wir gekämpft, gekämpft, gekämpft… Wir haben uns<br />
dann so verstreut, einige hierhin, andere dorthin. […] Liebe Leute, ich<br />
sage euch, was haben wir hier schon gelitten. […] Kaum, <strong>das</strong>s man’s<br />
wusste, hatten sie schon unser Land verpachtet. Als die Männer kamen,<br />
haben sie uns verjagt. Alle sind weggegangen wie wir, wie ich<br />
<strong>und</strong> meine Mutter. Wir haben ein Stück Erde zurückgelassen mit reifen<br />
Bohnen, Kürbissen, maxixe, mit allem möglichen, was wir gepflanzt<br />
hatten, Melonen… alles schon reif, fertig zum Ernten. Wir haben da<br />
alles zurückgelassen. 1<br />
Der brasilianische Nordosten ist berühmt für seine afro-brasilianische Kultur<br />
<strong>und</strong>, verlässt man die Küstenregion, für die entbehrungsreiche Lebenswelt des<br />
Sertão. Von der indigenen Bevölkerung der Region allerdings hört man in der<br />
Regel wesentlich weniger. Indianisch belegte Symbolik taucht in der populären<br />
Kultur des Nordostens kaum auf – <strong>und</strong> wo doch, meist lediglich als Verweis auf<br />
eine mythische Vergangenheit, in der die Indigenen in ihrer Begegnung mit den<br />
Kolonisatoren im Nordosten einen der Gr<strong>und</strong>steine für die brasilianische Kultur<br />
legten <strong>und</strong> sich dann in ihr auflösten.<br />
Jedoch haben die indigenen Völker des Nordostens eine ebenso lange Geschichte<br />
wie diejenigen anderswo im Land, <strong>und</strong> natürlich endet sie nicht mit der<br />
Ankunft der Portugiesen in Brasilien. Der Orden der Jesuiten begann mit dem<br />
Segen der portugiesischen Regierung ab dem 16. Jahrh<strong>und</strong>ert, vor allem die im<br />
Sertão entlang des Rio São Francisco ansässigen Indianer in Missionsstationen<br />
umzusiedeln, in denen den Indigenen Arbeitsdisziplin beigebracht <strong>und</strong> Katechese<br />
betrieben wurde. In diesen neuen Dörfern wurden Angehörige verschiedener<br />
ethnischer Gruppen <strong>und</strong> Sprachfamilien um eine zentrale Kapelle herum sesshaft<br />
gemacht. Ziel des Unternehmens war, neben der natürlich stets erstrebten Verbreitung<br />
des christlichen Glaubens in unwegsamen Gegenden, die Befriedung<br />
der „Wilden“, damit sie sich anschließend hilfreich, fügsam <strong>und</strong> zumindest ansatzweise<br />
zivilisiert in <strong>das</strong> Unterfangen der weiteren Erschließung des neuen Landes<br />
integrieren lassen würden. Das Verhältnis zwischen Orden, portugiesischer Krone<br />
<strong>und</strong> Autoritäten vor Ort war dabei allerdings kein konfliktfreies, hatten doch Jesuiten<br />
<strong>und</strong> Kolonisten sehr verschiedene Vorstellungen davon, auf welche Weise<br />
die Indianer an Zivilisation <strong>und</strong> Christentum herangeführt werden sollten. Oftmals<br />
waren die aldeias die einzigen Orte, an denen die Indigenen vor der Versklavung<br />
<strong>und</strong> vor anderen gewaltsamen Übergriffen durch die weißen Siedler verhältnismäßig<br />
sicher waren (vgl. SGRECCIA 1981, S. 29-52).<br />
1. Interview mit Maria de Jesus do Rosário (Pataxó-Hãhãhãe) am 14/09/2004, durchgeführt im<br />
Rahmen der Materialsammlung für die Indios-Online-Website. Die ersten Fragen stellte ich,<br />
bis ich vom Pataxó-Hãhãhãe Paulo Titiá abgelöst wurde, der wesentlich geschickter darin<br />
war als ich. Hier <strong>und</strong> auch im Folgenden meine Übersetzung.<br />
23
24<br />
Als die Jesuiten im Jahr 1759 im Rahmen der säkularisierenden Maßnahmen<br />
des Marquês de Pombal Portugal <strong>und</strong> seine Kolonien verlassen mussten, sahen<br />
sich die Bewohner der Missionsdörfer des Hinterlandes mit einem Mal wieder sich<br />
selbst überlassen: Weil die Besiedlung Brasiliens bis zu diesem Zeitpunkt vor allem<br />
im fruchtbareren Küstenbereich stattgef<strong>und</strong>en hatte <strong>und</strong> der Sertão wirtschaftlich<br />
noch wenig interessant war, konnten die Indianer die Verwaltung der ehemaligen<br />
Missionssiedlungen nun von der weißen Gesellschaft relativ unbeeinträchtigt<br />
in Eigenregie fortführen. Dies allerdings nur bis zur Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />
als die nicht-indianischen Siedlungen im Landesinneren zu wachsen begannen<br />
<strong>und</strong> in ihrem Umkreis von der Küste umgesiedelte wohlhabende Familien versuchten,<br />
sich als Viehzüchter zu etablieren – ein Geschäftszweig, für den man viel<br />
Land brauchte. Die ehemals zu den Missionen gehörenden Ländereien wurden<br />
an weiße Landwirte verpachtet. Mit diesen Vorgängen beginnt die Unsichtbarkeit<br />
großer Teile der indigenen Bevölkerung des Nordostens in der brasilianischen<br />
Öffentlichkeit ebenso wie in der ethnologischen Literatur. 2 Es gilt in der Öffentlichkeit<br />
bis heute <strong>und</strong> galt in weiten Teilen der Wissenschaft bis zum Ende des 20.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts als Gemeinplatz, <strong>das</strong>s die Indianer des Nordostens bis auf wenige<br />
Ausnahmen als Gemeinschaften ausgestorben oder zumindest bis zur kulturellen<br />
Unkenntlichkeit assimiliert in der nationalen Gesellschaft aufgegangen sind (s.<br />
OLIVEIRA 2004, S. 26).<br />
1910 wurde der Serviço de Proteção ao Índio (SPI) gegründet, der einige Postos<br />
Indígenas im Nordosten demarkierte <strong>und</strong> damit wieder offiziell als indianische Ländereien<br />
anerkannte. 3 Anders als im Amazonasgebiet, wo oftmals aus geopolitischen<br />
Erwägungen Indianerland in schwierig zu kontrollierenden Grenzgebieten<br />
zu anderen Nationalstaaten anerkannt wurde, war die Situation im Nordosten<br />
eine andere: Die Indianer lebten nicht jenseits des Endes der „zivilisierten Welt“,<br />
sondern waren inzwischen in die Strukturen von Viehzucht <strong>und</strong> Zuckerrohranbau<br />
des Hinterlandes integriert, wenn auch selbstverständlich am untersten Ende<br />
des Macht- <strong>und</strong> Wohlstandsgefälles. Es interessierte die Autoritäten nicht, <strong>das</strong><br />
Land, <strong>das</strong> sie bewohnten, möglichst <strong>und</strong>urchdringlich zu halten, um Feinden von<br />
außen <strong>das</strong> Durchkommen zu erschweren – vielmehr galt es, der landwirtschaftlichen<br />
Erschließung der Region <strong>und</strong> damit der Bereicherung der daran Beteiligten<br />
weiter nachzuhelfen. An dieser Erschließung hatten wiederum die Indianer verständlicherweise<br />
kein großes Interesse, so <strong>das</strong>s der SPI, im Rahmen der ihm anvertrauten<br />
Vorm<strong>und</strong>schaft über die damals noch offiziell unmündigen Indigenen, es<br />
in vielen Einzelfällen für eine zukunftsträchtige Vorgehensweise hielt, indianisches<br />
Land weiter Stück für Stück an Großgr<strong>und</strong>besitzer zu verpachten, die Ordnung<br />
<strong>und</strong> Fortschritt vorantreiben sollten.<br />
Für die Indigenen, die nicht flohen, ergaben sich aus dieser Entwicklung nahezu<br />
feudale Strukturen, in denen sie auf dem Land, <strong>das</strong> eigentlich anerkannter-<br />
2. Ausnahmen bilden z. B. die Arbeiten von Curt Nimuendajú, der Anfang des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
ausgedehnte Forschungsreisen im Nordeste unternommen hat.<br />
3. Pankararu in Pernambuco and Pataxó[-Hãhãhãe] in Bahia 1937, Kariri-Xocó in Alagoas 1944,<br />
Truká in Bahia in den 1940ern, Atikum in Pernambuco <strong>und</strong> Kiriri in Bahia 1949, Xukuru-Kariri<br />
in Alagoas 1952, Kambiwá in Pernambuco 1954 <strong>und</strong> Xukuru, ebenfalls in Pernambuco, 1957<br />
(s. Oliveira 2004, S.27).
maßen ihr eigenes war, oft einen der Leibeigenschaft ähnlichen Status innehatten<br />
<strong>und</strong> der Willkür der fazendeiros <strong>und</strong> ihrer Privatarmeen ausgesetzt waren. Mit<br />
dem Segen des SPI wurden Indianer zur „Zähmung“ eingefangen <strong>und</strong> unter unmenschlichen<br />
Bedingungen zwangszivilisiert, um in den landwirtschaftlichen Betrieben,<br />
zu denen ihr Land nun faktisch gehörte, unentgeltliche Arbeit zu leisten.<br />
Westliche Kleidung, portugiesische Sprache <strong>und</strong> gesalzenes Essen wurden vor<br />
diesem Hintergr<strong>und</strong> zu Pflichten, denen die Indianer sich nur unter Gefahr für<br />
Leib <strong>und</strong> Leben entziehen konnten (vgl. FERREIRA 2002, S. 33).<br />
Zwar wurde der SPI 1967 durch die FUNAI (F<strong>und</strong>ação Nacional do Índio) ersetzt,<br />
nicht zuletzt wegen nationaler <strong>und</strong> internationaler Empörung über ebendiese<br />
Menschenrechtsverletzungen, aber auch <strong>das</strong> neue Regierungsorgan, <strong>das</strong> nun<br />
für die Indigenen zuständig war, zielte zunächst auf die Auflösung indianischer<br />
Kulturen in der brasilianischen Nationalgesellschaft ab. In den siebziger <strong>und</strong><br />
achtziger Jahren des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts verschärfte sich die Assimiliationspolitik<br />
der FUNAI noch – jedoch zeigte sich bald, <strong>das</strong>s alle Anstrengungen zur „humanen“<br />
Auflösung indigener Kulturen nicht den gewünschten Effekt hatten. Brasilianische<br />
Akkulturationsforscher hatten bis weit in die 1970er Jahre hinein alle<br />
Veränderungsprozesse in indianischen Gesellschaften als Zeichen des nahenden<br />
Niedergangs <strong>und</strong> Endes indigener Gruppen interpretiert. Tatsächlich allerdings<br />
war in vielerlei Hinsicht <strong>das</strong> Gegenteil der Fall: Der Kontakt zwischen Weißen<br />
<strong>und</strong> Indianern, von Seiten der Nationalgesellschaft klar auf Assimilation<br />
angelegt, führte trotz indianischer Annahme neuer <strong>und</strong> Aufgabe alter Kulturelemente<br />
nicht zur Auflösung der indigenen Gruppen <strong>und</strong> zum Ende der Selbstwahrnehmung<br />
als Indianer. In vielen Fällen trug der Assimilationsdruck von<br />
außen vielmehr zu einer Bewusstwerdung des Wertes der eigenen Kultur auf<br />
indianischer Seite bei, ebenso wie zu einem Prozess der Einigung gegen den<br />
gemeinsamen Feind; im Rahmen dieser Vorgänge konnte eine indianische Mitsprache<br />
bei der Erstellung der neuen Verfassung Brasiliens von 1988 erreicht<br />
werden, in der <strong>das</strong> Recht der Indigenen auf eigene Territorien <strong>und</strong> eigene Kultur<br />
schließlich festgeschrieben wurde.<br />
Die Gründung zahlreicher indigener Organisationen im ganzen Land zu dieser<br />
Zeit zeigt, wie diese Entwicklung <strong>das</strong> ethnische Selbstbewusstsein vieler Indianer<br />
stärkte, <strong>und</strong> im Nordosten ist es dieser Zeitraum, in dem <strong>das</strong> Phänomen<br />
der so genannten „neuen indigenen Ethnizitäten“ Gestalt annimmt: Während in<br />
den 1950er Jahren die Liste indigener Gruppen Nordostbrasiliens nicht mehr<br />
als 10 Einträge umfasste, waren es 1994 bereits 23, <strong>und</strong> eine große Zahl von<br />
Brasilianern, die zuvor lediglich als ländliche Mestizen wahrgenommen worden<br />
waren, durften – oder mussten – nun wiederentdecken, wie man in der Öffentlichkeit<br />
Indianer zu sein hat.<br />
Die Idee der Ursprünglichkeit (Traditionalität, Harmonie mit der Natur, Spiritualität<br />
etc.) ist ein wesentlicher Bestandteil der stereotypisierten Erwartungen,<br />
die die brasilianische Gesellschaft guten Indianern entgegenbringt, <strong>und</strong> mit demselben<br />
Maß wird auch die Indianität der indigenen Gruppen des Nordostens gemessen.<br />
Um also in den Genuss des guten Willens der Öffentlichkeit zu gelangen,<br />
muss der Indianer des Nordeste ein diesen Erwartungen entsprechendes Bild bieten.<br />
Somit wird, wie ich es selbst beobachten konnte, von vielen Indigenen des<br />
25
26<br />
Nordostens in der Rekonstruktion ihrer im Laufe der Kolonisierung verloren gegangenen<br />
<strong>und</strong> dem Indianerbild in der brasilianischen Öffentlichkeit nahe kommenden<br />
Kulturmerkmale genau auf diese Stereotypen zurückgegriffen, um negativen<br />
Vorurteilen entgegenzuwirken <strong>und</strong> positive fortzuschreiben – dies allerdings<br />
nicht nur nach außen, sondern ebenso nach innen, für die eigene Gruppe.<br />
Das Projekt<br />
Das Projekt Índios na Visão dos Índios wurde 2001 begonnen; in Workshops für<br />
kreatives Schreiben, Fotografie <strong>und</strong> kulturelle Identität sammelte der ehemalige<br />
Werbefachmann Sebastián Gerlic in sieben indigenen Dörfern in Nordostbrasilien<br />
Materialien, die später in aufwendigen, 60-seitigen Farbbroschüren als Selbstporträts<br />
der jeweiligen Dorfgemeinschaft veröffentlicht wurden. 4 Während des Projektverlaufs<br />
gründete Gerlic 2003 die NRO Thydêwá, die von diesem Zeitpunkt an der<br />
offizielle Träger des Projektes sein sollte.<br />
Ein Teil der gedruckten Broschüren ging an die verschiedenen Sponsoren, ein<br />
weiterer blieb bei Thydêwá, <strong>und</strong> der dritte <strong>und</strong> größte Teil wurde den teilnehmenden<br />
Dorfgemeinschaften zur freien Verfügung gestellt. Dabei war von Veröffentlichung<br />
zu Veröffentlichung <strong>das</strong> Bestreben Gerlics, die indigene Teilhabe am<br />
<strong>und</strong> Verantwortung für <strong>das</strong> Projekt stetig zu vergrößern, <strong>und</strong> er hoffte, mit der<br />
Einführung von Computern <strong>und</strong> Internettechnologie in den Dörfern den Höhepunkt<br />
dieser Entwicklung zum eigenständig indianischen Projekt herbeizuführen.<br />
Das Pilotprojekt Índios Online, <strong>das</strong> 2004 seinen Anfang nahm, war als<br />
Verlängerung von Índios na Visão dos Índios konzipiert. Sieben Reservate 5 wurden<br />
mit je einem PC, digitalen Fotokameras <strong>und</strong> schnellem Internetzugang über<br />
Satellit ausgestattet. Ein zweiwöchiger Workshop in Salvador sollte zwei Repräsentanten<br />
aus jeder Dorfgemeinschaft mit den Gr<strong>und</strong>lagen der elektronischen<br />
Datenverarbeitung vertraut machen; zurück in den Dörfern sollten diese Personen<br />
als Multiplikatoren dieses Wissens fungieren <strong>und</strong> so die Technologie dort<br />
möglichst für jeden zugänglich machen.<br />
Herz des Projektes ist die Website (THYDÊWÁ 2004), auf der zum einen ein<br />
Chatbereich die Kommunikation der teilnehmenden Ethnien untereinander wie<br />
auch theoretisch mit dem Rest der Welt ermöglicht, zum anderen ein inhaltlicher,<br />
dokumentarischer Teil geboten wird. Für jede teilnehmende Gruppe existiert eine<br />
einzeln aufrufbare Abteilung; für die Dörfer, deren Broschüren bereits in Print-<br />
Form vorlagen, wurden in ihren jeweiligen Abteilungen zu Beginn des Projektes<br />
digitale Versionen ihrer Veröffentlichungen eingestellt. Mit einem einfachen Interface<br />
ist es von den Dörfern aus möglich, Texte <strong>und</strong> Fotos zu Beiträgen zusammenzustellen<br />
<strong>und</strong> in die entsprechende Abteilung der Website zu übertragen. Diese<br />
Möglichkeit sollten die beteiligten Gruppen nutzen, um für ein potenziell weltweites<br />
Publikum Alltag, Probleme, Kultur <strong>und</strong> Geschichte zu dokumentieren. Für die-<br />
4. Comunidade Tupinambá 2003, Comunidade Kariri-Xocó 1999, Comunidade Pankararu 2001,<br />
Comunidade Kiriri 2003, Comunidade Truká 2003, Comunidade Fulni-ô 2003, Comunidade<br />
Tumbalalá 2003.<br />
5. Kariri-Xocó, Kiriri, Pankararu, Pataxó-Hãhãhãe, Tumbalalá, Tupinambá, Xukuru-Kariri.
jenigen, die ihre Portraits in gedruckter Form noch nicht fertig gestellt hatten,<br />
sollte die Website zum Medium für die Materialsammlung werden: Man stellte sich<br />
vor, <strong>das</strong>s die Indianer Inhalte auf der Internetseite anhäufen <strong>und</strong> zu einem bestimmten<br />
Zeitpunkt davon die besten Beiträge für die Veröffentlichung im Druck<br />
auswählen würden.<br />
Die Rolle des Autors<br />
Die Frage, die vor allem Thydêwá immer wieder in den Mittelpunkt zu stellen<br />
versuchte, war, was es bedeute, Indianer zu sein. In diesem Prozess der Ausarbeitung<br />
eines Konzepts von Indianität waren die Akteure <strong>und</strong> Autoren offiziell die<br />
Indianer selbst; tatsächlich allerdings trug Thydêwá mindestens einen ebensogroßen<br />
Teil zu dem so entstehenden Bild indianischer Kultur bei – <strong>und</strong> ich damit<br />
ebenfalls, wenn auch wegen der Doktrin des Nicht-Eingreifens, des bloßen Beobachtens,<br />
die ich während meiner Ausbildung als Ethnologe verinnerlicht hatte,<br />
eher widerwillig. Ich war in die Reservate der Xukuru-Kariri in Alagoas <strong>und</strong> der<br />
Pataxó-Hãhãhãe in Bahia geschickt worden, um dort Hilfestellung im Umgang mit<br />
der neuen Technologie zu leisten <strong>und</strong> damit für die Veröffentlichung der Broschüren<br />
dieser beiden Gruppen den Weg zu ebnen.<br />
Neben der technischen Beratung aber war ich von indianischer Seite vor<br />
allem als Impulsgeber gefragt, wenn es darum ging, welche Fragen die Jungen<br />
den Alten in Interviews stellen würden, welche Fotos gut waren <strong>und</strong> welche<br />
schlecht, <strong>und</strong> welche Texte in welcher Form auf der Website <strong>und</strong> später im Buch<br />
auftauchen sollten.<br />
Bei den Pataxó-Hãhãhãe, wo die materiellen Aspekte des Projektes (Computer,<br />
Internet, Kamera) bei den Begünstigten auf viel Gegenliebe stießen, der inhaltliche<br />
Teil allerdings zwar Wohlwollen, aber nicht wirklich viel Interesse fand, musste mein<br />
Beitrag zum Entstehen der dokumentarischen Materialien ein noch größerer sein,<br />
so<strong>das</strong>s der Großteil der Fotos <strong>und</strong> Interviews von mir selbst gemacht wurde.<br />
Damit geriet ich in eine Verantwortlichkeit, mit der ich vorher naiverweise<br />
nicht gerechnet hatte: Meine Aufgabe bestand nicht etwa nur darin, zu erklären,<br />
in welchem Moment welcher Knopf an welchem Gerät zu drücken war, sondern<br />
ich selbst sollte mitbestimmen, was für die Projektteilnehmer Indianersein bedeutete<br />
– zumindest in der Öffentlichkeit, aber gewiss nicht ohne Rückwirkung auf die<br />
Realität im Dorf – <strong>und</strong> <strong>das</strong> passte nicht wirklich gut zum „romantischen Diskurs<br />
vom indigenen Protagonisten“, 6 der <strong>das</strong> Projekt umgab <strong>und</strong> den ich offenbar zunächst<br />
nicht als solchen erkannt hatte.<br />
Die Tatsache, <strong>das</strong>s der Ethnologe im Feld nie nur Beobachter sein kann <strong>und</strong><br />
seine Ergebnisse nie nur dokumentarisch sind, ist innerhalb der Wissenschaft kaum<br />
umstritten (vgl. z. B. KOHL [1993] 2000, S. 115-119 oder BARLEY [1997] 2000, S. 7-<br />
16). Mir kam es allerdings so vor, als ob in der besonderen, weil historisch noch<br />
sehr jungen Situation der Suche nach ethnischer Identität <strong>und</strong> Ethnizität der<br />
6. Diese Bezeichnung verwendete Gerlic in einem persönlichen Gespräch, als ich ihm davon<br />
erzählte, <strong>das</strong>s ich Zweifel in Bezug auf meinen zu großen Beitrag zu einem Kulturprodukt<br />
hatte, <strong>das</strong> ja eigentlich offiziell in indianischer Eigenverantwortung entstehen sollte.<br />
27
28<br />
indianischen Gruppen Nordostbrasiliens, die ich näher kennen gelernt habe, die<br />
Wechselwirkungen zwischen der Reproduktion <strong>und</strong> Konstruktion indianischer<br />
Identität <strong>und</strong> der Anwesenheit <strong>und</strong> Arbeit des nichtindianischen Experten besonders<br />
groß war <strong>und</strong> ist.<br />
Aus dieser Perspektive kann der Prozess der „Wiederauferstehung“ der<br />
Tupinambá in Bahia zurückverfolgt werden zur Entdeckung eines klassischen <strong>und</strong><br />
Lesern dieses Jahrbuches gewiss nicht unbekannten Werkes über die menschenfressenden<br />
Küsten-Tupinambá durch die Bewohner des Caboclo-Dorfes 7 Olivença:<br />
Ein nichtindianischer Ausbilder indigener Lehrkräfte hatte in den 1990er Jahren<br />
Stadens Warhaftige Historia (STADEN [1557] 1978) ins Dorf mitgebracht, um es im<br />
Geschichtsunterricht zu verwenden. Die caboclos von Olivença fanden sich selbst<br />
in den Beschreibungen Stadens wieder <strong>und</strong> verwendeten <strong>das</strong> Buch fortan als<br />
Basis für die Rekonstruktion ihrer Traditionen – so benannten sie zum Beispiel<br />
ihren rituellen Tanz, den Toré, in Porancim um, weil Staden einen von ihm beobachteten<br />
Tanz so genannt hatte. Diese Entwicklung fand ihren vorläufigen Höhepunkt<br />
in der offiziellen Anerkennung der bahianischen Tupinambá als indigenes<br />
Volk durch die FUNAI 2002. 8 Ähnliche Prozesse beschreibt der brasilianische Ethnologe<br />
Henyo Trindade Barreto Filho, der in einem Forschungsinterview von<br />
einer Indianerin schmunzelnd mitgeteilt bekommt, <strong>das</strong>s die Tapeba sich erst wieder<br />
für die Tapeba zu interessieren begonnen haben, seitdem er, der Ethnologe,<br />
so viele Fragen über die Tapeba stellt – bis dahin hatte man gar nicht mehr darüber<br />
nachgedacht, aber mit einem Mal wollten alle Indianer sein (vgl. BARETTO<br />
FILHO 1993, 2004).<br />
Der Forscher oder Ratgeber von Außen kann also durchaus zum Katalysator<br />
des identitären Prozesses werden. Bezüglich meiner Arbeit mit Thydêwá sehe ich<br />
mich in vergleichbare <strong>und</strong> ähnlich komplexe Strukturen eingeb<strong>und</strong>en.<br />
Online<br />
Das Recht auf <strong>und</strong> die Möglichkeit zur informationellen Selbstbestimmung, die<br />
– zumindest in meinen Augen – die Dreh- <strong>und</strong> Angelpunkte des Projekts Índios<br />
Online darstellten, trafen auf indianischer Seite zwar in der Theorie, nicht aber in<br />
der Praxis auf besonders viel Enthusiasmus; die Initiative, den dokumentarischen<br />
Teil der Website mit neuem Material zu versehen, ging bei den meisten Gelegenheiten<br />
von mir aus. Auf wesentlich mehr Interesse der Begünstigten stieß <strong>das</strong> der<br />
Seite beigegebene Chatsystem; diese Beobachtung habe ich bei den Xukuru-Kariri<br />
ebenso wie bei den Pataxó-Hãhãhãe gemacht. Die hohe Zahl der 3000 registrierten,<br />
größtenteils nichtindianischen Nutzer, die Thydêwá in den ersten Wochen<br />
der Laufzeit des Projektes bei verschiedenen Aktionen sammeln konnte, ist wenig<br />
aussagekräftig für <strong>das</strong> tatsächliche Geschehen im Chat, in dem sich vor allem eine<br />
7. Caboclos: Mischlinge; z. B.: „Das ist doch kein richtiger Indianer, bloß ein Caboclo!“<br />
8. Der Ausbilder, der den Indianern Stadens Buch vorgestellt hatte, war ausführender Direktor<br />
von Thydêwá zur Zeit meiner Arbeit mit der Organisation. Genaueres über die Bedeutung<br />
des Tanzes für die Ethnogenese der Tupinambá wird in seiner noch unveröffentlichten Dissertation<br />
nachzulesen sein: PAMFILIO (unv.)
Gruppe von insgesamt vielleicht dreißig Jugendlichen <strong>und</strong> Verwandte aus deren<br />
Elterngeneration aus den im Projekt vertretenen Dorfgemeinschaften treffen. Dabei<br />
sind nicht alle Dörfer gleich stark vertreten – so bin ich zum Beispiel keinem<br />
Pankararu jemals online begegnet, Tupinambá, Tumbalalá <strong>und</strong> Xukuru-Kariri dagegen<br />
sehr oft. Darüber hinaus finden sich im Chat hin <strong>und</strong> wieder Indianer anderer<br />
Gruppen <strong>und</strong> nichtindianische Interessierte oder Sympathisanten, oftmals Schüler,<br />
die Nachforschungen für eine Hausarbeit anstellen, selten Anthropologen<br />
<strong>und</strong> manchmal Suchende, die sich Einblicke in indianische Spiritualität erhoffen.<br />
Die Registrierung ist für jeden offen. Jedes Mitglied, <strong>das</strong> einem der Administratoren<br />
9 glaubhaft seine indianische Identität versichert, kann von diesem systemintern<br />
mit dem Label „índio“ versehen werden – <strong>das</strong> heißt in der Konsequenz, <strong>das</strong>s<br />
<strong>das</strong> so beförderte Mitglied für den entsprechenden Namen <strong>und</strong> die im Chat erscheinenden<br />
Redebeiträge eine Textfarbe frei wählen kann. So einfach wird online<br />
die Identitätsfrage gelöst: Die Bunten sind die Indianer, jedenfalls theoretisch.<br />
Diese Möglichkeit der farblichen Kennzeichnung ist sehr begehrt; oftmals konnte<br />
ich mich vor diesbezüglichen Anfragen kaum retten, die ich dann meist an meine<br />
indianischen Administratorenkollegen weiterzuleiten versuchte, zumal ich nie<br />
wusste, ob es sich bei den Anfragenden denn nun wirklich um „richtige“ Indianer<br />
handelte oder nicht.<br />
Ob es bei der Popularität dieser Funktion allerdings darum ging, demonstrativ<br />
online Indianer sein zu können, oder eher ästhetische Spielfreude der Gr<strong>und</strong><br />
dafür war, kann ich nicht eindeutig beantworten. Angesichts der Beliebtheit von<br />
Programmen, mit denen man E-Mails mit allerlei unterhaltsamen Bildchen <strong>und</strong><br />
Animationen verzieren kann, ebenso der Emoticons (Smilies etc.), die <strong>das</strong> Chat-<br />
Interface bietet, möchte ich fast in letztere Richtung tendieren – allerdings schließen<br />
sich die beiden Möglichkeiten auch nicht gegenseitig aus.<br />
Im System gibt es acht Chaträume; einen für jede teilnehmende Ethnie sowie<br />
einen allgemeinen Raum mit dem Titel „Thydêwá“. Die ethnisch differenzierten<br />
Räume allerdings habe ich niemals in Verwendung gesehen. Offenbar zogen alle<br />
Chatbenutzer den allgemeinen Raum vor.<br />
Die Themen, die den größten Teil der Zeit besprochen werden, sind Alltäglichkeiten:<br />
Begrüßungen, Verabschiedungen <strong>und</strong> gegenseitige Erk<strong>und</strong>igungen nach<br />
dem Wohlbefinden. Die meisten Jugendlichen <strong>und</strong> ebenso einige ältere Benutzer<br />
verwenden den Chat vor allem zur Anbahnung oder Pflege virtueller Liebeleien.<br />
Die ersten Fragen, denen sich ein neuer Besucher meist ausgesetzt sieht, sind, in<br />
dieser Reihenfolge: Bist du Indianer? Bist du Mann oder Frau? Wie alt bist du? – es<br />
geht darum, potenzielle Flirtpartner schnell als solche zu erkennen. Bei gegenseitigem<br />
Interesse wird die Konversation schnell von einer Many-to-many- in eine<br />
Person-to-person-Form der Interaktion überführt – interessanterweise schon innerhalb<br />
des Chatsystems, <strong>das</strong> seitens Thydêwá eine solche Möglichkeit gar nicht<br />
technisch vorsieht: Die Möglichkeit der Versendung privater Mitteilungen innerhalb<br />
des Systems ist eigentlich allein den Administratoren vorbehalten. Der vielleicht<br />
nicht besonders ausführlich reflektierte Hintergedanke dabei war mögli-<br />
9. Administratorenrechte haben die Mitarbeiter der Thydêwá auf indianischer <strong>und</strong> nichtindianischer<br />
Seite, insbesondere die Teilnehmer des Computerkurses.<br />
29
30<br />
cherweise, <strong>das</strong>s ein Gemeinschaftsgefühl gefördert <strong>und</strong> dem entgegenwirkende<br />
individualistische Formen der Kommunikation nicht begünstigt werden sollten.<br />
Die Benutzer mit dem Label „índio“ umgehen dieses Hindernis, indem sie sich<br />
gegenseitig mit der „Invite“-Funktion, die eigentlich zur Einladung in andere<br />
virtuelle Räume dient <strong>und</strong> die Möglichkeit bietet, eine für diesen Zusammenhang<br />
klärende Nachricht beizufügen, in Räume einladen, in denen sie sich bereits<br />
befinden. So senden sie sich private Mitteilungen, bis E-Mail-Adressen ausgetauscht<br />
werden, über die man sich gegenseitig Fotos <strong>und</strong> bunt gestaltete<br />
Briefchen schicken kann.<br />
Dieses Vorgehen, ebenso wie die Nichtnutzung der ethnisch differenzierten<br />
Chatrooms, zeigt sehr deutlich, <strong>das</strong>s die indianischen Bedürfnisse in der Nutzung<br />
des Chatsystems andere sind als von den Erstellern der Website antizipiert oder<br />
beabsichtigt: Der von Thydêwá abgesteckte Rahmen wird anders als erwartet gefüllt,<br />
die von der Organisation gesetzten technischen Hindernisse werden stellenweise<br />
kreativ umgangen.<br />
Die auf Índios Online zu beobachtende Flirtkultur ähnelt in vielerlei Hinsicht<br />
den Vorgängen, die man in anderen Chatrooms internetweit zuhauf beobachten<br />
kann. Ein maßgeblicher Unterschied liegt meines Erachtens jedoch in der Selbstverständlichkeit,<br />
mit der Online-Bekanntschaften in Offline-Zusammenhänge eingebettet<br />
sind. Das heißt nicht notwendigerweise, <strong>das</strong>s auf Índios Online häufiger<br />
Hochzeiten angebahnt würden als in anderen Chaträumen – ich weiß von keiner<br />
Beziehung dort, die allein aus der Online-Bekanntschaft heraus zu einer tatsächlichen<br />
Liebesbeziehung geworden wäre. Jedoch fehlt auf Índios Online fast gänzlich<br />
die sonst für die Mythologie des Internet maßgebliche Idee, <strong>das</strong>s man im Cyberspace<br />
jemand ganz anderes sein kann (oder sein will oder sein wollen sollte) als im<br />
herkömmlichen Leben. Die Vorgabe eines falschen Geschlechts findet, jedenfalls<br />
soweit von mir beobachtet, nicht statt, nur selten wird <strong>das</strong> eigene Alter übertrieben,<br />
um „erwachsener“ zu wirken, Fotos werden vor allem zwischen Flirtpartnern<br />
bereitwillig über E-mail ausgetauscht, sobald allererste Annäherungen erfolgreich<br />
waren. Online <strong>und</strong> „Diesseits“ stattfindende Interaktionen werden nicht als voneinander<br />
unabgängige erfahren. Die Kluft zwischen Cyberspace <strong>und</strong> Space existiert<br />
ebenso wenig wie zwischen Telefongespräch <strong>und</strong> Geplauder von Angesicht<br />
zu Angesicht. In beiden Fällen geht es nicht darum, sich in verschiedenen Welten<br />
zu bewegen, sondern darum, sehr diesseitige Beziehungen über größere Entfernungen<br />
zu knüpfen <strong>und</strong> zu pflegen.<br />
Das hängt sicherlich auch damit zusammen, <strong>das</strong>s die Indianer online im Chat<br />
vor allem mit ähnlichen oder oft gar denselben Menschen zu tun haben wie bei<br />
anderen, für die heutigen Indianer Brasiliens selbstverständlichen Gelegenheiten:<br />
Es gibt einen Raum „zwischen“ den Dörfern <strong>und</strong> Ethnien, der bereits vor<br />
Ankunft des Internet konstituiert wurde, <strong>und</strong> zwar durch in verschiedenen Dörfern<br />
stattfindende interethnische Seminare <strong>und</strong> Workshops, durch Kongresse <strong>und</strong><br />
Symposien in den Städten, kurz, durch die politischen <strong>und</strong> sonstigen interethnischen<br />
Aktivitäten, in denen sich Indianer schon seit den 1970er Jahren begegnen,<br />
austauschen <strong>und</strong> interagieren. Viele der indianischen Chatbenutzer kennen<br />
sich persönlich von solchen Anlässen, aber selbst wenn <strong>das</strong> nicht der Fall ist,<br />
steht die Möglichkeit, sich zum Beispiel bei einem Seminar über den Weg zu laufen,
stets im Raum. Wie bei solchen Veranstaltungen üblich, so redet man sich auch im<br />
Chat gegenseitig mit parente (Verwandter) an <strong>und</strong> verwendet fast ausschließlich<br />
indigene Namen (die man im dörflichen Alltag nur selten hört).<br />
Die Teilnehmer von Índios Online betreten im Chat also nur technisch gesehen<br />
Neuland, jedoch wird <strong>das</strong> neue Medium in seiner Verwendung lediglich<br />
zu einer weiteren <strong>und</strong> gerne wahrgenommenen Möglichkeit, sich in einem<br />
bereits bekannten sozialen Raum zu bewegen – eine Art überregionales Dorf,<br />
<strong>das</strong> durch die computerbasierte Vernetzung nur eine weitere Dimension <strong>und</strong><br />
größere Präsenz gewinnt.<br />
Eine bewusste Inszenierung von Indianität findet (sinnvollerweise) erst statt,<br />
wenn ein interessierter Außenseiter den Chatroom betritt, was nicht allzu oft geschieht.<br />
Dann wird, wie bei anderen Begegnungen mit der brasilianischen Öffentlichkeit<br />
auch, ein Verhalten geboten, welches Harald Prins treffend als Primitivismus<br />
bezeichnet (vgl. PRINS 2002): Es wird auf <strong>das</strong> stereotypisierte westliche<br />
Indianerbild zurückgegriffen, <strong>das</strong> sich bis zu Rousseaus Konstrukt des Edlen Wilden<br />
zurückverfolgen lässt <strong>und</strong> durch dessen Brille die Indianer sich inzwischen<br />
auch gern selbst betrachten. So wird versucht, für alle Beteiligten die Grenzen<br />
zwischen Weißen <strong>und</strong> Indianern besonders deutlich zu ziehen. Dementsprechend<br />
kommen auf wenig differenzierte Fragen wie „Wer kann mich über die indigene<br />
Religion informieren?“ wenig differenzierte Antworten wie „Wir haben die Religion<br />
unserer Vorfahren. Wir lieben die Mutter Natur.“<br />
Diese primitivistische Strategie führt oft zum Erfolg (in dem Sinne, <strong>das</strong>s alle<br />
Teilnehmer mit dem Resultat der Interaktion zufrieden sind): Nicht-Indigene<br />
verpacken den Anderen in romantischen Kategorien, die ihnen behaglich sind.<br />
Indianer hingegen können sowohl ihren Ruf als auch ihr Selbstbewusstsein verbessern,<br />
indem sie die Stereotypen, die ihnen aufgenötigt worden sind, verwenden,<br />
um auf Seiten der Weißen die Solidarität <strong>und</strong> Handlungsbereitschaft für die<br />
indigene Sache zu vergrößern (s. PRINS 2002).<br />
Die Möglichkeit der direkten Kommunikation, die <strong>das</strong> Online-Chatting bietet<br />
– im Gegensatz zu einseitigeren visuellen oder audiovisuellen Medien, wo<br />
solche Romantizismen wegen fehlender sofortiger Überprüfbarkeit leichter aufrechtzuerhalten<br />
sind – führt jedoch oftmals zu Irritationen bei romantisierenden<br />
Nicht-Indianern.<br />
Bei einer Gelegenheit beobachtete ich eine Konversation zwischen einer Schülerin<br />
<strong>und</strong> einer Indianerin. Die Schülerin recherchierte für ein Projekt über die<br />
Bedeutung des Wassers „in der indigenen Kultur“ – <strong>und</strong> war sichtlich enttäuscht,<br />
als die junge Indianerin am anderen Ende antwortete, <strong>das</strong>s sie es zum Kochen<br />
<strong>und</strong> Waschen verwenden würden. Auch weiteres Nachfragen brachte nicht die<br />
spirituelle oder mythologische oder zumindest irgendwie andere Sicht der Dinge,<br />
die die Interviewerin sich offenbar erhofft hatte.<br />
Solche irritierenden Erfahrungen sind im Sinne einer echten Verständigung<br />
zwischen den Kulturen gewiss nichts Schlechtes: So haben die Fragenden Gelegenheit<br />
zu bemerken, <strong>das</strong>s erstens Indianer nicht alle gleich <strong>und</strong> zweitens doch<br />
eher ganz normale Leute sind, <strong>und</strong> nicht die spirituellen, naturnahen ‚ganz Anderen‘,<br />
die sie sich vorgestellt hatten – ein Klischee, <strong>das</strong> unter anderem so langlebig<br />
ist, weil es nicht an alltäglichen Begegnungen mit den im Leben der meisten wei-<br />
31
32<br />
ßen Brasilianer sonst wenig präsenten Indianern überprüft werden kann. Als<br />
„persuasive device in their collective quest for biological and cultural survival“<br />
versagt der Primitivismus in solchen Fällen jedoch scheinbar (PRINS 2002, S. 58).<br />
Es muss noch beigefügt werden, <strong>das</strong>s die Mehrzahl der indianischen<br />
Chatbesucher nicht dieselben Personen sind, die gewohnheitsmäßig in den Außenbeziehungen<br />
der Dörfer die Drähte ziehen. Die PR-bewanderten Indianer, die<br />
regelmäßig in den Städten aus politischen <strong>und</strong> kommerziellen Gründen den Kontakt<br />
mit Weißen suchen, gehen in der Regel davon aus, <strong>das</strong>s es erfolgversprechender<br />
ist, auf Fragen anstatt banal alltäglicher Informationen romantisch verklärte<br />
Antworten zu liefern. Die chattenden Jugendlichen dagegen können in vielen<br />
Fällen nicht bieten, was ihre nichtindianischen Kommunikationspartner dort draußen<br />
in der von ihnen imaginierten Wildnis erwarten: Wilde, weise, edle, rein mythisch<br />
denkende <strong>und</strong> handelnde sowie medizinisch w<strong>und</strong>ertätige Menschen.<br />
Xukuru-Kariri<br />
Wie bereits erwähnt geschah der größte Teil der Materialsammlung für den dokumentarischen<br />
Teil der Website nicht aus eigener indigener Motivation heraus, im<br />
Gegensatz zu der indianischen Eigenregie, die Gerlic sich vorgestellt hatte, als er <strong>das</strong><br />
Projekt plante. Ich musste beständig Impulse geben, um zumindest ein Mindestmaß<br />
an indigenem Enthusiasmus für die Archivierung <strong>und</strong> Veröffentlichung ihrer Geschichte<br />
zu entfachen – <strong>und</strong> so handelte ich gegen meine eigene Überzeugung,<br />
<strong>das</strong>s es der wesentliche Aspekt des Projektes war, den Indianern die Selbstbestimmung<br />
zu überlassen (<strong>und</strong> nicht etwa, ihnen Selbstbestimmung aufzudrängen).<br />
Selten sind die Beiträge geblieben, in denen <strong>das</strong> offenk<strong>und</strong>ig „Indianische“ in<br />
den Mittelpunkt gestellt wurde. So gab es bis kurz vor meiner Abreise aus dem Dorf<br />
keinen Beitrag über den Toré, von dem ich eigentlich erwartet hätte, <strong>das</strong>s er selbstverständlich<br />
als ein sehr präsentables <strong>und</strong> typisches Element nordostbrasilianischer<br />
Indianerkultur an einer solchen Schnittstelle zwischen Dorf <strong>und</strong> Öffentlichkeit<br />
auftaucht: Wer zeigen möchte, <strong>das</strong>s er Indianer ist, tut <strong>das</strong> im Dorf <strong>und</strong> außerhalb<br />
am ehesten, indem er zeigt, <strong>das</strong>s er Toré zu tanzen <strong>und</strong> die entsprechenden Lieder<br />
zu singen weiß – so dachte ich <strong>und</strong> deutete beständig an, <strong>das</strong>s es doch schön<br />
wäre, noch etwas über den Toré ins Netz stellen zu können.<br />
Der Beitrag entstand letzten Endes nur, weil ich in einem aus der Sicht des<br />
Forschers schlecht zu rechtfertigenden, aber aus der des Projektmitarbeiters nachvollziehbaren<br />
Bestreben, ein schlüssiges <strong>und</strong> irgendwie auch pittoreskes Bild vom<br />
Indianischen zu erstellen, immer wieder davon sprach. Er kann hier in seiner<br />
vollen Länge wiedergegeben werden, ohne den Rahmen zu sprengen:<br />
Unser Toré<br />
Das hier [auf dem beigegebenen Foto, NC] ist unser toré, den wir<br />
immer singen, wenn wir uns treffen, um unsere Brüder zu erfreuen.<br />
Tatinan<br />
(THYDÊWÁ 2004, Beitrag „Nosso Toré“, Abteilung Xukuru-Kariri)<br />
Dieses Ergebnis ernüchterte den Projektmitarbeiter in gewisser Weise – der<br />
Ethnologe dagegen bemüht sich, diesen mangelnden indianischen Enthusias-
mus als Zeichen dafür zu deuten, <strong>das</strong>s er sich geirrt hat <strong>und</strong> der Toré aus indianischer<br />
Sicht doch nicht an jeder Stelle <strong>das</strong> Mittel der Wahl ist, um Indianität zu<br />
repräsentieren. 10<br />
In meiner Zeit bei den Xukuru-Kariri entstand ein Konflikt, indem es genau<br />
darum ging, wie man Indianer zu sein hat <strong>und</strong> wie nicht. Die Meinungen darüber<br />
gingen auseinander <strong>und</strong> waren unübersehbar interessengeleitet, da zwar Fragen<br />
nach Religion <strong>und</strong> Kultur im Vordergr<strong>und</strong> standen, aber machtpolitische Rivalitäten<br />
zwischen zwei Familiengruppen die Folie bildeten, vor der die Auseinandersetzung<br />
ausgetragen wurde. Aus einem Pool von besonders indianisch gedachten<br />
Kulturelementen wählten die Fraktionen <strong>und</strong> Akteure diejenigen aus, die ihnen<br />
jeweils geeignet schienen, um die Indianität der Gegenseite anzuzweifeln bzw.<br />
die eigene zu illustrieren. 11<br />
Eine der Lehrerinnen der Dorfschule hatte aus verschiedenen Gründen aufgehört,<br />
am Ouricuri-Ritual teilzunehmen <strong>und</strong> sich einer protestantischen Kirche<br />
angenähert. Das tat aus ihrer Sicht ihrer Identität als Indianerin keinen Abbruch,<br />
da sie weiterhin Toré tanzte <strong>und</strong> vor allem in ihrer Tätigkeit als Lehrerin am Fortdauern<br />
der indigenen Kultur arbeitete, wie sie in einem ihrer Beiträge zur Website<br />
zeigt, der geradezu programmatischen Charakter hat:<br />
Unsere Kultur ist alles für uns<br />
Mein Name ist Tânia, ich bin 35 Jahre alt <strong>und</strong> eine Xukuru-Kariri-Indianerin<br />
in der Aldeia Mata da Cafurna. Ich bin Lehrerin in diesem Dorf<br />
seit 15 Jahren. [...] Ich versuche, durch Gespräche, Textproduktion <strong>und</strong><br />
Spaziergänge in unserem Regenwald tief im Geist jedes Schülers eine<br />
Form zu finden, uns zu sensibilisieren für die Dinge, die wir tun können,<br />
damit uns die Natur immer erhalten bleiben wird. Und auf diese Weise,<br />
indem wir unsere Bräuche bewahren, werden unsere Traditionen weitergereicht,<br />
von Generation zu Generation, so lang Gott will. [...] Ich<br />
versuche sehr entschieden, die Bräuche des Katholizismus von denen<br />
der indigenen Kultur zu trennen. Es tut mir leid, wenn sie sagen, <strong>das</strong>s sie<br />
katholisch sind <strong>und</strong> Bilder anbeten. Aber ich hoffe von ganzem Herzen,<br />
<strong>das</strong>s diese neue Generation mit einem Bewusstsein ihrer Kultur leben<br />
wird <strong>und</strong> <strong>das</strong>s sie niemals so einen Eingriff erlaubt, wie er mit unseren<br />
Vorfahren geschehen ist. Wir müssen unsere Kultur respektieren, <strong>und</strong><br />
die aller Völker, damit die unsere immer mehr Respekt gewinnt. Wir<br />
müssen uns angesichts jeder Situation zu unserer Identität bekennen.<br />
Ich versuche, diese Selbstsicherheit an alle weiterzugeben, seien sie nun<br />
eine Autorität in der Dorfgemeinschaft oder nicht.[...].<br />
Tânia<br />
(THYDÊWÁ 2004, Eintrag „Nossa cultura é tudo para nós“, Abteilung<br />
Xukuru-Kariri)<br />
10. Auf der vor einiger Zeit reformierten <strong>und</strong> erweiterten Website ist allerdings inzwischen ein<br />
längerer Beitrag veröffentlicht worden, der unter dem Titel „Toré Xucuru Kariri“ die populärsten<br />
Toré-Gesänge dieser Gruppe kurz erläutert.<br />
11. Für ähnliche Beobachtungen bei den Canela im brasilianischen Maranhão <strong>und</strong> bei den<br />
Mayangna in Nicaragua s. KOWALSKI 2004 bzw. MARGGRAFF 2001.<br />
33
34<br />
Es handelt sich hier um einen Text, der offensichtlich von Mitgliedern der Dorfgemeinschaft<br />
mit anderen Augen gelesen wird als von anderen Besuchern der<br />
Website, <strong>und</strong> er funktioniert in beiden Lesarten: Zum einen als spitzzüngiger Beitrag<br />
zu einer dorfinternen Auseinandersetzung um <strong>das</strong> „richtige“ Indianer-Sein,<br />
von der die Außenwelt nichts weiß, zum anderen um ein selbstbewusstes <strong>und</strong><br />
modernes Protokoll indianischen Kampfgeistes angesichts eines langen <strong>und</strong> entbehrungsreichen<br />
Konfliktes zwischen Kolonisatoren <strong>und</strong> Kolonisierten.<br />
Mit ihrem Austritt aus dem Ouricuri stieß Tânia selbst im eigenen Haus eine<br />
Kontroverse an. Die politischen Gegner der Familie jedoch versuchten, im Dorfrat<br />
eine Art Verfügung zu erwirken, um sie mitsamt ihren Kindern aus dem Dorf<br />
verbannen zu können: Jeder richtige Indianer habe am Ouricuri teilzunehmen,<br />
die evangélicos 12 seien der Feind der indianischen Kultur, <strong>und</strong> den Feind dürfe<br />
man schon gar nicht in der Schule unterrichten lassen, wo er unweigerlich indianische<br />
Kinder dazu indoktriniere, zu weniger indianischen Kindern zu werden.<br />
In der Polemik innerhalb des Dorfes wird die Frage nach dem Indianer-Sein<br />
also anhand einer handvoll unterschiedlich gewichteter Eigenschaften ausgehandelt:<br />
Die Teilnahme am Ouricuri steht in der Regel an erster Stelle, dicht gefolgt<br />
vom Toré – beides Phänomene, die ich dem Bereich der Religion zurechnen<br />
würde, von denen mir allerdings von indianischer Seite oft <strong>und</strong> unaufgefordert<br />
versichert wurde, <strong>das</strong>s es sich nicht um Religion, sondern um Kultur handele;<br />
Religion sei etwas von Außen aufgezwungenes, Kultur dagegen sei coisa do povo. 13<br />
Weitere verwendete Insignien von Indianität sind Pfeife <strong>und</strong> Tabak, <strong>das</strong> Anfertigen<br />
von Kunsthandwerk <strong>und</strong> die politische Arbeit für die „indianische Sache“, die<br />
verschiedene Formen annehmen kann. Je nach Situation stellen verschiedene<br />
Akteure verschiedene Elemente von Indianität in den Vordergr<strong>und</strong>.<br />
Den Schwerpunkt der Materialien, die wir für Buch <strong>und</strong> Website sammeln sollten,<br />
legten die Xukuru-Kariri jedoch deutlich auf <strong>das</strong> Historische; so war es für sie<br />
zum Beispiel <strong>das</strong> selbstverständlich Naheliegende, Interviews mit den Ältesten durchzuführen.<br />
Es entstand eine Sammlung von Texten, die aus der Perspektive biographischer<br />
Erzählungen unterschiedliche Aspekte des Kampfes um Anerkennung <strong>und</strong><br />
der Landnahmen der Xukuru-Kariri darstellt <strong>und</strong> so vor allem den Anspruch der<br />
Gruppe auf eigenes Land <strong>und</strong> eigene Kultur untermauert; es geht um <strong>das</strong> generationsübergreifende<br />
Bekenntnis zur eigenen indianischen Identität sowie <strong>das</strong> Einfordern<br />
der Anerkennung des indianischen Andersseins auf Seiten der Nichtindianer. Ein<br />
gutes Beispiel für die sich hierbei wiederholenden Motive ist ein Text von Korã:<br />
Unser Leben gestern <strong>und</strong> heute<br />
Vor der Invasion unseres Landes gab es nur Menschen, die zu einer<br />
einzigen Rasse gehörten, aber zu verschiedenen Ethnien. Alle waren<br />
Indianer, aber mit verschiedenen Dialekten, jedoch mit nur einer gemeinsamen<br />
Herkunft. Durch die Invasion wurden wir auseinander gerissen,<br />
<strong>und</strong> wir mussten uns von unseren Ursprüngen entfernen. Weil<br />
12. Gemeint sind „Evangelikale“, protestantische Gruppen neupfingstlerischer Prägung.<br />
13. Eine Sache des Volkes. Diese Sicht der Dinge mag sich unter anderem daraus erklären, <strong>das</strong>s<br />
gerade jesuitische Missionare den Indianern nicht ihre Kultur austreiben wollten, wohl aber<br />
ihre heidnische Religion – wollte ein Brauch beibehalten werden, so hatte er Kultur zu sein.
wir in vorderster Front standen, waren wir im Nordosten die ersten,<br />
die massakriert wurden; es wurde uns verboten, unsere Muttersprache<br />
zu sprechen, denn wenn man uns hätte sprechen hören, hätte<br />
man uns getötet. Viele Indianer, die flohen, mussten mit Masken leben<br />
<strong>und</strong> Zeichen auf den Körpern benutzen, um mit den anderen Verwandten<br />
zu kommunizieren, Frauen wurden gezwungen, Kinder von<br />
Weißen zu haben, damit sie als Sklaven dienten.<br />
An die Vergangenheit denken ist nicht, was ich [hier] wollte. Vielmehr<br />
suchen wir die Kraft für unsere Gegenwart, indem wir unsere Kräfte<br />
vereinen, um die Zukunft eines Volkes zu planen, <strong>das</strong> nach Würde <strong>und</strong><br />
Respekt strebt. Wir sind fähig, eine Realität zu verändern, die bis heute<br />
gelebt wird. Wir wussten nicht, wie sie sich verändert hatte, denn wir<br />
hatten keine Lebensperspektive mehr. Die Dörfer wurden verseucht von<br />
einer Krankheit, die sich Individualismus nennt. Die Leute wussten, <strong>das</strong>s<br />
sie uns schwächen würden, indem sie <strong>das</strong> den Indianern beibrachten.<br />
Mit der Einführung dieses Projektes Indios Online suchen wir nach<br />
Stärkung zwischen unseren Völkern, übertragen spirituelle Energien<br />
<strong>und</strong> machen unsere Kulturen bekannt. Wir zeigen, was es heißt, Indianer<br />
zu sein, <strong>und</strong> verschaffen einem Volk mit anderen Bräuchen <strong>und</strong><br />
Traditionen Respekt. Wir zeigen damit auch, <strong>das</strong>s es noch nicht so<br />
weit ist, <strong>das</strong>s sie uns unsere Träume austreiben können vom Leben in<br />
Harmonie mit den f<strong>und</strong>amentalen Elementen unserer Mutter Erde, Liebe,<br />
Einigkeit, Respekt <strong>und</strong> Glauben.<br />
Nie soll man sich schämen, Indianer zu sein, denn Indianer zu sein ist<br />
ein Geschenk Gottes, eine Gabe der Natur, es zeigt der Menschheit,<br />
<strong>das</strong>s wir alle Kinder eines einzigen Gottvaters sind, <strong>und</strong> deshalb haben<br />
wir alle <strong>das</strong> Recht zu leben <strong>und</strong> glücklich zu sein, unabhängig von<br />
Rasse oder Farbe.<br />
Nhenety Korã, Aldeia Mata da Cafurna.<br />
(THYDÊWÁ 2004, Eintrag „Nossa vida ontem e hoje“, Abteilung<br />
Xukuru-Kariri; meine Interpunktion)<br />
Sehr deutlich wird trotz des versöhnlichen Tonfalls die Opposition zwischen<br />
der kollektivistischen, friedlichen indigenen Kultur <strong>und</strong> der individualistischen,<br />
respektlosen weißen. Der Respekt für die Mutter Erde steht für die spirituelle indianische<br />
Naturnähe. Die politische Emanzipation wird einer passiven Vergangenheit<br />
entgegensetzt: Früher hatten wir keine Ahnung <strong>und</strong> ließen alles mit uns machen,<br />
aber jetzt nehmen wir unser Leben selbst in die Hand.<br />
Indianer-Sein heißt hier, die Natur zu lieben <strong>und</strong> Traditionen zu haben, wobei<br />
nicht weiter darauf eingegangen wird, welche <strong>das</strong> sind, vor allem aber heißt es, sich<br />
zum Indianer-Sein zu bekennen <strong>und</strong> für die entsprechenden Rechte einzusetzen.<br />
Es lässt sich also beobachten, <strong>das</strong>s in der Darstellung des Dorfes im Internet<br />
eine andere Gewichtung der Kriterien erfolgt, als <strong>das</strong> im dörflichen Alltag der Fall<br />
ist: Ouricuri <strong>und</strong> Toré, die im dorfinternen Diskurs die wesentlichen Merkmale<br />
einer indianischen Lebensweise sind, kommen in den im Internet veröffentlichten<br />
Beiträgen nur am Rande vor.<br />
35
36<br />
Da ein wesentlicher Bestandteil des Ouricuri die Geheimhaltung seiner Inhalte<br />
gegenüber nichteingeweihten Außenseitern ist, leuchtet es jedoch ein, <strong>das</strong>s<br />
sich dieser Brauch in der Öffentlichkeit nicht gut eignet, um anschaulich Indianer<br />
zu sein. Ähnliches gilt für den Toré, der zwar als Vorführung beeindrucken kann,<br />
über den sich aber in Form von Texten jedenfalls auf indianischer Seite nicht viel<br />
reden lässt, da viele tiefere Bedeutungen des Rituals mit dem Komplex des Ouricuri<br />
verb<strong>und</strong>en sind <strong>und</strong> damit unter dieselben Geheimhaltungsregeln fallen.<br />
Pataxó-Hãhãhãe<br />
Trotz der Unstimmigkeiten zwischen den verschiedenen Gruppen innerhalb des<br />
Reservates sind die Pataxó-Hãhãhãe in ihrer politischen Mobilisierung deutlich weiter<br />
fortgeschritten als die Xukuru-Kariri <strong>und</strong> damit als Ethnie in der brasilianischen<br />
Öffentlichkeit wesentlich präsenter. In Palmeira dos Índios, der Stadt, die an <strong>das</strong><br />
Reservat der Xukuru-Kariri grenzt, wissen viele Stadtbewohner nicht einmal von der<br />
Existenz der in der Umgebung lebenden Indianer – <strong>das</strong> ist in Pau Brasil <strong>und</strong>enkbar.<br />
In den Interaktionen mit der Außenwelt geht es den Pataxó-Hãhãhãe vor allem<br />
darum, ein einheitliches Bild einer homogenen ethnischen Gemeinschaft zu<br />
projizieren; die Spannungen zwischen den Ethnien, von denen innerhalb des<br />
Reservates große Teile des Alltags bestimmt werden, werden nach Außen hin<br />
möglichst ausgeblendet: „Somos um povo só, de várias etnias“, 14 ist ein Satz, der in<br />
diesen Zusammenhängen oft fällt.<br />
Das vor allem von den politischen Eliten gelenkte Bestreben, eine einheitliche<br />
Front zu präsentieren, setzte sich auch in der Projektarbeit für Indios Online fort, allerdings<br />
weniger während meines Aufenthaltes im Dorf als später während des redaktionellen<br />
Prozesses in Zusammenarbeit mit Thydêwá, der die gesammelten Materialien<br />
für die Veröffentlichung im Buch der Pataxó-Hãhãhãe vorbereiten sollte.<br />
Während meiner Zeit im Reservat schlug man mir zwar Interviewpartner vor,<br />
ließ mir aber in der Bearbeitung der Texte <strong>und</strong> der Auswahl der Bilder in der Regel<br />
völlig freie Hand – nicht, weil man meine Fähigkeiten in dieser Hinsicht so schätzte,<br />
sondern viel eher, so schien es mir, aus Desinteresse. 15<br />
Die Art, mit der führende Mitglieder der verschiedenen Fraktionen mir entgegentraten,<br />
war sehr unterschiedlich.<br />
14. Wir sind ein einziges Volk, bestehend aus verschiedenen Ethnien.<br />
15. Andreas Kowalski interpretierte eine von ihm erlebte, in groben Zügen ähnliche Situation bei<br />
den maranhensischen Canela im Rückblick anders: So geschehe dort die kulturspezifische<br />
Aneignung von Neuerungen aus der Welt der Weißen durch die Indianer, wenn sie denn<br />
stattfindet, nicht in der humanitären Zusammenarbeit, sondern erst später, nach Abzug des<br />
Kooperanten. Will der Kooperant etwas an diesem Verfahren ändern, gibt man ihm Recht,<br />
lässt ihm mit der Phrase „Du bist derjenige, der es weiß“ <strong>das</strong> letzte Wort <strong>und</strong> macht daraufhin<br />
weiter wie zuvor. Aber: „‘Du bist derjenige, der es weiß’ bedeutete in einer solchen Situation<br />
eben kein Desinteresse an fremden (Entwicklungs-)Ideen oder eine machtbezogene Unterordnung,<br />
sondern <strong>das</strong> Zugeständnis an die Weißen, <strong>das</strong>s sie ihr eigenes Wissen besitzen <strong>und</strong><br />
damit besser als jeder Canela den Zugang zu Ressourcen finden, die außerhalb der Canela-<br />
Gemeinschaft, ihres Dorfes <strong>und</strong> Territoriums darauf warten, von ihnen angeeignet zu werden.“<br />
(KOWALSKI 2004, S. 217). Eine längerfristige Beobachtung des weiteren Projektverlaufes von<br />
Índios Online könnte womöglich zeigen, inwieweit Kowalskis Beobachtungen auf die Pataxó-<br />
Hãhãhãe übertragbar sind (Dank an Michael Kraus für den Hinweis).
Die Kaziken Gerson <strong>und</strong> Nailton, politisch die größten Feinde im Reservat, aber<br />
einander ähnlich in ihrem autoritären Führungsstil, trafen mich als volle Repräsentanten<br />
ihrer jeweiligen Gruppe. Jeder von ihnen ließ mich eine Ansprache<br />
aufnehmen <strong>und</strong> betrachtete damit den Beitrag der Kiriri-Sapuyá bzw. der<br />
Tupinambá als abgegolten. Beide stellten in ihren detailreichen Abhandlungen<br />
erwartungsgemäß die Geschichte <strong>und</strong> die Entbehrungen des Kampfes um Land<br />
<strong>und</strong> Anerkennung in den Mittelpunkt, nebst den führenden Rollen, die ihre jeweilige<br />
Gruppe in diesen Entwicklungen übernommen hat. Als in der Öffentlichkeitsarbeit<br />
bewanderte <strong>und</strong> international vortragsgeübte Aktivisten fiel es ihnen leicht,<br />
für mich entsprechende Rhetorik zu produzieren.<br />
Nach zehn Jahren haben die Kakaosammler, die Fazendeiros hier aus<br />
der Gegend, angefangen, unser Volk von hier zu vertreiben, besonders<br />
die Kiriri-Sapuyá. Sie haben sie hier rausgeschmissen, getötet... sie haben<br />
unsere Leute genauso gejagt, wie wir Wildtiere gejagt haben. [...]<br />
Mich als Kazike haben sie schon entführt... es waren 16 Pistoleiros, zwei<br />
Fazendeiros, sie haben mich entführt <strong>und</strong> mir gesagt, <strong>das</strong>s ich <strong>das</strong> Dorf<br />
verlassen soll. Sie haben mir Geld angeboten, sie haben mir eine Fazenda<br />
in einer Stadt weit weg von hier angeboten, im Staat Mato Grosso... [...].<br />
Damit ich hier aus der Region raus konnte, um mich um die Probleme<br />
der Gemeinschaft zu kümmern, bin ich sogar schon im Kofferraum<br />
eines Käfers gefahren, um nicht irgendwo auf der Straße zu sterben.<br />
Das war lustig... ich fuhr im Kofferraum mit, <strong>und</strong> als wir noch 30, 40<br />
Kilometer vom Busbahnhof entfernt waren, auf der Flucht vor den<br />
Pistoleiros, kamen da ein paar Polizisten <strong>und</strong> hielten uns an..... <strong>und</strong> ich<br />
im Kofferraum. Es hat mehr als eine halbe St<strong>und</strong>e gedauert, bis die<br />
Polizisten den Wagen haben weiterfahren lassen, <strong>und</strong> ich immer noch<br />
drin... Später bin ich dann aus dem Kofferraum raus <strong>und</strong> umgestiegen,<br />
ich war auf dem Weg nach Brasília.<br />
Ich bin hier schon raus im Kofferraum eines Käfers, ich bin hier schon<br />
raus in Laken eingewickelt, um durch Pau Brasil durchzukommen...<br />
heute nicht, heute ist es entspannter, ruhiger. Aber man hat mir schon<br />
viel nachgestellt. [...] Das ist die Situation, der Kampf, den wir durchmachen<br />
müssen.... von Reisen spät nachts zurückkommen, fast schon<br />
im Morgengrauen, dann mitten durch den Wald rennen aus Angst,<br />
<strong>das</strong>s uns ein Pistoleiro umbringt. [...] Für die Kiriri-Sapuyá war es zuviel,<br />
zuviel, zuviel. Aber wir sind ein starkes Volk, ein Volk, <strong>das</strong>s immer<br />
an der Spitze der Leute hier stand, <strong>das</strong> sich immer einsetzte im Kampf<br />
um unser Land, <strong>und</strong> Gott sei dank, wir sind auf dem Weg zu gewinnen.<br />
(Aus einem Interview mit Gerson Melo am 29/09/04).<br />
Hatte Gerson im Gespräch vorher nicht an Seitenhieben gegen seinen politischen<br />
Feind <strong>und</strong> Hauptkonkurrenten um die Autorität im Reservat, Nailton Muniz,<br />
gespart, wurden diese Spannungen ausgeblendet, sobald ich mit dem Einschalten<br />
des Aufnahmegerätes der Situation einen offiziellen Charakter verlieh. Das<br />
Interview mit Nailton verlief sehr ähnlich. Beiden Kaziken ging es darum, nach<br />
außen hin Geschlossenheit <strong>und</strong> Einigkeit der Pataxó-Hãhãhãe zu demonstrieren.<br />
37
38<br />
Je nach Grad der Involvierung in die Öffentlichkeitsarbeit jedoch zeigten die<br />
Individuen <strong>und</strong> Gruppen, mit denen ich im Reservat zu tun hatte, andere Umgangsweisen<br />
mit der von mir gebotenen Selbstdarstellungsmöglichkeit. Eine weniger<br />
an den Umgang mit der Öffentlichkeit gewöhnte indianische Dame hielt sich<br />
in einem Interview nicht an die Konvention, im Kontakt mit der Außenwelt innere<br />
Spannungen im Reservat auszuklammern:<br />
Paulo: Was ist Ihrer Meinung nach <strong>das</strong> schwerwiegendste Problem<br />
hier im Gebiet?<br />
Dona Maria: Mein Sohn, ich glaube, es ist die Uneinigkeit, die die Leute<br />
hier haben, <strong>das</strong> ist es. Das Volk hat keinen Zusammenhalt. Wenn alle<br />
Indianer zusammen wären, um sagen zu können, wir sind alle zusammen...<br />
Paulo: Und da ist die Uneinigkeit der Indianer – es sind drei Kaziken<br />
im Dorf...<br />
Dona Maria: Ja.<br />
Paulo: Denn früher war es nur einer.<br />
Dona Maria: So ist es, <strong>das</strong> sag ich ja. Es ist die Uneinigkeit. Drei Kaziken!<br />
Drei Kaziken in einem Reservat, wo gibt es denn so was? In einem Reservat<br />
braucht es nur einen Kaziken, um sich um alles zu kümmern. Drei<br />
Kaziken in einem Reservat! Am Anfang gab es keinen Kaziken, es gab<br />
keine Anführer <strong>und</strong> nichts, <strong>und</strong> alle kamen zurecht. So taugt <strong>das</strong> nichts,<br />
so kommen wir nirgendwohin! Früher war <strong>das</strong> Volk einiger als heute.<br />
[...] Und heute drei Kaziken, <strong>und</strong> keiner von denen erreicht irgendetwas.<br />
Gerson kommt nicht hierher, Ci kommt nicht hierher, <strong>und</strong> Nailtons<br />
Gesicht sieht hier auch keiner. Kein Mensch sieht diese Kaziken. Was<br />
soll <strong>das</strong> für eine Einigkeit sein?<br />
(Aus einem Interview, <strong>das</strong> Paulo Titiá <strong>und</strong> ich mit Maria de Jesús do<br />
Rosário am 14/09/04 durchgeführt haben, zu finden auch in THYDÊWÁ<br />
2004, Abteilung Pataxó-Hãhãhãe, Eintrag „A história de Dona Maria“)<br />
In dieser Version ist der Text auf der Website zu finden, auf der Veröffentlichungen<br />
nur geringer bis keiner redaktionellen Kontrolle unterworfen sind, bzw. im<br />
Falle der Pataxó-Hãhãhãe lediglich meiner, da ich derjenige war, dem die<br />
Digitalisierung <strong>und</strong> Übertragung der Interviews ins Internet überlassen wurde,<br />
<strong>und</strong> ich nahm so wenig Veränderungen wie möglich an den Texten vor.<br />
In der redaktionell nachbearbeiteten Fassung des Gesprächs, die Sebastian<br />
Gerlic später gemeinsam mit Maura Titiá erstellte, um im Buch der Pataxó-Hãhãhãe<br />
zu erscheinen, ist die Stelle in eine andere Richtung gewendet worden:<br />
Paulo: Was ist Ihrer Meinung nach <strong>das</strong> schwerwiegendste Problem<br />
hier im Gebiet?<br />
Dona Maria: Mein Sohn, weil es viele Weiße in unserer Mitte gibt,<br />
wird unser indianisches Volk immer uneiniger.<br />
(Aus dem Manuskript für <strong>das</strong> noch unveröffentlichte Buch der Pataxó-<br />
Hãhãhãe)<br />
Die beiden PR-bewanderten Redakteure, die eine eine erfahrene indianische<br />
Aktivistin, der andere ein ehemaliger Werbefachmann, rücken also hier
<strong>das</strong> Feindbild zurecht, damit sich der Beitrag von Dona Maria besser in <strong>das</strong> Bild<br />
von der von außen bedrohten Gemeinschaft indianischer Brüder <strong>und</strong> Schwestern<br />
einfügt, <strong>das</strong> die Eliten der Pataxó-Hãhãhãe in ihren Außenbeziehungen<br />
von sich zu zeichnen bemüht sind.<br />
Diese Unterschiedlichkeit der Ansätze zur Selbstdarstellung zwischen politisierten<br />
Eliten <strong>und</strong> den „einfachen Leuten“ möchte ich anhand meiner Begegnungen<br />
mit den Camacã <strong>und</strong> den Pataxó, zwei weiteren Subgruppen im Reservat,<br />
weiter zu veranschaulichen versuchen.<br />
Die Camacã sind Randfiguren in der politischen Szene des Dorfes; wenn Kazike<br />
Nailton zum Beispiel zur Verdeutlichung der ethnischen Vielfalt im Reservat die<br />
verschiedenen Gruppen aufzählt, neigt er dazu, die Camacã zu vergessen oder zu<br />
unterschlagen. Der 58-jährige Romildo, einer ihrer Anführer, ergriff die Initiative,<br />
sich mit mir in Verbindung zu setzen, um genau diesem Missstand entgegenzuwirken<br />
<strong>und</strong> an den etablierten Autoritäten vorbei die Stimme der Camacã in der<br />
Außenwelt bzw. mir hörbar zu machen. Er versammelte die Generation seiner<br />
Eltern, die mir von ihren Entbehrungen in der Vergangenheit <strong>und</strong> ihren Hoffnungen<br />
für die Zukunft erzählten – der Kampf gegen die Großgr<strong>und</strong>besitzer, die Angst<br />
davor, jederzeit wieder vom neu besetzten Land mit Gewalt vertrieben werden zu<br />
können, wie es bereits mehrmals geschehen war, <strong>und</strong> der Wunsch, die weit reichenden<br />
Kenntnisse über Heilpflanzen im Projekt eines groß angelegten Kräutergartens<br />
zur Erwirtschaftung eines Einkommens einzusetzen.<br />
Marinho: Mit unseren ältesten Vorfahren ist es Folgendes: Ihre Kultur,<br />
soweit ich <strong>das</strong> verstanden habe, hat mit Ackerbau zu tun. Wir<br />
pflanzten den Maniok, den Mais, die Bohnen <strong>und</strong> andere wichtige Sachen.<br />
Den Inhame, die Kartoffel <strong>und</strong> noch dies <strong>und</strong> <strong>das</strong>. Und was sie<br />
als Waffe benutzten war der Bogen, es gab Pfeil <strong>und</strong> Bogen. Diesen Teil<br />
machen wir heute noch, wir benutzen ihn nicht, aber wir stellen ihn<br />
her. Und außerdem war noch Folgendes: Wir hatten ein paar Wurzeln,<br />
die wir benutzten, um Medizin zu machen. Sie dort versteht ein<br />
bisschen von dieser Angelegenheit, von der Medizin.<br />
Elisinha: Früher gab es hier keinen Arzt, es gab überhaupt keine<br />
ges<strong>und</strong>heitliche Versorgung. Wenn einer krank wurde, behandelten wir<br />
uns mit Kräutern aus unserem Wald. Und heute kämpfen wir ständig,<br />
arbeiten wir ständig, ich hatte schon mit der Arbeit angefangen, habe sie<br />
wieder verloren... ich habe keine Mittel gef<strong>und</strong>en, um die Arbeit fortzusetzen,<br />
<strong>und</strong> die Leute kommen immer zu mir, um mich zu bitten, <strong>das</strong>s ich<br />
weitermache, aber ich habe nicht die Mittel zum Weitermachen. Und wir<br />
haben immer viele Leute hier mit Medizinen versorgt, diese Leute da sind<br />
der Beweis, vielen hier hat die Medizin, die ich mache, schon geholfen.<br />
Heute sind wir schwach. Heute wollen wir arbeiten, aber wir haben nicht<br />
die Mittel, um arbeiten zu können. Wir haben es schon zweimal versucht,<br />
oder? Zu sechs Frauen haben wir gearbeitet, ohne jede Unterstützung,<br />
zur Unterstützung hatten wir nur unseren Mut. Aber wir haben keine<br />
Hilfe gef<strong>und</strong>en, dann haben wir aufgehört. Jetzt wollen wir wieder weitermachen,<br />
aber ich weiß nicht, ob wir weitermachen können.<br />
39
40<br />
Wir machen Sirup, wir machen Flaschenmedizin, wir machen Bäder,<br />
gegen Bronchitis, gegen Grippe, gegen Fieber, gegen Schmerzen, Massagen,<br />
Salben, Tabletten gegen Würmer, <strong>das</strong> alles machen wir immer.<br />
Medizin gegen Krätze.... machen wir alles. Wir wollen diesen Garten<br />
anlegen, aber wir haben keine Mittel. Es gibt nicht einmal Mittel, um<br />
den Zaun zu kaufen oder die Planen...<br />
(Aus einem Interview, <strong>das</strong> Romildo <strong>und</strong> ich mit den von ihm für diesen<br />
Anlass versammelten Camacã am 26/09/04 durchführten. Online<br />
in THYDÊWÁ 2004, Abteilung Pataxó-Hãhãhãe, Eintrag “Nós<br />
queremos trabalhar”)<br />
Der Kulturbegriff, der in diesem <strong>und</strong> anderen Gesprächen 16 mit den Camacã<br />
hervortritt, ist nicht der instrumentalisierte, objektivierte, der nach Sahlins (1997,<br />
S. 123-46) <strong>und</strong> Appadurai (1996, S. 15) bezeichnend für kulturelle Bewegungen in<br />
einer globalisierten Welt ist.<br />
Den Kulturalismus als Strategie zur Mobilisierung kulturellen Materials für politische<br />
Zwecke haben die Camacã noch nicht verinnerlicht, von der Mystifizierung<br />
<strong>und</strong> Romantisierung indigener Kultur ist in ihren Beiträgen keine Spur zu finden.<br />
Sie stellen vielmehr ihren Fleiß <strong>und</strong> ihre arbeitsame Natur in den Mittelpunkt <strong>und</strong><br />
damit dem Klischee des faulen Indianers entgegen, um um Unterstützung für ihre<br />
Projekte zu werben. In der Beantwortung der von außen gestellten Frage, was es<br />
denn bedeute, Indianer zu sein, haben sie, anders als die politischen Eliten des<br />
Reservates, wenig Routine; für sich selbst stellen sie die Frage in dieser Form offenbar<br />
nicht. So sind auch die Fotos, die sie mich von ihnen zu machen beauftragen,<br />
vor allem solche, die sie bei der Arbeit auf dem Feld zeigen, frei von klassischen<br />
Insignien von Indianität, wie etwa Federschmuck <strong>und</strong> Kunsthandwerk.<br />
Die Pataxó traten mir in vergleichbarer Weise als interessierte Gruppe entgegen,<br />
die nicht nur aus Fre<strong>und</strong>lichkeit mit mir kooperierte, sondern sich tatsächlich etwas<br />
versprach von meiner Anwesenheit. Der Ablauf war sehr ähnlich wie im Fall der<br />
Camacã: An einem festen Termin versammelte sich die Gruppe, um mir nach vorheriger<br />
interner Absprache zu erzählen <strong>und</strong> zu zeigen, was sie von sich veröffentlicht<br />
sehen wollte. Dies taten sie allerdings auf einer eigens für diesen Zweck gerodeten<br />
Lichtung im Wald, alle erschienen bemalt <strong>und</strong> geschmückt, zur Eröffnung des Treffens<br />
gab es einen Toré, <strong>und</strong> für die Verköstigung der Gäste wurde ein traditioneller Fisch in<br />
Bananenblättern über dem Feuer gegrillt – alle Zeichen sagten: Wir sind Indianer.<br />
Viele der in diesem Rahmen entstandenen Fotos eignen sich ohne weiteres,<br />
den Betrachter glauben zu machen, er habe es hier mit unverdorbenen ‚edlen<br />
Wilden‘ zu tun, entsprungen der romantischsten Vorstellungskraft.<br />
Für die Organisation des Treffens war Marilene verantwortlich, Anführerin der<br />
Pataxó, eine der wenigen weiblichen Kaziken des Landes <strong>und</strong> wie Nailton <strong>und</strong><br />
Gerson eine Person des öffentlichen Lebens außerhalb des Reservates <strong>und</strong> damit<br />
qualifiziert, über die Erwartungen der Außenwelt an richtige Indianer Bescheid zu<br />
wissen. Allerdings wäre es eine zu kurze Sicht der Dinge, den von den Pataxó für<br />
dieses Treffen betriebenen Aufwand allein damit zu begründen, <strong>das</strong>s sie vor der<br />
16. Siehe auch THYDÊWÁ 2004, Abteilung Pataxó-Hãhãhãe, Beitrag „Ao léu da sorte“.
asilianischen Nationalgesellschaft ein ordentliches Bild abgeben wollten – mit<br />
der Abschlussrede Marilenes, nachdem alle Interviews <strong>und</strong> Fotos gemacht <strong>und</strong><br />
ein weiterer Toré getanzt worden war, wurde klar, <strong>das</strong>s die Kazikin die Gelegenheit<br />
meiner Anwesenheit noch für einen weiteren Zweck nutzte: Sie verband den<br />
Dank an mich mit einer Aufforderung an ihre Leute, diesem schönen Tag weitere<br />
ähnliche folgen zu lassen, vielleicht jeden Sonntag – es ging darum, ein<br />
gemeinschaftsstiftendes Ritual wieder zu beleben oder neu zu erfinden. Marilene<br />
wollte nicht nur mir <strong>und</strong> durch mich dem Rest der Welt zeigen, wie richtige Indianer<br />
auszusehen haben, sondern auch den Pataxó, denen es in ihren Augen offenbar<br />
an gemeinschaftlicher traditioneller kultureller Praxis fehlte.<br />
Schlüsse<br />
Ich halte <strong>das</strong> hier präsentierte Material für ausreichend, den Leser zumindest<br />
skeptisch zu machen gegenüber zu einfachen Ansätzen zur Interpretation indigener<br />
Medienprodukte; ich möchte es als ein Argument für die Notwendigkeit multilokaler<br />
Ethnographie in diesem Feld verstanden wissen. Die Heterogenität <strong>und</strong><br />
Multivokalität des Prozesses, der mit der immer noch ausstehenden Veröffentlichung<br />
der Broschüren der Xukuru-Kariri <strong>und</strong> Pataxó-Hãhãhãe seinen Abschluss<br />
finden wird, sollte klar geworden sein.<br />
Am Ende stehen zwei Produkte, die nur scheinbar einstimmige, scheinbar „rein“<br />
indianische Inhalte dokumentieren <strong>und</strong> präsentieren: Zwei kleine, homogen erscheinende<br />
Oberflächenausschnitte über durch <strong>und</strong> durch heterogenen <strong>und</strong><br />
stets dynamisch in Bewegung befindlichen Kulturen. Damit sollte auch deutlich<br />
geworden sein, wie viel Vorsicht geboten ist bei der Verwendung indigener Medienprodukte<br />
als ethnographische Quellen: Ohne Einblick in den komplexen<br />
Produktionsprozess einer solchen Medialisierung lassen sich nur wenige Aussagen<br />
machen über die Beziehungen zwischen dem im Medium transportierten Bild<br />
<strong>und</strong> dem in der Realität stattfindenden indigenen Alltag. Es reicht nicht, sich Bilder<br />
<strong>und</strong> Texte im Internet anzusehen oder mit den Indianern im Chat zu plaudern;<br />
eine Beobachtung vor Ort lässt andere <strong>und</strong> aufschlussreichere Blicke auf die in<br />
den Medien stattfindenden Interaktionen zu.<br />
Dass eine wachsende mediale Präsenz indigener Gruppen auch im Internet zu<br />
verzeichnen ist, zeigt zum Beispiel eine schon 1998 erschienene Ausgabe von<br />
Cultural Survival Quarterly mit dem Titel The Internet and Indigenous Groups<br />
(CULTURAL SURVIVAL INC. 2003), die in einigen kurzen Fallbeispielen erfolgreiche<br />
indigene Aneignungen von Internettechnologien vorstellt. Tatsächlich ging<br />
die erste indianische Website, die der Oneida Indian Nation in New York, schon<br />
1994 ans Netz – also noch bevor weniger weltgewandte Organe wie zum Beispiel<br />
<strong>das</strong> Weiße Haus ihren Auftritt im Internet zuwege brachten (vgl. PRINS 2002, S. 71;<br />
ONEIDA INDIAN NATION 2000).<br />
Trotz dieses Trends gibt es bis heute nur sehr wenige ethnologische Arbeiten,<br />
die sich mit indigenen Gruppenidentitäten oder Fragen der Ethnizität im Internet<br />
beschäftigen. Von diesen wiederum betrachten viele nur die virtuellen, <strong>das</strong> heißt,<br />
im Internet stattfindenden Bestandteile des Prozesses.<br />
Allerdings ist man sich inzwischen einig, <strong>das</strong>s der Cyberspace nicht die von<br />
41
42<br />
der herkömmlichen Realität losgelöste, völlig eigene Welt ist, über die man anfangs<br />
fantasiert hatte: Der Gebrauch des Mediums Internet findet nicht unabhängig<br />
von soziokulturellen <strong>und</strong> individuellen Bedingtheiten der Lebenswelten<br />
der Benutzer statt; es existieren mindestens so viele Kontinuitäten wie Brüche<br />
zwischen online <strong>und</strong> offline geschehendem Alltag (vgl. u. a. ZURAWSKI 2000,<br />
MILLER/SLATER 2000, WILSON/PETERSON 2002). Dementsprechend sind in<br />
medienanthropologischen Zusammenhängen immer wieder Forderungen nach<br />
einem dieser Situation angemessenen multilokalen ethnographischen Ansatz für<br />
internetbezogene Forschungen laut geworden; zur Gänze durchgesetzt allerdings<br />
haben meines Wissens diese Erwägungen bisher nur Miller/Slater (2000) in ihrer<br />
hervorragenden Studie über Verwendungen des Internet auf Trinidad. In meiner<br />
Bearbeitung von Índios Online habe ich versucht, einer ähnlichen Herangehensweise<br />
zu folgen, wenn auch wegen der zeitlichen, finanziellen <strong>und</strong> räumlichen<br />
Beschränkungen meiner Forschung in wesentlich kleinerem Maßstab.<br />
Die Demonstration der Sinnhaftigkeit der multilokalen Vorgehensweise mag<br />
als eines der Hauptergebnisse dieses Textes stehen bleiben. Auf dem Weg dorthin,<br />
so denke ich, sollte dem Leser aber auch die eine oder andere weitere interessante<br />
Beobachtung möglich gewesen sein:<br />
Eine indigene Aneignung der Medientechnologie für repräsentative <strong>und</strong> politische<br />
Zwecke hat in keinem der beiden Reservate stattgef<strong>und</strong>en, die ich besucht<br />
habe, noch meines Wissens in einer der anderen teilnehmenden Gruppen – ganz<br />
anders, zum Beispiel, als im berühmten Fall der Kayapó, bei denen Videotechnologie<br />
schnell <strong>und</strong> auf kreative Weise in die indigene Kultur integriert wurde<br />
(vgl. TURNER 2002).<br />
Zwar nahmen einige Indianer der Xukuru-Kariri <strong>und</strong> Pataxó-Hãhãhãe<br />
selbstbewusst Einfluss auf die entstehenden Bilder für den dokumentarischen Teil<br />
der Website, der tatsächliche Vorgang der Medialisierung (Fotografie, Aufnahme,<br />
Verschriftlichung, Übertragung ins Internet) wurde allerdings meistens mir überlassen.<br />
Vor allem bei den Xukuru-Kariri war zu beobachten, <strong>das</strong>s dorfintern in der<br />
Aushandlung von Indianität andere Kriterien zur Anwendung gebracht wurden<br />
als in der Selbstdarstellung für Website <strong>und</strong> Buch.<br />
Der Höhepunkt indianischer Eigenverantwortlichkeit in der Zusammenarbeit<br />
mit der Thydêwá wurde nicht, wie von der NRO erhofft, durch die Einführung der<br />
neuen Medientechnologie erreicht. Meine Anwesenheit in den Reservaten war<br />
im ursprünglichen Projektplan nicht vorgesehen gewesen; ohne sie allerdings<br />
wäre mit großer Wahrscheinlichkeit kein Material für Website <strong>und</strong> Bücher gesammelt,<br />
die Technologie also nicht für die politische <strong>und</strong> kulturelle Aktivität genutzt<br />
worden, die Thydêwá sich ausgemalt hatte.<br />
Der Bereich der Many-to-Many-Kommunikation auf der Website, <strong>das</strong><br />
Chatsystem also, scheint indigenen Bedürfnissen allerdings eher entgegenzukommen,<br />
<strong>und</strong> es trägt mit Sicherheit zur Verstärkung interethnischer Kommunikations-<br />
<strong>und</strong> Organisationsstrukturen bei. Im Chatroom ist zu beobachten, wie traditionelle<br />
Formen der Soziabilität, <strong>das</strong> heißt, Formen der Soziabilität, die schon<br />
vor der Ankunft des Internet Gang <strong>und</strong> Gäbe waren, fortgesetzt <strong>und</strong> intensiviert<br />
werden. Um diese Interaktionen zu begünstigen, werden technische Beschränkungen<br />
des Chatsystems kreativ umgangen. Begegnungen mit nichtindigenen
Besuchern im Chat führen zu mehr Irritationen, als es in weniger interaktiven<br />
Medialisierungen von Indigenität der Fall ist; anders als in der „professionellen“<br />
indigenen Öffentlichkeitsarbeit werden Klischees öfter dekonstruiert als zur<br />
Prestigevergrößerung eingesetzt, sei es willentlich oder nicht, <strong>und</strong> die romantischen<br />
Erwartungen des nichtindigenen Chatbesuchers werden enttäuscht.<br />
In ihrer öffentlichen Wahrnehmung bleiben Índios Online <strong>und</strong> Índios na Visão<br />
dos Índios vorbildhafte <strong>und</strong> einzigartige Projekte – <strong>und</strong> nicht zuletzt Aufsehen erregende.<br />
Mit verschiedenen nationalen Auszeichnungen, einem Fördervertrag des<br />
Kulturministeriums <strong>und</strong> der lobenden Aufmerksamkeit der UNESCO bedacht, darf<br />
man die Arbeit von Thydêwá durchaus als erfolgreich bezeichnen. Betrachtet<br />
man, wie es <strong>das</strong> Kulturministerium <strong>und</strong> auch die UNESCO bisher getan haben, die<br />
Endprodukte – die Bücher <strong>und</strong> die Internetpräsenz der Projekte – bleibt der von<br />
Gerlic so genannte „romantische Diskurs vom indigenen Protagonisten“ ein größtenteils<br />
glaubwürdiger.<br />
In dieser Hinsicht hat meine Arbeit zwangsläufig einen entlarvenden Charakter,<br />
der mir etwas unbehaglich ist. Zwar funktionieren die Projekte weniger als<br />
indianische Selbstläufer als von Thydêwá gewünscht, <strong>und</strong> sie funktionieren auch<br />
anders, als Thydêwá potenzielle Sponsoren glauben lässt (was im weiten Feld der<br />
nichtkommerziellen Entwicklungsorganisationen gewiss kein Einzelfall ist). Ihre<br />
Originalität möchte ich ihnen deshalb nicht in Abrede stellen, noch ihr Potential<br />
für eine zukünftige Stärkung indianischer Positionen gegenüber Problemen interner<br />
Organisation <strong>und</strong> Teilnahme am Weltgeschehen – Probleme, deren Lösung<br />
oder zumindest Verkleinerung tatsächlich durch Vermittlung der Kenntnisse<br />
<strong>und</strong> Zugangsvoraussetzungen für die Verwendung eines weit reichenden<br />
Kommunikationsnetzwerkes erreicht werden könnte.<br />
Ich halte es allerdings für nötig, die Planung der Projekte noch stärker unter<br />
indianischer Beteiligung durchzuführen <strong>und</strong> damit an indianischen Bedürfnissen<br />
auszurichten – der von Thydêwá vorgegebene, recht unflexible Rahmen von Índios<br />
Online trifft in sieben verschiedenen Reservaten auf sieben verschiedene Situationen<br />
<strong>und</strong> kann nicht in jeder Lage gleich gut funktionieren. Wie diese bessere<br />
Anpassung an oft schwierig einzukreisende indianische Bedürfnisse aussehen<br />
könnte, wird die Zukunft oder ein anderer Essay zeigen müssen. Jedenfalls spricht<br />
nicht zuletzt der große Respekt, den Thydêwá sich in der kurzen Zeit ihres Bestehens<br />
unter den mit ihr zusammenarbeitenden indianischen Gruppen erworben<br />
hat, dafür, <strong>das</strong>s ihre Projekte so fehlgeplant, nutzlos <strong>und</strong> an indianischen Bedürfnissen<br />
vorbei nicht gewesen sein können.<br />
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Nico Czaja, M. A., Jahrgang 1978, hat in Marburg <strong>und</strong> Recife Ethnologie studiert. Für<br />
seine Magisterarbeit forschte <strong>und</strong> arbeitete er 2004 in dem Entwicklungsprojekt „Indios Online“<br />
der bahianischen Nichtregierungsorganisation Thydêwá. 2006 war er für <strong>das</strong> GTZ-Tropenwaldschutzprojekt<br />
PPTAL in Brasília tätig <strong>und</strong> lebt heute in Hamburg.
A Junesche been ermi uramme:<br />
a versão fílmica da Verdadeira História<br />
dos selvagens, nus e ferozes devoradores<br />
de homens como ‚retupização‘<br />
do encontro europeu-brasileiro<br />
Wolf Lustig<br />
Mainz<br />
Resümee: 500 Jahre nach der Europäischen Entdeckung Brasiliens<br />
wurde die 1557 erstmals veröffentlichte Chronik, in der<br />
Hans Staden über seine Erlebnisse bei einem Tupinambá-<br />
Stamm an der brasilianischen Küste berichtet, in Brasilien<br />
neu verfilmt. Der Beitrag untersucht die Übertragung von<br />
Inhalts- <strong>und</strong> Ausdrucksformen des Buches ins filmische<br />
Medium. Dabei wird insbesondere hervorgehoben, <strong>das</strong>s<br />
die Umsetzung als ‚brasilianisierende‘ Wieder-Aneignung<br />
des historisch-ethnographischen Stoffes erfolgt. Sie reiht<br />
sich in eine im Kontext des Modernismo aufkommende Tradition<br />
der kulturellen Anthropophagie ein, für welche eine<br />
stilisierte Konzeption der indigenen Tupi-Kultur <strong>und</strong> -Sprache<br />
eine beachtliche symbolische Bedeutung gewinnt.<br />
Abstract: 500 years after the European conquest of Brazil Luiz Alberto<br />
Pereira presents a new cinematographic adaptation of<br />
Hans Staden’s chronicle, first published in Marburg in 1557,<br />
in which the German soldier tells his adventures among<br />
the cannibal Tupinambá-Indians at the Brazilian coast. The<br />
article investigates how certain structures of content and<br />
expression are transformed into the new medium, emphasizing<br />
the ‚re-brazilization‘ of the historical and ethnographic<br />
information transported by the original. This attitude<br />
can be situated in the context of cultural anthropophagy,<br />
which has its roots in Brazilian Modernismo, traditionally<br />
giving a considerable symbolic importance to an idealized<br />
image of ancient Tupi language and culture.<br />
Ao findar o ano de 1999, justo a tempo para ser mais uma comemoração do<br />
quinto centenário do descobrimento do Brasil, chegou às telas a película Hans<br />
Staden, baseada na crônica (publicada por primeira vez em Marburgo em 1557)<br />
daquele mercenário alemão em serviço espanhol que entre 1547 e 1555 realizou<br />
duas viagens ao Brasil, em cuja seg<strong>und</strong>a acabou passando mais de nove meses<br />
45
46<br />
como prisioneiro dos „selvagens, nus e ferozes devoradores de homens“, integrando-se<br />
desta forma a uma tribo tupi-guarani assentada na zona de Ubatuba, ao<br />
sul do atual Rio de Janeiro.<br />
Com este projeto e a sua realização, o cineasta Luiz Alberto Pereira criou – aliás<br />
com apoio financeiro alemão e português, assim como de várias entidades culturais<br />
do Brasil – uma extraordinária adaptação fílmica de um documento<br />
historiográfico da época dos descobrimentos. Essa é pelo menos a primeira impressão,<br />
também em vista <strong>das</strong> críticas geralmente positivas que surgiram ao redor<br />
do lançamento da obra.<br />
Há duas particularidades que chamam a atenção tanto do filólogo como do<br />
cinéfilo comum, e elas formarão o ponto de partida desta análise: a primeira é o<br />
alto grau de concordância com o texto de Staden – tanto em relação da histoire<br />
como do discours – e a seg<strong>und</strong>a é a óbvia pretensão de autenticidade que apresentam<br />
os diálogos, embora já não se trate de fidelidade ao texto original, mas ao<br />
que foi a suposta realidade histórica. É que os índios se comunicam em tupi antigo,<br />
e o próprio Staden fala – seg<strong>und</strong>o qual for o seu interlocutor – igualmente em<br />
tupi ou em português, ou em alemão moderno quando desempenha o papel de<br />
narrador autobiográfico. Uma terceira questão que merece discussão e resposta<br />
é: por que precisamente a crônica antropófaga deste conquistador alemão, chegou<br />
a ser matéria para um filme prof<strong>und</strong>amente brasileiro, ao qual não faltam<br />
traços de epopéia nacional?<br />
Contudo, nem sequer se trata – como faz crer a comercialização da obra – da<br />
primeira, mas sim da seg<strong>und</strong>a adaptação da História de Staden. Já em 1971, Nelson<br />
Pereira dos Santos produziu uma primeira versão com o título Como era<br />
gostoso o meu francês (How tasty was my little frenchman). É verdade que responde<br />
a um contexto bem diferente, mas é difícil interpretar a seg<strong>und</strong>a versão sem recorrer<br />
a esta primeira.<br />
1. A Verdadeira História de Staden e sua recepção<br />
1.1. Contexto historiográfico: as crônicas da área tupi-guaranítica<br />
A crônica de Hans Staden insere-se num grupo de relatos que se propõem um<br />
registro <strong>das</strong> realidades geográficas, naturais e etnográficas descobertas nas costas<br />
do Brasil e que foram publicados a prazo relativamente curto, embora não por<br />
portugueses nem espanhóis, mas por alemães e franceses:<br />
1557 Hans Staden Warhaftige Historia der wilden, nacketen, grimmigen<br />
Menschfresser-Leuthen<br />
1558 André Thévet Les singularitez de la France Antarctique, autrement nommée<br />
Amérique: et de plusieurs terres et isles decouvertes de nostre temps<br />
1567 Ulrich Schmidel Wahrhafftige Historien einer w<strong>und</strong>erbaren Schiffart<br />
1578 Jean de Léry Histoire d’un voyage faict en la terre du Brésil, autrement<br />
dite Amérique
Estas quatro obras constituem também os primeiros e mais importantes documentos<br />
sobre a etnografia dos povos tupi-guaraníticos, cuja língua e cultura marcam<br />
até a atualidade o Brasil e os países do Rio da Prata. Para caracterizar resumidamente<br />
o livro de Staden só recorreremos aqui a uma apresentação de Franz<br />
Obermeier, um dos melhores conhecedores da obra:<br />
O relato de Hans Staden é o primeiro livro publicado na Europa que<br />
se dedica exclusivamente ao Brasil. Hans Staden, (que nasceu em 1525<br />
e morreu depois de 1558), natural de uma pequena cidade situada no<br />
estado alemão de Hessen, Homberg an der Efze, fez duas viagens ao<br />
Brasil entre 1548 e 1555. Durante a seg<strong>und</strong>a, em 1554, foi preso<br />
pelos índios Tupinambás perto de São Vicente e, seg<strong>und</strong>o seu próprio<br />
relato, viveu nove meses e meio com aquela tribo antropófaga, que se<br />
tinha aliado com os franceses e estava em pé de guerra com os portugueses.<br />
Graças a dotes xamânicos que lhe atribuem os índios, Staden<br />
consegue escapar aos rituais da execução e do banquete, e pôde voltar<br />
num navio francês, via França, para a Alemanha, na condição de<br />
escravo resgatado. Em 1557 publica seu livro, incitado pelo catedrático<br />
marburguês Dryander, e com um prólogo do mesmo. Em comparação<br />
com as primeiras crônicas sobre a América, não só contém informações<br />
muito mais amplas sobre a cultura e especialmente sobre a<br />
antropofagia dos Tupinambás, mas também o primeiro corpus iconográfico<br />
com drásticas representações de como eram mortos e comidos<br />
os prisioneiros. Embora tenham surgido dúvi<strong>das</strong> acerca da autenticidade<br />
destas informações – provavelmente inf<strong>und</strong>a<strong>das</strong>, tendo em conta<br />
as numerosas fontes sobre a antropofagia daquelas tribos – o livro de<br />
Staden é uma <strong>das</strong> obras mais importantes sobre o Brasil da época do<br />
Descobrimento. Devido ao seu estilo pessoal e às reminiscências a<br />
uma literatura de edificação de cunho protestante, que enfatiza o testemunho<br />
da fé, alcançou uma popularidade considerável, a qual é confirmada<br />
por numerosas reedições.<br />
(OBERMEIER 2004, trad. minha 1 )<br />
O tema da antropofagia, já anunciado no próprio título da História, é explorado<br />
por todos os quatro autores mencionados, ainda que com prof<strong>und</strong>idade e<br />
valorização diferentes. Inesperadamente, o próprio Staden, ameaçado de ser<br />
comido por seus ‚anfitriões‘ durante meses, aborda o tema de uma forma relativamente<br />
sóbria e distanciada. De maneira nenhuma a antropofagia é objeto de um<br />
tratamento sensacionalista, tal como o poderiam sugerir o título e certas adaptações<br />
e elaborações posteriores da matéria.<br />
Os autores <strong>das</strong> referi<strong>das</strong> ‚crônicas brasileiras‘ (certamente com exceção de<br />
Ulrich Schmidel, que relata o encontro com os guaranis do rio Paraguai) são<br />
protestantes, e o intertexto edificante é mais palpável em Staden. Assim, o teor de<br />
acusação e condenação contra as práticas diabólicas, tão típico para as obras de<br />
1. No que segue, to<strong>das</strong> as traduções de fontes não publica<strong>das</strong> em português também serão da<br />
minha autoria.<br />
47
48<br />
muitos cronistas espanhóis e católicos, cede aqui a uma reflexão quase intimista<br />
sobre o destino individual, a esperança da salvação e, finalmente, a gratidão por<br />
Deus tê-lo salvado efetivamente <strong>das</strong> caldeiras tupinambás. 2<br />
1.2. A crônica autobiográfica de Staden como romance picaresco<br />
Outro traço específico da Verdadeira História consiste no caráter marcadamente<br />
autobiográfico e narrativo da primeira parte. A seg<strong>und</strong>a parte fornece um panorama<br />
quase enciclopédico de „todos os costumes e usanças dos índios<br />
Tupinambás“, incluindo a geografia, a flora e a fauna, ao passo que os 53 capítulos<br />
do „primeiro livrinho“ correspondem à narração linear <strong>das</strong> duas viagens que<br />
Staden fez para o Brasil. A grande maioria desta parte é consagrada à seg<strong>und</strong>a<br />
viagem (a partir do cap. 6) e passou a ser – com algumas omissões e modificações<br />
(que por sua parte integram amiúde informações tira<strong>das</strong> do seg<strong>und</strong>o livro) – o<br />
argumento do filme.<br />
A crítica moderna, várias vezes tem insistido nas estruturas ‚novelescas‘ que<br />
apresentam algumas crônicas da conquista de América, por exemplo, na obra<br />
de Álvar Núñez Cabeza de Vaca, cuja história, aliás, também foi adaptada ao<br />
cinema. 3 O mesmo fenômeno observa-se no texto de Staden. Em vista da estrutura<br />
episódica, da condição do herói como ‚servidor de muitos amos‘ e dos<br />
títulos que resumem o conteúdo de cada capítulo, não seria exagerado falar até<br />
de uma semelhança com o gênero picaresco, que estava germinando naquela<br />
época. Também cabe assinalar a ‚visão desde baixo‘ que adota Staden durante<br />
seu cativeiro e que é contrária à ‚perspectiva de conquistador‘, própria à maioria<br />
dos textos deste gênero, incluindo a outra Verdadeira História do seu compatriota<br />
Schmidel.<br />
1.3. Estrutura dialógica e cultura lingüística tupi<br />
Outra característica que talvez só chame a atenção a quem quiser elucidar a<br />
base textual dos diálogos fílmicos, é a alta percentagem que na História de Staden<br />
corresponde ao discurso falado. Este, porém, manifesta-se sobretudo em discurso<br />
indireto, pelo qual pode passar despercebido à primeira leitura. 4 Trata-se<br />
de um elemento estrutural que pode motivar toda uma gama de reflexões e<br />
comentários. Por agora nos limitamos a lembrar que a cultura tupi-guaraní é<br />
considerada, até a atualidade, como uma ‚cultura da palavra‘, na qual as relações<br />
comunitárias se definem pela interação da fala oral e muitas vezes em<br />
forma do discurso ritualizado (cp. MELIÀ 1992, p. 297s). Este fenômeno foi cap-<br />
2. O Livro I finaliza com um „amém“ e uma oração de graças por ter-se salvado do cativeiro dos<br />
canibais. – To<strong>das</strong> nossas citações referem-se à primeira edição de 1557, disponível online<br />
tanto em fac-símile como em transcrição. As cifras entre parênteses remetem à numeração<br />
dos capítulos, sempre que não houver referência explícita, à tradução para o alemão moderno<br />
de Ulrich Schlemmer (1984).<br />
3. México/Estados Unidos/Inglaterra 1990, diretor: Nicolás Echevarría.<br />
4. Veja mais abaixo, 3.2. Para completar este artigo pode-se consultar uma apresentação com<br />
materiais adicionais em www.romanistik.uni-mainz.de/guarani/staden/staden.ppt. A folha<br />
7 mostra o fac-símile <strong>das</strong> páginas 192/193 da edição de 1984, no qual o discurso direto<br />
aparece marcado em cor laranja e o discurso direto em verde.
tado por Staden consciente ou inconscientemente. É uma marca importante<br />
do seu estilo narrativo e os realizadores do filme transformaram-no num dos<br />
ângulos de sua técnica, de maneira que seria justificado falar de uma ‚adaptação<br />
lingüística‘ do texto historiográfico.<br />
A sensibilidade do autor e seu talento para tudo que se relaciona com o idioma,<br />
manifestam-se igualmente na rapidez com a qual chega a dominar o dialeto<br />
tupinambá, ou seja, a língua geral de base tupi-guarani, o que lhe permite comunicar-se<br />
sem grandes dificuldades com seus novos donos. Até se serve desta língua<br />
para tratar com os comerciantes franceses. Além disso, comenta explicitamente o<br />
uso da língua e o câmbio de código (code switching). 5<br />
Os estudiosos <strong>das</strong> línguas tupi-guaraníticas concordam que a obra de Staden,<br />
além disso, possui um valor inigualável como primeira contribuição à filologia<br />
deste ramo, já que o texto contém cerca de uma dúzia de enunciações completas<br />
num dialeto tupi-guarani 6 que, seg<strong>und</strong>o parece, o autor sabia transcrever<br />
com relativa correção e fidelidade e que coloca estrategicamente para marcar<br />
momentos cruciais dentro da narração. Tornou-se famosa aquela frase que ele<br />
mesmo pronuncia, cumprindo forçadamente o ritual antropofágico, logo ao<br />
começo de seu cativeiro: „a Junesche been ermi uramme“ (I, cap. 21) seg<strong>und</strong>o<br />
sua própria transcrição, traduzido corretamente por ele mesmo como „eu, vossa<br />
comida, vou chegando“. Em guarani atual seria „ajúne che pene<br />
rembi’urã(ma)“. No tupi clássico, que constitui o padrão para o roteiro da película,<br />
sai com pequena alteração, mas como hoje em dia é praticamente impossível<br />
averiguar qual foi o dialeto utilizado pelos índios de Ubatuba por volta de<br />
1550, nada contradiz a tese que Staden transcrevesse com grande fidelidade os<br />
trechos de diálogo em língua indígena (cf. WICKER 2004).<br />
1.4. Primeiras imagens do Brasil<br />
Se a Verdadeira História provocou um grande interesse entre o público contemporâneo,<br />
isso se deve também às numerosas xilogravuras com as quais o<br />
editor marburguês fez ilustrar já a primeira edição, muito provavelmente sob a<br />
direção do próprio Staden – ou pelo menos seg<strong>und</strong>o indicações adicionais que<br />
recebeu dele –, pois contêm certas informações que não se podem deduzir do<br />
texto escrito. Sem dúvida, as imagens que representavam o sacrifício dos presos,<br />
a preparação do banquete ritualístico e sua própria realização – quer dizer, tudo<br />
que se relaciona com o canibalismo – eram fatores importantes para uma comercialização<br />
eficaz do livro, e daí se compreende que este tema é muito mais presente<br />
nas ilustrações que no próprio relato. Além disso, elas enfatizam a nudez<br />
5. Confira-se, por exemplo, o episódio no cap. 26 do livro primeiro, onde se comenta uma<br />
situação de ‚trilingüismo‘: „Conduziram-me então nu ao francês. Era um jovem a quem os<br />
índios chamavam Caruatá-uara. Ele falou-me em francês e não pude entendê-lo. Os selvagens<br />
nos rodeavam e ouviam-nos. Como não pude responder-lhe, disse-lhes o francês na língua<br />
dos nativos: Matai-o e comei-o, esse miserável; ele é bem português, vosso inimigo e meu.<br />
Isto entendi eu bem e pedi-lhe portanto, pelo amor de Deus, que lhes dissesse que não me<br />
comessem. Mas ele retrucou: Eles querem comer-te“.<br />
6. Berchem conta „umas 150 palavras e locuções“ (BERCHEM 1996, p. 859), o que parece um<br />
pouco exagerado. Pelo menos o número <strong>das</strong> frases completas é bastante reduzido.<br />
49
50<br />
de todos os atores, que no<br />
livro só encontra uma menção<br />
marginal, mas que os realizadores<br />
do filme aproveitarão<br />
e transformarão num<br />
dos elementos decisivos da<br />
representação cênica.<br />
Assim, as 54 xilogravuras<br />
do artista desconhecido formam<br />
um terceiro elemento<br />
– ao lado da narração e dos<br />
diálogos – aproveitado na realização<br />
do filme. Até desempenha<br />
funções estruturais,<br />
quando ao princípio e ao fim<br />
aparece na tela aquela caravela<br />
que abre e fecha o primeiro<br />
ciclo de ilustrações,<br />
pertencente ao Livro I.<br />
Fig. 1: Staden 1557, Livro II, cap. 29<br />
Todavia, a História de Staden<br />
foi publicada não só com estas gravuras relativamente próximas à fonte, mas<br />
também em edições ilustra<strong>das</strong> pelo famoso gravador flamengo Theodor de Bry (DE<br />
BRY 1592). Sua interpretação do relato é muito mais drástica, mas é ela que até hoje<br />
marca a ‚imagem‘ que temos dos „selvagens, nus e ferozes devoradores de homens“,<br />
pela simples razão que uma boa parte <strong>das</strong> edições vem acompanhada destas<br />
ilustrações e não <strong>das</strong> originais. Isto explica também porque Luiz Alberto Pereira<br />
‚ilustrou‘ seu filme<br />
com imagensempresta<strong>das</strong><br />
de De Bry,<br />
como se verá<br />
mais adiante.<br />
Fig. 2:<br />
Staden seg<strong>und</strong>o<br />
De Bry 1592, p. 141
1.5. Recepção da História no Brasil<br />
O acento que desta forma já muito cedo se colocou no canibalismo e na<br />
nudez dos índios foi decisivo para a recepção européia e dotou a obra, ainda<br />
nos séculos XVI e XVII, de umas 50 edições e traduções. Não menos considerável<br />
é o êxito que a Verdadeira História conheceu no Brasil, embora seu triunfo se<br />
fez notável só a partir do século XX em diferentes traduções e edições. Neste<br />
ano de 2007, o livro está disponível nas livrarias do Brasil em pelo menos cinco<br />
edições diferentes, ilustra<strong>das</strong> a maioria delas. 7 Não seria exagerado afirmar que<br />
Staden é um dos heróis ‚brasileiros‘ mais populares, desde que em 1925 José<br />
Bento Monteiro Lobato adaptou a história do soldado alemão em forma de um<br />
livro de aventuras para jovens, popularizado à maneira de Robinson Crusoe<br />
(FEIJÓ 2003). Até 1996 este livro conheceu 32 edições.<br />
Em sincronia com as preparações para o quinto centenário do descobrimento<br />
do Brasil e quase ao mesmo tempo com a película Staden, apareceu a Verdadeira<br />
História dos selvagens, nus e ferozes devoradores de homens – Primeiros registros<br />
escritos e ilustrados sobre o Brasil numa tradução atualizada de Pedro<br />
Süssekind e foi premiado pela F<strong>und</strong>ação Nacional do Livro Infantil e Juvenil como<br />
melhor livro informativo do ano 1999.<br />
As ilustrações originais não deixaram de desdobrar seu potencial artístico:<br />
em 1941 o grande pintor brasileiro Cândido Portinari criou a partir delas um<br />
ciclo de 26 desenhos à tinta da China, mas que pelo seu caráter escandaloso<br />
para a época não encontraram o agrado do norte-americano George Macy que<br />
encomendara o trabalho. Tanto mais fascinaram o público brasileiro quando<br />
foram publicados – outra vez no contexto do ano simbólico – sob o título Portinari<br />
devora Staden (HERRERO 2003), constituindo assim uma óbvia alusão à estética<br />
modernista que comentaremos mais adiante.<br />
Não surpreenderá, pois, que em 1989 as aventuras de Staden foram verti<strong>das</strong><br />
em quadrinhos pelo famoso artista pernambucano Jô de Oliveira, obra que hoje<br />
em dia é considerada um clássico dos quadrinhos brasileiros. 8 Efetivamente o<br />
passo do original ao gênero da banda desenhada não foi demasiado grande, já<br />
que os diálogos do livro fornecem bastante matéria para os balões, imagináveis<br />
já inseridos nas gravuras originais.<br />
7. A primeira edição em língua portuguesa apareceu em 1892 no Rio de Janeiro, a seg<strong>und</strong>a<br />
em 1900, reeditada em 1930. Em 1941 foi publicada a terceira tradução, feita por<br />
Guiomar de Carvalho Franco, que se baseia na tradução para o alemão moderno,<br />
efetuada por Karl Fouquet, então diretor do Instituto Hans Staden. O catálogo da<br />
Biblioteca Nacional Brasileira http://catalogos.bn.br enumera para o período de 1985 a<br />
2006 25 edições da História, entre elas 17 edições da adaptação popular de Monteiro<br />
Lobato, divulgada sob o título Aventuras de Hans Staden. Seg<strong>und</strong>o informa Franz<br />
Obermeier, este número corresponde a pouco mais da metade <strong>das</strong> edições lobatianas<br />
que realmente têm circulado até hoje. Para to<strong>das</strong> essas questões remetemo-nos à<br />
recente edição crítica preparada pelo próprio Obermeier, com extensa bibliografia.<br />
Lamentavelmente este excelente trabalho aparecido em 2007, não pôde ser tomado<br />
em consideração à hora de elaborar-se o presente artigo.<br />
8. Os quadrinhos se publicaram primeiro na revista italiana Corto Maltese em 1989 e só em<br />
2005 na editorial brasileira Conrads (cf. Naranjo 2005 e Conrad Editora 2006).<br />
51
52<br />
2. Tupi or not tupi – a antropofagia como receita cultural<br />
O panorama da recepção brasileira revela como, aos 500 anos do descobrimento<br />
europeu do Brasil, surge o interesse por um ‚texto de f<strong>und</strong>ação‘, como o<br />
constitui a Verdadeira História. A isso contribui a promoção pelas instituições culturais,<br />
à qual não é alheia certa intencionalidade didático-educativa, já inerente<br />
à versão de Monteiro Lobato. „Uma aula de história do Brasil“ – é também o lema<br />
com que a Folha de São Paulo saúda a estréia do filme Hans Staden, seg<strong>und</strong>o<br />
relembra o texto publicitário do DVD.<br />
2.1. Modernismo e Antropofagia<br />
Mas aí não reside o único motivo<br />
para a ressurreição brasileira de<br />
Staden ao findar o século XX. Para<br />
compreender o significado atual do<br />
tema antropofágico e o retorno à<br />
antiga língua tupi, é preciso recordar<br />
o movimento cultural do Modernismo<br />
brasileiro dos anos 20 que já<br />
recorrera de forma simbólica a ambos<br />
os elementos.<br />
O escritor vanguardista Oswald<br />
de Andrade (1890–1954) postulou<br />
em 1928 com seu Manifesto Antropófago<br />
„devorar o patrimônio europeu,<br />
digeri-lo e transformá-lo numa cultura<br />
nacional própria e inovadora“<br />
(ENGLER 1996, S. 84). Desta forma a<br />
antropofagia adquiriu um novo sentido<br />
dentro de um discurso de revolução<br />
cultural. O grito de guerra dos<br />
modernistas foi o legendário „Tupi, or<br />
not tupi, that is the question“: nele<br />
condensa-se uma tendência meio<br />
Abb. 3: Frontispício da Revista de Antropofagia<br />
com ilustração tomada de De Bry (1929)<br />
séria, meio irônica para revitalizar valores e símbolos de uma hipotética cultura<br />
tupi interpretada como essência da cultura brasileira, incluindo a língua tupi, que<br />
efetivamente serviu de língua geral e nacional até sucumbir à campanha de<br />
lusificação iniciada pelo Marquês de Pombal. 9<br />
A História de Staden como ‚o primeiro livro sobre o Brasil‘, é não só a descrição<br />
mais objetiva e completa da antropofagia ritual e da cultura tupinambá, mas<br />
9. Cf. BOPP 1966, p. 71. – Uma primeira pesquisa sobre aspectos religiosos <strong>das</strong> culturas tupiguarani<br />
e as práticas de antropofagia foi publicada no mesmo ano por Alfred Métraux (La<br />
religion des Tupinamba, 1928). À continuação, apareceram vários dicionários e métodos de „tupi<br />
antigo“, nomeadamente o Curso de tupi antigo do Pe. Lemos Barbosa e o Método moderno de<br />
Eduardo Almeida Navarro. O discípulo e colaborador deste último, Hélder Perri, foi encarregado<br />
a dar aulas de tupi antigo aos atores de Hans Staden antes e durante a rodagem.
também um dos poucos documentos relativamente autênticos daquela língua.<br />
Estas qualidades converteram-na – em texto e imagem – na referência primordial<br />
para modernistas e tupinistas (BASTOS 2000). Além disso, a específica estrutura<br />
comunicativa do livro (narração, diálogos, imagens) predestinava-o para a<br />
adaptação cinematográfica.<br />
A primeira realizou-se já quase 30 anos antes de Hans Staden, na obra já mencionada<br />
Como era gostoso o meu francês, dirigida por Nelson Pereira dos Santos<br />
(1971), ou How tasty was my little frenchman, título que foi dado à versão em VHS<br />
que foi comercializada nos Estados Unidos a partir de 2005.<br />
O filme pode-se colocar no contexto do chamado tropicalismo, revitalização <strong>das</strong><br />
idéias modernistas depois de 1968. Nele, a aventura de Staden é modificada e<br />
reinterpretada alegoricamente, integrando temas e episódios da crônica francesa de<br />
Jean de Léry. O protagonista chama-se Jean, é francês e sofre o mesmo destino como<br />
o alemão, embora com um desenlace bem diferente, de rico simbolismo. Durante sua<br />
estadia entre os Tupinambás, o protagonista namora uma bela moça da tribo, motivo<br />
que o impede embarcar no navio francês que o havia de repatriar. Estas condições –<br />
namorando e heróico, mas plenamente consciente – permitem que a cultura tupibrasileira<br />
literalmente o ‚incorpore‘. Falando claro: ele mesmo é ritualmente executado<br />
pelos índios e ingerido, em evidente realização fílmica do credo modernista (cf.<br />
RAMOS 2000). Já neste primeiro a filme, o tupi antigo funciona como língua geral,<br />
com a diferença de que o herói francês – obedecendo ao esquema iniciático que<br />
fornece a estrutura básica do argumento – não o domina de antemão como Staden,<br />
assim que o espectador torna-se aqui testemunho da lenta aprendizagem do idioma,<br />
sobretudo através do relacionamento com a namorada índia.<br />
2.2. A tradição do cine tupi-brasileiro<br />
Mas Como era gostoso o meu francês nem foi o primeiro filme no Brasil que<br />
valorizou programaticamente o tupi como língua ‚clássica‘ da nação. De fato, está<br />
presente em pelo menos seis obras que to<strong>das</strong> enfocam a questão da brasilidade e<br />
a relação que esta mantém com um patrimônio tupi mais ou menos estilizado.<br />
Descobrimento do Brasil Humberto Mauro 1937 10<br />
Macunaíma Joaquim Pedro de Andrade 1969<br />
Como era gostoso o meu francês Nelson Pereira dos Santos 1971<br />
Uirá, um índio em busca de deus Gustavo Dahl 1974 11<br />
Hans Staden Luiz Alberto Pereira 1999<br />
Desm<strong>und</strong>o Alain Fresnot 2003 12<br />
10. Para comentários sobre este filme consulte-se SCHWAMBORN 2000.<br />
11. „Baseado em um livro de Darcy Ribeiro, o filme foca a trajetória de Uirá, um índio Urubu-<br />
Kaapor, na busca pela ‚terra sem males‘. A aventura começa após a morte de seu primogênito,<br />
quando ele e sua família decidem ir à busca de Maíra o Herói criador nas culturas Tupi.<br />
Nesse processo, Uirá e sua família saem de sua aldeia no interior do Maranhão e chegam à<br />
capital, São Luiz.“ (MORGADO 2000)<br />
12. SCHWAMBORN 2005, p. 100s.<br />
53
54<br />
Sem dúvida esta tradição merece uma pesquisa mais aprof<strong>und</strong>ada. Mas parece<br />
justificado falar de uma continuidade, senão de uma tradição própria, sobretudo<br />
pelo fato que o pioneiro desta corrente, Humberto Mauro, escreveu também<br />
os diálogos em tupi e que todos os seis filmes são adaptações de textos literários,<br />
sejam crônicas históricas ou romances modernos que enfocam o tema da identidade<br />
cultural e lingüística de um Brasil com raízes tupi-indígenas.<br />
3. Hans Staden: A versão fílmica do texto narrativo<br />
Esperamos ter colocado devidamente no seu contexto literário-cinematográfico<br />
o projeto de Luiz Alberto Pereira, propondo também uma explicação da atualidade<br />
e do interesse que correspondem à crônica ‚antropófaga‘ de Staden precisamente<br />
no Brasil do ano 2000. A seguir trataremos, pois, de abordar a análise<br />
da transformação do texto narrativo em filme.<br />
O primeiro que salta à vista comparando o texto e as suas ilustrações com o filme,<br />
é que efetivamente se chegou a uma máxima conformidade entre o documento de<br />
origem e a sua interpretação pelo novo meio. A partir do momento quando Staden<br />
cai nas mãos dos Tupiunambás, junto com o seu criado índio (cap. 18), até sua volta<br />
no barco francês (cap. 52), a matéria textual é transformada quase integramente em<br />
cenário, ação e diálogos. Somente 9 dos 36 capítulos desta seqüência (caps. 19-20,<br />
32, 38, 40, 44-46, 48), não são objeto de uma realização direta. 13 Mas esta perda não<br />
prejudica em absoluto a ‚unidade da ação‘ no sentido aristotélico. Parcialmente os<br />
temas ou acontecimentos tratados ou mencionados nesses capítulos (sacrifício de<br />
cativos e banquete ritualístico, atuação ‚xamânica‘ de Staden) ou bem são integra<strong>das</strong><br />
em outras seqüências, ou bem são ‚temas cegos‘ que seriam um estorvo para a<br />
tensão dramática e não aportariam nada à mensagem (como, por exemplo, uma<br />
excursão da tribo a uma aldeia vizinha).<br />
16 17 18 19 20 21 22 23 24<br />
25 26 27 28 29 30 31 32 34<br />
35 36 37 38 39 40 41 42 43<br />
44 45 46 47 48 49 50 51 52<br />
Fig. 4: Esquema dos capítulos correspondentes à parte central da ação realizados no filme.<br />
Somente as seqüências marca<strong>das</strong> em branco escaparam à adaptação.<br />
13. Na numeração dos capítulos da edição de 1557 não existe o cap. 33. Da numeração diferente<br />
da versão modernizada de 1984, na qual a 32 segue imediatamente 33, resulta uma<br />
discrepância nos números dos capítulos. Nós respeitamos – salvo indicação contrária – a<br />
numeração de 1557.
3.1. Quadros de costume e (novas) histórias<br />
Por outro lado parece interessante a inserção de cenas novas, que não têm<br />
f<strong>und</strong>amento direto no livro. Sua análise nos permitirá determinar a acentuação<br />
própria que caracteriza o filme e faz dele algo mais que uma mera transposição<br />
da crônica para outro meio. Aqui é preciso diferenciar entre passagens que<br />
utilizam a informação etnográfica do seg<strong>und</strong>o livro e outras que aparentam ser<br />
criações totalmente originais.<br />
Os dados sobre a cultura Tupinambá que Staden fornece na seg<strong>und</strong>a parte da<br />
obra, estão certamente sempre presentes no cenário, seja na escolha <strong>das</strong> locações,<br />
da aldeia indígena reconstruída, na caracterização <strong>das</strong> atrizes e dos atores<br />
(contra toda aparência eles não são verdadeiramente ‚nus‘, mas têm os corpos<br />
artificiosamente pintados). Adicionalmente, porém, certos costumes descritos pelo<br />
cronista se inserem na ação do filme em forma de cenas curtas. Trata-se, por<br />
exemplo, da preparação da mandioca, a fabricação de flechas e a elaboração do<br />
algodão, pouco antes da realização do capítulo 27, no qual Staden se lembra de<br />
um grave ataque de ‚odontalgia‘ (HS 07:21). 14<br />
Assim mesmo, o filme traz uma representação exaustiva do ritual antropofágico<br />
que carece de base narrativa no primeiro livro. É certo, no entanto, que ao final do<br />
cap. 37 [36] o autor remete aos capítulos respectivos do seg<strong>und</strong>o livro („Como isto<br />
se passa sabereis no capítulo nono do seg<strong>und</strong>o livro“), e é exatamente esse aviso<br />
que encontra sua realização a partir de HS 54:23, onde é combinada com a história<br />
do prisioneiro mencionado neste mesmo capítulo. A seqüência começa, aliás, com<br />
outra reminiscência etnográfica, mostrando umas mulheres ocupa<strong>das</strong> com a preparação<br />
do cauim, conforme a receita inserta no seg<strong>und</strong>o livro.<br />
Uma base textual ainda muito menos sólida, senão nenhuma, tem o namoro<br />
de Staden com uma jovem da tribo chamada Naira – nome que o leitor buscaria<br />
em vão nas páginas da História. Há, quando muito, uma frase relacionada com o<br />
tratamento dos cativos que pode servir de justificação para introduzir esse motivo,<br />
explorado bastante na tela: „Dão-lhe então uma mulher, que dele cuida, servindo-o<br />
também“ (livro II, cap. 29 / HS 41:45).<br />
Agora, ao estabelecer uma comparação com o primeiro filme sobre Staden,<br />
realizado por Pereira dos Santos, constatar-se-á que esta mesma obra foi a que<br />
inspirou o romance com a bela índia. A prova mais persuasiva é a cena de amor<br />
numa rede, demasiado parecida para ser mera coincidência, precisamente por<br />
falta de apoio textual (HT 20:18). Contudo, não se pode negar que o episódio é<br />
realizado com maior dramatismo e uma estética mais convincente na obra precursora,<br />
nomeadamente por sua função dilatória quanto ao processo de iniciação<br />
à cultura indígena que experimenta o herói. A seg<strong>und</strong>a versão, porém, faz<br />
pensar que o episódio erótico é uma concessão aos gostos do público, e que,<br />
ainda por cima, fornece o motivo para uma lacrimosa cena de separação ao final<br />
do filme. 15 Apesar de tudo, o episódio amoroso constitui um elemento que se<br />
14. À continuação, marcar-se-ão as referências a determina<strong>das</strong> seqüências do filme com a<br />
indicação aproximada do início da cena respectiva (hora: minuto: seg<strong>und</strong>o), com base no<br />
DVD Hans Staden (HS) e o cassete VHS How Tasty Was My Little Frenchman (HT).<br />
15. Além disso, a relação com Naira permite ao protagonista demonstrar sua lealdade para<br />
55
56<br />
integra plenamente na lógica do argumento, porque contribui a caracterizar o<br />
protagonista branco como uma pessoa simpática e leal, e sobretudo livre de preconceitos<br />
raciais, portanto totalmente oposto à imagem negativa do conquistador<br />
europeu tal como é pintado na maioria <strong>das</strong> obras da literatura ou do cinema<br />
que enfocam essa temática.<br />
O insólito conceito do ‚bom conquistador‘ revela-se também em outro acréscimo:<br />
é a cena na qual Staden salva um escravo negro fugitivo de um ataque<br />
armado dos tupinambás e – quem sabe – até de cair vitima da antropofagia deles.<br />
Resulta que aqui os indígenas são mais racistas que o homem branco. O negro<br />
inspira-lhes um horror literalmente infernal, porque vêem nele um espírito diabólico<br />
e acabam entoando uma espécie de canto exorcista. O incidente serve também<br />
para ilustrar a piedade prof<strong>und</strong>amente humanista que distingue o herói e<br />
que no próprio texto se manifesta numa série de reflexões e orações que dificilmente<br />
poderiam encontrar uma realização direta.<br />
O tema religioso é de suma importância no relato de Staden, de modo que se<br />
justifica o fato que seja também um leitmotiv no filme, embora em realização parcialmente<br />
diferente. Staden vence todos os perigos e adversidades – exteriores e<br />
interiores – graças à sua fé protestante que aparece isenta da intolerância, hipocrisia<br />
e agressividade inerentes ao catolicismo de muitos cronistas espanhóis.<br />
Uma conversa sobre questões religiosas que Staden mantém com um prisioneiro<br />
à véspera do sacrifício dele adquire uma dimensão propriamente pastoral (cap.<br />
37). Portanto, se a fé cristã que professa Staden se manifesta de uma forma muito<br />
válida e positiva, a religiosidade dos tupinambás carece de todo atrativo.<br />
No que diz respeito a esta religiosidade, o filme comunica uma visão mais coerente<br />
e diferenciada da que se desprende do próprio livro, e parece como se se baseasse em<br />
resultados de pesquisa da etnologia moderna. No livro, as maracás que os índios usam<br />
em seus rituais são erroneamente interpreta<strong>das</strong> como ídolos, e Staden não chega a<br />
perceber o caráter cerimonial da antropofagia. A postura e o nível de conhecimentos<br />
dos autores do filme são outros: em vez de partir da ignorância em matéria religiosa<br />
que marca o texto da crônica, eles introduzem um elemento que supostamente ilustraria<br />
a ‚autêntica‘ religiosidade dos indígenas. Para isso recorrem ao mito de Jurupari,<br />
de certa relevância no imaginário tupi recuperado no século XX, mas que por mera<br />
especulação se relaciona aqui com a cosmovisão tupinambá do século XVI.<br />
Numa seqüência também acrescentada, um grupo delegado pela aldeia visita um<br />
xamã que vive a certa distância na floresta (HS 21:23). Do seu discurso, infere-se que<br />
Jurupari é concebido como uma deidade ávida de sacrifícios humanos, parecida às<br />
do México antigo. Se bem que essa interpretação de Jurupari, figura mítica conhecida<br />
em toda a zona tupi-guaranítica, 16 etnologicamente não é mais sólida que a explicação<br />
que Staden encontra para as maracás, ela é uma prova de que os criadores do<br />
filme se esforçaram por dar maior prof<strong>und</strong>idade à representação da religiosidade<br />
tupi-guarani, além de impregná-la de uma aparência marcadamente brasileira.<br />
com a namorada quando, já ao final de sua aventura, o seu novo dono Abatipoçanga quer<br />
consignar-lhe outra mulher, e ainda mais de ilustrar o conflito de culturas entre a poligamia<br />
tupi e a monogamia do cristão protestante.<br />
16. „Jurupari é, pois, o antenado lendário, o legislador divinizado, que se encontra como base em<br />
to<strong>das</strong> as religiões e mitos primitivos.“ (CASCUDO 1972: 496, cf. VALENCIA SOLANILLA 2000)
Contudo, Hans Staden não visa em absoluto a uma idealização da cultura<br />
índia. Nada lembra o tópico do ‚bom selvagem‘, antes se nota uma tendência<br />
desmitificadora. 17 Algumas cenas, também ausentes no texto original, mas sim<br />
recuperando motivos de Como era gostoso o meu francês, sublinham a<br />
agressividade guerreira dos povos tupi-guarani, em que muitas vezes se tem<br />
insistido, não sempre de forma desinteressada (LUSTIG 2007). Sirva de exemplo<br />
o episódio no qual Naira se nega a deixar ao comerciante francês seu papagaio<br />
em troca de uns brinquedos cintilantes mas sem valor, exigindo que em câmbio<br />
a pague com „muitos fuzis“ (HS 1:04:50).<br />
3.2. A versão fílmica de texto e imagem<br />
em serviço da ‚brasileirização‘<br />
Depois desta análise de algumas particularidades do argumento, que enfocavam<br />
– entre outros aspectos – a relativa independência frente à base textual,<br />
gostaríamos agora de pôr em relevo a realização do discurso, ou seja – em sentido<br />
literal – a adaptação <strong>das</strong> estruturas discursivas do livro de Staden.<br />
O seguinte exemplo do cap. 52 (HS 1:16:26) demonstra como o roteiro aproveita<br />
um máximo do texto original. Na seguinte passagem marcamos em itálico o<br />
discurso narrativo propriamente dito e sublinhamos a representação do discurso<br />
<strong>das</strong> personagens, o qual – como já dissemos – constitui uma larga parte do relato<br />
e muitas vezes se realiza em forma de discurso indireto:<br />
Entrementes haviam ouvido dizer os franceses, que tinham chegado a Niterói,<br />
que eu vivia entre os índios. Então enviou o capitão duas pessoas do seu<br />
navio com alguns chefes dos selvagens que lhes eram amigos, ao lugar em<br />
que me encontrava. Foram eles a uma choça, que pertencia ao chefe Çôouara-açu,<br />
e que ficava bem próxima daquela em que eu estava. Os selvagens<br />
anunciaram-me que dois homens do navio haviam vindo. Dirigi-me<br />
a eles e dei-lhes as boas vin<strong>das</strong> na língua dos nativos. Quando me viram<br />
aproximar tão miserável, tiveram compaixão de mim e deram-me alguma<br />
coisa de suas vestes. Perguntei por que haviam vindo. Responderam que<br />
por minha causa. Tinha-lhes sido ordenado trazer-me a bordo, e isto<br />
deviam eles empreender por todos os meios. Alegrei-me então de todo o<br />
coração pela misericórdia divina e disse a um dos dois que se chamava Perot<br />
e conhecia a língua indígena, que devia declarar que era meu irmão e<br />
que me havia trazido alguns caixões cheios de mercadorias, a fim de<br />
que os índios me levassem ao navio, indo buscar os caixões. Além<br />
disso, precisava dizer que eu queria permanecer entre eles para juntar<br />
pimenta e outras mercancias, até que o navio retornasse no próximo<br />
ano. Com estas informações levaram-me também ao navio, e meu amo<br />
mesmo me acompanhou. A bordo tiveram todos pena de mim, tendo-me<br />
feito muitas gentilezas. (STADEN 2007, p. 368 18 )<br />
17. A este respeito o texto de Staden não segue a linha dos cronistas franceses. Sobre a mesma<br />
problemática cf. WICKER 2004.<br />
18. O cap. 51 na versão traduzida em Staden 2007, que corresponde ao cap. 52 em Staden 1557.<br />
57
58<br />
A transformação do discurso indireto em direto é um fenômeno normal e<br />
necessário que acompanha a ‚dramatização‘ de um texto narrativo, já que a<br />
função do narrador como instância mediadora é transpassada aos códigos visuais<br />
e auditivos próprios do meio cinematográfico. Esses, em geral, transportam<br />
a informação de maneira mais imediata.<br />
No entanto, no caso de Hans Staden a apresentação adquire uma imediatidade<br />
desproporcionada em relação ao texto primário, que não se deve somente<br />
à passagem de um meio a outro. É que o discurso do livro, por sua qualidade<br />
autobiográfica e a atenuação do dramatismo que deriva da reflexão e o<br />
indireto do discurso, cria uma maior distância da realidade representada do<br />
que seria o caso num texto narrado em discurso objetivo, que corresponderia à<br />
norma de uma crônica historiográfica. A película procura estabelecer uma máxima<br />
contigüidade entre o espectador e a ação. Um dos meios para consegui-la<br />
consiste em renunciar à tradução do tupi (que é um princípio natural ao que<br />
obedece a História, escrita para leitores alemães), eliminando desta forma um<br />
nível de refração que teoricamente diminui a autenticidade da representação.<br />
O roteiro faz falar em tupi – a saber, na língua geral – não só os índios tupinambás,<br />
mas também Staden e os demais europeus. Isto leva a pensar que os autores do<br />
filme se esforçaram por desentulhar, numa atitude quase arqueológica, o núcleo<br />
objetivo, brasileiro, escondido e encoberto no discurso subjetivo de um<br />
cristão europeu.<br />
A mesma intenção manifesta-se na adaptação <strong>das</strong> xilogravuras, cuja existência<br />
se revela certamente como uma condição muito favorável para a encenação.<br />
Em bastantes seqüências é óbvio que o cenário se orienta na imagem e não<br />
no texto. Um exemplo convincente é a cena HS 01:10:46, que corresponde à<br />
gravura do cap. 47: Staden numa pose expressiva, rezando ajoelhado frente a<br />
uma cruz de madeira.<br />
Fig. 5: „Eu tinha feito uma cruz de varas grossas e a plantara em frente à choça em que morava.<br />
Aí orava ao Senhor muitas vezes. Recomendara aos selvagens que não a arrancassem , pois<br />
disso podia resultar-lhes uma desgraça; não acreditaram, entretanto, na minha palavra.“<br />
(STADEN cap. 47 [46])
Certamente não se pode negar que a ‚visão européia‘ se traduz também nestas<br />
ilustrações, as quais, observa<strong>das</strong> detalhadamente, transportam outras refrações e<br />
deformações. É verdade que o ilustrador marburguês criou as imagens a partir do<br />
relato de Staden (e eventualmente com informações adicionais, mas essas não<br />
refletem uma vivência pessoal). São ainda muito mais enganosas as gravuras de<br />
Theodor de Bry, em realidade criações de terceira mão, apesar de aparentarem<br />
um maior realismo. Mas são precisamente elas que, por sua drástica expressividade<br />
e naturalmente pelo grande êxito dos livros do flamengo, têm contribuído muito<br />
mais à popularização <strong>das</strong> aventuras de Staden do que as gravuras esquemáticas<br />
da edição original. Que a película brasileira sucumbisse a esta tentação é corroborado<br />
pela realização da cerimônia funerária em HS 37:43, que carece de qualquer<br />
f<strong>und</strong>amento textual e que não foi ilustrada por gravura nenhuma na primeira<br />
edição da História. Não há dúvida que se inspira numa ilustração incluída em De Bry.<br />
Fig. 6: Realização do pranto funerário <strong>das</strong> mulheres inspirada em De Bry (1592, p. 130)<br />
Também aqui o filme procede a uma ‚retupização‘ do material, despindo-o de<br />
tudo que remete aos códigos europeus e renascentistas. Em contrapartida, a preparação<br />
e a caracterização dos atores representando os índios, obedecem evidentemente<br />
ao assessoramento etnológico dispensado aos realizadores da obra. Além<br />
disso, a mensagem que no original tem um caráter exclusivamente visual, recebe<br />
uma ampliação e intensificação pelo acréscimo musical, embora discutível. 19<br />
4. Língua e perspectiva: as funções da retupização<br />
4.1. Tupi ou jevyr<br />
Voltemos, antes de acabar, ao fenômeno tão sensacional que parece constituir<br />
uma película com diálogos falados quase inteiramente em tupi. Como já explica-<br />
19. É emblemático que a música do filme – arranjada por Marlui Miranda e com razão tão<br />
elogiada pela crítica – sofra de uma pequena incoerência: utiliza ritmos e cantos da etnia<br />
mbya-guarani assentada atualmente em alguns sítios daquela região litoral, embora as<br />
semelhanças da cultura desta com a dos Tupinambás do século XVI não devam superar as<br />
que existem entre portugueses e romanos antigos.<br />
59
60<br />
mos, a língua tupi tem sido objeto de várias ressurreições ao curso do século XX,<br />
e ultimamente no contexto do V Centenário do Descobrimento do Brasil. 20 Quem<br />
contribuiu sobremaneira à restituição de uma língua que se considera parte do<br />
patrimônio nacional é o professor Almeida Navarro, docente na USP e autor de<br />
um Método moderno de tupi antigo muito procurado. Seu aluno e colaborador<br />
Hélder Perri Ferreira é o principal responsável da versão tupi do roteiro e delegou-se<br />
por dois meses para assegurar a iniciação lingüística dos atores antes e<br />
durante a rodagem (DUARTE 2006). No entanto, é de supor que todos os participantes<br />
na empresa eram conscientes de que o tupi antigo ensinado no livro de<br />
Navarro e utilizado na película é uma língua relativamente artificial, uma koinê<br />
que corresponde àquela língua brasílica que só na seg<strong>und</strong>a metade do século<br />
XVI foi sistematizada e normalizada até certo grau pelos Jesuítas (especialmente<br />
por José de Anchieta com sua gramática de 1555). Os índios tupinambás, cuja<br />
língua Staden parece ter aprendido em tempo relativamente curto, falavam<br />
uma entre dezenas de variantes do tronco tupi-guaraní que aparentemente não<br />
se afastava muito dos dialetos guarani falados hoje no Paraguai e por alguns<br />
grupos desta etnia radicados no Sul do Brasil. Efetivamente, quem tiver conhecimentos<br />
do guarani paraguaio moderno, sabendo ao mesmo tempo interpretar<br />
a transcrição germanizante do autor, compreenderá com pouca dificuldade<br />
os fragmentos da edição marburguesa de 1557 (Wicker 2004, p. 83s). Contudo,<br />
para captar o sentido dos diálogos do filme, traduzidos para o tupi antigo, é<br />
preciso ter estudado com o livro de Eduardo Navarro, pois ele forneceu o padrão<br />
lingüístico adotado no roteiro. 21<br />
Não é exagerado dizer que as línguas e seu uso chegam a se tematizar em Hans<br />
Staden: concretiza-se a função do tupi antigo como língua geral quando é usada<br />
não só pelos índios entre si, mas também se serve dela o próprio Staden para<br />
comunicar-se com os comerciantes franceses. Isto se vê claramente na adaptação<br />
do cap. 52 (HS 1:19:45), a qual também revela o valor simbólico da linguagem:<br />
pelo uso do idioma autóctone – para não dizer nacional – Staden torna-se para os<br />
brasileiros um ‚dos nossos‘, enquanto que o capitão da caravela francesa continua<br />
sendo um estrangeiro.<br />
Resumindo: o uso generalizado da língua tupi não resulta somente da intenção<br />
realista, confessado pelo próprio diretor. A decisão de utilizar o idioma indígena<br />
deve ser visto num contexto que lhe atribui um alto valor simbólico para a<br />
identidade cultural e nacional. 22<br />
20. ou jevyr = „está voltando“; sobre a última ‚ressurreição‘ da língua tupi confira-se TUNES 2000<br />
e DUARTE 2006. As questões relaciona<strong>das</strong> com a reanimação do tupi antigo se dedicam a um<br />
fórum bastante ativo na Internet, acessível por .<br />
21. Parece que na versão em alemão moderno preparada por Ulrich Schlemmer (STADEN 1984) os<br />
fragmentos em língua indígena foram copiados de uma edição brasileira. Isto nota-se, por exemplo,<br />
no uso da letra - que não existe em alemão – em substituição de em Staden.<br />
22. A distinção entre línguas tupi e guarani é um fenômeno que tem suas raízes no século XIX.<br />
Sobretudo depois da Guerra do Paraguai (1865-1870) deixa de utilizar-se no Brasil o termo<br />
guarani para designar as línguas autóctones desse tronco comum e generaliza-se a<br />
denominação tupi para referir-se à língua dos “f<strong>und</strong>adores” da nação brasileira. Os próprios<br />
falantes da língua não usavam nem uma, nem outra dessas designações, mas falavam do<br />
ava ñe’ê ou respectivamente do aba nhe’enga (“língua dos homens”).
4.2. Língua e perspectiva<br />
Contrariamente ao texto original do livro – monolíngüe em alemão, e com um<br />
número reduzido de expressões na língua tupinambá – o filme caracteriza-se por<br />
seu poliglotismo. A grande maioria dos diálogos é em tupi, mas também ouvimos<br />
falar em francês e alemão, e o espanhol está presente em forma escrita numa <strong>das</strong><br />
primeiras cenas. 23 Mais além, em nove ocasiões – sobretudo ao princípio e ao final<br />
– ouve-se do off a voz do narrador, embora com um tipo de discurso ‚teicoscópico‘<br />
que resume acontecimentos alheios à ação principal e que nesta forma não aparecem<br />
no livro.<br />
Consegue-se desta maneira uma objetivação dos sucessos e <strong>das</strong> enunciações,<br />
a qual equivale a uma desconstrução do texto original que, quanto a sua forma<br />
lingüística (alemã) e sua tonalidade religioso-cultural (cristã protestante) apresenta<br />
um caráter homogêneo. Tudo quanto o narrador autobiográfico usurpou<br />
pela escrita e a tradução aos princípios da era colonial, os brasileiros recuperamno<br />
num ato ‚antropofágico‘. Este procedimento, que precisamente transpassa o<br />
que costuma acontecer ao texto literário em qualquer adaptação cinematográfica,<br />
‚devora‘ a perspectiva européia que também Staden ‚o bondoso‘ projeta sobre<br />
o Novo M<strong>und</strong>o, apesar de sua eficaz iniciação à cultura indígena.<br />
Ainda que o leitor moderno também adote, até certo grau, o ponto de vista do<br />
narrador e não o dos índios, sendo demasiado grande a distância cultural e<br />
humana que o separa da cultura canibal, sim se lhe abre um acesso mais direto no<br />
filme: o foco dele situa-se em ‚nossa terra‘ (para dizê-lo com Eduardo Navarro), e<br />
o espectador já não se sente mais perto de Staden – que fala uma língua duplamente<br />
estrangeira (incompreensível e européia) – que dos índios ‚retupizados‘,<br />
que falam uma língua também incompreensível, mas altamente brasileira. Staden<br />
volta à sua condição de intruso, de colonizador, de estrangeiro, homem branco e<br />
pálido em meio a uma colorida turma de futuros brasileiros. Apesar de que presta<br />
seu nome ao filme, ele deixa de ser o verdadeiro protagonista e transforma-se<br />
numa quase-vítima.<br />
4.3. Alteridade?<br />
A artificiosa desconstrução e repatriação de uma crônica da época da conquista,<br />
são suscetíveis de provocar algumas perguntas pertencentes à estética da<br />
recepção e que provavelmente só poderia esclarecer uma sondagem entre os<br />
cinéfilos brasileiros. Contudo, chama a atenção que a obra não soube atrair às<br />
salas mais que um número relativamente reduzido de espectadores 24 , embora<br />
fosse projetada durante 17 semanas, presença prolongada na tela só explicável<br />
pelo apoio institucional.<br />
À falta de dados concretos fica em aberto a questão de quem são, para os<br />
brasileiros, ‚os outros‘ e quem os próprios antepassados culturais. É que eles se<br />
23. „Enquanto isso, procurou um dos companheiros decifrar o escrito, tendo-o conseguido. Aí<br />
estava entalhado em língua espanhola: “Si viene por ventura aquí la armada de Su Majestad,<br />
tiren un tiro y habrán recado“ (cap. 9 / HS 03:15).<br />
24. „Infelizmente a falta de divulgação concedeu ao filme uma bilheteria de apenas 42 mil<br />
espectadores“ (Werneck 2004), cf. Faltam locais de exibição (Revista E 2000).<br />
61
62<br />
sentem inclinados a aceitar os tupinambás tupi-falantes como fator essencial de<br />
sua identidade cultural histórica? Ou concebem-se como descendentes de Jean<br />
e Hans, os quais, aos poucos meses de compartir a rede com uma beleza da terra,<br />
encontram cada um a sua maneira o acesso à cultura proto-brasileira?<br />
Filmografia<br />
DOS SANTOS, Nelson Pereira (1971), How tasty was my little frenchman [Como era gostoso o meu<br />
francês], Brasilien, 80 Min (VHS: New Yorker Video, New York).<br />
PEREIRA, Luiz Alberto (1999), Hans Staden, Brasilien, 92 Min (DVD: Versátil Home Video, São Paulo).<br />
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CASCUDO, Luis da Câmara ( 3 1972): Dicionário do Folclore brasileiro. Rio de Janeiro.<br />
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meu francês). In: The American Historical Review (Washington), 106, p.695-697.<br />
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germanico primum sermone scriptam a Ioanne Stadio Homburgensi Hesso, nunc autem latinitate<br />
donatam [...]. Frankfurt. [Reimpressão parcial in: SIEVERNICH, Gereon (ed.): America de Bry.<br />
1590-1634. Amerika oder die Neue Welt. Die “Entdeckung” eines Kontinents in 346 Kupferstichen.<br />
Berlin / New York 1990, p. 111-147].<br />
DUARTE, Sara (2006): O-î-kuab abá-nhe’enga. In: Istoé. [01.04.06].<br />
ENGLER, Erhard (1996): Die brasilianische Literatur. In: Kindlers Neues Literatur- Lexikon. Bd. 20.<br />
München, p. 78-88.<br />
Faltam locais de exibição. Onde estão as salas? (2000). In: Revista E, n o 40. .<br />
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HERRERO, Rodrigo (2003): O Homem Brasileiro de Portinari. In: Rabisco, 32 (22/12/2003 a 10/1/<br />
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Rupert (ed.): Verlorene Paradiese, Bern, p. 83-98.<br />
Dr. Wolf Lustig nasceu em 1954 em Frankfurt do Meno. Estudou filologias românica e<br />
germânica em Mogúncia (Mainz) e Munique, doutorando-se em 1987 com um trabalho sobre<br />
Cristianismo e simbolismo cristão no romance hispanoamericano do século XX. Desde<br />
1988 exerce a docência de línguas, literaturas e culturas românicas no Seminário de Filologia<br />
Românica na Universidade de Mogûncia, ocupando atualmente o cargo de Diretor Acadêmico<br />
na área de filologia hispânica. Seus campos de pesquisa são, entre outros, as crônicas sobre a<br />
conquista da América e a cultura paraguaia de expressão guarani. Sua lista de publicações é<br />
acessível em http://www.staff.uni-mainz.de/lustig/texte/veroeff.htm.<br />
63
agunça bulugusa bulungunza<br />
b<strong>und</strong>a mb<strong>und</strong>ab<strong>und</strong>a<br />
mb<strong>und</strong>a<br />
cachaça cachaça kanua kisasa kanua kisasa<br />
caçula kasuka kasule okwasula<br />
cafuné kafunile kafa<br />
calango nkalanda dikalanga<br />
cam<strong>und</strong>ongo kamingondo<br />
cangaço cam<strong>und</strong>ongo konganso kamingondo nkangunsu<br />
capanga<br />
cangaço<br />
kimpunga<br />
konganso<br />
kimbangala<br />
nkangunsu<br />
capanga kimpunga<br />
carimbo ka kindimbu kimbangala<br />
bagunça bulungunza bulugusa<br />
b<strong>und</strong>a cachaça mb<strong>und</strong>a<br />
kisasa kanua<br />
caçula<br />
okwasula kasuka kasule kasule<br />
cafuné okwasula<br />
calango cafuné kafunile nkalanda kafa kafa<br />
calango cam<strong>und</strong>ongo dikalanga<br />
nkalanda dikalanga<br />
cangaço kamingondo<br />
nkangunsu konganso<br />
capanga kimbangala kimpunga<br />
carimbo carimbo cochilo kindimbu ka kushila kindimbu ka<br />
molambo<br />
molambo cochilo mulamba kushila mulamba kushila mulumbi<br />
molambo mambembe<br />
mambembe mulumbi mulamba (mu)mbembele mulumbi<br />
mambembe (mu)mbembele<br />
kam<strong>und</strong>enge (mu)mbembele<br />
moleque kam<strong>und</strong>enge<br />
moleque nleeke mi-/ mi-/ mu-/ mu-/ a nleekea<br />
mulungu quenga mkemba mulungu<br />
quitanda penga<br />
quizília kizila kitanda<br />
samba macumba kijila<br />
xingar (ku)samba<br />
zumbi<br />
xingar<br />
mvumbi<br />
singa<br />
moleque mi-/ mu-/ a nleeke<br />
mulungu mulungu<br />
quenga mkemba mulungu penga mulungu<br />
quitanda<br />
quenga<br />
kitanda<br />
mkemba penga<br />
quitanda kitanda<br />
quizília kizila quizília kijila kizila kijila<br />
samba macumba (ku)samba<br />
xingar singa<br />
zumbi mvumbi<br />
zumbi mvumbi
Africanismos e brasileirismos lexicais de<br />
matriz africana na imprensa brasileira<br />
Rosa Alice Cunha-Henckel<br />
Jena<br />
Resümee: Der Wortschatz des brasilianischen Portugiesisch enthält<br />
eine beachtliche Zahl von Ausdrücken, die aus verschiedenen<br />
afrikanischen Sprachen stammen, vor allem aus der<br />
Bantu-Gruppe, <strong>und</strong> die von den afrikanischen Sklaven<br />
während der Jahrh<strong>und</strong>erte der Sklavenwirtschaft nach<br />
Brasilien gebracht wurden. Diese Wörter wurden von Sprechern<br />
der verschiedenen Ethnien angeeignet, fügten sich<br />
in <strong>das</strong> System der portugiesischen Sprache ein, produzierten<br />
<strong>und</strong> produzieren bis heute Ableitungen, bildeten echte<br />
Brasilianismen, verdrängten portugiesische Wörter <strong>und</strong><br />
werden immer öfter auch im Standardregister der Schriftsprache<br />
verwendet, ohne <strong>das</strong>s aber ein Bewusstsein hinsichtlich<br />
ihres Ursprungs <strong>und</strong> ihrer Bedeutsamkeit im Alltag<br />
der Brasilianer besteht. Der vorliegende Artikel will die<br />
Aufmerksamkeit auf diesen sprachgeschichtlichen Beitrag<br />
lenken, indem er exemplarisch 21 Ausdrücke afrikanischer<br />
Herkunft aus brasilianischen Pressetexten zitiert <strong>und</strong> Angaben<br />
zu ihrer Ursprungssprache, zum Datum ihrer Aufnahme<br />
in die portugiesische Schriftsprache, zur Häufigkeit<br />
ihres Gebrauchs sowie zu ihrer Produktivität liefert. Des<br />
Weiteren wird auf die semantische Wandlung einiger Ausdrücke<br />
hingewiesen, verursacht durch die interethnischen<br />
Beziehungen auf dem brasilianischen Territorium, bei denen<br />
<strong>das</strong> Afrikanische kein privilegiertes Element war.<br />
Abstract: The lexicon of the Portuguese language spoken in Brazil<br />
contains a considerable number of terms originating from<br />
different African languages, above all from the Bantu group.<br />
They were brought by African slaves to the Brazilian territory<br />
during the centuries of slave economy in the country<br />
and were appropriated by speakers of the diverse ethnicities.<br />
Integrated into the Portuguese language system, they produced<br />
and still produce derivations until the present days,<br />
formed genuine brazilianisms, substituted Portuguese<br />
words, being used increasingly in written standard Portuguese,<br />
yet without raising a general awareness of their origin<br />
and their importance in the Brazilian’s everyday life.<br />
The present article wants to call attention to this contribu-<br />
65
66<br />
tion by citing 21 examples of words with African provenance<br />
from Brazilian press releases, indicating their source<br />
language, the date of entry into written Portuguese language,<br />
signalizing their frequency of usage and their productivity.<br />
Furthermore, there will be pointed out semantic<br />
changes, to which some terms were submitted, due to the<br />
interethnic relations on the Brazilian territory, in which<br />
the African element was not a privileged one.<br />
Repassando o panorama lingüístico no território brasileiro da época colonial,<br />
encontramos o português, língua transplantada pelos colonizadores e imposta<br />
por lei como língua oficial do Brasil em 1757/8 , convivendo em diferentes graus,<br />
com as inúmeras línguas dos habitantes indígenas e as muitas línguas africanas<br />
leva<strong>das</strong> pelos cerca de quatro milhões de africanos transportados como escravos<br />
por mais de três séculos.<br />
Deste convívio, é mais que normal que a língua portuguesa tenha-se apropriado<br />
de muitos termos destas outras línguas para descrever realidades próprias do<br />
Novo M<strong>und</strong>o ou hábitos, comi<strong>das</strong> e conceitos, experimentados na convivência<br />
estreita com esses povos de outras culturas.<br />
No que se refere aos falantes de línguas africanas, Houaiss (1985, p.101) considera<br />
legítimo admitir que os africanos de origem sudanesa e banto levados para o<br />
Brasil, representassem uma imensa variedade de proveniências, falando um número<br />
considerável de línguas (mormente dos grupos sudanês e banto) nunca<br />
inferior a 20% <strong>das</strong> línguas da África. Esta cifra significa, em números absolutos, 300<br />
a 400 línguas com grupos de falantes em quantidades variáveis, dispersos pelo<br />
território brasileiro.<br />
É do nosso conhecimento que ao comprar os escravos, havia por parte dos<br />
futuros proprietários o cuidado em misturar as etnias o máximo possível, para que<br />
não constituíssem motins contra eles. Do lado do governo português da colônia<br />
americana e da metrópole havia total falta de interesse por essas línguas, assim<br />
como também por parte dos jesuítas, que detinham o monopólio da educação<br />
formal no Brasil até 1758, apesar de algumas exceções por parte destes (DIAS<br />
1697; CASTRO 2002). Sendo assim, estas línguas, apesar do grande contingente<br />
de falantes, diluíram-se pouco a pouco no solo brasileiro.<br />
No entanto, o contato dos povos africanos com os falantes lusófonos foi muito<br />
estreito. O papel da mulher negra na educação e criação dos filhos dos senhores<br />
brancos foi de primordial importância para a formação da sua maneira de ser<br />
(CASTRO 1990; CUNHA-HENCKEL 2005c). E o número de africanos era muito<br />
grande. Às vezes, seg<strong>und</strong>o a região e a época, a população africana era maior que<br />
as <strong>das</strong> outras etnias. „Em 1800, cerca de dois terços da população do país – 3<br />
milhões de habitantes – são formados por negros e mulatos cativos e libertos“<br />
(ALMANAQUE ABRIL 2000, p. 263).<br />
Assim sendo, apesar de todos os fatores contrários à sua difusão – descaso,<br />
circunstâncias materiais desfavoráveis, misturas de etnias, distância social entre<br />
as raças, etc. – era impossível elas não deixarem vestígios no português<br />
falado no Brasil.
Estes se encontram sob diversas formas, a saber: aportes lexicais encontrados<br />
nos diferentes níveis de língua; elementos lexemáticos nas línguas usa<strong>das</strong> como<br />
código secreto por grupos componentes de algumas comunidades descendentes<br />
de africanos como por ex. Caf<strong>und</strong>ó e Patrocínio em SP (VOGT/FRY 1982, 1983,<br />
1985, 1996; VOGT/FRY/GNERRE 1975, 1980, 1984) e Bom Despacho, em MG<br />
(QUEIROZ 1984, 1998) nas línguas-de-santo (CASTRO 2001, p. 80) na linguagem do<br />
povo de santo (CASTRO 2001, p. 97) e, por fim, na forma de elementos crioulóides<br />
nas variedades do português falado por populações rurais como por exemplo<br />
Helvécia, na Bahia (FERREIRA 1985) e no Vale do Ribeira, em São Paulo (CARENO<br />
1997), onde grande parte dos habitantes são descendentes de africanos.<br />
É sobre o primeiro tipo de contribuição assinalado acima, o dos aportes lexicais,<br />
que atualmente são computados em mais ou menos 3500 vocábulos, incluindo os<br />
derivados, sobre os quais faremos algumas observações, tentando mostrar a importância,<br />
cada vez crescente, destes termos no nosso vocabulário do cotidiano.<br />
Que palavras relativas aos cultos religiosos de origem africana como candomblé,<br />
xangô, orixá, afoxé, e à cozinha afro-brasileira como vatapá, acarajé evoquem<br />
de imediato aos ouvidos dos brasileiros a sua origem africana, apesar da sua<br />
integração ao sistema da língua portuguesa, é um fato. No entanto, o mesmo não<br />
acontece com palavras como caçula, carimbo, cafuné, b<strong>und</strong>a, etc. É então, para<br />
estes termos tão presentes na nossa língua cotidiana e dos quais não temos consciência<br />
da origem africana, que a atenção será centrada.<br />
Contemplando esta enorme contribuição do ponto de vista sincrônico, vários<br />
são os aspectos a considerar. Primeiro, a intensidade com a qual estes termos são<br />
utilizados no nosso cotidiano, seg<strong>und</strong>o, a sua produtividade, terceiro, a nossa<br />
falta de consciência da importância desta contribuição e, por último, a constatação<br />
da sua utilização como instrumento inconsciente de denúncia do racismo sutil<br />
existente no seio da sociedade brasileira.<br />
Apesar de o número de africanismos ser menor do que o de tupinismos –<br />
cerca de 10.000, incluindo os topônimos – „eles têm mais curso“, como afirma<br />
Gladstone Chaves de Melo (1981, p. 43). Eles encontram-se sobretudo no registro<br />
informal e na língua coloquial, mas também no português padrão. E foi justamente<br />
isto que constatei e tenho constatado nas minhas leituras. É raro abrir uma<br />
revista brasileira ou um jornal brasileiro sem encontrar uma palavra portuguesa<br />
de origem africana.<br />
Vejamos alguns exemplos colhidos aleatoriamente:<br />
bagunça<br />
»Querer contar os presidentes direitinho, como fazem os americanos, é igual a<br />
festejar o Halloween. É querer imitá-los. Assumamos a nossa história. A impossível<br />
lista dos presidentes reflete nossa bagunça f<strong>und</strong>adora.« (VEJA 15/01/2003, p. 98)<br />
b<strong>und</strong>a<br />
»„Não sou convencida, mas acho que devo mostrar a minha b<strong>und</strong>a em ocasiões<br />
especiais, para alguém especial.“ Gisele Bündchen, top modelo brasileira, contando<br />
à revista VOGUE inglesa, que seu contrato impede que mostre seu derrière.« (VEJA<br />
14/12/05, p. 43)<br />
67
68<br />
cachaça<br />
»Charutos encorpados combinam com conhaque, rum, cachaça envelhecida e<br />
cerveja escura.« (VEJA 26/05/04, p. 110)<br />
caçula<br />
»Nicky: tanto a caçula dos Hilton quanto a irmã Paris são patricinhas de chinelinho.«<br />
(VEJA 19/07/06, p. 82)<br />
cafuné<br />
»Além de tocar sua música e espalhar mensagens do bem, a banda U2 criou, com<br />
seus shows em São Paulo, uma celebridade instantânea: a bancária Katilce Miranda,<br />
28 anos, que, alçada ao palco, dançou, fez cafuné e deu beijo-selinho no vocalista<br />
Bono.« (VEJA 01/03/06, p. 63)<br />
cam<strong>und</strong>ongo<br />
»Por causa <strong>das</strong> semelhanças do seu código genético com o dos seres humanos,<br />
os cam<strong>und</strong>ongos são as cobaias preferi<strong>das</strong> dos cientistas para experiências em<br />
laboratório.« (VEJA 09/11/05, p. 133)<br />
cangaço<br />
»Em Serra Talhada, visita-se o Museu do Cangaço, com fotografias, objetos e<br />
documentos sobre o tema.« (VEJA 26/05/04, p. 60)<br />
capanga<br />
»Os três filhos de Gabriela Arias foram levados pelo marido muçulmano para a<br />
Jordânia, onde vivem há quase oito anos: „Vi as crianças em sete ocasiões sempre<br />
vigia<strong>das</strong> por capangas armados“.« (VEJA 20/07/05, p. 108)<br />
calango<br />
»Ainda bem que não tenho que comer calango.« (VEJA 06/05/1998, capa)<br />
carimbo<br />
»CPI marca o PT com carimbo do mensalão.« (CORREIO BRAZILIENSE 06/04/06, p. 1)<br />
cochilar<br />
»Numa viagem de oito horas, um motorista que faz exercícios regularmente resiste<br />
melhor ao sono do que um motorista sedentário. A diferença é percebida pela<br />
quantidade de cochilos durante o trajeto.« (VEJA 23/11/05, p. 33)<br />
mambembe<br />
»„Entrei numa universidade mambembe que nem sequer tinha biblioteca. Decidi<br />
então procurar outra universidade na própria Bolívia, pois viajei com o intuito de<br />
me tornar um bom médico“, diz Carlos.« (VEJA 04/05/05, p.104)<br />
moleque<br />
»„Vocês me tratam como se eu fosse um moleque (...). Na boa vocês podem me<br />
levar, mas na porrada, não!“ José Sarney, senador (PMDB-AP), em reunião em<br />
que o seu partido vetou sua reeleição para presidente do senado, cargo pelo qual<br />
ele jurava não estar brigando.« (VEJA 05/05/2004, p. 41)<br />
molambo<br />
»De uns tempos para cá, o pêndulo mudou de lado e em vez de querer parecer
icos e civilizados, a moda passou a fazer figura de pobre, irremediavelmente pobre,<br />
mais pobre do que somos. „Veja que molambos somos“, esta é a mensagem atual<br />
aos estrangeiros. „Repare bem, conte aos amigos, lambuze-se com nossa penúria“.«<br />
(VEJA 12/01/05, p. 114)<br />
mulungu<br />
»Levados por guias locais, os turistas podem conhecer a paisagem da caatinga<br />
com seus facheiros (espécie de cactos) que atingem mais de 12 metros de altura,<br />
além de outras plantas nativas, como quixabeiras, mulungus e mandacarus.« (VEJA<br />
26/05/04, p. 59)<br />
quenga<br />
»Ter filha quenga é o maior desgosto da minha mãe.« (CORREIO BRAZILIENSE 24/<br />
08/1998, Cad. 1, p. 6)<br />
quitanda<br />
»Eu ouço de várias emprega<strong>das</strong> domésticas que é comuníssimo aqui no Rio de<br />
Janeiro que responsáveis pela merenda escolar retirem substancial quantidade<br />
de víveres e alimentos <strong>das</strong> crianças para levar para casa, distribuir entre parentes<br />
e até montar quitan<strong>das</strong>.« (VEJA 18/05/05, p. 14)<br />
quizílias<br />
»Agora, as quizílias entre o governo fluminense e o paulista a respeito da<br />
criminalidade em seus Estados e as divergências sobre a cidade onde seria filmada<br />
a cena em que a personagem Fernanda (Vanessa Gerbelli) da novela Mulheres<br />
apaixona<strong>das</strong> é morta por uma bala perdida, atraíram a atenção da mídia<br />
internacional.« (VEJA 13/08/03, p. 24)<br />
samba<br />
»O lema „brasileiro é sexy“ virou uma espécie de marketing para atividades varia<strong>das</strong>,<br />
que vão de aulas de samba a venda de lingerie.« (VEJA 19/05/04, p. 86)<br />
xingar<br />
»O líder dos Rolling Stones, na boa tradição do rock é um nulo em matéria de<br />
política. Um „alienado“, como se dizia, numa ofensa pior do que xingar a mãe, na<br />
época em que ele era jovem.« (VEJA 01/03/2006, p. 106)<br />
zumbi<br />
»É por esta razão que critico a tendência da ONU de assumir o papel de babá dos<br />
pobres. Se isso acontecer, os africanos se tornarão uns zumbis, uns inúteis que não<br />
sabem de nada.« (VEJA 10/08/05, p. 15)<br />
Nos exemplos acima citados, encontramos vocábulos cuja origem se encontra<br />
nas línguas do grupo banto, fala<strong>das</strong> sobretudo em Angola, país originário de um<br />
número bastante elevado de africanos transportados para o Brasil. Examinemo-los<br />
em detalhe, fornecendo a etimologia indicada por Castro no seu livro Falares Africanos<br />
na Bahia (2001) que é, até agora, o que há de mais confiável e atual sobre o tema:<br />
1. bagunça: desordem, confusão, baderna [do quicongo bulugusa ou bulungunza].<br />
2. b<strong>und</strong>a: nádegas, traseiro [do quimb<strong>und</strong>o e do quicongo mb<strong>und</strong>a].<br />
69
70<br />
3. cachaça: aguardente [do quicongo (kanua) kisasa, lit. água ardente, que fermenta,<br />
excitante].<br />
4. caçula: o mais novo dos filhos ou dos irmãos [do quicongo kasuka, do<br />
quimb<strong>und</strong>o kasule e do umb<strong>und</strong>o okwasula].<br />
5. cafuné: ato de coçar levemente a cabeça de alguém, dando estalidos com as<br />
unhas para provocar sono [do quicongo kafunile kafa, ação de bater, estalar<br />
com os dedos].<br />
6. calango: lagarto maior que a lagartixa [do quicongo nkalanda e do quimb<strong>und</strong>o<br />
dikalanga].<br />
7. cam<strong>und</strong>ongo: ratinho caseiro [do quicongo e do quimb<strong>und</strong>o kamingondo].<br />
8. cangaço: gênero de vida do cangaceiro [do quicongo e do quimb<strong>und</strong>o<br />
konganso, nkangunsu, bando, grupo de bandoleiros].<br />
9. capanga: guarda-costas [do quicongo e do quimb<strong>und</strong>o kimpunga/kimbangala].<br />
10. carimbo: selo, sinete, sinal público com que se autenticam documentos [do<br />
quimb<strong>und</strong>o, quicongo e umb<strong>und</strong>o ka-, kindimbu, marca].<br />
11. cochilo: um curto sono leve [do quicongo e do quimb<strong>und</strong>o kushila, cochilar].<br />
12. molambo: pano velho, trapo [do quicongo e do kimb<strong>und</strong>o mulamba (mulumbi)<br />
pedaço de pano velho].<br />
13. mambembe: medíocre, de má qualidade, inferior, ínfimo [do quicongo<br />
(mu)mbembele, e do quimb<strong>und</strong>o kam<strong>und</strong>enge, ninharia].<br />
14. moleque: menino, garoto, rapaz [do quicongo, quimb<strong>und</strong>o e umb<strong>und</strong>o mi-/<br />
mu-/ a nleeke, jovem, garoto].<br />
15. mulungu: planta medicinal [do quicongo mulungu].<br />
16. quenga: prostituta de baixa classe [do quicongo mkemba e do quimb<strong>und</strong>o<br />
penga].<br />
17. quitanda: pequeno estabelecimento onde se vendem frutas e verduras [do<br />
quimb<strong>und</strong>o e do quicongo kitanda].<br />
18. quizília: tabu, interdição religiosa [do quicongo kizila e do quimb<strong>und</strong>o kijila].<br />
19. samba: cerimônia pública de macumba, gênero musical, dança [do quicongo<br />
e do quimb<strong>und</strong>o (ku)samba, rezar, orar].<br />
20. xingar: [do quimb<strong>und</strong>o e do quicongo singa, praga].<br />
21. zumbi: fantasma [do quicongo mvumbi].<br />
Passando em revista esses exemplos, teremos a assinalar:<br />
1. Integração<br />
Eles estão completamente integrados no sistema morfológico do português, o<br />
que impede a sua identificação originária. Pouquíssimos brasileiros têm consciência<br />
deste fato. Vejamos um exemplo concreto no qual o jornalista brasileiro Diogo<br />
Mainardi afirma ser a palavra cafuné exclusiva do português:<br />
Se é para me orgulhar, orgulho-me de outras palavras em português. Palavras<br />
que não descrevem a realidade de maneira concreta e que, em minhas<br />
andanças, só encontrei na nossa língua, provocando espanto e inveja em<br />
meus interlocutores estrangeiros. Talvez sejam palavras menos nobres, porque<br />
não se referem a sentimentos elevados, e sim a miudezas da vida coti-
diana, de uso corriqueiro, quase vulgares. Mas nós temos palavras para<br />
defini-las, eles não. A mais óbvia é cafuné. (VEJA 10/01/2001, p. 133)<br />
É claro que nesta forma ela só existe em português, mas o vocábulo é de<br />
origem banto e faz parte do vocabulário do português angolano, na forma quifune<br />
ou kifune, „estalidos produzidos com os dedos na cabeça“ (RIBAS 1994 ).<br />
Aqui temos uma explicação histórica, pois os povos bantos foram os primeiros a<br />
chegar ao território brasileiro. Portanto, de introdução mais remota, eles se assimilaram<br />
completamente, são correntes em todos os níveis sócio-culturais da linguagem<br />
brasileira e se encontram também presentes na maioria <strong>das</strong> áreas semânticas. Já os<br />
do grupo sudanês, por serem de origem mais recente, são melhor identificáveis e<br />
encontrados sobretudo no domínio culinário e religioso (CASTRO 2001, p. 74-75).<br />
2. Data de inserção na língua escrita<br />
As obras lexicográficas e as minhas pesquisas dão as seguintes datas de entrada<br />
dos respectivos termos na língua portuguesa escrita :<br />
bagunça: 1926<br />
b<strong>und</strong>a: 1836<br />
cachaça: 1635<br />
caçula: 1824/1825<br />
cafuné: 1789<br />
calango: 1689<br />
cam<strong>und</strong>ongo:1899<br />
cangaço: 1889<br />
capanga: 1856<br />
carimbo: 1837<br />
cochilo: cochilar: 1671/1696 (séc.XVII)<br />
mambembe: séc. XX<br />
molambo: 1824<br />
moleque: 1683<br />
mulungu: 1877<br />
quenga: 1836<br />
quitanda: 1681<br />
quizília: 1681<br />
samba: 1842<br />
xingar: séc. XVII<br />
zumbi: 1681<br />
São datas que até agora foram encontra<strong>das</strong>, portanto, não definitivas. É possível<br />
que com o passar do tempo sejam encontra<strong>das</strong> datas mais remotas.<br />
3. Utilização e freqüência<br />
São vocábulos utilizados diariamente no nosso português cotidiano e mesmo<br />
no português padrão, como nos exemplos aqui citados da mídia brasileira escrita.<br />
Alguns ainda trazem a marca tabuísmo (tab.), como quenga, no sentido de prosti-<br />
71
72<br />
tuta. Outros, que eram considerados chulos no dicionário de Macedo Soares (1889),<br />
como b<strong>und</strong>a, hoje em dia, aparecem nos dicionários sem esta marca diastrática. E<br />
se outros faziam parte do vocabulário popular, hoje são classificados como fazendo<br />
parte do registro neutro da língua: é o caso de calango (lagartixa). E, se alguns<br />
eram específicos de uma região, portanto tidos como regionalismos, através da<br />
mídia oral, sobretudo <strong>das</strong> telenovelas, passaram a ser conhecidos nacionalmente<br />
p. ex. o termo do Nordeste quenga (prostituta), como especifica a revista Veja no<br />
seguinte exemplo: „Nos salões, o penteado ganhou um apelido nada lisonjeiro: é<br />
conhecido como ‚cabelo de quenga‘, um regionalismo da novela para designar<br />
uma <strong>das</strong> mais antigas profissões do planeta“ (29/09/1993, p. 64).<br />
Quase todos os exemplos aqui citados, assim como ainda outros mencionados<br />
por Castro (2001, p. 121) têm equivalentes na língua portuguesa, mas a tendência<br />
é substituir o vocábulo português pelo de matriz africana. Quem diz o meu benjamin<br />
referindo-se ao filho mais novo? Carimbo, cujo equivalente português é sinete/<br />
marca já faz parte do português europeu há muitos anos. Outrossim, quem diz „Eu<br />
estava dormitando“ em vez de „Eu estava cochilando“?<br />
4. Produtividade<br />
Eles chegaram, ficaram, integraram-se e se reproduziram, adquiriram outros<br />
significados (tiveram os seus significados alargados), constituindo verdadeiros<br />
brasileirismos como o vocábulo molambo, no exemplo a seguir, a respeito <strong>das</strong><br />
sandálias Havaianas, demonstra: „Mary-Kate, a mais molambenta-chique <strong>das</strong> gêmeas<br />
Olsen, praticamente não calça outra coisa“ (VEJA 19/07/2006, p. 2). Vejamos<br />
alguns derivados deste termo:<br />
a. substantivos<br />
esmolambação, „estado de esmolambado“<br />
esmolambador, „que ou aquele que esmolamba, acanalha, achincalha“<br />
molambada, „coisa sem importância“<br />
molambo, no sentido figurado de “pessoa mole“<br />
b. verbo<br />
esmolambar, „arrastar molambos, andar esfarrapado, maltrapilho“<br />
esmolambar, (fig.) „achincalhar, acanalhar“<br />
c. adjetivos<br />
molambado, „que ou aquele cuja roupa está em molambos“<br />
molambo, acompanhando um substantivo para qualificá-lo desta maneira<br />
molambento, molambudo „diz-se de, ou indivíduo roto, esfarrapado“<br />
Um outro lexema muito produtivo é moleque, que deu os seguintes derivados:<br />
a) substantivos<br />
molecada, molecório, molecoreba, „grupo ou corja de moleques“<br />
molecada, molecagem, molequeira, „ação de moleque“<br />
molecote/molecota, „moleque, moleca pequeno/a“<br />
molecão, „moleque encorpado“<br />
molequice, o mesmo que molecada e molecagem no sentido de ato censurável
) verbos<br />
amolecar, „tratar indecorosamente“; „tornar-se moleque“<br />
molecar, molequear, „proceder como moleque“; „em que denota molecagem“<br />
c) adjetivos<br />
amolecado, „que tem ar de moleque“ ; „em que denota molecagem“<br />
moleque/moleca, „engraçado/a, pilhérico/a, trocista, jocoso/a“<br />
5. Indicadores dos relacionamentos sociais /interétnicos<br />
Se, por um lado alguns deles incorporaram significados que traduzem o afeto,<br />
a ternura que de um certo modo não podemos negar na relação branco-negro<br />
na sociedade brasileira, por outro lado, eles são portadores de um racismo incutido<br />
na cabeça dos locutores que, se tivessem consciência deste fato, não o pronunciariam,<br />
sobretudo quando se trata de pessoas da vida pública ou de classe<br />
social privilegiada. Para ilustrar, vejamos o substantivo molecagem derivado de<br />
moleque, que tem acepções tanto no sentido positivo quanto negativo.<br />
a) no sentido de brincadeira:<br />
»As molecagens de um narrador: Aos 55 anos, com mais de uma dúzia de livros<br />
publicados, o escritor Sérgio Sant’Anna chega à maturidade sem abrir mão de<br />
dois atributos que considera essenciais à sua obra: o experimentalismo e a<br />
molecagem.« (FOLHA DE SÃO PAULO 1/06/1997, Cad. Mais, p. 11)<br />
b) no sentido de „ato censurável“, portanto uma ação não aceitável praticada<br />
por moleques, no caso, patifes, velhacos, malandros.<br />
»Não admito molecagem do PSDB com o maior líder deste partido, que era<br />
meu marido.« (ISTOÉ 16/05/01, p. 31; Lila Covas, esposa do falecido governador<br />
de São Paulo, Mário Covas, revoltada com o cancelamento da homenagem<br />
do Congresso ao marido).<br />
c) em casos ambíguos, onde não está claro se é brincadeira ou ato censurável:<br />
»Molecagem no plenário [...]. Na última quarta-feira, num ato de molecagem<br />
parlamentar, o Senado aproveitou-se da fragilidade política do governo e<br />
aprovou a elevação do salário mínimo de 300,00 para 384,29 reais« (VEJA 17/<br />
08/05, p. 80).<br />
Estes casos dão material para uma análise bastante plácida da discriminação<br />
sofrida pelos descendentes dos africanos, os afro-brasileiros ou brasileiros mestiços,<br />
sendo, de maneira inconsciente, portadores de um sutil racismo. A língua<br />
serve assim, de instrumento para tal percepção.<br />
6. Estudos lexicológicos luso-brasileiros dedicados ao tema<br />
Introduzidos por via oral, através do estreito contato estabelecido entre os<br />
africanos e o colonizador português no território brasileiro, sobretudo no seio da<br />
sua família, vocábulos de origem africana já fazem parte da língua portuguesa<br />
escrita do século XVII, como atestam os textos do poeta baiano Gregório de Matos<br />
(1636-1695). No entanto, só no século XIX é que os estudiosos começam a<br />
73
74<br />
tecer considerações a respeito da sua presença no nosso vocabulário (Pedra<br />
Branca 1824/5 em RIBEIRO 1979, p. 60; e SOARES 1879, 1880). Nas obras<br />
lexicográficas só serão inseridos a partir do final do século XIX (SOARES 1889),<br />
com exceção de moleque, que já consta de Bluteau (1716). Também datam dessa<br />
época as primeiras alusões à nossa displicência em não ter tido o cuidado de<br />
documentar assunto tão importante da nossa cultura (ROMERO 1977, p. 34) e é<br />
dessa época em diante, sobretudo depois da abolição da escravatura (1888) que<br />
começam os estudos sobre a presença lingüística dos povos africanos na língua<br />
portuguesa falada no Brasil. A primeira obra de importância dedicada ao assunto<br />
só veio a surgir em 1933. É a obra de Renato Mendonça Influência africana no<br />
português do Brasil. Do mesmo ano é a de Jacques Raim<strong>und</strong>o O elemento afrobrasileiro<br />
na língua portuguesa. Fato que nos salta à vista quando se compara com<br />
o interesse e os estudos dedicados às línguas indígenas durante a época colonial.<br />
Também datam dos anos 30 grandes obras, em diversas áreas, que tratam da<br />
importância do africano na formação da cultura brasileira: Casa Grande e Senzala<br />
de Gilberto Freyre, Raízes do Brasil de Sérgio Buarque de Holanda, O negro na<br />
Bahia, de Nina Rodrigues, etc. Também dessa época é a inserção dessas palavras<br />
considera<strong>das</strong> típicas do Brasil em obras lexicográficas importantes como o dicionário<br />
de Cal<strong>das</strong> Aulete (primeira ed. 1925), sobretudo na sua terceira edição. No<br />
entanto, nessas obras pioneiras esses vocábulos não são tratados com o rigor<br />
científico desejado, o que veio acontecer só nos anos 1970 com as pesquisas de<br />
campo de Castro (1976) na África e no Brasil.<br />
Em alguns desses estudos há uma tendência a classificar muitos dos afronegrismos<br />
de brasileirismos. Tendência denominada por Bolouvi (1996, p. 214) de „antiafricanisme“.<br />
Ora, sob o rótulo de brasileirismos devem ser enquadrados os termos<br />
e expressões típicos ou próprios do Português do Brasil. Aqui há muita benevolência<br />
dos lexicógrafos que classificam alguns desses termos com esta marca de uso, quando<br />
num exame mais aprof<strong>und</strong>ado vamos encontrá-los tanto no português <strong>das</strong> ex-colônias<br />
portuguesas da África, como no espanhol da América – por ex. zumbi, que se<br />
encontra no léxico afro-americano do espanhol da Venezuela (ALVAREZ 1987, p.<br />
190) e no inglês da América (CASTRO 1996) e no português de Angola (RIBAS 1994).<br />
Um grande passo já foi dado na reedição do Dicionário Aurélio (1999) e no Dicionário<br />
Houaiss (2001) que também trazem as marcas Angol. (angolanismo), Moç.<br />
(moçambicanismo), etc. Mesmo assim, há ainda alguns deslizes.<br />
7. Brasileirismos “verdadeiros”<br />
Mas a particularidade destes vocábulos é que, mesmo que alguns não façam<br />
parte só do léxico do português do Brasil, eles forneceram e fornecem derivados<br />
que se incluem na categoria do que Faulstich e Strehler (2003) denominam de<br />
brasileirismos verdadeiros, isto é, vocábulos cujas forma e acepção se formaram<br />
no Brasil. Vejamos alguns:<br />
• Desb<strong>und</strong>e: „descontrole“, derivado de b<strong>und</strong>a: nádegas<br />
»O padre, o travesti, o ator e o cineasta coexistem também como as Espanhas<br />
diversas: a Espanha oprimida e reprimida do franquismo, a do desb<strong>und</strong>e<br />
deflagrado no fim dos anos 70, o país conformista, pragmático e ambicioso da
década passada e a Espanha que o próprio Almodóvar representa e ajudou a<br />
criar – a da efervescência capaz de dar a volta por cima à ditadura de Franco...«<br />
(VEJA 10/11/04, p. 153)<br />
• Cochilar: „cometer um erro por distração“, derivado de cochilar: dormitar<br />
»Se cochilar, sai convocação.« (VEJA 08/06/05, p. 36)<br />
E, ainda que existentes no léxico de outras línguas, esses lexemas traduzem de<br />
maneira muito plácida a índole e o caráter do nosso povo.<br />
A língua, ao mesmo tempo em que é considerada também um possível fator de<br />
identidade, é um agente revelador de uma sociedade. „As transformações sociais<br />
e culturais se refletem nitidamente no acervo do léxico de uma comunidade“<br />
(ALVES 1990, p. 87). A importância desses termos é indiscutível, a sua produtividade<br />
cresce constantemente. O seu uso, também na imprensa, é cada vez mais<br />
freqüente, o que nos faz pensar se isto não é um reflexo de uma mudança consciente<br />
de comportamento que acompanha as medi<strong>das</strong> oficiais anti-racistas postas<br />
em prática pelo governo nos últimos anos ou se, inconscientemente, o povo<br />
brasileiro as utiliza por serem mais adequa<strong>das</strong> à suas intenções comunicativas.<br />
Muitas têm equivalentes no português. Outro ponto importante a assinalar é que<br />
muitos desses vocábulos estão pouco a pouco galgando os andares dos níveis da<br />
língua, do vulgar ou popular para o standard, como se conclui numa análise mais<br />
aprof<strong>und</strong>ada dos mesmos (CUNHA-HENCKEL 2002, 2005b).<br />
Enfim, é impossível imaginar a língua portuguesa falada no Brasil sem esses<br />
africanismos adotados, ou sem os brasileirismos de matriz africana como os acima<br />
mencionados. Sobretudo sem samba, cafuné, cachaça e bagunça. São termos que<br />
refletem a nossa índole, a nossa africanidade, o nosso modo de ser. São, portanto,<br />
reveladores da nossa identidade de brasileiros, do Brasil como nação mestiça<br />
para a qual a contribuição africana foi e é de primordial importância.<br />
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FREYRE, Gilberto (1984[23]): Casa grande e Senzala, Rio de Janeiro.<br />
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Patrocínio (ou de como fazer falando). In: Revista de Antropologia, Separata do vol. XXVI. São<br />
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VOGT, Carlos / FRY, Peter / GNERRE, Maurízio (1984): A comunidade do Caf<strong>und</strong>ó (Mafambura<br />
e Caxapura): na encruzilhada da identidade. In: Cadernos de Estudos lingüísticos 6. Campinas,<br />
p. 111-128.<br />
Dr. a Rosa Alice Cunha-Henckel, licenciada em Letras (UFPE / Recife – Brasil), Maître ès<br />
Lettres (Universidade de Poitiers – França), Dr. Phil. (Universidade de Bremen – Alemanha).<br />
Foi leitora de Português na Universidade de Gießen (Alemanha) de 1986 a 1992. Desde 1999 é<br />
leitora de Português na Friedrich-Schiller Universität Jena (Alemanha). Autora do livro Tráfego<br />
de palavras, Africanismos lexicais na obra de José Lins do Rego (2005, Editora Massangana)<br />
e de vários artigos sobre o tema.<br />
77
Anatol Rosenfeld (aus: Letras e leituras, Perspectiva/Edusp/Eda. da Unicamp 1994)
Annäherungen an die brasilianische Kultur:<br />
Anatol Rosenfelds<br />
frühe Beiträge zu den<br />
Staden-Jahrbüchern 1954-56<br />
Marcel Vejmelka<br />
Berlin / Gießen<br />
Resumo: Anatol Rosenfeld (1912-1973), na condição de judeu alemão,<br />
teve que refugiar-se no Brasil, em 1937, perseguido pelo<br />
nazismo. No exílio reconstruiu a sua vida pessoal e intelectual,<br />
convertendo-se num dos mais influentes críticos culturais,<br />
literários e de teatro deste país. Além disso, atuou como<br />
mediador destacado entre a cultura alemã e a brasileira. Um<br />
órgão central nesta atividade foi o próprio Staden-Jahrbuch,<br />
onde em 1954 Rosenfeld começou a publicar ensaios em<br />
alemão. Os três primeiros desses textos, que tratam de aproximar<br />
o leitor alemão a questões mais gerais da cultura e sociedade<br />
brasileiras, são analisados aqui como o primeiro gesto<br />
mediador do crítico transcultural, e situados no contexto de<br />
sua obra e da sua experiência do exílio.<br />
Abstract: As a German Jew, Anatol Rosenfeld (1912-1973) was forced<br />
by the Nazi persecution to escape to Brazil in 1937. In exile<br />
he reconstructed his personal and intellectual life and became<br />
one of Brazil’s most influential theorists on culture,<br />
literature and theater. Furthermore he was an active and<br />
extraordinary mediator between German and Brazilian culture.<br />
One of the central instruments for this purpose was the<br />
very Staden-Jahrbuch where Rosenfeld, from 1954 on, regularly<br />
published essays written in German. In his first three<br />
publications he tries to familiarize his German readers with<br />
more general questions of Brazilian culture and society. They<br />
are analyzed here as the first mediating gesture of this<br />
transcultural critic and situated within the context of his<br />
œuvre and of his exile experience.<br />
I. Stationen eines „brasilianischen Intellektuellen“<br />
Die Bedeutung <strong>und</strong> der Einfluss Anatol Rosenfelds im brasilianischen Geistesleben<br />
des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts sind von solchen Ausmaßen, <strong>das</strong>s sie im Gr<strong>und</strong>e keiner<br />
weiteren Erläuterungen bedürfen. Er gilt als geistiger Vater der vergleichen-<br />
79
80<br />
den Literaturwissenschaft in Brasilien (CARONE 1995, S. 38) 1 , sprachlich <strong>und</strong> stilistisch<br />
als ein herausragender Vertreter des brasilianischen Essays als „kritischer<br />
Form“ im Sinne Adornos (CHAVES 1995, S. 49), er vollzog strukturelle Analysen<br />
literarischer Werke vor dem französischen Strukturalismus <strong>und</strong> nahm in der Umsetzung<br />
der Lehren von Nicolai Hartmann <strong>und</strong> Roman Ingarden Dimensionen<br />
der Rezeptionsästhetik vorweg (CAMPOS 1995, S. 84), er prägte die brasilianische<br />
Reflexion zum Theater im Allgemeinen sowie zu seiner performativen Dimension<br />
im Besonderen (MAGALDI 1995, S. 100). Diese nur exemplarisch gemeinte Auflistung<br />
von bedeutenden Verdiensten mag verdeutlichen, vor welchem Hintergr<strong>und</strong><br />
die folgenden Überlegungen anzusiedeln sind.<br />
Zwar sind aufgr<strong>und</strong> der bis zur Verschlossenheit reichenden Diskretion Anatol<br />
Rosenfelds hinsichtlich seiner Vergangenheit (vgl. GUINSBURG 1995a, S. 155) nur<br />
wenige, verstreut <strong>und</strong> mündlich überlieferte Einzelheiten über den Lebensweg<br />
dieses deutschen Flüchtlings <strong>und</strong> Emigranten bekannt, doch dürften auch diese<br />
Angaben allgemeinen Bekanntheitsgrad besitzen. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e beschränke<br />
ich mich hier auf eine kurze Zusammenfassung.<br />
Der 1912 wahrscheinlich in Berlin geborene Anatol Rosenfeld besuchte dort<br />
in den 20er Jahren <strong>das</strong> Friedenauer Gymnasium <strong>und</strong> studierte ab 1931 an der<br />
Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität (der heutigen Humboldt-Universität). Seine<br />
begonnene Promotion in Germanistik musste er abbrechen <strong>und</strong> Deutschland<br />
1935 oder 1936 verlassen. Als allgemeiner Gr<strong>und</strong> für seine Flucht kann die von<br />
mehreren Autoren genannte Zuspitzung der Drangsalierung <strong>und</strong> Bedrohung der<br />
im nationalsozialistischen Deutschland lebenden Juden durch die Nürnberger<br />
Rassengesetze angesehen werden. Der langjährige Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong> Weggefährte<br />
Roberto Schwarz berichtet auch konkret davon, <strong>das</strong>s Rosenfeld während der<br />
Olympischen Spiele 1936 in Berlin auf der Straße ausländischen Besuchern auf<br />
Englisch eine Frage beantwortete, dabei von einem Spitzel beobachtet wurde<br />
<strong>und</strong> wegen der einsetzenden Untersuchung unter dem Verdacht der „Verbreitung<br />
von Greuelmärchen“ <strong>das</strong> Schlimmste befürchten musste (SCHWARZ 1987,<br />
S. 79f). Auch über die Wege seiner Flucht ist wenig bekannt. Die erste Station<br />
waren die Niederlande (ebd.), warum <strong>und</strong> wie genau er 1937 nach Brasilien<br />
kam, bleibt im Unklaren. 2 Ebenso hat sich Anatol Rosenfeld nie dazu geäußert,<br />
warum er nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht nach Deutschland zurück<br />
ging, obwohl dies laut Jacó Guinsburg seine Familie tat, die den Holocaust<br />
1. Der hier <strong>und</strong> in der Folge häufig zitierte Band Sobre Anatol Rosenfeld bietet eine sehr schöne<br />
<strong>und</strong> reichhaltige Sammlung von Portraits, Hommagen, Analysen <strong>und</strong> anderen Texten aus<br />
mehreren Jahrzehnten zu Leben <strong>und</strong> Werk Anatol Rosenfelds.<br />
2. So ist auch nicht geklärt, wie er 1937, als die von der Regierung Vargas verordneten (wenn<br />
auch nie vollkommen konsequent umgesetzten) Beschränkungen für die Aufnahme jüdischer<br />
<strong>Flüchtlinge</strong> bereits wirksam waren, als deutscher Jude an ein Visum für die Einreise<br />
nach Brasilien kam. Furtado Kestler erwähnt unter Bezug auf mündliche Mitteilungen von<br />
Carolina Bresslau Aust, <strong>das</strong>s Rosenfeld mit einem Touristenvisum eingereist sei <strong>und</strong> sich aus<br />
Angst vor der Ausweisung nach dessen Ablauf ins Hinterland zurückgezogen habe (FURTADO<br />
KESTLER 1992, S. 113). Folgt man Patrik von zur Mühlens historischem Abriss zum deutschsprachigen<br />
Exil in Brasilien, so lassen sich vielfältige Möglichkeiten wie die relativ leichte<br />
Einwanderung zum Zweck der Verdingung als Landarbeiter, die üblichen bürokratischen<br />
Schlupflöcher <strong>und</strong> Formen der Bestechung denken, über die hier nicht weiter spekuliert<br />
werden soll (vgl. VON ZUR MÜHLEN 1994, S. 11ff sowie LESSER 1994, S. 91 ff).
überlebt hatte (GUINSBURG 1995a, S. 158). 3 Welche auch immer seine Beweggründe<br />
gewesen sein mögen, Brasilien wurde ihm zur zweiten, zur neuen Heimat.<br />
Auch die Landessprache eignete er sich in Wort <strong>und</strong> Schrift nicht nur schnell an,<br />
sondern erreichte in ihr herausragenden Ausdruck <strong>und</strong> Stil (SCHWARZ 1987).<br />
Während der ersten Jahre in Brasilien verdingte er sich als Arbeiter auf einer<br />
Kaffeeplantage bei Campinas, danach verkaufte er als Handlungsreisender Krawatten<br />
in Mato Grosso (vgl. SCHWARZ 1987; ALMEIDA PRADO 1995). Osman Lins<br />
berichtet, <strong>das</strong>s er sogar <strong>das</strong> Angebot seines Arbeitgebers, Gesellschafter zu werden,<br />
ausschlug <strong>und</strong> sich mit dem Ersparten daran machte, sich den Weg „zurück“ in den<br />
Bereich der Literatur zu erschließen (LINS 1995, S. 31f.). Er schrieb Buchbesprechungen<br />
<strong>und</strong> Artikel zunächst vor allem für Publikationen der jüdischen Gemeinde<br />
<strong>und</strong> Vereine in São Paulo (GUINSBURG 1995b, S. 63f.), arbeitete aber zunächst<br />
bewusst nicht für die neu entstandenen deutschen Presseorgane (FURTADO<br />
KESTLER 1992, S. 113). 1956 schließlich wurde er auf Initiative von Antonio Candido<br />
mit der Sparte „deutschsprachige Literatur“ im von Décio de Almeida Prado geleiteten<br />
Kulturteil der Tageszeitung O Estado de São Paulo betraut <strong>und</strong> übte diese Funktion<br />
bis 1967 aus (vgl. CANDIDO 2005, ALMEIDA PRADO 1995). 1962-67 übernahm<br />
er auf Initiative des damaligen Direktors Alfredo de Mesquita eine Lehrtätigkeit an<br />
der Escola de Arte Dramática der Universidade (EAD) de São Paulo. Diese Zeit gilt<br />
sowohl im Leben <strong>und</strong> Werk Rosenfelds als auch in der Geschichte der EAD als<br />
besonders produktiv <strong>und</strong> prägend (MESQUITA 1995, S. 70f.).<br />
Im Rahmen der im Martius-Staden-Jahrbuch des vergangenen Jahres 2006 vorgestellten<br />
Analyse der Dialektik von kultureller Aneignung <strong>und</strong> Vermittlung im Werk<br />
von Otto Maria Carpeaux, der seine Heimat Österreich nach deren „Anschluss“ an<br />
<strong>das</strong> nationalsozialistische Deutschland verlassen musste <strong>und</strong> in Brasilien zu einem<br />
der einflussreichsten Literaturwissenschaftler des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts wurde (vgl.<br />
VEJMELKA 2006), habe ich diesen in eine Gruppe deutschsprachiger Intellektueller<br />
im brasilianischen Exil eingereiht, innerhalb derer Anatol Rosenfeld eine nicht weniger<br />
herausragende Position einnimmt. Dies gilt in zweifacher Hinsicht: Zum einen<br />
leistete Rosenfeld gr<strong>und</strong>legende <strong>und</strong> bis heute prägende Beiträge zur Rezeption<br />
deutschsprachiger Schriftsteller <strong>und</strong> vor allem Dramatiker sowie allgemein zur Literatur-<br />
<strong>und</strong> Theatertheorie in Brasilien; zum anderen vollzog er auf einzigartige Weise<br />
<strong>und</strong> in kaum vergleichbarem Umfang die Geste einer kulturellen Vermittlung in<br />
zwei Richtungen <strong>und</strong> Sprachen, auf Portugiesisch <strong>und</strong> auf Deutsch, von Deutschland<br />
nach Brasilien <strong>und</strong> insbesondere auch umgekehrt. 4<br />
3. Julieta de Godoy Ladeira äußert die allgemeine Vermutung, die Erfahrung der Vertreibung habe<br />
in Rosenfeld so stark nachgewirkt, <strong>das</strong>s sie den Wunsch nach einer Rückkehr oder Remigration<br />
nicht aufkommen ließen. „Zurückkehren? Daran dachte er [Rosenfeld] nicht. [...] Die Gründe, die<br />
ihn zum Weggehen gezwungen hatten, wogen wohl noch immer so schwer, <strong>das</strong>s sie jeden<br />
Wunsch nach Rückkehr ausschlossen.“ („Voltar? [Rosenfeld] não pensava nisso. [...] as razões que<br />
o forçaram a sair deveriam ainda pesar bastante, afastando qualquer desejo de retorno. [...]<br />
Assim não havia para onde ou por que voltar.“ GODOY LADEIRA 1995, S. 25)<br />
4. Aus diesem Gr<strong>und</strong> zählt Anatol Rosenfeld neben Otto Maria Carpeaux, Sérgio Buarque de<br />
Holanda, Vianna Moog <strong>und</strong> Mário de Andrade zu den brasilianischen Denkern mit biographischem<br />
oder thematischem Bezug zum deutschsprachigen Raum, deren Wirken im Rahmen<br />
des Forschungsprojekts „Brasilianische Intellektuelle: transkulturelle Dynamiken <strong>und</strong><br />
transdisziplinäre Essays“ unter Leitung von Prof. Ligia Chiappini am Lateinamerika-Institut<br />
der Freien Universität Berlin untersucht werden soll.<br />
81
82<br />
So lassen sich in Rosenfelds Lebenswerk zwei sehr deutliche Ausrichtungen feststellen,<br />
von denen eine, nämlich die der Vermittlung deutscher Kultur <strong>und</strong> Literatur<br />
nach Brasilien sowie deren Integration in <strong>das</strong> dortige literarische <strong>und</strong> kulturelle<br />
System, im Verlauf der Jahre immer stärker in den Vordergr<strong>und</strong> tritt <strong>und</strong> die wirkmächtigsten<br />
Dimensionen annimmt. Das prägnanteste Beispiel hierfür ist gewiss<br />
neben den zeitlebens verfolgten Untersuchungen zu Thomas Mann Rosenfelds immer<br />
intensivere Beschäftigung mit dem Theater, in deren Zuge seine Auseinandersetzung<br />
mit Bertolt Brecht vollkommen in einer innovativen Reflexion zum zeitgenössischen<br />
Theaterwesen in Brasilien aufgeht. Die zweite Ausrichtung betrifft die,<br />
nach der oben erwähnten Zurückhaltung in den frühen 50er Jahren hinsichtlich<br />
der deutschsprachigen Publikationen in Brasilien, dann einsetzende <strong>und</strong> systematisch<br />
betriebene Vermittlung der brasilianischen Kultur <strong>und</strong> Literatur – <strong>und</strong> auch<br />
hier im Verlauf der Jahre in immer größerem Umfang des Theaters – nach Deutschland.<br />
Zwar tritt diese Dimension notwendigerweise hinter die bis heute ungebrochene<br />
Bedeutung von Rosenfelds Beitrag zur brasilianischen Literaturwissenschaft<br />
zurück, dennoch schreibt er bis kurz vor seinem Tod regelmäßig auf Deutsch <strong>und</strong><br />
für ein deutschsprachiges Publikum über zeitgenössische <strong>und</strong> historische Aspekte<br />
des brasilianischen Kulturlebens. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> ist denn auch die von<br />
Izabela Maria Furtado Kestler bereits 1992 geäußerte Kritik – „Rosenfeld wird in<br />
keinem Nachschlagewerk [zum deutschsprachigen Exil in Brasilien] erwähnt, obwohl<br />
er zu einem der wichtigsten Literatur- <strong>und</strong> Kulturvermittler Brasiliens geworden<br />
ist“ (FURTADO KESTLER 1992, S. 113) – aufzugreifen <strong>und</strong> zu bestärken.<br />
Und gerade der zuvor genannte Punkt zu Rosenfelds Leistung im Sinne der<br />
kulturellen Vermittlung von Brasilien nach Deutschland ist Anlass für die dankbare<br />
Erwähnung einer kaum zufälligen Fügung. Denn Anatol Rosenfeld bediente<br />
sich für seine auf Deutsch <strong>und</strong> somit an ein deutschsprachiges Publikum gerichteten<br />
Untersuchungen zur brasilianischen Kultur <strong>und</strong> Literatur desselben<br />
Mediums wie vorliegender Beitrag. Von 1954 bis 1972 veröffentlichte er 13 Essays<br />
im damals noch Staden-Jahrbuch betitelten Organ des gleichnamigen Instituts,<br />
<strong>das</strong> somit <strong>das</strong> zentrale Medium für seine in die verlorene Heimat gerichtete<br />
vermittelnde Tätigkeit darstellt. 5<br />
Die Gesamtheit dieser Beiträge zum Staden-Jahrbuch könnte hier nicht angemessen<br />
gewürdigt <strong>und</strong> dargelegt werden, zu komplex <strong>und</strong> tiefgründig sind sowohl<br />
die interne Entwicklung des Denkens <strong>und</strong> Schreibens von Anatol Rosenfeld<br />
im Verlauf der von ihnen abgedeckten knapp drei Jahrzehnte als auch die von<br />
ihm behandelten Fragen <strong>und</strong> Gegenstände (Literatur, Theater in Schriftform <strong>und</strong><br />
als Aufführung, Film, Fußball, Rassismus <strong>und</strong> religiöser Synkretismus). Eine gewisse<br />
Einheit <strong>und</strong> Sonderstellung – wiederum sowohl im chronologischen wie im<br />
thematischen Sinne – nehmen dabei die drei ersten Beiträge zu den Staden-Jahrbüchern<br />
1954-56 ein, die sich nicht wie die späteren Essays mit einzelnen Autoren<br />
oder spezifischen Fragen des zeitgenössischen Theaters auseinandersetzen, son-<br />
5. Die einzelnen Beiträge wurden im Zuge der Publikation von Anatol Rosenfelds Schriften ins<br />
Portugiesische übersetzt <strong>und</strong> in verschiedene Bände aufgenommen. Insbesondere hat sich<br />
Jacó Guinsburg um die Herausgabe von Rosenfelds Werk verdient gemacht. Zuletzt erschienen<br />
2006 seine frühen Schriften in der Anthologie Anatol on the road (ROSENFELD 2006).
dern in Form sehr allgemeiner Zugänge drei charakteristische <strong>und</strong> bis heute aktuelle<br />
Aspekte der brasilianischen Kultur betrachten. Die Einheit dieser drei frühen<br />
Essays wird belegt <strong>und</strong> bekräftigt von der Entscheidung Jacó Guinsburgs <strong>und</strong><br />
Abílio Tavares’, sie in portugiesischer Übersetzung in einem eigenen Band zu veröffentlichen:<br />
Negro, macumba e futebol (Rosenfeld 1993a) 6 . Somit besitzen diese in<br />
den 50er Jahren des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts für ein deutschsprachiges Publikum im<br />
deutsch-brasilianischen Kulturdialog verfassten Texte noch knapp vier Jahrzehnte<br />
nach ihrer Entstehung ein mehr denn rein dokumentarisches Interesse für eine<br />
allgemeine brasilianische Leserschaft:<br />
Die Zusammenstellung dieser drei Studien in einem Band bietet dem<br />
Leser einerseits treffende – weniger als wissenschaftliche Ausführungen<br />
denn als Gesamtbetrachtungen abgefasste – Analysen der in den<br />
Blick genommenen Gegenstände, sie vermitteln ihm darüber hinaus<br />
eine Vorstellung von der guten soziologischen <strong>und</strong> politischen Ausrüstung,<br />
mit der Anatol H. Rosenfeld seine kritisch-ästhetischen Erk<strong>und</strong>ungen<br />
im Territorium der brasilianischen Kultur unternahm.<br />
(GUINSBURG/TAVARES 1993, S. 15-16) 7<br />
Diese in der Geste der interkulturellen Vermittlung <strong>und</strong> aus der transkulturellen<br />
Erfahrung von Exil <strong>und</strong> Emigration heraus entstandenen Essays „Die Situation<br />
der Farbigen in Brasilien“, „Macumba“ <strong>und</strong> „Das Fußballspiel in Brasilien“ sollen<br />
aus diesem Gr<strong>und</strong> im Folgenden einzeln vorgestellt <strong>und</strong> abschließend aus der<br />
Perspektive aktueller kulturwissenschaftlicher Ansätze kontextualisiert werden.<br />
II. „Die Situation der Farbigen in Brasilien“<br />
In diesem ersten, im Staden-Jahrbuch 1954 erschienenen Essay vergleicht Anatol<br />
Rosenfeld die Mechanismen <strong>und</strong> Konstellationen des Rassismus bzw. der<br />
Ausgrenzung der farbigen Bevölkerung in der brasilianischen <strong>und</strong> der US-amerikanischen<br />
Gesellschaft. Während in letzterer ein rigides Kastensystem mit einer<br />
eigentlich unüberwindlichen Farblinie herrsche, sei in Brasilien die Grenzziehung<br />
zwischen Schwarz <strong>und</strong> Weiß in die Schichtung der sozialen Klassen eingebettet<br />
<strong>und</strong> bedeutend durchlässiger. Dies spiegele sich historisch im Kontrast der unblutig<br />
durchgesetzten Abschaffung der Sklaverei in Brasilien durch die Lei Áurea von<br />
1888 gegenüber deren Ende durch den 1865 errungenen Sieg der Nordstaaten<br />
im US-amerikanischen Bürgerkrieg:<br />
Aus vielen Gründen verlief die Auflösung der Sklaverei in Brasilien auf<br />
friedliche Weise im Rahmen einer graduellen Entwicklung, die durch<br />
6. Die Essays tragen in dieser Ausgabe folgende Titel: „A situação <strong>das</strong> pessoas de cor no Brasil“<br />
(übersetzt von Erika Elisabeth Patsch), „Macumba“ (übersetzt von Jacó Guinsburg) <strong>und</strong> „O<br />
futebol no Brasil“ (übersetzt von Modesto Carone).<br />
7. „A conjugação destes três estudos em um único volume oferecerá ao leitor não só análises<br />
pertinentes dos assuntos focalizados – escritas menos à guisa de desenvolvimentos científicos<br />
do que de apanhados de conjunto – como uma idéia da sólida bagagem sociológica e<br />
política que sustentava as incursões crítico-estéticas de Anatol H. Rosenfeld no território<br />
cultural brasileiro.“<br />
83
84<br />
die Lei Áurea von 1888 gleichsam bestätigt wurde, während in Nordamerika<br />
ein blutiger Bürgerkrieg dem Süden mit aller Schroffheit <strong>das</strong> Ende des<br />
Sklavensystems aufzwang <strong>und</strong> durch seine traumatische Wirkung Ursprung<br />
tiefer Ressentiments wurde. Diese graduelle Entwicklung fand ihren symbolischen<br />
Ausdruck in der Tatsache, <strong>das</strong>s gegenwärtig in Brasilien <strong>das</strong><br />
vorhandene „Farbkontinuum“, welches den „preto retinto“, „den kohlschwarzen<br />
Neger“, über unendlich viele Nuancen mit dem Weissen verbindet,<br />
sein Pendant gleichsam in der nuancierten Haltung des letzteren<br />
gegenüber dem ersteren hat, während in Nordamerika die weisse Bevölkerung<br />
durch einen schroffen Einschnitt von allen Farbigen getrennt ist,<br />
so hell ihre Tönung auch immer sein mag. (ROSENFELD 1954, S. 157)<br />
Rosenfeld führt diesen historischen Unterschied in der Gedankenlinie<br />
Gilberto Freyres auf die flexible <strong>und</strong> bewusst Vermischung fördernde Gr<strong>und</strong>anlage<br />
der portugiesischen Kolonisierung zurück. In der kolonialen Vergangenheit<br />
Brasiliens erkennt er somit die Ursachen sowohl für die im Vergleich zu<br />
den USA günstigere gesellschaftliche Position der Farbigen als auch für ihre<br />
strukturelle Benachteiligung in wirtschaftlicher, politischer <strong>und</strong> sozialer Hinsicht.<br />
Entsprechend genau seziert er denn auch die Überlagerungen <strong>und</strong> Verflechtungen<br />
einer ideologisch begründeten Betonung einer brasilianischen<br />
„Rassendemokratie“ <strong>und</strong> den zwar nur punktuell manifesten, latent aber strukturell<br />
existierenden „Voreingenommenheiten“ gegenüber Farbigen <strong>und</strong> Schwarzen:<br />
Tatsächlich ist die Haltung einer grossen Zahl weisser <strong>und</strong> „heller“<br />
Brasilianer den dunkleren Bevölkerungsschichten gegenüber in vielen<br />
Fällen nicht bis zur Phase kristallisierten Vorurteils gediehen: eher handelt<br />
es sich um <strong>das</strong>, was man „Voreingenommenheit“ nennen könnte.<br />
Ideologisch wird <strong>das</strong> Vorurteil gegen die Farbigen fast durchweg abgelehnt,<br />
<strong>und</strong> der Brasilianer pflegt sich mit Stolz dieser Vorurteilslosigkeit<br />
zu rühmen. (158)<br />
Auch hier wird der Vergleich mit den USA produktiv. Denn während dort die<br />
Vorurteile im engsten Wortsinne „rassisch“ begründet werden <strong>und</strong> „jeder Tropfen<br />
schwarzen Blutes“ einen Menschen zum „Schwarzen“ mache, richte sich in Brasilien<br />
eine Ablehnung gegen die sichtbaren körperlichen Merkmale, welche die Gleichsetzung<br />
von Schwarzen mit Sklaven aktualisieren, welche aber durch eine entsprechende<br />
soziale Stellung auch „überdeckt“ oder „übersehen“ werden könnten.<br />
Eng mit der eigenartigen Lagerung der Farbigenfrage, in ihrer Verbindung<br />
mit einer Klassen- <strong>und</strong> nicht einer Kastentrennung, hängt der<br />
Umstand zusammen, <strong>das</strong>s die Voreingenommenheit sich nicht gegen<br />
die Rasse des Farbigen als solche richtet, sondern gegen die „Sichtbarkeit“<br />
der Farbe oder anderer Merkmale, die für den früheren Sklavenstatus<br />
symbolhaft sind, wie vor allem Wollhaar <strong>und</strong> Wulstlippen. Die<br />
Sichtbarkeit des Symbols ist es, die den indirekten Reflex der Voreingenommenheit<br />
spielen lässt, nicht die Abstammung als solche. (ebd.)<br />
Diese Wahrnehmungsweise, die Rosenfeld als eher „quantitativ“ denn „quali-
tativ“ bezeichnet, bringe es mit sich, <strong>das</strong>s eben im Zusammenkommen verschiedenster<br />
Eigenheiten eines Menschen als sozialer Faktoren die negative Sichtbarkeit<br />
seiner Hautfarbe verschwinden oder zumindest gemildert werden könne: Je<br />
wohlhabender, erfolgreicher, gebildeter oder eleganter die Person, desto bereitwilliger<br />
<strong>und</strong> stärker werde sie als „weiß“ wahrgenommen <strong>und</strong> offiziell auch so<br />
klassifiziert. Diesen eigentümlichen Mechanismus der brasilianischen Gesellschaft<br />
illustriert er mit dem zeitgenössischen Sprichwort „Quem escapa de negro, branco<br />
é“, wohingegen in den USA die whiteness den absoluten Wert darstelle, an dem<br />
man gemessen würde <strong>und</strong> gemäß derer alle Abweichungen einen zum „Farbigen“<br />
stempelten (158). 8 Das in den USA zum Schlagwort gewordene passing als<br />
Aufstieg in eine von der weißen weiterhin getrennten schwarze Mittelschicht gestaltet<br />
sich somit in Brasilien anders – eben als „passar por branco“ – <strong>und</strong> sehe sich<br />
mit einer „Übergangszone“ zwischen den Ethnien konfrontiert (170).<br />
Historisch bestehe somit in Brasilien kein so krasser Gegensatz zwischen der nationalen<br />
Ideologie universeller Gleichheit <strong>und</strong> der real existierenden Diskriminierung<br />
wie in den USA, <strong>und</strong> dem entsprechend auch nicht <strong>das</strong> Bedürfnis (wie dort)<br />
nach einer kompensatorischen, rechtfertigenden Ideologie. Doch Rosenfeld analysiert<br />
diese brasilianische Zweischneidigkeit noch weiter <strong>und</strong> verdeutlicht, <strong>das</strong>s im<br />
Kern dieser scheinbaren Harmonie von gesellschaftlicher Realität <strong>und</strong> nationalem<br />
Projekt die geheime, heimliche Hoffnung ruhe, im Zuge der (wiederum im Gegensatz<br />
zu den die „Rassentrennung“ bevorzugenden USA) positiv besetzten ethnischen<br />
Vermischung schließlich eine „Aufweißung“ der Bevölkerung zu erreichen. Ähnlich<br />
zweischneidig sind für Rosenfeld die Auswirkungen dieser Dynamik, die wiederum<br />
eigene ideologische Dimensionen besitzt. Denn sie werde von der scheinbar nur<br />
geringfügig diskriminierten farbigen Bevölkerung derart verinnerlicht, <strong>das</strong>s sie die<br />
mit ihr verb<strong>und</strong>enen Vorurteile übernehme <strong>und</strong> somit perpetuiere.<br />
Das Fehlen einer Diskriminationen rechtfertigenden Ideologie schliesst<br />
freilich nicht aus, <strong>das</strong>s zahlreiche Stereotype als Splitter <strong>und</strong> Atome<br />
einer latenten, strengster Zensur unterliegenden Ideologie eine gewisse<br />
Verbreitung haben. [...] Die Stereotype tragen dazu bei, <strong>das</strong>s sich<br />
bei den Farbigen genau die Eigenschaften entwickeln, die ihnen in simplifizierender<br />
Verallgemeinerung zugeschrieben werden. Die sich subtil<br />
enthüllende Meinung über die Farbigen wird von diesen „introjiziert“,<br />
übernommen. Endlich kommt es soweit, <strong>das</strong>s sie nach dem Bilde leben,<br />
welches die Weissen sich von ihnen zu machen pflegen, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s<br />
sie so handeln, wie man es von ihnen erwartet. Auf diese Weise formt<br />
der Weisse den Farbigen nach dem Ebenbilde der Vorstellung, die er<br />
von ihm entworfen hat. (160)<br />
Schwarze müssten in dieser Konstellation einen ungleichen Kampf mit ihren<br />
weißen Mitbürgern um soziale Positionen <strong>und</strong> Chancen führen, was wiederum<br />
8. Ebenfalls in den 50er Jahren analysierte der US-amerikanische Anthropologe <strong>und</strong> Lateinamerikanist<br />
Charles Wagley diesen f<strong>und</strong>amentalen Unterschied im Umgang mit der Hautfarbe<br />
als ethnische <strong>und</strong>/oder soziale Kategorie – unter Einsatz des Begriffs der „social race“<br />
– in Mittelamerika <strong>und</strong> Brasilien gegenüber der strikten Trennung <strong>und</strong> absoluten Ethnisierung<br />
in den USA (vgl. WAGLEY 1968).<br />
85
86<br />
dazu führe, <strong>das</strong>s die farbige Bevölkerung <strong>das</strong> Vorurteil verinnerliche, keine Fehler<br />
begehen zu dürfen <strong>und</strong> in allem besser <strong>und</strong> vorbildlicher als die Weißen ihrer<br />
sozialen Stufe sein zu müssen. Hinzu komme noch die bereits erwähnte Überlagerung<br />
von ethnischen <strong>und</strong> sozialen Trennlinien <strong>und</strong> der mit ihnen verb<strong>und</strong>enen<br />
Vorurteile, aufgr<strong>und</strong> derer sich in Brasilien keine ethnische Solidarität im Kampf<br />
um Zugang zum gesellschaftlichen Aufstieg herausbilden könne.<br />
Es ergibt sich sogar, <strong>das</strong>s gerade die Milde des Vorurteils, so günstig sie,<br />
verglichen mit Nordamerika, für die brasilianische Gesellschaft als Ganzes<br />
sein mag, der farbigen Bevölkerung nicht unbedingt zum Vorteil gereicht.<br />
Die Diskretion des Vorurteils lässt eine Solidarität unter den Farbigen<br />
nicht aufkommen <strong>und</strong> beraubt sie durch den dauernden Entzug<br />
aufsteigender Mulatten <strong>und</strong> Neger, die sich alsdann vollkommen mit den<br />
Weissen zu identifizieren suchen, gerade ihrer besten Elemente. (167)<br />
Diesen anhand der Figur des überkorrekten, in der übertriebenen Anpassung<br />
seine Unterwerfung ausdrückenden „mulato pernóstico“ (171) greifbaren<br />
Mechanismus illustriert Rosenfeld nun bezeichhnender Weise <strong>und</strong> unter Rückgriff<br />
auf die klassische Studie O negro no futebol brasileiro von Mário Filho aus<br />
dem Jahr 1947 anhand der Geschichte des Fußballs <strong>und</strong> des schwierigen <strong>und</strong><br />
umkämpften Einzugs der farbigen Spieler in den ursprünglich „europäischen“<br />
<strong>und</strong> elitären, daher „weißen“ Sport:<br />
Überdies muss der in den Mittelstand aufsteigende Farbige in einer Gesellschaft,<br />
die keine Kastentrennung kennt, mit dem Weissen um „einen<br />
Platz an der Sonne“ kämpfen [...]; <strong>und</strong> in diesem Kampf ist der Farbige<br />
natürlich in relativ ungünstigerer Position – er kämpft mit Zwölfunzenhandschuhen<br />
gegen einen Gegner mit Vierunzenhandschuhen. Brasilianischer<br />
ausgedrückt: er muss sich im Lebenskampf so benehmen, wie<br />
die ersten farbigen Fussballspieler im Kampf um den Ball. (167)<br />
Und <strong>das</strong> bedeutete oftmals, behutsamer zu spielen, den Ball nur mit fairen<br />
Mitteln zu erobern <strong>und</strong> in der Verteidigung auf Fouls zu verzichten, den weißen<br />
Gegenspieler dann „durchbrechen [zu] lassen <strong>und</strong> zurück[zu]bleiben“ (ebd.). Im<br />
letzten Extrem bringe diese Dynamik der „Milde“ <strong>und</strong> „Flexibilität“ des Rassismus in<br />
Brasilien einen verinnerlichten Selbsthass vor allem der sozial nicht aufgestiegenen<br />
der Schwarzen hervor (168), deren Spiegelbild auf der Gegenseite <strong>das</strong> die<br />
Konflikte ausblendende Ausweichen auf vermeintlich unverfängliche Bezeichnungen<br />
der Hautfarbe darstelle – etwa die Vorliebe für <strong>das</strong> Wort „moreno“ <strong>und</strong> die<br />
als „morena“ bezeichnete „dunkle weiße Frau“ als nationales Schönheitsideal –<br />
welches die bestehenden Vorurteile nur noch weiter verfestige. So ziehe sich durch<br />
die brasilianische Gesellschaft zwischen den Klassen <strong>und</strong> Hautfarben ein bis zur<br />
Hypersensibilität gesteigertes „epidermisches Feingefühl“:<br />
Angesichts der Sensibilität der Farbigen hat auch der Weisse eine spezifische<br />
Sensibilität entwickelt, <strong>und</strong> dieses epidermische Feingefühl hat<br />
sich in hohem Grade der Umgangskultur der bürgerlichen Klassen<br />
mitgeteilt. Charakteristisch ist die Tatsache, <strong>das</strong>s man die Wörter
„negro“ <strong>und</strong> „mulato“ vermeidet <strong>und</strong> auch „preto“ (schwarz) <strong>und</strong> „de<br />
cor“ (farbig) nicht gern verwendet. Statt dessen zieht man vor, zumal<br />
wenn man sich auf eine reale, selbst abwesende Person bezieht, „moreno“,<br />
„morena“ zu sagen – ein Ausdruck, der eigentlich brünett meint, jedoch,<br />
zum Allerweltswort geworden, alle möglichen Schattierungen der<br />
Hautfarbe einschliesst, wobei Variationen des Mienenspiels oder Zusätze<br />
wie „bem“ moreno (recht dunkel), „amorenado“ (angedunkelt) der<br />
genaueren Definition dienen. Eine solche Sachlage verrät die Anerkennung<br />
des Vorurteils <strong>und</strong> zugleich eine strenge Zensur. (169/170)<br />
Mit seinem abschließenden Ausblick – <strong>und</strong> man erinnere sich daran, <strong>das</strong>s Rosenfelds<br />
Text 1954 erschien, also kurz vor dem Erstarken des Civil Rights Movement in<br />
den USA im darauf folgenden Jahr mit dem Montgomery Bus Boycott –, <strong>das</strong>s die<br />
radikale <strong>und</strong> starre Rassentrennung in den USA wohl unvermeidlich zum offenen<br />
Konflikt führen würde (173), hatte er sicherlich Recht behalten. Ob seine Hoffnung,<br />
die nicht weniger radikale <strong>und</strong> ihrerseits komplexere Form der Diskriminierung<br />
in Brasilien könnte eine friedliche „Lösung“ finden (ebd.), sich noch<br />
bewahrheitet, bleibt bis heute offen. Seine kritische Betrachtung <strong>und</strong> Darstellung<br />
der brasilianischen Gesellschaft <strong>und</strong> Kultur anhand der Diskriminierung<br />
der farbigen Bevölkerung zeichnen dabei kein harmonisches Bild des Landes,<br />
wie es etwa der ungleich bekanntere <strong>und</strong> oft genannte deutschsprachige Flüchtling<br />
Stefan Zweig in seinem 1941 erschienenen Brasilien, ein Land der Zukunft 9<br />
tat. Doch sie beurteilen die angetroffenen Zustände <strong>und</strong> Phänomene auch nicht<br />
in bevorm<strong>und</strong>ender Haltung <strong>und</strong> mit der verzerrenden Brille eines deutsch<br />
<strong>und</strong>/oder europäisch geprägten Universalismus. Vielmehr erkennt man hinter<br />
dieser Reflexion einen von der eigenen Erfahrung von Verfolgung <strong>und</strong> Vertreibung<br />
geschärften Sinn für die im Innern einer Kultur wirkenden Kräfte <strong>und</strong> gezogenen<br />
Grenzen unter gleichzeitiger Betonung der darin trotz aller Probleme<br />
enthaltenen Chancen für Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft.<br />
Ein Gleichnis für den Aufstieg des Farbigen in Brasilien ist, wie Gilberto<br />
Freyre betont, sein schwer erkämpfter Erfolg im Fussballspiel, dieser<br />
nationalen Institution, die zunächst den Weissen vorbehalten war. Als<br />
Gleichnis mag auch die Vorliebe des Brasilianers für die „morena“<br />
angeführt werden – für die dunkle Schöne, auf die er stolz ist <strong>und</strong> die<br />
er in Lied <strong>und</strong> Schrift verherrlicht. Donald Pierson hebt hervor, <strong>das</strong>s<br />
9. Bereits in der Einleitung stellt Zweig diese sicherlich übertriebene, aufgr<strong>und</strong> der für ihn<br />
traumatischen Erfahrung eines im Grauen untergegangenen – von ihm als Welt von gestern<br />
(vgl. ZWEIG 1994) beschriebenen – Europas allerdings auch nachvollziehbare harmonische<br />
Wahrnehmung der brasilianischen Gesellschaft in den Vordergr<strong>und</strong>: „Nach europäischer<br />
Einstellung wäre zu erwarten, daß jede dieser Gruppen sich feindlich gegen die andere<br />
stellte, die früher Gekommenen gegen die später Gekommenen, Weiße gegen Schwarze,<br />
Amerikaner gegen Europäer, Braune gegen Gelbe, daß Mehrheiten <strong>und</strong> Minderheiten in<br />
ständigem Kampf um ihre Rechte <strong>und</strong> Vorrechte einander befeindeten. Zum größten Erstaunen<br />
wird man nun gewahr, daß alle diese schon durch die Farbe sichtbar voneinander<br />
abgezeichneten Rassen in vollster Eintracht miteinander leben <strong>und</strong> trotz ihrer individuellen<br />
Herkunft einzig in der Ambition wetteifern, die einstigen Sonderheiten abzutun, um möglichst<br />
rasch <strong>und</strong> möglichst vollkommen Brasilianer, eine neue <strong>und</strong> einheitliche Nation zu<br />
werden.“ (ZWEIG 1997, S. 13)<br />
87
88<br />
die „morena“ als der brasilianische Idealtyp zum Symbol einer Tendenz<br />
geworden ist, welche die Verschmelzung bejaht <strong>und</strong> welche in ihr<br />
gleichsam <strong>das</strong> Bindeglied zwischen der dunkleren <strong>und</strong> der helleren<br />
Bevölkerung sieht. Wenn auch die afrikanischen Züge nicht zu sehr<br />
durchschlagen dürfen <strong>und</strong> wenn auch in dieser Neigung unbewusst<br />
vielleicht noch die sexuelle Herrschaft des Weissen über die dunkle<br />
Sklavin nachklingt – selbst <strong>das</strong> Stereotyp, <strong>das</strong>s die Liebe der „morena“<br />
glühender sei als die der Weissen –, so kann man nicht umhin zu<br />
bemerken, <strong>das</strong>s der Brasilianer in diesem hellen Mestizentyp sich selbst<br />
repräsentiert sieht <strong>und</strong> also in ihm sich selbst liebt, stolz auf <strong>das</strong> große<br />
Experiment einer rassischen Toleranz, die, wenn sie nicht absolut ist,<br />
dennoch kaum ihresgleichen in der heutigen Welt findet. (173f.)<br />
III. „Macumba“<br />
Der Titel von Rosenfelds zweitem Beitrag zum Staden-Jahrbuch stellt den Leser<br />
gleich zu Beginn des Textes vor ein Problem, <strong>das</strong> wohl nur im Rückgriff auf die<br />
für Rosenfeld allgemein als charakteristisch geltende Ironie eine Auflösung findet.<br />
Denn Rosenfeld klärt zunächst den Titel-Begriff „Macumba“ <strong>und</strong> spezifiziert<br />
ihn aus der vielfältigen Bedeutung im allgemeinen Sprachgebrauch hin auf eine<br />
konkrete Form von synkretistischen, afro-brasilianischen religiösen Ritualen in<br />
Rio de Janeiro <strong>und</strong> in geringerem Maße São Paulo (ROSENFELD 1955, S. 125),<br />
um im Anschluss aber zu betonen, <strong>das</strong>s er in seiner Studie nicht darüber, sondern<br />
ausschließlich über den in Bahia beheimateten Candomblé sprechen werde.<br />
Den Titel „Macumba“, so seine (wohl augenzwinkernde, als verschlagen zu<br />
bezeichnende) Erklärung, habe er nur gewählt, weil Macumba <strong>das</strong> bekanntere<br />
Phänomen sei:<br />
Die folgenden Ausführungen behandeln lediglich <strong>das</strong> Ritual des<br />
Candomblé <strong>und</strong> die ihm zugr<strong>und</strong>eliegende Religion. Wenn der Titel<br />
„Macumba“ gewählt wurde, so geschah es deshalb, weil es <strong>das</strong> bekanntere<br />
<strong>und</strong> umfassendere Wort ist, <strong>das</strong> in einem sehr lockeren Sinn<br />
auch den Candomblé einschliesst. (ebd.)<br />
Doch schon bei der nun folgenden Beschreibung der historischen Entwicklung<br />
des Candomblé begegnet man wieder dem einfühlsamen <strong>und</strong> tiefgründigen<br />
Kulturvermittler. Rosenfeld zeichnet die synkretischen Dynamiken der Religion<br />
bereits in Afrika, dann im Zuge der von den Portugiesen bewusst eingesetzten<br />
Vermischung der Sklaven aus verschiedenen Völkern nach <strong>und</strong> betont, wie unangemessen<br />
eine Betrachtung oder gar Bewertung dieser religiösen <strong>und</strong> kultischen<br />
Welt nach vermeintlich universellen Gr<strong>und</strong>sätzen wäre:<br />
Ein schwerer Fehler wäre es auch, in die Vorstellungswelt des<br />
Candomblé ohne weiteres die abendländischen Denkstrukturen hineinzuinterpretieren<br />
<strong>und</strong> dieser proteischen, stark gefühlsbeladenen<br />
Gedankenwelt, die ihre eigenen Klassifizierungen <strong>und</strong> Kategorien hat,<br />
die aristotelische Logik unterzuschieben.
Hinzu kommt noch, <strong>das</strong>s dem inneren, primären Synkretismus abweichender<br />
afrikanischer Religionen ein äusserer, sek<strong>und</strong>ärer Synkretismus<br />
folgte, vor allem auf Gr<strong>und</strong> des Einflusses katholischer Auffassungen,<br />
die sich infolge des äusseren Drucks, neben indianischen <strong>und</strong><br />
spiritistischen Vorstellungen, besonders bemerkbar machen. (126)<br />
Vor diesem historischen Hintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> im Abgleich mit afrikanischen Ursprüngen<br />
<strong>und</strong> Vorformen erläutert Rosenfeld dann zunächst den Götterpantheon<br />
des Candomblé, benennt Entsprechungen <strong>und</strong> Identitäten der Gottheiten sowie<br />
ihre Verschiebungen <strong>und</strong> Veränderungen im Zuge des kulturellen Transfers von<br />
Afrika nach Brasilien (126ff).<br />
Danach fasst er die Formen <strong>und</strong> Funktionen der Kultstätten, der terreiros (130ff),<br />
zusammen, nennt die verschiedenen Institutionen <strong>und</strong> Aufgaben der Beteiligten<br />
(Pai-de-santo oder mãe-de-santo, axôgun, filhas-de-santo usw.) <strong>und</strong> schildert die<br />
Organisation des religiösen Lebens mit Ausbildung <strong>und</strong> Initiation etwa der filhasde-santo.<br />
Schließlich folgt eine eingehende Beschreibung der Zeremonie, die streckenweise<br />
narrative Züge annimmt. Dabei bleibt allerdings ungeklärt, ob Rosenfeld<br />
selbst ein- oder gar mehrmals terreiros in Bahia besuchte <strong>und</strong> dort abgehaltenen<br />
Zeremonien beiwohnte oder sich für seine Darstellung ganz auf Berichte<br />
Dritter stützt. Folgendes Textbeispiel mag einen Eindruck davon vermitteln:<br />
Der Tanz hat endlich rasende Formen angenommen, ohne jedoch zügellos<br />
zu sein. Die Masse ist wie von einem Rausch erfasst. Trunken<br />
von der hypnotischen Monotonie der Atabaques, verwirrt vom bunten<br />
Flitter des sich zum Paroxysmus steigernden Reigens, fast betäubt vom<br />
schweren Brodem der bahianischen Nacht, fühlen sich alle zu einer<br />
begeisterten Einheit verschmolzen. Unter den Anwesenden befinden<br />
sich Filhas anderer Candomblés, die bei den ihren Orixás gewidmeten<br />
Klängen fürchten, in einer fremden Umgebung in Verzückung zu geraten.<br />
Sie bitten um Wasser, <strong>das</strong>, von ihnen getrunken, den Sturz in den<br />
Gott verhindert. (136)<br />
Gerade im Hinblick auf die deutende Verbindung von Ritual, seiner darstellenden,<br />
performativen Dimension <strong>und</strong> den mythischen Tiefen kultureller Götterwelten<br />
erweist Rosenfeld sich als einfühlsamer <strong>und</strong> tiefgründiger Beobachter <strong>und</strong> Autor.<br />
Den Ablauf <strong>und</strong> die Gr<strong>und</strong>züge der Zeremonie des Candomblé mit dem Hineinfahren<br />
der Gottheiten in ihre Medien versteht er als Anrufung, Vergegenwärtigung<br />
<strong>und</strong> Verehrung der Götter, zugleich als Inszenierung <strong>und</strong> jeweils neue Nacherzählung<br />
der dem Glauben zugr<strong>und</strong>e liegenden Mythen.<br />
Denn sei es nun, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Tanzritual eine Darstellung der Göttergeschichte<br />
ist, die dramatische Aufführung des epischen Geschehens,<br />
<strong>das</strong>, in Urzeiten abgelaufen, nun zur feierlichen Gegenwart wird; sei<br />
es, <strong>das</strong>s die mythische Erzählung nichts ist als eine nachträgliche Interpretation<br />
des heftigen Gefühlsausbruchs, der motorischen Entladung,<br />
die, von der Gesellschaft gebändigt <strong>und</strong> geformt, zum symbolischen<br />
Ausdruck geworden ist: auf jeden Fall fordern Mythos <strong>und</strong> Ritual einander<br />
<strong>und</strong> eins ist mit dem andern auf’s innigste verschlungen. [...]<br />
89
90<br />
Indessen, es handelt sich nicht eigentlich um eine symbolische Darstellung.<br />
Vielmehr ist <strong>das</strong> Fest zugleich der Ursprung; es ist nicht nur<br />
Zelebrierung des Göttergeschehens, sondern ist zugleich dieses selbst.<br />
Das Symbol <strong>und</strong> <strong>das</strong> Symbolisierte sind eins. (137)<br />
Es ist also nicht exotistische, pittoreske Neugier oder Faszination, die Rosenfeld<br />
dazu veranlasst, dem Candomblé seine Aufmerksamkeit <strong>und</strong> einen Text zu widmen.<br />
Man erkennt im Zuge seiner schrittweisen Annäherung an diese religiöse<br />
<strong>und</strong> mythologische Welt, welche er dem Leser so auch Schritt für Schritt erschließt<br />
<strong>und</strong> näher bringt, immer <strong>das</strong> Bemühen, die einzelnen Aspekte <strong>und</strong> Angaben als in<br />
gesellschaftliche <strong>und</strong> kulturelle Gesamtzusammenhänge eingebettet zu verstehen. 10<br />
Man erkennt in Rosenfelds Beschreibung der ekstatischen Tänze bereits den wichtigen<br />
Hinweis, <strong>das</strong>s es sich dabei nicht um „Zügellosigkeit“ handelt, <strong>das</strong>s eben die<br />
Rituale des Candomblé sich nicht nur der „aristotelischen Logik“ entziehen, sondern<br />
auch nicht den oftmals mit ihnen verb<strong>und</strong>enen negativen Vorurteilen entsprechen,<br />
den – wenn man Rosenfelds Wortwahl aus dem vorangegangenen<br />
Essay aufgreifen möchte – „Voreingenommenheiten“ gegenüber als bedrohlich<br />
oder primitiv, Vernunft <strong>und</strong> Moral verletzend verstandenen Praktiken. Diesen Aspekt<br />
vertieft er nochmals zum Ende seiner Darstellung mit Überlegungen, die er der in<br />
den Candomblé eingeschriebenen ethischen Dimension widmet.<br />
Zudem beschränkt sich <strong>das</strong> Leben eines Candomblé nicht auf die Feste.<br />
Hinter allem steht ein eigentümliches Ethos. Je inniger der Gläubige<br />
dem Candomblé verb<strong>und</strong>en ist – eine Beziehung, deren niederster<br />
Grad durch die Lavagem-de-contas erworben wird –, desto größer die<br />
Verantwortung, die er übernimmt, die Tabus <strong>und</strong> Einhaltungen, die er<br />
sich auferlegen muss, die Verpflichtungen, die er den Göttern schuldet.<br />
Die Erhöhung <strong>und</strong> Stärkung des Seins durch die grössere Gottesnähe<br />
wird jeweils mit umso strengeren Opfern an Gemächlichkeit des<br />
Wandels, an lockerer Leichtigkeit des Lebens erkauft. Die Mächtigsten<br />
haben <strong>das</strong> härteste Dasein. (138)<br />
Auf der Gr<strong>und</strong>lage dieses internen Ethos erscheint der Candomblé als alternatives,<br />
kompensatorisches Gesellschaftsmodell, in dem alle Gläubigen, alle Teilnehmer<br />
an den Zeremonien zum einen ihre kulturelle <strong>und</strong> historische afro-brasilianische<br />
Identität aktualisieren <strong>und</strong> konsolidieren, zum anderen ihrer Gemeinschaft<br />
der von den Weißen diskriminierten, marginalisierten Farbigen die vitale<br />
Festigkeit verleihen, die nötig ist, damit sie in ihr jeweils ihre Räume <strong>und</strong> Positionen<br />
schaffen <strong>und</strong> finden können, die ihnen in der brasilianischen Gesellschaft als<br />
ganzer verwehrt werden (139).<br />
Damit ist eine unmittelbare Verbindung zwischen dieser anthropologisch <strong>und</strong><br />
religionshistorisch ausgerichteten Studie <strong>und</strong> der zuvor besprochenen Analyse<br />
der Diskriminierung der farbigen Bevölkerung in Brasilien hergestellt. Dieser zwei-<br />
10. In der folgenden Ausgabe des Staden-Jahrbuchs rezensiert Anatol Rosenfeld Henri-Georges<br />
Clouzots Le cheval des dieux, auf <strong>das</strong> er sich in weiten Teilen seines Essays stützt. In der<br />
Buchbesprechung wird außerdem deutlich, wie kritisch Rosenfeld mit seinen Quellen umgeht<br />
<strong>und</strong> die in ihnen enthaltenen Angaben überprüft (ROSENFELD 1956b).
te Essay erschließt sich sicherlich erst vollständig vor dem Hintergr<strong>und</strong> des vorangegangenen<br />
Beitrags zum Staden-Jahrbuch, dessen Analysen <strong>und</strong> Feststellungen<br />
er vertieft <strong>und</strong> konkretisiert. Nach der allgemeinen Darstellung der gesellschaftlichen<br />
Mechanismen der ethnisch-sozialen Diskriminierung bringt er durch die<br />
eingehende Vorstellung des afro-brasilianischen Candomblé auch eine positive<br />
<strong>und</strong> kulturell produktive Innenansicht dieses vom sich europäisch <strong>und</strong> weiß definierenden<br />
gesellschaftlichen Zentrum Brasiliens ausgeschlossenen Raumes.<br />
IV. „Das Fußballspiel in Brasilien“<br />
Gleiches gilt auch für den letzten der drei hier in den Blick genommenen Essays,<br />
der im Staden-Jahrbuch 1956 erschien. Anatol Rosenfelds kulturhistorisch<br />
ausgerichtete Studie zum brasilianischen Fußball ist ebenfalls alles andere als eine<br />
oberflächlich-exotisierende Apologie des „Landes des Fußballs“, sondern könnte<br />
unter anderem als kritischer Dialog mit Mário Filhos Klassiker zum Thema O Negro<br />
no Futebol Brasileiro gelesen werden (vgl. FILHO 1964), auf den er sich in weiten<br />
Teilen seiner Reflexion stützt, den er aber punktuell auch kritisch hinterfragt. Wie<br />
der starke Rekurs auf Mário Filho andeutet, den er im zuvor besprochenen Essay<br />
über die „Situation der Farbigen in Brasilien“ an entscheidender Stelle bereits<br />
hinzuzieht, geht Rosenfeld auch hier wieder auf die sozialen <strong>und</strong> politischen Dimensionen<br />
des Fußballs <strong>und</strong> damit auf die Benachteiligung <strong>und</strong> Marginalisierung<br />
der farbigen Spieler bzw. Bevölkerung in Brasilien ein.<br />
Zunächst aber bettet Rosenfeld <strong>das</strong> von ihm zu untersuchende Phänomen in<br />
den soziokulturellen Kontext Brasiliens ein <strong>und</strong> weist auf die Erkenntnismöglichkeiten<br />
einer kulturvergleichenden, kulturwissenschaftlichen Perspektive<br />
auf diese Sportart hin:<br />
Zumindest ebenso wichtig jedoch wie der Umstand, was ein Volk spielt,<br />
ist sicherlich der, wie es dieses Spiel betreibt, in welchen Formen es sich<br />
äußert <strong>und</strong> organisiert <strong>und</strong> welchen tieferen Bedürfnissen <strong>und</strong> Spannungen<br />
es eine Entlastung ermöglicht [...]. Eine knappe Darstellung einiger<br />
Aspekte des Fußballspiels als eines sozialen Phänomens ersten Ranges<br />
im brasilianischen Leben könnte manches zur Kenntnis der gegenwärtigen<br />
brasilianischen Gesellschaft beitragen. (ROSENFELD 1956a, S. 149)<br />
Darauf liefert Rosenfeld einen historischen Abriss des Fußballs im Lande, der<br />
vom Briten Charles W. Miller 1894 eingeführt wurde, als er im ersten englischen<br />
Sportverein von São Paulo, dem eigentlich dem Cricket gewidmeten São Paulo<br />
Athletic Club, eine Fußballmannschaft gründete. Der englische Sport ist zunächst<br />
also ein Elitesport, in Brasilien wird er vorrangig zur körperlich-moralischen Ertüchtigung<br />
<strong>und</strong> im Dienste des Patriotismus eingesetzt. Entgegen der anfänglichen Widerstände,<br />
die der Fußball in seinem Geburtsland England überwinden musste<br />
[...] waren in Brasilien gerade die Colégios sehr bald die Brutstätten<br />
von Fußballspielern: in Schulen wie den Colégios Militares, dem Ginásio<br />
Nacional, Alfredo Gomes, Abílio, Anglo-Brasileiro, war <strong>das</strong> Fußballspiel<br />
beinahe ein Pflichtfach. Die katholische Kirche, ein enorm wich-<br />
91
92<br />
tiger Faktor, scheint keinen wesentlichen Einspruch erhoben zu haben.<br />
Es muss sogar hervorgehoben werden, <strong>das</strong>s zahlreiche Patres zur Verbreitung<br />
des neuen Spiels entscheidenden Anstoß gaben. (151)<br />
Die ersten vornehmen Vereine gründen sich in großer Zahl, <strong>das</strong> Spiel wird zum<br />
Element der guten Gesellschaft <strong>und</strong> Instrument für die Pflege eines antikolonialen<br />
Nationalgefühls. Doch unaufhaltsam demokratisiert sich <strong>das</strong> Spiel, Angehörige<br />
der unteren <strong>und</strong> armen Schichten, Arbeiter <strong>und</strong> vor allem auch Schwarze erkämpfen<br />
sich schrittweise den Zugang zum Sport <strong>und</strong> den damit verb<strong>und</strong>enen<br />
sozialen Aufstieg. Der 1904 gegründete Bangu Athletic Club wirkte in dieser Hinsicht<br />
als Vorreiter, dessen Mannschaft sich erstmals systematisch aus Spielern aus<br />
der eigenen Arbeiterschaft vor Ort rekrutierte. Der Kampf um den Einzug der<br />
Massen in den Fußball war verflochten mit der Professionalisierung des Sports.<br />
Dieser Prozess prägte die brasilianischen Verbandsstrukturen <strong>und</strong> sorgte für tief<br />
greifende Umwälzungen:<br />
Die Entwicklung zum Berufsfußball in Brasilien ist ein klassisches Beispiel<br />
für die unentrinnbare Gravitation eines Ablaufs, der mit dem<br />
Spiel als einem Massenspektakel verb<strong>und</strong>en ist. Je größer die Mengen<br />
waren, die <strong>das</strong> Fußballspiel anzog, desto mehr hing die Beliebtheit <strong>und</strong><br />
Bedeutung eines Klubs von der Leistung seiner Fußballmannschaften<br />
ab. Diese wurden zum Schaufenster der Vereine, die, als gesellschaftliche<br />
<strong>und</strong> allgemein sportliche Institutionen, immer größere wirtschaftliche<br />
Interessen konzentrierten. Auf die „Klasse“ der Spieler Rücksicht<br />
zu nehmen – es wäre denn in einem rein sportlichen Sinne – wurde<br />
schließlich ein quichotteskes Unterfangen. (155)<br />
Auf diese Weise wurde die Geschichte des Fußballs sowohl auf dem Platz als auch<br />
hinter den Kulissen zu einem sehr charakteristischen <strong>und</strong> aussagekräftigen Abbild der<br />
allgemein in der Gesellschaft ablaufenden Machtkämpfe <strong>und</strong> Transformationen:<br />
Spielend stieg die niedere Klasse in die erste Division auf, <strong>und</strong> in diesem<br />
äußerst ernsten <strong>und</strong> erbitterten Spiel spiegelt sich ein sozialer<br />
Prozess von enormer Tragweite; ein Prozeß, der in vielen Gesellschaften<br />
<strong>und</strong> Perioden tatsächlich im Spiel <strong>und</strong> Wettkampf seinen entscheidenden<br />
Austrag gef<strong>und</strong>en hat. (ebd.)<br />
Im Zuge seiner Wandlung zu einem Massensport <strong>und</strong> Massenspektakel <strong>und</strong><br />
damit verb<strong>und</strong>enen wirtschaftlichen wie allgemein gesellschaftlichen Interessen<br />
wird der Fußball somit zu einem herausragenden Tor zum gesellschaftlichen Aufstieg<br />
ungeachtet der Herkunft oder Hautfarbe des Spielers. 11 Diese Transformation<br />
festigt sich schließlich mit der Professionalisierung des Sports 1933, auf welche<br />
in den folgenden Jahren erste internationale Karrieren brasilianischer Spieler (vor<br />
allem in Italien) einsetzen (vgl. dazu CALDAS 1997).<br />
11. Dieser Mechanismus ist nicht nur bis heute weiter wirksam, sondern hat mit der zunehmenden<br />
Kommerzialisierung <strong>und</strong> Globalisierung des Spiels noch systematischere Ausmaße angenommen.<br />
Siehe dazu die in dieser Hinsicht sehr gute Reportage „Die Spielerfabrik“ von<br />
Henrik Jönsson (JÖNSSON 2006) über die Jugendarbeit <strong>und</strong> Talentsuche in Brasilien.
Rosenfeld belegt die auf dieser Gr<strong>und</strong>lage ruhende Bedeutung des Fußballs in<br />
Brasilien mit zeitgenössischen Angaben zur Zahl der existierenden Vereine, der<br />
aktiven <strong>und</strong> professionellen Spieler, der Erträge <strong>und</strong> Umsätze der verschiedenen<br />
Ligen <strong>und</strong> Wettbewerbe. Konkret werden zwei wichtige Vereine vorgestellt, deren<br />
Entstehungsgeschichte <strong>und</strong> soziale Einbettung zugleich die soziokulturellen Kodierungen<br />
des Spiels exemplifizieren. Auf der einen Seite der 1902 gegründete<br />
<strong>und</strong> bis heute als vornehm <strong>und</strong> „weiß“ konnotierte Fluminense Football Club aus<br />
Rio de Janeiro, dem gegenüber der 1910 ins Leben gerufene Sport Club Corinthians<br />
Paulista in São Paulo als Verein der Massen, der Armen <strong>und</strong> Schwarzen gilt.<br />
Vor dem Hintergr<strong>und</strong> dieser beispielhaften Verortung der Vereine macht Rosenfeld<br />
die um die Anhängerschaft <strong>und</strong> Fan-Kultur herum gruppierte Begriffsfamilie<br />
„torcer, torcedor, torcida“ zum Ausgangspunkt für die Darstellung der Bedeutung<br />
des Fußballs als Spektakel der Massen <strong>und</strong> Projektionsfläche für soziale <strong>und</strong> lokale<br />
Identitäten, in deren Rahmen Vereine, Stadtviertel <strong>und</strong> Gesellschaftsschichten in<br />
eins gesetzt werden.<br />
Weit wichtiger waren die Torci<strong>das</strong>, insofern sie sich um Vereine bildeten,<br />
die, als Repräsentanten von Stadtteilen, oft auch soziale Unterschiede<br />
spiegelten. Daher die Erbitterung, mit der in Rio gewaltige<br />
Raufereien zwischen Torci<strong>das</strong> ausgetragen wurden, vor allem wenn ein<br />
aristokratischer Klub, der Pflichttabelle gehorchend, auf dem Felde<br />
eines Vorstadtvereins spielen mußte <strong>und</strong> obendrein siegte. (162)<br />
Hier unterscheidet Rosenfeld nochmals zwischen der sozio-geographischen<br />
Verteilung in Rio de Janeiro <strong>und</strong> der größeren sozialen Mobilität in der Arbeiter<strong>und</strong><br />
Einwandererstadt São Paulo, wo die Identifikation über den Fußball vor allem<br />
nationale Gruppierungen wie Italiener (Palestra Itália, später Palmeiras), Portugiesen<br />
(Portuguesa) oder „Brasilianer“ (Corinthians) widerspiegelte.<br />
Das erste nationale Idol des brasilianischen Fußballs ist in zweierlei Hinsicht<br />
Symbol für die trotz oder vielleicht auch gerade aufgr<strong>und</strong> aller interner Nuancierungen<br />
<strong>und</strong> Trennlinien wirksame integrative Kraft des Fußballs <strong>und</strong> die für Brasilien<br />
als Ganzes charakteristische Vermischung: Der Mulatte – genauer <strong>und</strong> innerhalb<br />
des von Rosenfeld im vorherigen Text analysierten Mechanismus der Wahrnehmung<br />
<strong>und</strong> Klassifizierung von Hautfarben der „helle Mulatte“ oder „moreno“<br />
– Arthur Friedenreich, Sohn eines deutschen Vaters <strong>und</strong> einer schwarzen Mutter,<br />
wird nach dem Gewinn der Südamerika-Meisterschaft 1919 zum fußballerischen<br />
Idol <strong>und</strong> Inbegriff des Spiels. Sein Erfolg ebnet den Weg für schwarze „Cracks“ wie<br />
Domingos da Guia <strong>und</strong> Leôni<strong>das</strong> da Silva (mit dem bedeutsamen Spitznamen<br />
Diamante Negro), welche wiederum in ihrer Eigenschaft als Vorzeigespieler die<br />
Widersprüchlichkeit des brasilianischen Selbstverständnisses verkörpern:<br />
Indessen, es waren vor allem Farbige, wie Domingos da Guia oder<br />
Leôni<strong>das</strong> da Silva, welche die höchsten Idole des ganzen brasilianischen<br />
Volkes geworden sind, nicht nur weil sie hervorragende Spieler<br />
waren, sondern weil sich in ihnen einer der höchsten ideologischen<br />
Werte Brasiliens verkörperte: der der Rassendemokratie, so<br />
schwer es auch halten mag, in allen Fällen die Wirklichkeit mit dieser<br />
Ideologie in Einklang zu bringen. (164)<br />
93
94<br />
Rosenfeld deutet dieses Phänomen erneut unter Rückgriff auf die Theorien<br />
Gilberto Freyres als „brasilianischen Mulattismus“, welcher einen genuin brasilianischen<br />
Fußballstil hervorgebracht habe <strong>und</strong> in dem in gewisser Weise die gesamte<br />
ethnisch-soziale Problematik <strong>und</strong> Geschichte des Landes zu erkennen sei.<br />
Leôni<strong>das</strong> da Silva war der genaue Vertreter dieses Stils, <strong>und</strong> wenn er<br />
zum Idol des ganzen brasilianischen Volkes wurde, <strong>das</strong> ja überwiegend<br />
europäischer Abstammung ist, so war es, weil es in ihm eine ihm wesentlich<br />
geistig-seelische Gebärde ausgedrückt sah, weil es selbst sich<br />
in ihm erhöht <strong>und</strong> in sensationeller Vollkommenheit wiedererkannte.<br />
Tiefe Ressentiments fanden in seinen Triumphen ihre Erlösung, <strong>und</strong><br />
<strong>das</strong> ganze Volk erlebte in ihm eine befreiende Macht. (165)<br />
Weiterhin dieser Interpretationslinie folgend erläutert Rosenfeld im Anschluss<br />
die vielfältigen Beziehungen des Fußballs mit anderen kulturellen Sphären wie<br />
dem Karneval <strong>und</strong> der von ihm zuvor dargestellten Macumba als alternativem<br />
Kulturraum der farbigen Bevölkerung. 12 Zu letzterem Punkt führt er aus, <strong>das</strong>s sowohl<br />
<strong>das</strong> Fußballspiel selbst als auch sein Umfeld in höchstem Grade ritualisiert<br />
<strong>und</strong> religiös aufgeladen seien.<br />
Das brasilianische Fußballspiel freilich gehört einer modernen Entwicklung<br />
völlig profanen Charakters an. Dennoch spürt man seine geheime<br />
Neigung, sich zu ritualisieren, sein Streben nach Sinnbereichen, die<br />
ihm nicht zuzukommen scheinen. Wo so tiefe Leidenschaften eingesetzt<br />
werden, wo so viel „auf dem Spiel steht“ <strong>und</strong> wo die Göttin<br />
Fortuna einen so entscheidenden Einfluß hat, ist dies kein W<strong>und</strong>er.<br />
Für eine ungeheure Torcida bedeutet der Sieg ihrer Mannschaft, der<br />
sich ja auf die ganze Gruppe überträgt, einen kollektiven Triumph,<br />
einen Zuwachs an Ehre <strong>und</strong> Macht <strong>und</strong> gleichzeitig eine Offenbarung<br />
des glücklichen Laufs der Dinge. (166)<br />
Der Fußball als eine Art Katharsis der von ihren Widersprüchen geprägten<br />
Gesellschaft, die auf dem Platz <strong>und</strong> in der Projektion auf <strong>das</strong> Spiel vorübergehend<br />
die Konflikte lösen oder auflösen kann, die sie in der Wirklichkeit unterschlägt<br />
oder verdrängt. Auch durch diesen Mechanismus ist der außerordentliche <strong>und</strong><br />
herausragende Aufstieg schwarzer Spieler zu „Cracks“ <strong>und</strong> Idolen erst möglich,<br />
da er in von vornherein festgelegten <strong>und</strong> nach außen klar abgeschlossenen Bahnen<br />
verläuft. Bezeichnend hierfür ist der Umstand, <strong>das</strong>s der Aufstieg dieser<br />
Ausnahmespieler durch den Fußball zunächst nur in wirtschaftlicher Hinsicht erfolgt,<br />
sich aber noch nicht sozial niederschlagen kann:<br />
Ein Irrtum wäre es, anzunehmen, daß der Fußballspieler als solcher<br />
infolge seines Prestiges als Crack im selben Maße auch gesellschaftliche<br />
Anerkennung fände. Dem Idol öffnen sich alle Tore, auch die der<br />
12. Den hohen Erkenntnisgrad dieser Wahrnehmung bestätigen die später aus dem Bereich der<br />
Soziologie heraus ausgeweiteten Untersuchungen Roberto DaMattas zum brasilianischen<br />
Fußball, in denen <strong>das</strong> Spiel <strong>und</strong> Spektakel zum Medium einer gesamtgesellschaftlichen<br />
Analyse wird (vgl. gr<strong>und</strong>sätzlich DAMATTA 1982).
Paläste; aber sein Nimbus gehört einer andern Region an als der gesellschaftlichen:<br />
es ist eben ein Nimbus, der die „außerordentliche“<br />
Situation des Spielers bezeichnet. (168)<br />
Ähnlich wie die Welt des Candomblé betrachtet <strong>und</strong> analysiert Rosenfeld<br />
die des Fußballs vor dem Hintergr<strong>und</strong> der f<strong>und</strong>amentalen Konfliktlinien der<br />
brasilianischen Gesellschaft <strong>und</strong> Kultur. In diesem frühen Essay macht er deutlich,<br />
<strong>das</strong>s die Bedeutung des Fußballs in Brasilien wie auch sein mittlerweile<br />
fest institutionalisierter Siegeszug um die Welt nicht angemessen erfasst werden<br />
können, wenn man seine gesellschaftlichen Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> kulturellen<br />
Implikationen nicht in Betracht zieht.<br />
V. Bewegungen des Wissens<br />
Anatol Rosenfeld unternimmt in den hier vorgestellten drei Texten den Versuch,<br />
nach ersten Schritten als brasilianischer Intellektueller den Lesern seiner<br />
Muttersprache <strong>und</strong> ehemaligen Heimat etwas über die Kultur zu vermitteln, in der<br />
er sich eine neue Existenz aufgebaut hat. Bemerkenswert ist hierbei, <strong>das</strong>s Rosenfeld<br />
von Beginn an einen ausgewogenen kritischen Blick bietet. Er übt also keinesfalls<br />
eine falsch verstandene Zurückhaltung des Gastes oder Geduldeten, nimmt<br />
aber auch nicht die selbstgefällige Perspektive eines überlegenen Fremden ein.<br />
Durch alle drei frühen Essays, die sich <strong>und</strong> ihre Leser anhand von charakteristischen<br />
<strong>und</strong> exemplarischen kulturellen Elementen <strong>und</strong> Aspekten des Landes an<br />
Brasilien annähern, zieht sich <strong>das</strong> Thema der tiefen Spaltung der Gesellschaft entlang<br />
der einander überlagernden ethnischen wie sozialen Trennlinien, <strong>das</strong> in „Die<br />
Situation der Farbigen in Brasilien“ als zentraler Gegenstand behandelt wird. Darin<br />
manifestiert sich ein aus heutiger Sicht kulturwissenschaftlich zu lesender Ansatz,<br />
dem deutschsprachigen Publikum in den 50er Jahren des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
die damals wie streckenweise noch heute so ferne, fremde <strong>und</strong> unbekannte brasilianische<br />
Realität näher zu bringen <strong>und</strong> zu vermitteln.<br />
Welche Umsicht Rosenfeld im Zuge dieser vermittelnden Aktivität anwandte,<br />
wird nochmals deutlicher, wenn man zunächst den Pioniercharakter seiner<br />
deutschsprachigen Essays zur brasilianischen Kultur bedenkt, die beim deutschsprachigen<br />
Publikum, auch <strong>und</strong> gerade bei der spezialisierten <strong>und</strong> universitären<br />
Leserschaft gr<strong>und</strong>legende Kenntnislücken zu schließen anbot <strong>und</strong> zum Dialog<br />
zwischen beiden Welten <strong>und</strong> Sprachen einlud. Es muss hier nicht weiter vertieft<br />
werden, welchen Nachholbedarf die verschiedenen Bereiche des Kultur-, Literatur-<br />
<strong>und</strong> Forschungsbetriebs in den deutschsprachigen Ländern in den 50er Jahren<br />
aufwiesen <strong>und</strong> wie schwierig <strong>und</strong> langwierig es sich erwies – <strong>und</strong> noch immer<br />
erweist –, diese Situation gr<strong>und</strong>legend zu ändern. 13 Man mag sich konkret im hier<br />
gegebenen Zusammenhang einen Eindruck davon verschaffen, wenn man die<br />
zwei postum erschienenen Rezensionen Rosenfelds im Staden-Jahrbuch 1973/74<br />
betrachtet, die einmal Dieter Wolls 1972 publizierte Studie zu Machado de Assis<br />
13. Ray-Güde Mertin etwa zog Mitte der 90er Jahre eine bis heute weitgehende Gültigkeit<br />
besitzende <strong>und</strong> ernüchternde Bilanz der Rezeption brasilianischer Literatur im deutschsprachigen<br />
Raum sowie der entsprechenden Brasilienstudien/Brasilianistik (MERTIN 1994).<br />
95
96<br />
<strong>und</strong> Gustav Siebenmanns Untersuchung zur Rezeption der lateinamerikanischen<br />
Literatur aus dem selben Jahr besprechen. Zu Wolls für die deutsche Lusitanistik/<br />
Brasilianistik bis heute wegweisender Arbeit über Machado de Assis muss Rosenfeld<br />
einführend bemerken: „Mit ihr gesellt sich die deutsche Literaturwissenschaft<br />
[...] endlich in bedeutender <strong>und</strong> nachdrücklicher Weise den kritischen Werken<br />
französischer <strong>und</strong> nordamerikanischer Herkunft zu, die der Deutung des großen<br />
brasilianischen Dichters gewidmet sind“ (ROSENFELD 1973/74a, S. 170). Und nicht<br />
nur beweist Rosenfeld selbst im Lob für Dieter Wolls Einbeziehung einschlägiger<br />
internationaler Studien zum Autor seine eigene Belesenheit im Bereich der Literaturwissenschaft,<br />
auch schlägt er in der Lektüre eines deutschen Beitrags zur<br />
brasilian(ist)ischen Literaturwissenschaft den Bogen wieder zurück, um den kritischen<br />
Dialog zwischen beiden Wissenschaftskulturen in Gang zu setzen. Zu Gustav<br />
Siebenmanns gr<strong>und</strong>legender Arbeit zur Rezeption <strong>und</strong> Präsenz lateinamerikanischer<br />
Literatur im deutschen Sprachraum ist ebenfalls der erste Kommentar<br />
sehr aussagekräftig, wenn Rosenfeld die relativ geringe Präsenz brasilianischer<br />
Autoren <strong>und</strong> Werke in der Studie des hauptberuflichen Hispanisten bemerkt, welche<br />
wiederum den Stand der Brasilien gewidmeten Forschung beleuchtet<br />
(ROSENFELD 1973/74b, S. 171). Das von Siebenmann kritisch relativierte Bild<br />
einer allgemeinen Rezeption <strong>und</strong> Etablierung lateinamerikanischer Literatur im<br />
Gefolge des hispano-amerikanischen Booms der 60er <strong>und</strong> 70er Jahre bestätigt<br />
Rosenfeld <strong>und</strong> zitiert ausführlich die recht ernüchternden Zahlen, die Siebenmann<br />
zu brasilianischen Autoren angibt. Siebenmanns Hinweis auf die fehlende<br />
qualitative Kritik seitens des deutschen Literaturbetriebs ergänzt Rosenfeld abschließend<br />
um den auf eine fehlende systematische Kulturpolitik auch auf brasilianischer<br />
Seite (173).<br />
Es finden sich gegenüber diesen in den Bereich interkultureller <strong>und</strong> kulturpolitischer<br />
Fragen reichenden Überlegungen keine konkreten Stellungnahmen Rosenfelds<br />
zur deutschen Geschichte, Politik <strong>und</strong> Gesellschaft vor, während <strong>und</strong> nach<br />
dem Nationalsozialismus. Die überraschend wenigen zeitgeschichtlichen <strong>und</strong> aktuellen<br />
Bezüge zur ehemaligen Heimat werden immer über kulturelle, literarische <strong>und</strong><br />
philosophische Reflexionen vermittelt. Den engsten Bezug haben noch seine Betrachtungen<br />
zu Natur <strong>und</strong> Form des Faschismus 14 , die Hintergr<strong>und</strong>folie der Erfahrung<br />
des Nationalsozialismus lässt sich gewiss auch in seiner sensiblen Auseinandersetzung<br />
mit den rassistischen Dimensionen der brasilianischen Gesellschaft erkennen.<br />
In Brasilien mischt er sich ebenfalls nicht öffentlich in dezidiert politische Diskussionen<br />
ein, vorrangig auch aufgr<strong>und</strong> seiner immer prekären <strong>und</strong> potenziell bedrohten<br />
Situation als Ausländer, der etwa unter dem 1964 in Brasilien an die Macht<br />
gekommenen Militärregime seine Ausweisung hätte riskieren können.<br />
Eine Figur mit entscheidender biographischer, intellektueller wie symbolischer<br />
Relevanz für <strong>das</strong> Denken <strong>und</strong> Schreiben Rosenfelds bildet Thomas Mann,<br />
dessen Rekurs auf die ironische Distanz des Denkens gegenüber den Ideen Rosenfeld<br />
immer wieder reflektierte <strong>und</strong> nachvollzog. So ergeben sich neben den bio-<br />
14. Siehe dazu beispielsweise seine Essays zu Nietzsches Irrationalismus (ROSENFELD 1993b),<br />
Heideggers Existenzphilosophie (1993c) <strong>und</strong> zu den Mechanismen <strong>und</strong> Ursachen von Rassismus<br />
(1993d) <strong>und</strong> Faschismus (1993e).
graphischen Parallelen des Exils auch erhellende Parallelen im Umgang mit<br />
Deutschland als geliebter, verlorener, niemals zurück gewonnener Heimat sowie<br />
in letzter Konsequenz im Selbstverständnis des Intellektuellen zur ihn umgebenden<br />
Gesellschaft.<br />
So bezeichnete Rosenfeld den Essayisten Thomas Mann als Vorbild für seine<br />
eigene Essayistik, edierte er selbst eine Auswahl Mannscher Essays in portugiesischer<br />
Übersetzung, die postum veröffentlicht wurde (MANN 1988), <strong>und</strong> verfasste<br />
er eine Reihe von Texten über den Landsmann <strong>und</strong> Schicksalsgefährten im Exil,<br />
die verstreut <strong>und</strong> zuletzt in gesammelter Form erschienen. 15 Will man dieser von<br />
Rosenfeld selbst vorgegebenen Analogie noch einen Schritt weiter folgen, so<br />
kann man zugespitzt feststellen, <strong>das</strong>s Rosenfeld, der im Exil nicht die Bequemlichkeiten<br />
des bedeutendsten deutschen Schriftstellers seiner Generation genoss,<br />
sondern sich in einer vollkommen neuen Umwelt ein neues Leben aufbauen<br />
musste, dies im Unterschied zu seinem Vorbild auch im äußersten Sinne wörtlicher<br />
<strong>und</strong> konsequenter tat: Er begann sein Leben nochmals von vorne. Er brachte<br />
die in Berlin begonnene Promotion nicht zu Ende, knüpfte nicht an ihr an<br />
ebenso wenig wie an der unterbrochenen universitären Laufbahn. Stattdessen<br />
ging er nun den ungeb<strong>und</strong>enen Weg auf den neu erarbeiteten Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong><br />
mit neuen Zielen.<br />
„Jüdisches Exil <strong>und</strong> Flucht vor dem Nationalsozialismus sind deterritorialisierende<br />
Bewegungen Europas“ formuliert Ottmar Ette (2001, S. 563), im Zuge seiner<br />
Analyse von Arnold Stadlers Roman Feuerland (1992). Diese Aussage ist zu verstehen<br />
vor Ettes Überlegungen zur zirkulären Struktur dieses Romans (S. 553)<br />
<strong>und</strong> allgemein der europäischen Reiseliteratur mit ihrer wesentlichen Ausrichtung<br />
auf eine schließliche „Rückkehr zum Eigenen“ (S. 60ff), mit der sich<br />
der Kreis von Reise(bewegung) schließen kann. Thomas Manns Exil war sicherlich<br />
von Beginn an auf diese Rückkehr (wenn auch nicht nach Deutschland,<br />
so zumindest in die Alte Welt <strong>und</strong> die Welt der deutschen Sprache) ausgerichtet,<br />
als transitär gestaltet <strong>und</strong> inszeniert. Die Erfahrung Anatol Rosenfelds<br />
schließt diesen Kreis bewusst nicht; er speist „Europa“ in Gestalt seiner<br />
kulturellen Prägung <strong>und</strong> Bildung in die Kultur Brasiliens ein <strong>und</strong> lässt es – wie<br />
auch sich selbst – vom transkulturellen Prozess gegenseitiger Durchdringung<br />
erfassen <strong>und</strong> gestaltetet diesen aktiv mit.<br />
So ist seine Synthese der deutschen <strong>und</strong> europäischen kulturellen Erfahrung<br />
mit derjenigen der neuen Heimat nicht nur als Verbreitung der deutschen<br />
<strong>und</strong> somit Bereicherung der brasilianischen Kultur zu verstehen. Sie<br />
wirkt auf zwei Ebenen auch zurück in die „Alte Welt“, als Vermittlung brasilianischer<br />
Kultur <strong>und</strong> Literatur wie in den hier exemplarisch vorgestellten Beiträgen,<br />
aber gerade auch im am Fremden geschulten <strong>und</strong> von ihm veränderten<br />
Blick auf <strong>das</strong> Eigene, auf sich selbst.<br />
15. Bereits Rosenfelds erste Buchveröffentlichung Doze estudos von 1959 enthielt zwei Essays<br />
über Thomas Mann („Thomas Mann: ironia e mito“ <strong>und</strong> „Julia Mann da Silva Bruhns“, vgl.<br />
ROSENFELD 1959); im Band Texto/Contexto findet sich die Studie „Thomas Mann: Apolo,<br />
Hermes, Dioniso“ (vgl. ROSENFELD 1969); zuletzt erschien 1994 ein gänzlich Thomas Mann<br />
gewidmeter Band (ROSENFELD 1994).<br />
97
98<br />
Eine Reflexion Anatol Rosenfelds über Thomas Manns „Tonio Kröger“ <strong>und</strong> den<br />
für ihn immer wieder zentralen Topos des Dazwischen-Seins <strong>und</strong> der ironischen<br />
Distanz des Denkens bei Mann, der im hier zitierten Text aus dem Nachlass der<br />
bemerkenswerte Hinweis auf die eigene jüdische Daseinsbedingung beigegeben<br />
wird, mag diese Geste anschaulich machen:<br />
Somit befindet er sich „zwischen zwei Welten“, ist „in keiner von ihnen<br />
zu Hause“ <strong>und</strong> sieht sich „aus diesem Gr<strong>und</strong> gewissen Schwierigkeiten“<br />
gegenüber – eine Position, die sich in ihrem Dazwischen-Sein<br />
genau von dem Ausgangspunkt aller Wünsche <strong>und</strong> jeder ironischen<br />
Objektivität aus konstituiert. Denn wer vollkommen einer Welt angehört<br />
<strong>und</strong> von anderen Welten nichts wahrnimmt, kann niemals Sehnsucht<br />
empfinden oder sich „über den beiden“ befinden. (Genau diese<br />
ist die Position der Juden, wodurch sich ihre Ironie <strong>und</strong> ihr Getriebensein<br />
erklären.) (ROSENFELD 1994b, S. 113) 16<br />
Rosenfeld sieht – hier in einem ursprünglich im Diário Paulista vom 31. Juli<br />
1943 veröffentlichten Aufsatz – bei Mann die erotische Ironie als Ausdruck der<br />
ständigen Bewegung <strong>und</strong> des Begehrens im Denken, der nie vollkommen zu<br />
erreichenden Synthese zweier Liebender sowie von Mensch <strong>und</strong> Geistesmensch,<br />
Geist <strong>und</strong> Leben: „Es gibt nur den Wunsch, die Sehnsucht – Eros. Es<br />
gibt keine vollkommene Synthese. Es gibt nur den ewigen <strong>und</strong> unendlichen<br />
Weg. Das ist die Situation des Menschen: unterwegs sein.“ (ROSENFELD 1994c,<br />
S. 104f.) 17 Rosenfeld folgt Thomas Mann weiterhin in dem Verständnis, Deutschlands<br />
Unglück sei es, von dieser Spannung verschlungen <strong>und</strong> verführt worden<br />
zu sein (ebd.).<br />
Als Opfer dieses „Unglücks“, dessen Auswirkungen er auf eindrucksvolle Weise<br />
produktiv zu machen wusste, praktiziert Rosenfeld im besten Wortsinne der von<br />
Ottmar Ette geprägten <strong>und</strong> nachvollzogenen „Bewegungsfigur“ der Literatur<br />
(vgl. ETTE 2001) ein Lesen <strong>und</strong> Schreiben in Bewegung. Eine Bewegung des<br />
Geistes zwischen kulturellen Räumen <strong>und</strong> Modellen; Bewegung eines bereits<br />
selbst schon transkulturellen oder transkulturierten Schreibens, <strong>das</strong> sich innovativ<br />
<strong>und</strong> exemplarisch im Umgang mit der Gattung des Essays <strong>und</strong> den<br />
Dynamiken eines interkulturellen Dialogs niederschlägt. Aber auch eine Bewegung<br />
aus der Gewalt <strong>und</strong> dem Zwang von Flucht <strong>und</strong> Exil heraus, die überlagert<br />
wird von der freiwilligen Bewegung eines auf seiner Unabhängigkeit bestehenden<br />
Intellektuellen. Décio de Almeida Prado zeichnet ein bewegendes <strong>und</strong> zugleich<br />
sehr prägnantes Bild von Rosenfelds Neuanfang nach der Flucht <strong>und</strong><br />
den ersten Jahren des reinen Überlebens in Brasilien, ein Neubeginn, der in die<br />
16. „Destarte, encontra-se ‘entre dois m<strong>und</strong>os’, não estando ‘em casa em nenhum deles’, tendo<br />
‘em conseqüência certas dificuldades’ – uma posição que, em seu estar-no-meio, se constitui<br />
do ponto de partida exato de todos os anseios e de toda a objetividade irônica. Pois aquele<br />
que pertence totalmente a um m<strong>und</strong>o e nada percebe de outros não pode nunca sentir<br />
saudade ou estar ‘acima dos dois’. (Tal é precisamente a posição dos judeus, de onde se<br />
explica a sua ironia e a sua ansiedade.)“<br />
17. „O que há é apenas o desejo, a saudade – Eros. Não há síntese perfeita. Há apenas o<br />
caminho enterno e infinito. Esta é a situação do homem: estar em caminho.“
Geste des Vermittlers zwischen den Welten <strong>und</strong> Kulturen mündet; dessen Genügsamkeit<br />
bei seinem Tun darf allerdings nicht dazu verleiten, die von Antonio<br />
Candido so treffend herausgestellte, dieses Wirken antreibende <strong>und</strong> erfüllende<br />
„kritische Intelligenz im Kampf gegen die Irrationalität <strong>und</strong> Brutalität dieser Welt“<br />
(CANDIDO 2005: 46) <strong>und</strong> ihre f<strong>und</strong>amentale Bedeutung für unsere Welt zu<br />
verkennen. Bezeichnend, <strong>das</strong>s auch hier <strong>das</strong> Wort von der „Rückkehr“ auftritt,<br />
dabei allerdings keinen geographischen Ort der Rückkehr bezeichnet, sondern<br />
den kulturellen Raum der Literatur:<br />
Nachdem er die Hälfte der üblichen Immigrantenparabel durchlaufen<br />
hatte, die schmerzlichere Hälfte, nach der die Kurve anzusteigen begann,<br />
verließ er sie, um zu seinen Ursprüngen zurückzukehren. Er<br />
kehrte zu den Büchern, den Artikeln, den Privatst<strong>und</strong>en, zur journalistischen<br />
Arbeit zurück <strong>und</strong> wurde eine Art von Mittler zwischen<br />
der deutschen Kultur, die er so gut kannte, <strong>und</strong> der brasilianischen,<br />
die er zu lieben begann. Und niemals wollte er mehr sein als <strong>das</strong>.<br />
(ALMEIDA PRADO 1995, S. 16) 18<br />
Literatur<br />
ALMEIDA PRADO, Décio de (1995): Em memória de Anatol Rosenfeld. In: GUINSBURG / MARTINS<br />
FILHO (1995), S. 15-18.<br />
CALDAS, Waldenyr (1997): Brasilien. In: EISENBERG, Christiane (Hrsg.): Fußball, soccer, calcio. Ein<br />
englischer Sport auf seinem Weg um die Welt. München, S. 171-184.<br />
CAMPOS, Haroldo de (1995): Uma convergência textual. In: GUINSBURG / MARTINS FILHO (1995),<br />
S. 81-92.<br />
CANDIDO, Antonio (2005): Die Liebe zur Unabhängigkeit. In (Ders.): Literatur <strong>und</strong> Gesellschaft.<br />
Herausgegeben von Ligia Chiappini. Frankfurt am Main, S. 45-46.<br />
CARONE, Modesto (1995): Os Doze Estudos. In: GUINSBURG / MARTINS FILHO (1995), S. 35-38.<br />
CHAVES, Mauro (1995): Integridade e rigor, marcas de um mestre. In: GUINSBURG / MARTINS<br />
FILHO (1995), S. 47-51.<br />
DAMATTA, Roberto (1982): Esporte e sociedade: um ensaio sobre o futebol brasileiro. In: (Ders.)<br />
(Hrsg.): Universo do futebol. Esporte e Sociedade Brasileira. Rio de Janeiro, S. 19-42.<br />
ETTE, Ottmar (2001): Literatur <strong>und</strong> Bewegung. Raum <strong>und</strong> Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens<br />
in Europa <strong>und</strong> Amerika. Weilerswist.<br />
FILHO, Mário (1964): O negro no futebol brasileiro. (Seg<strong>und</strong>a edição). Rio de Janeiro.<br />
FURTADO KESTLER, Izabela Maria (1992): Die Exilliteratur <strong>und</strong> <strong>das</strong> Exil der deutschsprachigen Schriftsteller<br />
<strong>und</strong> Publizisten in Brasilien. Frankfurt am Main.<br />
GODOY LADEIRA, Julieta de (1995): O fim de um homem livre. In: GUINSBURG / MARTINS FILHO<br />
(1995), S. 23-27.<br />
GUINSBURG, Jacó (1995a): Traços para um retrato de Anatol. In: GUINSBURG / MARTINS FILHO<br />
(1995), S. 155-160.<br />
GUINSBURG, Jacó (1995b): O homem e o intelectual. In: GUINSBURG / MARTINS FILHO<br />
(1995), S. 63-66.<br />
GUINSBURG, Jacó / MARTINS FILHO, Plínio (Hrsg.) (1995): Sobre Anatol Rosenfeld. São Paulo.<br />
18. „Percorrida metade da parábola usual do imigrante, a metade mais penosa, quando começava<br />
a curva ascensional, abandonou-a para voltar às origens. Retornou aos livros, aos artigos, às<br />
aulas particulares, ao trabalho jornalístico, fazendo-se uma espécie de intermediário entre<br />
a cultura alemã, que conhecia tão bem, e a brasileira, que começava a amar. E jamais quis<br />
ser mais do que isso.“<br />
99
100<br />
GUINSBURG, Jacó / TAVARES, Abílio (1993): Negro, macumba e futebol. In: ROSENFELD (1993a),<br />
S. 15-16.<br />
JÖNSSON, Henrik (2006): Die Spielerfabrik. In: 11 Fre<strong>und</strong>e 53, S. 30-46.<br />
LESSER, Jeff H. (1994): Vom Antisemitismus zum Philosemitismus: Das wechselnde Bild deutschjüdischer<br />
Einwanderer in Brasilien 1935-1945. In: KOHUT, Karl / VON ZUR MÜHLEN, Patrik<br />
(Hrsg.): Alternative Lateinamerika: <strong>das</strong> deutsche Exil in der Zeit des Nationalsozialismus. Frankfurt<br />
am Main, S. 89-104.<br />
LINS, Osman (1995): Homenagem à memória do intelectual. In: GUINSBURG / MARTINS FILHO<br />
(1995), S. 29-34.<br />
MAGALDI, Sábato (1995): O crítico de teatro. In: GUINSBURG / MARTINS FILHO (1995), S. 99-104.<br />
MANN, Thomas (1988): Ensaios. Seleção de Anatol Rosenfeld. São Paulo.<br />
MERTIN, Ray-Güde (†) (1994): „Lusotropikalisch“: zur Rezeption brasilianischer Literatur in der deutschsprachigen<br />
Presse. In: SCHÖNBERGER, Axel / ZIMMERMANN, Klaus (Hrsg.): De orbis Hispani<br />
linguis litteris historia moribus: Festschrift für Dietrich Briesemeister zum 60. Geburtstag, Frankfurt<br />
am Main. Bd. 2, S. 1817-1824.<br />
MESQUITA, Alfredo (1995): Rosenfeld e a Escola de Arte Dramática. In: GUINSBURG / MARTINS<br />
FILHO (1995), S. 67-71.<br />
ROSENFELD, Anatol (1954): Die Situation der Farbigen in Brasilien. In: Staden-Jahrbuch 2, S. 155-174.<br />
ROSENFELD, Anatol (1955): Macumba. In: Staden-Jahrbuch 3, S. 125-140.<br />
ROSENFELD, Anatol (1956a): Das Fussballspiel in Brasilien. In: Staden-Jahrbuch 4, S. 149-170.<br />
ROSENFELD, Anatol (1956b): Rezension von Henri-Georges Clouzot: Le cheval des dieux (Paris: René<br />
Julliard 1951). In: Staden-Jahrbuch 4, S. 304-305.<br />
ROSENFELD, Anatol (1959): Doze estudos. São Paulo.<br />
ROSENFELD, Anatol (1969): Texto/Contexto. São Paulo.<br />
ROSENFELD, Anatol (1973/74a): Rezension von Dieter Woll: Machado de Assis, Die Entwicklung<br />
seines erzählerischen Werkes (Braunschweig 1972). In: Staden-Jahrbuch 21-22, S. 170-171.<br />
ROSENFELD, Anatol (1973/74b): Rezension von Gustav Siebenmann: Die neuere Literatur Lateinamerikas<br />
<strong>und</strong> ihre Rezeption im deutschen Sprachraum. (Berlin 1972). In: Staden-Jahrbuch 21-22, S.<br />
171-173.<br />
ROSENFELD, Anatol (1993a): Negro, macumba e futebol. São Paulo.<br />
ROSENFELD, Anatol (1993b): Nietzsche e o Irracionalismo. In: (Ders.): Texto/contexto II. São Paulo,<br />
S. 65-76.<br />
ROSENFELD, Anatol (1993c): Ressureição de Heidegger. In: (Ders.): Texto/contexto II. São Paulo, S.<br />
109-114.<br />
ROSENFELD, Anatol (1993d): O sentido do racismo. In: (Ders.): Texto/contexto II. São Paulo, S. 165-170.<br />
ROSENFELD, Anatol (1993e): As causas psicológicas do Nazismo. In: (Ders.): Texto/contexto II. São<br />
Paulo, S. 171-188.<br />
ROSENFELD, Anatol (1994a): Thomas Mann. São Paulo.<br />
ROSENFELD, Anatol (1994b): Thomas Mann, configurador do duvidoso. In: ROSENFELD (1994a), S.<br />
107-138.<br />
ROSENFELD, Anatol (1994c): Thomas Mann e a situação ambígua do homem. In: ROSENFELD<br />
(1994a), S. 101-106.<br />
ROSENFELD, Anatol (2006): Anatol on the road. São Paulo.<br />
SCHWARZ, Roberto (1987): Primeiros tempos de Anatol Rosenfeld no Brasil. In: (Ders.): Que horas<br />
são?. São Paulo.<br />
VEJMELKA, Marcel (2006): Dialektik der brasilianischen Literatur – kulturelle Aneignung <strong>und</strong> Vermittlung<br />
bei Otto Maria Carpeaux. In: Martius-Staden-Jahrbuch 53, S. 265-284.<br />
VON ZUR MÜHLEN, Patrik (1994): Exil in Brasilien. Die deutschsprachige Emigration 1933-1945. In:<br />
Exil in Brasilien. Die deutschsprachige Emigration 1933-1945. Eine Ausstellung des Deutschen<br />
Exilarchivs 1933-1945. Frankfurt am Main / Leipzig, S. 11-26.<br />
WAGLEY, Charles (1968): The Concept of Social Race in the Americas. In: (Ders.): The Latin American<br />
Tradition. Essays on the Unity and Diversity of Latin American Culture. New York / London, S. 155–174.<br />
ZWEIG, Stefan (1994): Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt am Main.<br />
ZWEIG, Stefan (1997): Brasilien, ein Land der Zukunft. Frankfurt am Main.
Anatol Rosenfeld<br />
Dr. Marcel Vejmelka ist Literaturwissenschaftler, Romanist <strong>und</strong> Lateinamerikanist mit<br />
Forschungsschwerpunkten im Bereich der Literatur- <strong>und</strong> Kulturtheorie <strong>und</strong> des Kulturtransfers.<br />
2004 Promotion am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin mit einer Dissertation<br />
über João Guimarães Rosa <strong>und</strong> Thomas Mann (Kreuzungen: Querungen, Berlin 2005);<br />
2007/08 Postdoc-Stipendiat des International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC)<br />
der Justus-Liebig-Universität Gießen mit einem Forschungsprojekt zu „Kulturellen Kartographien<br />
Lateinamerikas“. Mit Ligia Chiappini ist er Herausgeber des Bandes Welt des Sertão/Sertão<br />
der Welt. Erk<strong>und</strong>ungen im Werk João Guimarães Rosas (Berlin 2007).<br />
Agência Estado<br />
101
Ernst Feder (aus: Heute sprach ich mit…<br />
Tagebücher eines Berliner Publizisten 1926-1932, Stuttgart 1971)
„Die Blüte des Exils“:<br />
Ernst Feder <strong>und</strong> sein<br />
Brasilianisches Tagebuch<br />
Marlen Eckl<br />
Wien<br />
Resumo: Ernst Feder, jurista e editor, responsável pela área de política<br />
interior do Berliner Tageblatt por muitos anos, foi um dos<br />
jornalistas alemães mais prestigiosos e internacionalmente<br />
conhecidos, quando, em 1933, na condição de judeu e<br />
devido à sua convicção política, teve que deixar a Alemanha.<br />
Graças à ajuda do embaixador Luís Martins de Souza<br />
Dantas, chegou em 1941, depois de oito anos de exílio na<br />
França, com sua esposa Erna ao Rio de Janeiro. Em seu<br />
„Diário Brasileiro“ desenha um retrato detalhado do exílio<br />
alemão no Brasil. Na apresentação desse documento único,<br />
o foco deste artigo se dirige aos seguintes assuntos: o<br />
impacto da política do regime Vargas quanto às restrições<br />
de imigração e aos „suditos do eixo“; a alta reputação que<br />
Vargas tinha junto à população carente; o papel de Feder<br />
como mediador cultural entre Alemanha e Brasil e a função<br />
de Goethe neste contexto; a amizade do jornalista com<br />
Stefan Zweig e suas atividades nas organizações judaicas<br />
no Brasil. O objetivo do artigo é lembrar desse publicista,<br />
injustamente caído em esquecimento, e assim apreciar o<br />
seus méritos como cronista do exílio alemão no Brasil.<br />
Abstract: Ernst Feder, lawyer and long-standing political editor-inchief<br />
of the Berliner Tageblatt, was one of the most renowned<br />
and internationally well known German journalists,<br />
when he, in 1933, due to his Jewish origin and political<br />
view, had to leave Germany. With the help of the Brazilian<br />
ambassador Luís Martins de Souza Dantas, Feder and<br />
his wife Erna came to Rio de Janeiro in 1941 after an eightyear<br />
exile in France. In his “Brazilian Diary” he gives a detailed<br />
picture of the German exile in Brazil. Presenting this<br />
unique document, the article focuses on the following subjects:<br />
the impact of the policy of the Vargas-regime regarding<br />
the restrictions of immigration and the special regulations<br />
for the citizens of the Axis Powers; the high reputation<br />
of Vargas within the poor population; Feder’s role as<br />
cultural mediator between Germany and Brazil and the<br />
103
104<br />
function of Goethe in this context; the journalist’s friendship<br />
with Stefan Zweig and his activities in Jewish organizations<br />
in Brazil. The aim of the article is to remember this journalist<br />
unjustly forgotten nowadays and therefore appreciate his<br />
achievement as chronicler of the German exile in Brazil.<br />
„Ein bescheidener Meister“ – Der Demokrat <strong>und</strong> Journalist Ernst Feder<br />
Ernst Feder, der ehemalige, renommierte Redakteur des „Berliner Tageblatt“<br />
kam mit seiner Frau <strong>und</strong> der Feder als einzigem Hilfsmittel<br />
nach Brasilien. […] Ohne seine gr<strong>und</strong>sätzlichen Sorgen eines liberalen<br />
europäischen Denkers zu vergessen, wusste sich Ernst Feder dem amerikanischen<br />
Milieu anzupassen. Er ist interessiert <strong>und</strong> schreibt über<br />
Episoden <strong>und</strong> Probleme unseres Amerikas. […] Sein Observatorium<br />
[dies ist eine Anspielung auf seine Kolumne, die er unter dem Namen<br />
Spectator (lat. Zuschauer) schrieb] 1 ist ein kleines Apartment voller<br />
Bücher, aber sein Horizont ist die Welt. Wenn Sie eine Lektion des<br />
Lebens haben möchten, können Sie in seinen Büchern blättern oder<br />
diesen Vorkämpfer für die humanistische Sache besuchen, der der erste<br />
europäische Schriftsteller war, der auf die Gefahren des Nazismus<br />
aufmerksam gemacht hat: der einstige Chefredakteur einer der größten<br />
europäischen Zeitungen ihrer Zeit, ein standhafter Liberaler, ein<br />
bescheidener <strong>und</strong> milder Meister. 2 (BENITEZ 1946)<br />
So beschrieb der paraguayische Außenminister Juan Pastor Benitez 1946 den<br />
bekannten deutsch-jüdischen Berliner Publizisten in einem Artikel, den er „A flor<br />
do exílio“ (Die Blüte des Exils) nannte, <strong>und</strong> gab darin seine Bew<strong>und</strong>erung für<br />
diesen außergewöhnlichen Menschen zum Ausdruck, dem es nicht nur gelungen<br />
war, sich im fortgeschrittenen Alter zweimal ein neues Leben aufzubauen, sondern<br />
dies darüber hinaus auch noch einmal in einem Land <strong>und</strong> einer Kultur, die<br />
seiner europäischen Sozialisation so fremd waren. Dabei war dies keineswegs in<br />
Ernst Feders Lebensweg angelegt. 3<br />
Als viertes Kind von Salomon <strong>und</strong> Luise Feder (geb. Elkan) wurde er am 18.<br />
März 1881 in Berlin in eine zutiefst mit Deutschland verb<strong>und</strong>ene jüdische Familie<br />
1. Bei allen in die Zitate eingefügten eckigen Klammern handelt es sich um erläuternde Ergänzungen<br />
der Verfasserin.<br />
2. „Ernesto Feder, o prestigioso redator do ‚Berliner Tageblatt‘, de outrora, chegou ao Brasil em<br />
companhia da sua esposa e a pena como único recurso. [...] Ernesto Feder, sem esquecer<br />
suas preocupações doutrinarias de pensador liberal e europeu, soube adaptar-se ao meio<br />
americano. Interessa-se e escreve sobre episódios e problemas da nossa América. [...] Seu<br />
observatório é um pequeno apartamento cheio de livros, mas seu horizonte é o m<strong>und</strong>o. Se<br />
quiserdes receber uma lição dignificadora da vida […] podeis folhear seus livros ou visitar<br />
este paladino de causas humanas, que foi o primeiro escritor europeu que assinalou os<br />
perigos do nazismo: o antigo redator-chefe de um dos maiores jornais europeus de sua<br />
época, um liberal impenitente, um mestre simples e ameno.“<br />
3. Die biographischen Angaben zu Ernst Feder basieren im Wesentlichen auf FEDER 1971, S. 7-<br />
26 <strong>und</strong> FURTADO-KESTLER 1992, S. 78-81.
hineingeboren. Da sein Vater, Inhaber einer Hutfabrik, die die älteren Brüder nach<br />
dessen Tod übernahmen, ein regelmäßiger Leser des Berliner Tageblatts war, kam<br />
Feder bereits in jungen Jahren mit dem Presseorgan in Berührung, bei dem seine<br />
journalistische Karriere später ihren Höhepunkt erreichen sollte. Nach dem sehr<br />
gut bestandenen Abitur am Sophien-Gymnasium begann Feder an der Friedrich-<br />
Wilhelm-Universität (heutige Humboldt-Universität) ein Jura-Studium, welches<br />
er ebenso erfolgreich abschloss. Das Angebot, in eine bekannte Anwaltspraxis<br />
einzutreten, ausschlagend, machte sich Feder 1907 als Anwalt selbständig <strong>und</strong><br />
eröffnete eine eigene Praxis, in die er zu einem späteren Zeitpunkt Arthur Loewe<br />
als Sozius mit aufnahm. Ein Jahr später lernte er seine damals 15-jährige, zukünftige<br />
Frau Erna Zobel kennen. 1911 heirateten die beiden <strong>und</strong> bezogen eine großzügige<br />
Wohnung in der Leipziger Straße 103 (Ecke Friedrichstraße), in der sie bis zu<br />
ihrer Emigration wohnten.<br />
Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete sich Feder, der nie gedient hatte,<br />
freiwillig zum Kriegsgericht, bei dem er als Kriegsgerichtsrat tätig wurde. Hier<br />
lernte er Dr. Martin Cohn, einen der Inhaber des Berliner Tageblatts, kennen <strong>und</strong><br />
trat in engeren Kontakt mit dieser Zeitung. In jener Zeit nahm Feder auch Verbindung<br />
mit der neu gegründeten Europäischen Staats- <strong>und</strong> Wirtschaftszeitung auf.<br />
Schon vor dem Krieg hatte Feder begonnen, für die Zeitschrift Nation des liberalen<br />
Politikers Theodor Barth, dessen Stil <strong>und</strong> politische Haltung Feder stark<br />
beeinflussten, zu schreiben. Obwohl er nach dem Krieg seine Praxis weiterführte,<br />
wurden seine Beziehungen zu Journalisten zunehmend intensiver, fanden seine<br />
Artikel immer mehr Beachtung in der publizistischen Welt.<br />
Im Herbst 1919 bat ihn Theodor Wolff, der damalige Chefredakteur des Berliner<br />
Tageblatts, als Redakteur regelmäßig für die Zeitung zu arbeiten. Diese Tätigkeit<br />
führte zur Bekanntschaft mit vielen herausragenden Persönlichkeiten aus<br />
Politik, Wirtschaft, Kultur <strong>und</strong> Gesellschaft wie Wilhelm Abegg, Otto Braun, Rudolf<br />
Breitscheid, Paul Cassirer, Albert Einstein, Rudolf Hilferding, Thomas <strong>und</strong> Heinrich<br />
Mann, Max Osborn, Hugo Preuss, Hugo Simon, James Simon, Walther Rathenau,<br />
Fritz von Unruh <strong>und</strong> Stefan Zweig; einige davon traf er sowohl in Paris als<br />
auch in Rio de Janeiro wieder. Wenngleich er hauptsächlich für den innenpolitischen<br />
Teil schrieb, beauftragte Wolff ihn in den Jahren 1925/1926 mit der Berichterstattung<br />
über die Beitrittsverhandlungen Deutschlands mit dem Völkerb<strong>und</strong>.<br />
Mit diesem <strong>und</strong> anderen dienstlichen Aufträgen im Ausland machte er sich auch<br />
über Deutschland hinaus einen Namen <strong>und</strong> erhielt internationale Anerkennung.<br />
Aus dieser Zeit stammten auch die Kontakte, die sich später in der Emigration in<br />
Frankreich als sehr hilfreich erweisen sollten.<br />
In der Folge wurde er zum Präsidenten der Arbeitsgemeinschaft der deutschen<br />
Presse gewählt. Eine besondere Ehrung stellte für ihn seine Wahl zum ständigen<br />
Richter am Internationalen Ehrengerichtshof der Presse in Den Haag dar. In seinen<br />
Erläuterungen zum journalistischen Beruf in diesem Kontext betonte er die Bedeutung<br />
des Kriteriums der Diskretion in der publizistischen Tätigkeit <strong>und</strong> führte ferner<br />
aus: „Wir wissen, daß die Pressefreiheit, <strong>das</strong> kostbarste Kulturgut jedes modernen<br />
Staates, jetzt schon in den großen Ländern totgeschlagen, in den anderen hart bedrängt,<br />
daß dieses Gut nur verteidigt werden kann, wenn ihm <strong>das</strong> Korrelat der Selbstdisziplin<br />
verantwortungsbewußter Publizisten gegenübersteht“ (FEDER 1971, S. 15).<br />
105
106<br />
Diesem Verantwortungsgefühl sah sich Feder stets verpflichtet, <strong>und</strong> er sollte es<br />
auch nicht unter den widrigsten wirtschaftlichen Bedingungen während des Exils<br />
preisgeben. Diese Verantwortung war es auch, die seiner in den Artikeln geäußerten<br />
Meinung ein besonderes Gewicht verlieh <strong>und</strong> ihn zu einer wichtigen innenpolitischen<br />
Stimme in der Weimarer Republik werden ließ. Er selbst engagierte sich<br />
politisch in der Deutschen Demokratischen Partei, deren Vorsitzender der Ortsgruppe<br />
Berlin-Mitte er einige Jahre war. Bereits sehr früh aber nahm Feder <strong>das</strong> Abdriften<br />
der Partei nach rechts wahr <strong>und</strong> prangerte dies an. Der aus der Vereinigung<br />
mit der Volksnationalen Reichsvereinigung hervorgegangenen neuen Deutschen<br />
Staatspartei schloss er sich, wie viele andere jüdische Parteimitglieder des<br />
linken Flügels, nicht mehr an.<br />
„Finis Germaniae….“ – Der Exilant Ernst Feder<br />
Feder war ein typischer Vertreter der gebildeten bürgerlichen assimilierten<br />
jüdischen Oberschicht. Tief in der deutschen Kultur verwurzelt <strong>und</strong> eng mit dem<br />
deutschen Staat verb<strong>und</strong>en, blieb er doch zugleich ein aufrechter Jude, der dem<br />
Judentum nie den Rücken kehrte. So leistete er als scharfsinniger Beobachter der<br />
politischen Entwicklungen <strong>und</strong> Journalist seinen Beitrag zum Kampf um den Erhalt<br />
der Errungenschaften der jüdischen Emanzipation <strong>und</strong> die Bewahrung der<br />
demokratischen Staatsordnung der Weimarer Republik. Dieser Kampf erwies sich<br />
letztlich jedoch ungeachtet der Warnungen mancher klugen <strong>und</strong> weitsichtigen<br />
Köpfe wie Feder als vergeblich <strong>und</strong> der Nationalsozialismus trug den Sieg davon.<br />
Und als der Journalist am 30. Januar 1933 von einem amerikanischen Kollegen<br />
nach seinem Urteil der politischen Ereignisse gefragt wurde, antwortete er schlicht:<br />
„Finis Germaniae…“ (SILVEIRA 1943).<br />
Er war realistisch genug, die nötigen Konsequenzen zu ziehen, <strong>und</strong> sich nicht,<br />
wie zu Anfang der Großteil der deutschen Juden, der Illusion hinzugeben, <strong>das</strong>s<br />
alles nicht so schlimm werden würde. Bald nach Hitlers Machtübernahme floh<br />
Feder im September über die Schweiz nach Paris, <strong>das</strong> in den nächsten Jahren bis<br />
zum Sieg der deutschen Truppen im Juni 1940 zu einem wichtigen Zentrum der<br />
deutschsprachigen Emigration werden sollte. Mit Hilfe der alten Kontakte zu den<br />
französischen Kollegen <strong>und</strong> der Société d’histoire moderne et contemporaine, deren<br />
Mitglied Feder war, gelang es ihm, trotz der schwierigen Situation als freier Journalist<br />
beruflich neuerlich Fuß zu fassen. Er hielt Vorträge, u. a. an der Sorbonne-<br />
Universität <strong>und</strong> unterstützte durch seine Kontakte die Schaffung von Exilzeitungen,<br />
darunter <strong>das</strong> Pariser Tageblatt. Zudem nutzte er seine Beziehungen, um als Anwalt<br />
<strong>Flüchtlinge</strong>n <strong>und</strong> Exilanten behilflich zu sein <strong>und</strong> sich für deren Belange einzusetzen.<br />
In diesem Sinn gehörte er auch zeitweilig der 1933 gegründeten Hilfsorganisation<br />
Deutsche Kommission an (FRANKE, 2000, S. 187/188). Als die Feders 1938<br />
offiziell von Deutschland ausgebürgert wurden, war Frankreich bereits zu einer<br />
neuen Heimat für sie geworden.<br />
Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen jedoch wurde auch die mühsam<br />
neu aufgebaute Existenz in Paris abermals zunichte gemacht. Feders Besitz <strong>und</strong><br />
Wohnung wurden bald nach der Besetzung von Paris von den Nationalsozialisten<br />
konfisziert. Am meisten schmerzte ihn der Verlust seiner Bibliothek. Aber viel
wichtiger war, <strong>das</strong> eigene Leben zu retten, auch wenn dies bedeutete, <strong>das</strong>s man<br />
<strong>das</strong> geliebte Europa hinter sich lassen musste. Nach einer kurzen Internierung im<br />
Camp de la Braconne bemühte sich Feder, ein Visum für die USA für sich <strong>und</strong> seine<br />
Frau zu bekommen. Da die American Guild for Cultural Freedom aus verschiedenen<br />
Gründen nichts für ihn tun konnte, trat Feder mit Varian Fry in Marseille, der von<br />
dem Emergency Rescue Committee beauftragt worden war, europäischen Intellektuellen<br />
bei ihrer Flucht vor den Nationalsozialisten zu helfen, in Verbindung. Aber<br />
auch Fry standen aufgr<strong>und</strong> der von den USA festgelegten Einwanderungsquote<br />
nur begrenzte Möglichkeiten zur Verfügung, so <strong>das</strong>s er Feder nicht weiterhelfen<br />
konnte. Er empfahl ihm jedoch, den brasilianischen Botschafter Luís Martins de<br />
Souza Dantas aufzusuchen.<br />
Zwar besaß Brasilien äußerst restriktive Immigrationsbestimmungen, vor allem<br />
auch hinsichtlich jüdischer <strong>Flüchtlinge</strong>, die sogar so weit führten, <strong>das</strong>s die Vergabe<br />
von Visa an Personen „semitischer Herkunft“ ab 1937 nur unter sehr eingeschränkten<br />
Bedingungen erlaubt war <strong>und</strong> ab 1941 vollständig ausgesetzt wurde.<br />
Doch im Gegensatz zu vielen seiner diplomatischen Kollegen ließ Souza Dantas<br />
die menschliche Tragödie, die sich in jenen Monaten täglich vor den Auslandsvertretungen<br />
der außereuropäischen Staaten abspielte, nicht unberührt. Als eine<br />
Art „Don Quixote in der Finsternis“ setzte er sich über die inhumane Einwanderungspolitik<br />
seines Landes hinweg <strong>und</strong> stellte h<strong>und</strong>erten <strong>Flüchtlinge</strong>n ein<br />
Einreisevisum für Brasilien aus. Wie im Fall von Ernst <strong>und</strong> Erna Feder scheute er<br />
sich nicht, dabei auch auf Diplomatenvisa zurückzugreifen (KOIFMAN 2002, S.<br />
426/427). Außerdem gaben ihm Botschafter Souza Dantas <strong>und</strong> seine Botschaftsangestellten<br />
Medeiros de Paço <strong>und</strong> Antônio Dias Tavares Bastos mehrere an deren<br />
Verwandte, Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> an bekannte Journalisten gerichtete Referenzschreiben<br />
<strong>und</strong> Empfehlungsbriefe mit auf den Weg, die ihm den Neuanfang im<br />
fremden Land erleichtern sollten. So ausgerüstet kamen die Feders am 17. Juli<br />
1941 mit der Cabo de Hornos in Rio de Janeiro an. Noch am selben Tag begann<br />
Feder sein „Brasilianisches Tagebuch“, wie er es selbst nannte.<br />
„Heute sprach ich mit…“ – Der Tagebuchschreiber Ernst Feder<br />
Ernst Feder war ein überzeugter, gewissenhafter <strong>und</strong> regelmäßiger Tagebuchschreiber.<br />
Bis ins Jahr 1913 gehen die Teile seiner Tagebücher zurück, die erhalten<br />
geblieben sind. In einem abendlichen Ritual diktierte er seiner Frau die Erlebnisse,<br />
vor allem seine Begegnungen <strong>und</strong> Gespräche. 4 War Erna Feder krankheitsbedingt<br />
verhindert, führte er die Eintragungen handschriftlich alleine weiter. Wie sehr <strong>das</strong><br />
allabendliche Diktat den Eheleuten auch als Gedankenaustausch über den vergangenen<br />
Tag diente, zeigte sich in der Freude <strong>und</strong> Erleichterung, die Feder<br />
äußerte, wenn Erna nach einer längeren Pause ihre Rolle als Sekretärin wieder<br />
aufnahm. Der Stellenwert, den die Tagebücher für Feder besaßen, lässt sich an<br />
seiner Sorge ermessen, die er äußerte, als er sie in Frankreich zurücklassen musste,<br />
was fast dem Verlust eines Teils des eigenen Lebens gleichkam: „Alle früheren<br />
4. Nicht zufällig wählten Cécile Lowenthal-Hensel <strong>und</strong> Arnold Paucker bei der Herausgabe von<br />
Ausschnitten aus Feders Tagebüchern der Jahre 1926-1932 den Titel: Heute sprach ich mit…<br />
107
108<br />
Tagebücher, immerhin drei Jahrzehnte, ruhen im Pariser coffre-fort. Werden wir<br />
sie jemals wiedersehen?“ (FEDER 1971, S. 7). Ähnlich wie im Fall der Tagebücher<br />
von Thomas Mann <strong>und</strong> anderen Emigranten war <strong>das</strong> Schicksal von Feders<br />
Aufzeichnungen eng mit seinem eigenen verb<strong>und</strong>en. Es dauerte einige Jahre,<br />
bis der Journalist sie wieder zurückerhielt, denn dies geschah erst nach dem<br />
Zweiten Weltkrieg.<br />
Es gibt unterschiedliche Gründe, die Menschen dazu veranlassen, ein Tagebuch<br />
zu führen. Ernst Feder knüpfte an die Tradition des politischen Tagebuchs<br />
an, denn er war sich sehr wohl bewusst, <strong>das</strong>s er als innenpolitischer Redakteur des<br />
Berliner Tageblatts <strong>und</strong> als Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei über eine<br />
privilegierte Stellung nahe am Zeitgeschehen verfügte <strong>und</strong> mit wichtigen Personen<br />
verkehrte. Er repräsentiert daher den Typus „Tagebuchschreiber, der Zeitgeschehen<br />
bezeugen wollte, der ein Gespür für historische Augenblicke hatte, ohne<br />
dabei seine Zeugenschaft in den Vordergr<strong>und</strong> zu spielen“ (GÖRNER 1986, S. 18;<br />
Herv. im Text). Die Tagebücher bis zu seiner Emigration zeichnen denn auch mehr<br />
ein Bild von den Ereignissen um ihn herum, als <strong>das</strong>s sie Persönliches von ihm offen<br />
legen. Der Journalist selbst las gerne in ihnen nach; sei es, um sich gewisse Begebenheiten<br />
ins Gedächtnis zu rufen; sei es, um zu überprüfen, ob seine Einschätzung<br />
der Geschehnisse, wie er sie aus der Situation heraus getroffen hatte, mit den<br />
tatsächlichen Entwicklungen in der Folge übereingestimmt hatte. Die Bedeutung,<br />
die Feders Tagebüchern aufgr<strong>und</strong> dieser Zeugenschaft als historisches Dokument<br />
zukommt, lässt sich daran erkennen, <strong>das</strong>s sie von Wissenschaftlern für Untersuchungen,<br />
z. B. über <strong>das</strong> Berliner Tageblatt oder <strong>das</strong> Ende der Weimarer Republik als<br />
wichtige <strong>und</strong> unerlässliche Quelle herangezogen wurden. 5<br />
Der Bruch, den die Emigration im Leben der Feders darstellte, wird auch in<br />
den Tagebüchern sichtbar. „Diesen Bruch abzumildern oder gar zu überwinden,<br />
greift der Exilierte zur Feder. Die täglichen Eintragungen […] versichern ihm, daß<br />
die Katastrophe ihn nicht unempfindlich gemacht hat, daß er es nicht verlernt hat,<br />
nachzudenken <strong>und</strong> seine Überlegungen in Worte zu kleiden“ (SELLMER 1997, S.<br />
45). Die während des Exils in Frankreich <strong>und</strong> Brasilien geführten Tagebücher<br />
weisen andere Charakteristiken <strong>und</strong> Themenschwerpunkte auf. Als politisch interessierter<br />
Mensch gab Feder der Politik in seinen Tagesnotizen selbstverständlich<br />
weiterhin Raum. Die Vorgänge in Deutschland waren hierbei von vorrangiger<br />
Bedeutung, nicht nur, weil die Verb<strong>und</strong>enheit mit der Heimat durch die Auswanderung<br />
keineswegs geringer geworden war, sondern auch, weil die Entwicklungen<br />
nicht zuletzt auch Auswirkungen auf Frankreich <strong>und</strong> die Lage der dort<br />
weilenden deutschen Exilanten hatten. Gleichwohl traten nun zunehmend Beschreibungen<br />
der Schwierigkeiten beim Aufbau einer neuen Existenz <strong>und</strong> des<br />
sich Einfügens in <strong>das</strong> andere Lebensmilieu in den Vordergr<strong>und</strong>. In Frankreich<br />
waren jedoch die Voraussetzungen dafür für Emigranten noch vergleichsweise<br />
günstig. Das wohlbekannte <strong>und</strong> vertraute Paris empfanden sie als keine wirkliche<br />
5. Als Beispiel sei nur hingewiesen auf Gotthart Schwarz’ Werk Theodor Wolff <strong>und</strong> <strong>das</strong> „Berliner<br />
Tageblatt“. Eine liberale Stimme in der deutschen Politik 1906 – 1933 (Tübingen 1968) <strong>und</strong><br />
Bernd Sösemanns Abhandlung Das Ende der Weimarer Republik in der Kritik demokratischer<br />
Publizisten: Theodor Wolff, Ernst Feder, Julius Elbau, Leopold Schwarzschild (Berlin 1976).
Fremde, weil man dort viele der alten Fre<strong>und</strong>e, Bekannten <strong>und</strong> Kollegen, die<br />
Deutschland ebenfalls hatten verlassen müssen, wieder sah <strong>und</strong> weil man die<br />
französische Sprache beherrschte. Indem Feders Tagebücher aus jener Zeit neben<br />
der Schilderung der persönlichen Situation auch ausführlich auf <strong>das</strong> Schicksal<br />
anderer Emigranten <strong>und</strong> die Stimmung in diesen Kreisen eingehen, stellen sie<br />
ebenso wie für die Jahre der Weimarer Republik <strong>und</strong> die Innensichten in <strong>das</strong><br />
Berliner Tageblatt auch für <strong>das</strong> deutschsprachige Exil in Paris <strong>und</strong> die dort entstandene<br />
Exilpresse ein wichtiges Werk dar. Nicht ohne Gr<strong>und</strong> sah auch Julia Franke<br />
in ihnen eine exemplarische Darstellung des Alltags in der „neuen Heimat“ <strong>und</strong><br />
setzte Feder als Chronist ein, der den Leser mit seinen Erfahrungen <strong>und</strong> Eindrücken<br />
durch <strong>das</strong> Buch begleitet <strong>und</strong> ihm einen authentischen Einblick in die<br />
deutsch-jüdische Emigration in Paris vermitteln soll. 6<br />
Was für die französische Exilzeit zutrifft, gilt umso mehr für <strong>das</strong> „Brasilianische<br />
Tagebuch“, wobei seine Bedeutung als historisches Dokument eine vielfach höhere<br />
ist. Denn anders als im Fall des Pariser Exils ist die Anzahl der Selbstzeugnisse<br />
dieser Art für die deutschsprachige Emigration nach Brasilien relativ gering. Hinzu<br />
kommt, <strong>das</strong>s Feder wie schon in Paris auch in Rio de Janeiro vielen Emigranten<br />
von seiner journalistischen Arbeit in Berlin her bekannt war <strong>und</strong> darüber hinaus<br />
schon bald über weit reichende Kontakte zu einflussreichen, brasilianischen Politikern<br />
<strong>und</strong> Intellektuellen verfügte. Er diente deshalb vielen seiner Schicksalsgenossen<br />
als Vertrauensperson <strong>und</strong> Gesprächspartner in diesem für alle so fremden<br />
Land, wussten sie doch um seine Integrität <strong>und</strong> erhofften Rat <strong>und</strong> Hilfe von<br />
ihm. Feders „Brasilianisches Tagebuch“ spiegelt infolgedessen <strong>das</strong> Panorama der<br />
gesamten deutschsprachigen Emigration wider <strong>und</strong> ist daher eine Quelle einzigartigen<br />
Wertes, der leider bis jetzt in dieser Hinsicht noch keine Aufmerksamkeit<br />
zuteil wurde. Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, die 15 Jahre <strong>und</strong><br />
mehr als 2000 Seiten umfassenden Tagebücher aus der Brasilienzeit in der gesamten<br />
Brandbreite ihres Themenspektrums vorzustellen. Aus diesem Gr<strong>und</strong> sollen<br />
nur einige bezeichnende Aspekte zur Sprache kommen, die dem Leser ein Bild<br />
von Feders Neuanfang dort sowie den Problemen <strong>und</strong> Herausforderungen, mit<br />
denen sich die deutschen Emigranten in dem südamerikanischen Land konfrontiert<br />
sahen, vermitteln können.<br />
Zeugnis eines Neuanfangs – Feders „Brasilianisches Tagebuch“<br />
Zauberhaft ist der Anblick, wie in der dunklen Nacht <strong>das</strong> Schiff in<br />
majestätischer Ruhe in die riesige Baia de Guanabara hingleitet, während<br />
sich die zauberhafte, unwirklich scheinende Illumination der Tausende<br />
<strong>und</strong> Tausende [sic] von elektrischen Lampen rechts <strong>und</strong> links<br />
entfaltet. Es ist als ob die Riesenstadt sich auf unseren Empfang vorbereitet<br />
hat, <strong>und</strong> unwahrscheinlich ist der Gedanke, <strong>das</strong>s hier Nacht um<br />
Nacht sich ohne jede Einschränkung solch ein Lichterglanz von Bergen<br />
6. Vgl. FRANKE 2000. Walter F. Peterson hat für seine Untersuchung The Berlin liberal press in<br />
Exile: a history of the Pariser Tageblatt - Pariser Tageszeitung, 1933 – 1940 (Tübingen 1987)<br />
ebenfalls auf Feders Tagebücher zurückgegriffen.<br />
109
110<br />
<strong>und</strong> Inseln unterbrochen, alles kaum zu erkennen, geisterhaft verwischt,<br />
sowie überhaupt alles naturhaft <strong>und</strong> geisterhaft erscheint, ohne <strong>das</strong>s die<br />
Menschenhand <strong>und</strong> <strong>das</strong> Menschenwerk sichtbar wird. „Das also ist die<br />
berühmte Praia da Copacabana“, ist die einzige Erinnerung, die eine lange,<br />
gleichmäßig elegante Lichterkette weckt. Der Commissario […] erklärt<br />
einigen Damen die Einzelheiten des Ufers, den unverkennbaren<br />
Pao de assucar [sic] hervorhebend. […] Im Tageslicht scheint die Geisterwelt<br />
<strong>und</strong> ihr Glanz alltäglich, aber kaum fallen die ersten Sonnenstrahlen<br />
auf die Stadt mit den langen Quais, den Hochhäusern, den Bergen,<br />
dem Inselzauber, als der zweite unvergessliche Eindruck uns wird.<br />
(FEDER, Tagebücher Bd. 15, 17.07.1941) 7<br />
Feder war nicht der einzige, der von der Schönheit Rio de Janeiros überwältigt<br />
war <strong>und</strong> seine erste Wahrnehmung davon festhielt, mit der auch sein „Brasilianisches<br />
Tagebuch“ beginnt. In vielen Schriften von Emigranten lassen sich<br />
ähnliche Beschreibungen finden. Feder war bei seinem Eintreffen in Brasilien<br />
keineswegs dort völlig unbekannt. Schon zwei Tage danach erschienen in den<br />
zwei großen Zeitungen, dem Correio da Manhã <strong>und</strong> dem Globo, ein Artikel bzw.<br />
Interview mit dem Journalisten. Einige der anderen <strong>Flüchtlinge</strong> erfuhren auf<br />
diesem Weg von Feders Ankunft in Rio de Janeiro <strong>und</strong> setzten sich daraufhin<br />
mit ihm in Verbindung, wie der Bankier <strong>und</strong> Mäzen Hugo Simon, den er schon<br />
im Pariser Exil wieder getroffen hatte <strong>und</strong> der sich seit Februar 1941 in Rio befand.<br />
(Simon, der mit seiner Frau in Brasilien unter Decknamen eingereist war,<br />
lebte aus Angst vor einer drohenden Abschiebung durch die brasilianischen<br />
Behörden weiterhin unter dem neuen Namen Hubert Studenic <strong>und</strong> ging in der<br />
Verheimlichung seiner wahren Identität sogar soweit, <strong>das</strong>s seine Töchter vorgeben<br />
mussten, nicht mit ihren Eltern verwandt zu sein). Daher dauerte es nicht<br />
sehr lange, <strong>und</strong> Feder stand erneut in Verbindung mit zahlreichen Emigranten;<br />
um nur ein paar bekanntere zu nennen: Richard Lewinsohn, Paul Frischauer,<br />
Richard Katz, Hans Klinghoffer, Wolfgang Hoffmann-Harnisch, Nobert Geyerhahn<br />
<strong>und</strong> Leopold Stern.<br />
Hatte er in Paris auf die Hilfe seiner französischen Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Kollegen<br />
vertrauen können, so gestaltete sich der Neuanfang in Brasilien erheblich schwieriger,<br />
obgleich er dem immerhin schon 60-jährigen Feder durch die großzügigen,<br />
mitgebrachten Referenzen <strong>und</strong> Empfehlungsschreiben erleichtert wurde.<br />
Denn sie machten ihn mit einflussreichen Persönlichkeiten bekannt, die ihm<br />
wiederum zu weiteren, wichtigen <strong>und</strong> hilfreichen Kontakten verhalfen <strong>und</strong> die<br />
Türen wichtiger Institutionen öffneten. Zu seinem in kürzester Zeit aufgebauten<br />
Netzwerk gehörten u. a. der Dichter <strong>und</strong> Diplomat Ribeiro Couto, der die Bezeichnung<br />
des Brasilianers als „homem cordial“ (herzlichen Menschen) prägte,<br />
zu dieser Zeit im Palácio Itamaraty tätig <strong>und</strong> ein Mitglied der Academia Brasileira<br />
de Letras (ABL) war, der Journalist <strong>und</strong> Leiter der Associação Brasileira de Imprensa<br />
(ABI) Herbert Moses, der Präsident des brasilianischen P.E.N.-Clubs Claudio de<br />
7. Verweise auf die Tagebücher im Folgenden kurz mit „TB“. Die Verfasserin dankt dem Leo<br />
Baeck Institute, New York, für die Erlaubnis, die von ihr verwandten Zitate aus Feders unveröffentlichtem<br />
„Brasilianischen Tagebuch“ publizieren zu dürfen.
Souza, der Direktor des Arquivo Nacional Vilhena de Moraes, der Direktor des<br />
Instituto Nacional do Livro Augusto Meyer (ebenfalls ein Mitglied der ABL) <strong>und</strong><br />
die Journalisten Samuel Wainer (Diretrizes), Candido Campos (A Notícia),<br />
Raim<strong>und</strong>o de Magalhães (A Noite), Luís Guimarães Filho (A Gazeta; ebenfalls ein<br />
Mitglied der ABL), Oswaldo Souza e Silva (Ilustração Brasileira), Cassiano Ricardo<br />
(ebenfalls ein Mitglied der ABL) sowie Mucio Leão (A Manhã), José Pires do Rio<br />
<strong>und</strong> João Macdowell (Jornal do Brasil).<br />
Diese Bekanntschaften ebneten ihm den Weg in <strong>das</strong> brasilianische Pressewesen;<br />
doch <strong>das</strong>s Feder nach nur zwei Monaten in Brasilien, genauer am 07. September,<br />
mit Hilfe eines Artikels über Columbus im Jornal do Brasil den, wie er es nannte,<br />
„Einzug in die große brasilianische Presse“ (TB Bd. 15, 07.09.1941) vollziehen<br />
konnte, ist auch seiner Hartnäckigkeit zuzuschreiben. Denn andere Emigranten<br />
wiesen Feder schon in den ersten Tagen darauf hin, <strong>das</strong>s man in Brasilien sehr viel<br />
Geduld haben, beharrlich sein <strong>und</strong> mehrmals zu den Leuten hingehen müsse.<br />
Und Feder machte in der Tat diese Erfahrung; besonders mit Herbert Moses, der<br />
sich zwar hilfsbereit zeigte, ihn jedoch oft vertröstete. Nicht umsonst schrieb Frank<br />
Arnau, der österreichische Schriftsteller <strong>und</strong> Journalist, dem es dank Moses’ Unterstützung<br />
gelang, bald nach seiner Ankunft in Rio in den Zeitungen zu publizieren,<br />
in seinem Brasilienbuch über den brasilianischen Pressezaren: „Sein Hauptwort:<br />
‚Sem falta – amanhã‘ – Also: ‚Gewiß – morgen!‘ “ (ARNAU 1956, S. 189)<br />
Es war ein viel versprechender Anfang für Feder, auf den regelmäßige Veröffentlichungen<br />
in mehreren anderen Zeitungen folgten. Bald war er erneut voll<br />
journalistisch tätig. Obwohl er sofort anfing, Portugiesisch zu erlernen, sollte es<br />
noch ein Jahr dauern, bis er es sich zutraute, selbst die eigenen Artikel in der<br />
fremden Sprache zu verfassen. Aufgr<strong>und</strong> der geringen Entlohnung – Frank Arnau<br />
gibt in seinem Buch an, <strong>das</strong>s die Bezahlung für einen Artikel meist nur zwischen 5<br />
bis 10 U$ betrug – war es jedoch sehr mühsam, den Lebensunterhalt als Journalist<br />
zu verdienen. Der folgende Auszug aus der Eintragung vom 13.01.1942 steht stellvertretend<br />
für viele andere Tage <strong>und</strong> veranschaulicht die Odyssee, die Feder<br />
oftmals durch die verschiedenen Redaktionen bewältigen musste:<br />
1. Noite [gemeint ist die Zeitung], Raim<strong>und</strong>o Magalhães, dem ich den<br />
Principe Galante zurückbringe, gibt mir mit Widmung seinen „Judeu“<br />
<strong>und</strong> „Carlota“ […].<br />
2. Livraria mit Nelson gibt mir 2 Übersetzungen [von Feders Artikeln],<br />
die ich mit ihm durchgehe (doch immer allerlei zu verbessern,<br />
manchmal versteht er <strong>das</strong> Französische nicht, manchmal nicht<br />
den Gedanken) 2 neue übergeben.<br />
3. bei Vogel [der Zahnarzt, bei dem sich Feder einer langwierigen Behandlung<br />
unterzog], gibt mir <strong>das</strong> neue [Gebiss] […].<br />
4. DIP [Departamento de Imprensa e Propaganda]: der Mulatte Dr.<br />
Pedro Timoteo verspricht mir die Korrespondentenkarte für heute<br />
um 5. Als ich wiederkomme, macht er erst formelle Einwendungen<br />
[...], telefoniert dann aber doch mit dem Chef, ich gehe hinunter,<br />
soll sie morgen bekommen, bitte Magalhães, sie an sich zu nehmen.<br />
5. Biblioteca Nacional: 3 Bücher über Gérard de Nerval durchgesehen<br />
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112<br />
6. Guimaraes [A Gazeta]: Artikel kam wieder nicht, führt es auf Desorganisation<br />
wegen neuen Formats zurück, lässt mir Honorar auszahlen!<br />
7. Mucio Leão [A Manhã]: beglückwünsche ihn zu den Heine-Publikationen,<br />
erzähle ihm Allerlei [sic] darüber, will ihn zur vollständigen Übersetzung<br />
veranlassen. Nächsten Sonntag soll Meyerbeer kommen.<br />
8. Macdowell [Jornal do Brasil]: Montesquieu[-Artikel] überreicht. Er:<br />
„Die Lage in Europa ist schlecht, sogar von Deutschland.” Pires möchte<br />
nicht, <strong>das</strong>s die ausländischen Mitarbeiter hervortreten, deshalb keine<br />
Clichés [sic]. Ich: „Meine Themen sind doch sehr harmlos.“<br />
9. Don [sic] Oswaldo [Ilustração Brasileira]: wird Pagini[-Artikel] nächste<br />
Februarnummer bringen, uns mal in Petropolis besuchen.<br />
(TB Bd.15, 13.01.1942)<br />
Die Eintragung deutete schon an, <strong>das</strong>s die Situation für die Deutschen in Brasilien<br />
aufgr<strong>und</strong> der politischen Entwicklungen schwieriger werden sollte. Bereits<br />
in den ersten Begegnungen im Juli 1941 verheimlichten die brasilianischen Journalisten<br />
Feder nicht, <strong>das</strong>s er es als Deutscher schwer haben würde, da <strong>das</strong> Misstrauen<br />
gegenüber den Deutschen groß sei, oft würden sie als fünfte Kolonne<br />
angesehen. Ferner erfuhr er bald, <strong>das</strong>s die Presse nicht frei war. Pires do Rio erklärte<br />
es so: „Wir müssen Rücksicht nehmen 1. auf den Staat, 2. auf die Kirche, 3. wenn<br />
dann noch Platz ist, auf <strong>das</strong> allgemeine Wohl“ (TB Bd.15, 20.08.1941). Nach dem<br />
Kriegseintritt der USA <strong>und</strong> während der Dritten Außenministerkonferenz panamerikanischer<br />
Staaten, die vom 15. bis 28. Januar 1942 in Rio de Janeiro stattfand<br />
<strong>und</strong> in deren Folge Brasilien am 29. Januar die diplomatischen Beziehungen<br />
zu Deutschland abbrach, wurde die Vorsicht der Zeitungen noch größer. Das<br />
Jornal do Brasil teilte Feder am 20. Januar mit, <strong>das</strong>s man die Veröffentlichung<br />
seiner Artikel einstelle, da man keinen deutschen Namen in der Zeitung haben<br />
wolle, er aber weiterhin seine Bezüge erhalten werde.<br />
Obgleich diesem Erscheinungsverbot neben politischen Gründen auch die<br />
Verhaftung des Neffen des Zeitungseigentümers unter dem Verdacht der Spionage<br />
für Deutschland zugr<strong>und</strong>e lag, wurde der Journalist dadurch direkt mit der<br />
Verschärfung der Politik gegenüber den „súditos do eixo“, den Angehörigen der<br />
Achsenmächte, konfrontiert, die nun als „Feindbürger“ <strong>und</strong> Gefahr für nationale<br />
Sicherheit angesehen wurden. Ungeachtet der Tatsache, <strong>das</strong>s die meisten Emigranten,<br />
die vor dem Nationalsozialismus geflohen waren, vom Dritten Reich längst<br />
ausgebürgert worden <strong>und</strong> somit als staatenlos anzusehen waren, wurden sie davon<br />
nicht ausgenommen. Denn, wie ein Angestellter des Justizministeriums Feder<br />
erläuterte, wurde die Ausbürgerung aller deutschen Juden von Brasilien nicht<br />
anerkannt, „da ein auf Rassengr<strong>und</strong>sätzen beruhendes Gesetz gegen die Gr<strong>und</strong>auffassung<br />
Brasiliens verstoße“ (TB Bd.15, 06.05.1942). Diese „Gleichbehandlung“<br />
ging gar soweit, <strong>das</strong>s es zur Verhaftung von Emigranten kam, die zusammen mit<br />
deutschstämmigen Nazi-Sympathisanten in eigens dafür eingerichtete Lager auf<br />
der Ilha <strong>das</strong> Flores unter unwürdigen Bedingungen festgehalten wurden. 8 Zudem<br />
8. So wurde z. B. der Sohn des bekannten Düsseldorfer Künstlers Wolf Sopher, Klaus Sopher,<br />
bald nach seiner Ankunft in Brasilien verhaftet <strong>und</strong> auf der Ilha <strong>das</strong> Flores zwei Jahre festgehalten.<br />
Vgl. ECKL 2005, S. 166.
hatten die Exilanten, deren wirtschaftliche Situation ohnehin meist prekär war,<br />
unter Berufsverboten, die vor allem die freien Berufe betrafen, zu leiden; so etwa<br />
auch ein guter Fre<strong>und</strong> Feders, Paul Rosenstein. Obwohl dem berühmten Berliner<br />
Urologen <strong>und</strong> Chirurgen von Seiten des Präsidenten Vargas die Zulassungserlaubnis<br />
als Arzt zugesichert worden war <strong>und</strong> er überdies gute Verbindungen zu<br />
ranghohen Politikern besaß, sollte es ihm lange Jahre verwehrt bleiben, in Brasilien<br />
als Arzt <strong>und</strong> Forscher tätig werden zu können. 9 Verglichen mit Rosenstein war<br />
Feder in einer glücklicheren Lage, auch wenn in jenen Monaten die journalistische<br />
Tätigkeit schwieriger wurde. Er schrieb weiterhin für die Basler Nationalzeitung,<br />
für die er kurze Zeit nach seiner Ankunft in Rio als Brasilien-Korrespondent<br />
zu arbeiten begonnen hatte, aber auch für den New Yorker Aufbau <strong>und</strong> <strong>das</strong> in<br />
Buenos Aires angesiedelte Argentinische Tageblatt. Auch erhielt er Anfragen von<br />
den Presseorganen der deutsch-jüdischen Gemeinden in Rio de Janeiro <strong>und</strong> São<br />
Paulo, von Aonde Vamos? bzw. der Crônica Israelita.<br />
Die Erschwerung seiner Arbeit war nicht die einzige Auswirkung der Politik des<br />
Vargas-Regimes, mit der Feder in Brasilien in Berührung kam. Aufgr<strong>und</strong> der unorthodoxen<br />
Art der Visumsvergabe von Souza Dantas – der von sich sagte, <strong>das</strong>s er,<br />
nach eigenen Angaben, dabei folgendermaßen vorging: „Ich, bevor ein diplomatisches<br />
Visum zu geben, fragte: Sind Sie Jude. Wenn nein, gebe ich keins“ (sic; TB<br />
Bd. 16, 23.08.1945) – hatten Erna <strong>und</strong> Ernst Feder unendliches Glück gehabt. Sie<br />
waren sich dessen sehr bewusst, <strong>und</strong> Feder sollte jede Gelegenheit nutzen, seiner<br />
Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen <strong>und</strong> auf die Verdienste dieses außergewöhnlichen<br />
Botschafters <strong>und</strong> seiner Kollegen Bastos <strong>und</strong> Medeiros de Paço hinzuweisen,<br />
„die in dieser Wüste von Traurigkeit, Depression <strong>und</strong> Angst eine Oase der<br />
Ruhe, des Friedens <strong>und</strong> des Vertrauens in die Zukunft zu schaffen wussten. Meine<br />
Brasilianer von Vichy, warum? Weil ich es hauptsächlich ihnen verdanke, <strong>das</strong>s ich<br />
heute im freien Amerika frei atmen kann“ (FEDER 1944). 10<br />
Nicht in Vichy, sondern in Rio de Janeiro lernten die Feders die fatalen Folgen<br />
der restriktiven Einwanderungsbestimmungen der brasilianischen Regierung kennen,<br />
als sie versuchten, die Einreisegenehmigung für Feders Bruder <strong>und</strong> Ernas<br />
Eltern zu erwirken. Im August 1942 erhielt Feder ein Telegramm von Souza Dantas<br />
mit der Nachricht seines Bruders Arthur, <strong>das</strong>s die Nationalsozialisten <strong>das</strong> Vichy-<br />
Regime aufforderten, alle deutschen <strong>Flüchtlinge</strong> an sie auszuliefern, <strong>und</strong> sie deshalb<br />
in großer Gefahr seien. Feder setzte seinen brasilianischen Bekannten umgehend<br />
<strong>das</strong> Problem auseinander <strong>und</strong> leitete mit ihrer Hilfe, die sie ihm bedingungslos<br />
zusagten, die notwendigen Schritte ein. Er musste indessen feststellen, <strong>das</strong>s es<br />
die brasilianischen Behörden meisterhaft verstanden, Anträge solcher Art, die<br />
sich auf die Einreise nicht erwünschter Personen (in diesem Fall Juden) bezogen,<br />
zu verschleppen, indem sie z. B. die Papiere nicht weiterleiteten oder sich gegen-<br />
9. Vgl dazu auch ROSENSTEIN 1954, S. 292/293, FEDER 1950a <strong>und</strong> ECKL 2005, S. 296. Erst 1949<br />
erhielt er einen Forschungsauftrag der B<strong>und</strong>esuniversität von Rio de Janeiro. Aus einer Berufung<br />
<strong>und</strong> Anstellung am Instituto Oswaldo Cruz wurde trotz Zusagen nichts.<br />
10. „[…], que souberam criar nesse deserto de tristeza, de depressão e de angustias uma<br />
[sic] oasis de calma, de serenidade e de confiança no futuro. Meus brasileiros de Vichy, por<br />
que? Porque se hoje estou respirando livremente na livre America, é a eles principalmente<br />
que o devo.“<br />
113
114<br />
seitig die Zuständigkeit zuschoben. Selbst einflussreiche Leute, die sich durch die<br />
Fürsprache von Feders Bekannten der Angelegenheit annehmen wollten, wie z. B.<br />
Alexandre Marcondes Filho (Arbeits- <strong>und</strong> Justizminister), Aristides Malheiros<br />
(Staatssekretär im Arbeitsministerium), Geraldo Mascarenhas (Privatsekretär von<br />
Getúlio Vargas) <strong>und</strong> João Neves da Fontoura (Nachfolger von Souza Dantas),<br />
konnten oder wollten nichts ausrichten. Unermüdlich suchte Feder die verschiedenen<br />
Ministerien <strong>und</strong> den Präsidentensitz auf <strong>und</strong> reichte zahlreiche Anträge<br />
<strong>und</strong> Gesuche ein. Alles vergebens:<br />
Nachmittags wieder Catete [d.i. Palácio do Catete, der Sitz des Präsidenten<br />
Vargas]. […] Die Situation ist die folgende: Außer den früheren Sachen:<br />
1. mein Gesuch an Außenministerium, abgelehnt wegen Einspruchs des<br />
Justizministeriums<br />
2. meine 1. Eingabe an den Präsidenten, mit negativem Bescheid des Justizministeriums<br />
zum Catete zurückgelangt <strong>und</strong> dort ohne Lösung lagernd<br />
(Eingabe 11.06.1942) schweben noch<br />
3. meine 2. Eingabe an den Präsidenten Ende August<br />
4. Ernas Eingabe vom 23. September<br />
5. Telegramm der drei Akademiker [gemeint sind die Mitglieder der Academia<br />
Brasileira de Letras Cassiano Ricardo, Ribeiro Couto <strong>und</strong> Múcio Leão] an<br />
Luiz Vergara [weiterer Sekretär von Vargas] vom 30. September.<br />
Wie ich nun mehr feststelle wurde die Eingabe zu 3 am 3. September, <strong>das</strong><br />
Telegramm zu 5 am 27. Oktober dem Justizministerium überwiesen, während<br />
die von so vielen Seiten so energisch befürwortete Eingabe vom 4.<br />
September überhaupt noch nicht zum Catete gelangt ist! Sich also wohl<br />
noch im Guanabara befindet oder verschw<strong>und</strong>en ist. (TB Bd. 15, 11.11.1942)<br />
Trotz Feders Hartnäckigkeit, mit der er die Angelegenheit verfolgte, sollte es<br />
schließlich bis Juli 1946 dauern, bis Erna Feder ihre Mutter (der Vater war inzwischen<br />
verstorben <strong>und</strong> Arthur Feder zog es vor, in den USA einen Neuanfang zu<br />
versuchen) wohlbehalten in Rio in Empfang nehmen konnte. Obgleich es auch<br />
einige wenige Fälle gab, in denen es jüdischen Hitler-<strong>Flüchtlinge</strong>n gelang, Verwandte<br />
aus dem vom Krieg erschütterten Europa in <strong>das</strong> sichere Brasilien zu holen,<br />
mussten die meisten ähnliche Erfahrung wie Feder machen <strong>und</strong> verloren<br />
dabei ihre Liebsten, die dem Nazi-Terror zum Opfer fielen.<br />
Die brasilianische Bevölkerung bekam von den Nöten der Emigranten wenig<br />
mit. Getúlio Vargas wurde von vielen als „pai dos pobres“ (Vater der Armen) verehrt<br />
<strong>und</strong> genoss gerade in der ärmeren Bevölkerung großes Ansehen. Wie weit<br />
dieses manchmal ging, musste Feder in einer Auseinandersetzung mit der Hausangestellten<br />
Alice erfahren. Zu welchen Missverständnissen es in diesem Kontext<br />
auch aufgr<strong>und</strong> von Mentalitätsunterschieden kommen konnte, macht Feders<br />
Tagebucheintragung deutlich:<br />
Schwerer Konflikt mit Alice, gerade am heutigen Geburtstag des Präsidenten<br />
Getulio. Sie ist tief entrüstet <strong>und</strong> ganz aufgewühlt, weil ich<br />
gestern meinen Artikel aus dem Malho entheftete <strong>und</strong> <strong>das</strong> übrige Heft<br />
mit dem Bild des Präsidenten zum Licho [sic] warf (ich legte es zu dem<br />
übrigen Papier, <strong>das</strong> sie immer verkauft). Sie hat <strong>das</strong> ganze Heft mit
nach Haus genommen. Ich sei zwar viel gebildeter als sie <strong>und</strong> stehe über<br />
ihr, aber <strong>das</strong> hätte ich nie tun dürfen, ich, der ich hier in Brasilien lebe<br />
<strong>und</strong> hier mein Brot verdiene. Sie habe auch mit anderen Personen gesprochen,<br />
die mehr verstehen als sie, <strong>und</strong> die auch ihrer Ansicht sind.<br />
Dona Erna ist uma santa [eine Heilige], für sie tut sie alles, sonst wäre<br />
sie sofort zur Delegacia gegangen <strong>und</strong> ich säße heute nicht hier. Mit mir<br />
ist sie fertig. Gegen dieses tief verletzte Gefühl nutzen alle Argumente<br />
nichts, zumal sie sie gar nicht anhört. (TB Bd. 15, 19.04.1943)<br />
Wie sehr Feder dieses Erlebnis beschäftigte, ist anhand der Ausführlichkeit zu<br />
erkennen, mit der er die Begebenheit im Tagebuch aufgezeichnet hat. Denn im<br />
Allgemeinen ging er, von für ihn wichtigen oder interessanten Gesprächen oder<br />
besonderen Vorkommnissen abgesehen, bei der Wiedergabe seines Tagesablaufes<br />
selten genauer ins Detail, die Eintragungen sind eher im Protokollstil gehalten.<br />
Aber dieser Zusammenstoß mit der Hausangestellten ließ ihn nicht unberührt. Die<br />
Gründe dafür waren vielschichtig. Als sachlicher Analytiker der politischen Verhältnisse,<br />
als der er jahrelange in Berlin tätig gewesen war, musste ihn <strong>das</strong> große<br />
Maß an Emotionalität in Alices Reaktion befremden. Auch die tiefe Verehrung,<br />
die sie dem Diktator zuteil werden ließ, war für Feder, der diesen Dingen eher<br />
rational gegenüberstand, nicht nachvollziehbar, ebenso wenig die Tatsache, <strong>das</strong>s<br />
sie <strong>das</strong> abgedruckte Foto von Vargas behandelte, als sei es eine Ikone <strong>und</strong> die<br />
Missachtung der Aufnahme als eine persönliche Beleidigung verstand. Tiefer als<br />
dieses Missverständnis, <strong>das</strong> auch auf Mentalitätsunterschieden – Europäer neigen<br />
gemeinhin zu einer zurückgenommenen Emotionalität, während Brasilianer<br />
oft gefühlsbestimmt agieren – beruht, musste ihn jedoch die Erinnerung<br />
daran getroffen haben, welche schutzlose Stellung er als Emigrant besaß. Denn<br />
indirekt deutete Alice nicht nur an, <strong>das</strong>s Feder als Emigrant, der in Brasilien<br />
Zuflucht gef<strong>und</strong>en hatte, dem brasilianischen Staat den nötigen Respekt <strong>und</strong><br />
seine Dankbarkeit erweisen müsse, sondern auch, <strong>das</strong>s ein vermeintliches Fehlverhalten<br />
seinerseits weit reichende Folgen haben könnte. Da dem Journalisten<br />
der Fall der deutsch-jüdischen Kommunistinnen Olga Benario <strong>und</strong> Elisa<br />
Ewert bekannt war, die Vargas beide an die Gestapo ausgeliefert hatte <strong>und</strong> die<br />
nach der Rückkehr nach Deutschland ins KZ kamen <strong>und</strong> dort starben (vgl. dazu<br />
MORAIS 2004), wusste er, welche Tragweite eine Anzeige bei der Delegacia für<br />
ihn als Emigrant haben konnte. Auch wenn Alice in ihren Vorwürfen auf Feders<br />
gefährdete Position anspielte, gab sie zugleich klar zu verstehen, <strong>das</strong>s sie ihre<br />
gesellschaftliche Stellung kannte <strong>und</strong> <strong>das</strong>s Feder als Europäer, obwohl Emigrant,<br />
über ihr stand, da sie indigener Abstammung war.<br />
Feder war es wichtig, die Gefühle der Hausangestellten zu achten, auf sie einzugehen<br />
<strong>und</strong> die Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Nicht weil die Gefahr<br />
durch eine eventuelle Anzeige aufgetaucht war, sondern weil er Alice als<br />
Mensch <strong>und</strong> ihre brasilianische Mentalität respektierte <strong>und</strong> auf sie eingehen wollte.<br />
So hielt er auch die abendliche Beilegung des Konflikts fest: „Alice versöhnt<br />
durch Exemplar completo [ein vollständiges Exemplar] der Getulio-Nummer des<br />
Malho <strong>und</strong> allgemeines Anstoßen mit portugiesischem Wein auf <strong>das</strong> Geburtstagskind“<br />
(TB Bd. 15, 19.04.1943).<br />
115
116<br />
Goethe in den Tropen – Der Kulturvermittler Ernst Feder<br />
Während Feder in den ersten beiden Jahren in Rio de Janeiro in seinen Artikeln<br />
vorwiegend ausschließlich kulturelle Themen behandelte, so trat er ab Juni<br />
1943 als der politische Journalist, als der er sich in Europa einen Namen gemacht<br />
hatte, in Erscheinung. Unter dem Pseudonym „Spectator“ durfte er in einer regelmäßigen<br />
Kolumne namens „Assim fala o radio de Berlim“ auch tagespolitische<br />
Geschehnisse aufgreifen <strong>und</strong> seine Ansichten dazu äußern. Damit wurde er auch<br />
in Brasilien als politische Stimme bekannt <strong>und</strong> so erfolgreich, <strong>das</strong>s ihm sein guter<br />
Fre<strong>und</strong> Baptista Pereira empfahl, „die ‚Assim fala‘ als Buch herauszugeben <strong>und</strong> <strong>das</strong><br />
schon jetzt im Auge zu behalten“ (TB Bd. 15, 17.09.1943). Dies ermöglichte ihm,<br />
auch wieder mehr Artikel in den anderen brasilianischen Zeitungen zu publizieren<br />
<strong>und</strong> verbesserte seine finanzielle Situation, die in diesen Monaten mit begrenzter<br />
journalistischer Tätigkeit sehr prekär gewesen war.<br />
Jedoch hatte er diese Zeit zu nutzen gewusst, um sein Buchprojekt über Begegnungen<br />
der Großen der Welt voranzutreiben. Bevor er sie 1944 in Rio de<br />
Janeiro in portugiesischer Sprache unter dem Titel Diálogos dos grandes do m<strong>und</strong>o<br />
veröffentlichen konnte, war es ihm gelungen, einige der Kapitel in verschiedenen<br />
Zeitungen zu publizieren. 11 Die Idee dazu war ihm im November 1941 gekommen:<br />
„Idee ‚Encontros‘ zu schreiben, interessante Begegnungen aus Literatur <strong>und</strong> Geistesgeschichte“<br />
(TB Bd. 15, 03.11.1941). Geprägt von der Erfahrung des Nationalsozialismus<br />
wollte er „die Ideen der Freiheit, der Würde <strong>und</strong> der Selbstverantwortlichkeit<br />
der Persönlichkeit in großen Figuren der Vergangenheit sichtbar“<br />
machen (FEDER 1950b, S. 10). Am Ende vereinigte Feder 16 Begegnungen,<br />
die Richard Dyck August Strindbergs Historischen Miniaturen <strong>und</strong> Stefan Zweigs<br />
Sternst<strong>und</strong>en der Menschheit gleichsetzte. Was Dyck als elegante Huldigung an die<br />
neue Heimat Brasilien ansah, nämlich <strong>das</strong>s Feder „Thomas Jefferson in Nimes mit<br />
einem brasilianischen Studenten zusammentreffen oder den bedeutenden brasilianischen<br />
Diplomaten Ruy Barbosa bei der Haager Konferenz über die konventionelle<br />
Diplomatie der Grossmächte triumphieren lässt“ (DYCK 1950), geschah<br />
nach Feders eigenen Angaben, „um durch die Erinnerung an historische Gestalten<br />
der letzten Jahrh<strong>und</strong>erte eine Art geistiges Band zwischen der Neuen <strong>und</strong><br />
Alten Welt zu knüpfen, […] um mir die Anpassung an <strong>das</strong> neue ‚Klima‘ durch die<br />
Verlebendigung des kulturellen Austausches zwischen den beiden Kontinenten<br />
zu erleichtern“ (FEDER 1950b, S. 9). In diesem Sinne entwickelte er auch ein<br />
weiteres Buchprojekt mit dem Instituto do Livro unter der Leitung von Augusto<br />
Meyer, <strong>das</strong> ihm als zusätzliche Verdienstquelle diente, als er in Zeitungen nur sehr<br />
eingeschränkt publizieren konnte. „Verabrede mit diesem ein Diccionario Biografico<br />
[sic; Biographisches Lexikon] aller Persönlichkeiten des Auslands, die nach Brasilien<br />
kamen oder mit ihm in Verbindung standen, zu machen. […] Honorar gr<strong>und</strong>sätzlich<br />
25 Cruzeiro die Seite von 400 Worten, kann im Sonderfall erhöht werden“<br />
(TB Bd. 15, 16.02.1943). Feder war jedoch die Wechselseitigkeit in der Kulturvermittlung<br />
sehr wichtig. So wie er für die Zeitungen in Rio vorwiegend deutsche<br />
oder europäische Sujets wählte, so berichtete er für die Baseler Nationalzeitung,<br />
11. In Deutschland erschien <strong>das</strong> Werk erst sechs Jahre später. Vgl. FEDER 1950b.
<strong>das</strong> Argentinische Tageblatt oder den Aufbau von politischen Ereignissen in Brasilien<br />
oder erörterte kulturelle brasilianische Themen.<br />
Ein Thema, über <strong>das</strong> er sowohl in deutschen wie brasilianischen Medien schrieb<br />
<strong>und</strong> unter verschieden Aspekten beleuchtete, war „Goethe <strong>und</strong> Brasilien“. Er betonte<br />
wiederholt, <strong>das</strong>s Brasilien <strong>das</strong> Land wäre, welches den Dichter außerhalb<br />
Europas am meisten interessiert hatte. Feder sprach von Goethes Begegnung mit<br />
dem Botaniker Carl Friedrich Philipp von Martius, der ihm von seiner zusammen<br />
mit dem Naturwissenschaftler Johann Baptist Ritter von Spix unternommenen<br />
Expedition in Brasilien von 1817 bis 1820 berichtete. Von ihm ließ sich Goethe die<br />
große Brasilienkarte erklären, die er in seiner Kartensammlung besaß. Brasilien<br />
fand bis zu seinem Tod <strong>das</strong> Interesse des Dichters, wie Feder schrieb: „Es begleitete<br />
ihn so, fast bis zum letzten Atemzug, die Vision dieses Brasiliens, <strong>das</strong> ihn so anzog<br />
<strong>und</strong> wo er sich, nach seiner Aussage im Essay über die ‚Palmen‘ von Martius, wie<br />
anwesend <strong>und</strong> zu Hause fühlte“ (FEDER 1951) 12 . Er diskutierte dieses Thema auch<br />
mit den anderen Emigranten. Der Dichter wurde zu einer Integrationsfigur, weil<br />
er für viele Hitler-<strong>Flüchtlinge</strong> eine geistige Heimat darstellte. Er diente ihnen, die<br />
es unfreiwillig in <strong>das</strong> tropische Land verschlagen hatte, als eine Art nachträgliche<br />
Legitimation ihrer Anwesenheit dort, da sein Interesse eine lange Tradition der<br />
geistigen Verb<strong>und</strong>enheit mit Brasilien bezeugte.<br />
Es war ihm ein Anliegen, die Kultur <strong>und</strong> die Mentalität des Zufluchtlandes, in<br />
<strong>das</strong> ihn <strong>das</strong> Schicksal gebracht hat, zu verstehen <strong>und</strong> möglichst viel darüber zu<br />
erfahren. Aus diesem Gr<strong>und</strong> nahm er begierig jede Lektüre-Empfehlung an, die er<br />
von den neuen brasilianischen Bekannten oder auch von anderen Exilanten bekam.<br />
Auf diese Weise kam er bald in Berührung mit bereits damaligen oder späteren<br />
Klassikern der brasilianischen Literatur wie z. B. Gonçalves Dias, Castro Alves,<br />
Olavo Bilac, Raim<strong>und</strong>o Correia, Machado de Assis, Joaquim Nabuco, José Lins<br />
do Rego, Euclides da Cunha, Gilberto Amado <strong>und</strong> Manuel Bandeira sowie mit<br />
den Werken des Historikers Pedro Calmon, des Wirtschaftshistorikers Roberto<br />
Simonsen, des Soziologen Gilberto Freyre <strong>und</strong> des Historikers Sergio Buarque de<br />
Holanda. Einige dieser Autoren sollte Feder im Laufe seiner Brasilienjahre persönlich<br />
kennen lernen. Für sein vorbehaltloses Interesse an der brasilianischen Kultur<br />
<strong>und</strong> Geschichte zollten ihm die brasilianischen Intellektuellen große Anerkennung<br />
<strong>und</strong> nahmen ihn in ihre Kreise auf, in denen der deutsche Journalist ein<br />
sehr geschätzter Gesprächspartner wurde. Vielleicht auch, weil er den Gedankenaustausch<br />
<strong>und</strong> die Debatten mit anderen vermisste, die ihm in Berlin <strong>und</strong> später<br />
Paris so viel Freude bereitet hatten, besuchte er häufig die Veranstaltungen der<br />
Academia Brasileira de Letras <strong>und</strong> deren Tee-Nachmittage. Dabei knüpfte der Journalist<br />
neue hilfreiche Kontakte <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>schaften:<br />
Nachmittags zur Academia, wo der Engländer Toy (hiesige Leiter der<br />
Cultura Anglo-Brasileira, Hauptwerk Verdi) über [die] lateinische Basis<br />
der englischen Sprache [einen Vortrag] hält. Claudio de Souza präsidiert<br />
zwischen englischem Botschafter <strong>und</strong> Botschafter [Afrânio de] Melo Fran-<br />
12. „Acompanhava-o assim quase até o ultimo alento a visão deste Brasil que tanto o atraía e<br />
onde, seg<strong>und</strong>o sua afirmação no ensaio sobre as ‚Palmeiras‘ de Martius, se sentia como que<br />
presente e em casa.“<br />
117
118<br />
co, dem ich meinen Wunsch ankündige, über seine Commissão im Instituto<br />
Nacional zu sprechen. Macht mich mit Baptista Pereira [dem Schwiegersohn<br />
von Rui Barbosa] bekannt, der über die Beziehungen des Tupi zur<br />
orientalischen Sprache (von Varnhagen behandelt) in der Biblioteca<br />
Nacional arbeitet <strong>und</strong> mich dort mit einigen Beamten bekannt machen<br />
will. [Fortunat] Strowski ist noch da, [Max] Fischer, dann Miguel Osorio<br />
de Almeida [Professor, Leiter des Instituto Oswaldo Cruz], seit einem Monat<br />
aus USA zurück […] Leben in USA ungeheuer teuer, Krieg macht sich<br />
überall bemerkbar. Verschiedenen werde ich vorgestellt, der unvermeidliche<br />
[Leopold] Stern <strong>und</strong> [Raul de] Azevedo. […] Der Vortrag war schwach<br />
besucht. [Samuel] Malamud [der von Stefan Zweig benannte Verwalter<br />
seines brasilianischen Nachlasses] meinte, Rio sei eine Stadt nur para as<br />
senhoras e os funcionarios [für Damen <strong>und</strong> Beamte], wer sonst kann zu<br />
Vorträgen <strong>und</strong> Konzerten um 5 Uhr gehen? (TB Bd. 15, 24.06.1942)<br />
Obwohl sich Feder um Anschluss in der Oberschicht von Rio bemühte <strong>und</strong> die<br />
Begegnungen <strong>und</strong> Unterhaltungen mit brasilianischen Bekannten immer mehr<br />
Raum in den Eintragungen einnahmen, hielt er selbstverständlich den Kontakt<br />
mit den anderen Emigranten aufrecht. Mit ihnen tauschte er sich über die Kriegsereignisse<br />
in Europa <strong>und</strong> vor allem die Folgen der Politik gegen die Angehörigen<br />
der Achsenmächte aus. Immer wieder kamen Verhaftungen aus unterschiedlichsten<br />
Gründen zur Sprache. „Langenbachs <strong>und</strong> Kalischer […] erzählen den Fall<br />
eines Reisenden Bielschowski, der, im Staate São Paulo zur Weiterfahrt salvo<br />
conduto [Passierschein, den alle „Feindbürger“ für eine Reise beantragen mussten]<br />
verlangend, verhaftet <strong>und</strong> mit allen möglichen eixistas [Angehörigen der Achsenmächte]<br />
zusammen eingesperrt wird.“ „Koch-Weser [d. i. der ehemalige Reichsinnenminister<br />
<strong>und</strong> Reichsjustizminister der Weimarer Republik, der sich im Landesinneren<br />
von Paraná, in Rolândia, eine Existenz als Kaffeepflanzer aufzubauen<br />
versuchte] war neulich 1 St<strong>und</strong>e verhaftet, weil er auf der Straße deutsch sprach“<br />
(TB Bd. 15, 02.05.1942; 04.11.1943). Auf diese Weise erfuhr Feder nach <strong>und</strong> nach<br />
von anderen <strong>Flüchtlinge</strong>n, die ebenfalls in Brasilien Zuflucht gef<strong>und</strong>en hatten<br />
<strong>und</strong> von denen er viele im Laufe der Zeit persönlich treffen sollte, wie u. a. Ulrich<br />
Becher mit seiner Frau Dana Roda-Roda, Johannes Hoffmann, Johannes Schauff,<br />
Max Hermann Maier, sein Berliner Anwaltskollege Willy Althertum (die drei letzteren<br />
gehörten ebenfalls zu den Rolândia-Siedlern).<br />
Interessanterweise suchte Feder den Kontakt zu den österreichischen Kollegen<br />
Frank Arnau <strong>und</strong> Otto Maria Carpeaux nicht, die schon seit 1939 in Brasilien<br />
<strong>und</strong> zu jener Zeit, als er in Rio eintraf, bereits erfolgreich als Journalisten tätig<br />
waren. In seinen Tagebüchern ist lediglich von sehr seltenen zufälligen Begegnungen<br />
<strong>und</strong> dem einen oder anderen Artikel von ihnen, der Feders Aufmerksamkeit<br />
erregte, die Rede. So registriert er im Februar/März 1944 die Polemik zwischen<br />
Carpeaux <strong>und</strong> dem französischen Schriftsteller Georges Bernanos, der als streitbarer,<br />
konservativer Katholik ebenfalls vor dem Nationalsozialismus nach Brasilien<br />
geflohen war. Im Rahmen der literarischen Debatte, die Carpeaux durch einen<br />
schonungslosen Nekrolog auf Romain Rolland unter den Intellektuellen ausgelöst<br />
hatte, wandte sich Bernanos scharf „gegen Carpeaux’ Infragestellung der bra-
silianischen ‚Gallomanie‘“ (PFERSMANN 1993, S.143) <strong>und</strong> scheute sich dabei nicht<br />
vor antisemitischen Ausfällen. Feder entschied sich, dagegen einen Artikel für<br />
Aonde Vamos? zu schreiben, mit dem er seine ständige Mitarbeit an dieser Zeitschrift<br />
einleitete (TB Bd. 16, 15.02.1944).<br />
„Tod im Paradies“ – Feders Fre<strong>und</strong>schaft zu Stefan Zweig<br />
Von allen Bekanntschaften, die er in Brasilien machte, von allen Fre<strong>und</strong>schaften,<br />
die er knüpfte oder von neuem aufnahm, war es die mit Stefan Zweig, die ihn<br />
auf tragische Weise über seine journalistische Tätigkeit hinaus berühmt werden<br />
ließ. Während seiner Arbeit als Publizist noch immer die gebührende Anerkennung<br />
verwehrt geblieben ist – eine nähere Untersuchung des journalistischen<br />
Lebenswerks oder eine Biographie Feders bilden bis heute ein Desiderat der Forschung<br />
– , findet man seinen Namen in allen Stefan Zweig-Biographien. Denn <strong>das</strong><br />
Ehepaar Feder verbrachte mit dem Schriftsteller <strong>und</strong> seiner Frau Lotte deren<br />
letzten Lebensabend. Stefan Zweig gehört zu den verhältnismäßig wenigen Namen,<br />
die sich von Anfang bis zum Ende wie ein roter Faden durch <strong>das</strong> „Brasilianische<br />
Tagebuch“ ziehen. Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, auf alle<br />
Aspekte der Beziehung Feders zu dem berühmten Autor <strong>und</strong> die Nachwirkungen<br />
des Selbstmordes einzugehen. Es kann nur ein kleiner Eindruck der Bedeutung<br />
der Fre<strong>und</strong>schaft vermittelt werden. Als ein wichtiges <strong>und</strong> kontinuierliches Thema<br />
in den Tagebüchern darf es jedoch nicht gänzlich unerwähnt bleiben.<br />
Schon bald nach seiner Ankunft in Rio wurde Feder mit dem Gerücht konfrontiert,<br />
Stefan Zweig wäre für Brasilien – Ein Land der Zukunft, <strong>das</strong> kurz zuvor erscheinen war,<br />
bezahlt worden. Als aufmerksamen Journalisten konnte Feder auch nicht die „Kampagne“<br />
entgehen, die der Correio da Manhã Anfang August gegen <strong>das</strong> Werk startete.<br />
Ich erörterte mit ihnen [einigen brasilianischen Bekannten] die seltsame<br />
Campagne, die der Correio da Manhã seit einiger Zeit gegen Stefan Zweigs<br />
über alle Massen propagiertes Buch führt. Schon 4 Artikel! […] Alles <strong>das</strong><br />
ist so nebensächlich, teilweise falsch <strong>und</strong> unsinnig <strong>und</strong> stets gehässig, <strong>das</strong>s<br />
irgendeine Intrige (gegen Verlag? gegen Regierung, gegen Z.s Fre<strong>und</strong>e?)<br />
dahinter steckt. (TB, Bd. 15, 08.08.1941; vgl. dazu auch DINES 2006)<br />
Zum ersten persönlichen Treffen der beiden kam es jedoch erst im Dezember<br />
in Petrópolis, wohin sich die Feders <strong>und</strong> Stefan <strong>und</strong> Lotte Zweig wie so viele<br />
Cariocas vor der unerträglichen Hitze in der Hauptstadt geflüchtet hatten. Sie<br />
begannen sich regelmäßig zu treffen. Mit außergewöhnlicher Ausführlichkeit<br />
hielt Feder die Gespräche fest; gleichsam so, als ob er geahnt hätte, welche<br />
Bedeutung diese Aufzeichnungen einmal erlangen würden. Obwohl die schrecklichen,<br />
aktuellen Kriegsereignisse in Europa selbstverständlich <strong>das</strong> beherrschende<br />
Gesprächsthema darstellten, so wurde doch auch manche Begebenheit erzählt,<br />
die sich zu Friedenszeiten zutragen hatte:<br />
Charakteristisch für [die] deutsche Mentalität kleine Anekdote [sic]<br />
vom 60. Geburtstag [Gerhart Hauptmanns]. Sammy Fischer nahm Zweig<br />
mit zu einem kleinen Diner im Kaiserhof, wo Hauptmann nach 2stündiger<br />
Rede ganz verdurstet eintraf. „Vor allem 1 Glas Bier.“ „Bedaure<br />
119
120<br />
sehr, hier wird kein Bier serviert, wenn Sie sich in die Bar bemühen<br />
wollen“, worauf der gefeierte Dichter sich gehorsam zur Bar verfügte,<br />
während Zweig meinte: „Zum Donnerwetter! Wenn in Italien bei solcher<br />
Gelegenheit d’Annunzio einen Affen gewünscht hätte, hätte man<br />
ihm den in den Festsaal gebracht.“ (TB Bd. 15, 24.01.1942)<br />
Immer wiederkehrende Worte in Feders Gesprächsnotizen bezüglich des Gemütszustandes<br />
des Schriftstellers sind „Pessimismus“, „pessimistisch“ oder „tief deprimiert“.<br />
Aber nicht nur die dramatische Entwicklung in seiner alten Heimat bedrückte<br />
Zweig sehr, auch der Wandel, den Brasilien seit seinem letzten Besuch<br />
vollzogen hatte, stimmte ihn nachdenklich:<br />
[Zweig] findet Brasilien vollkommen verändert, Geld hineingeströmt,<br />
jetzt aller Luxus zu haben, <strong>das</strong> Minderwertigkeitsgefühl gegenüber allem<br />
Fremden, auch Argentinien, durch betonten Nationalismus, der<br />
alles Neu-Erreichte auf Getúlio Vargas zurückführt, ersetzt. Das niedere<br />
Volk findet er so angenehm, sehr ehrlich, 9/10 aller Häuser bleiben<br />
unverschlossen (?). […] Brasilien wird durch die rasche Umwandlung<br />
viel vom Besten verlieren, die Hochhäuser werden zur Kindereinschränkung<br />
führen. In Rio mag er nicht leben, kennt zu viele Leute,<br />
die er nicht wiedererkennt. Übertriebene, veraltete Höflichkeitsformen:<br />
Visitenkarten, Einsteigen in den Wagen. (TB Bd. 15, 30.12.1941)<br />
Neben diesen ernsten Themen nutzten Feder <strong>und</strong> Zweig ihr Beisammensein,<br />
um sich über die eigene schriftstellerische Arbeit auszutauschen. Feder ließ Zweig<br />
am Entstehungsprozess der Begegnungen teilhaben. Dieser prägte Feders Werk<br />
durch seine Anregungen, so schlug Zweig vor, eine Begegnung zwischen<br />
Montaigne <strong>und</strong> Tasso darzustellen (TB Bd.15, 05.02.1942), welche Feder in sein<br />
Buch mit aufnahm. Auch der gewählte Titel „Begegnungen“ geht auf einen Vorschlag<br />
von Stefan Zweig zurück (TB Bd. 15, 22.06.1943; der vollständige Titel lautet<br />
Begegnungen. Die Großen der Welt im Zwiegespräch). Zweig seinerseits legte<br />
dem Journalisten die Schachnovelle vor <strong>und</strong> bat um ein rückhaltloses Urteil. Er<br />
war sehr froh über Feders kritische Anmerkungen. Mehr als einmal betonte Lotte,<br />
wie gut Zweig diese Art von Gesprächen täte.<br />
Am 21.02.1942 luden Lotte <strong>und</strong> Stefan Zweig die Feders zu sich ein, um über<br />
die Eindrücke des Karnevals, dem beide Ehepaar kurz zuvor in Rio beigewohnt<br />
hatten, zu sprechen. 13 Als man gegen Mitternacht auseinander ging, ahnten Erna<br />
<strong>und</strong> Ernst Feder nicht, <strong>das</strong>s es ein Abschied für immer sein sollte, obwohl Feder<br />
die geistige Abwesenheit Zweigs, der mit seinen Gedanken woanders zu sein schien,<br />
<strong>und</strong> der düstere Schatten, der über der Unterhaltung gelegen hatte, aufgefallen<br />
war. Die böse Vorahnung, <strong>das</strong>s Zweig vielleicht Selbstmord begehen könnte, wie<br />
Feder am Morgen des 23.02.1942 notierte, wurde wenige St<strong>und</strong>e später als schreckliche<br />
Wahrheit bestätigt. Die tiefe Betroffenheit, die der Journalist darüber empfand,<br />
äußert sich auch in seiner heftigen Reaktion auf <strong>das</strong> respektlose Verhalten<br />
13. Da dieser Abend durch zahlreiche Artikel Feders <strong>und</strong> deren Nacherzählungen in Zweig-<br />
Biographien bekannt ist, wird an dieser Stelle nicht näher darauf eingegangen. Vgl. dazu<br />
FEDER 1942; 1943; 1950b; 1968 sowie DINES 2006.
von Paul Frischauer <strong>und</strong> Leopold Stern, die neben Zweigs Verleger Koogan <strong>und</strong><br />
weiteren Bekannten wie Claudio de Souza <strong>und</strong> Gabriela Mistral sowie der Presse<br />
zu Zweigs kleinem Bungalow geeilt waren. Selten findet man in Feders Tagebuch<br />
eine solch scharfe Verurteilung seiner Mitmenschen:<br />
Widerwärtig wie sich dann Frischauer <strong>und</strong> Stern, zwei ekelhafte Schmeißfliegen<br />
an einer schönen Blume, der anliegenden Abschrift des New Yorker<br />
Testaments bemächtigen <strong>und</strong> dies durchstöbern […] Und Frischauer,<br />
<strong>das</strong> rauchende Schwein, der […] nur darüber nachsinnt, welchen Nutzen<br />
er zweckmäßigerweise aus der Affaire [sic] ziehen könne […] „Ich war<br />
immer gegen die falsche Bescheidenheit“, meint F., in Bezug auf <strong>das</strong> Häuschen,<br />
da er ja persönlich für Hochstapelei ist. (TB Bd. 15, 23.02.1942)<br />
Das Staatsbegräbnis, mit dem die brasilianische Regierung dem berühmten<br />
Schriftsteller die letzte Ehre erweisen wollte, bewegte ihn ebenfalls sehr, da die<br />
Feierlichkeiten offenbarten, <strong>das</strong>s dieser Tod keinen unberührt ließ <strong>und</strong> die Trauer<br />
um den großen Verlust alle einte:<br />
[…] die ganze Stadt unter dem Eindruck der Feierlichkeit. […] Während<br />
die Wagen durch die Stadt rollen […], schließen spontan alle Geschäfte.<br />
Auf dem Friedhof die Fülle so stark, <strong>das</strong>s wenig zu sehen <strong>und</strong> zu hören,<br />
ein ergreifendes Bild, diese Menge, die alle Schichten, Rassen <strong>und</strong> Klassen<br />
umfasst <strong>und</strong> sichtlich ergriffen ist. (TB Bd. 15, 24.02.1942)<br />
Das Thema Stefan Zweig begleitete den Journalisten Feder noch viele Jahre.<br />
Da er als seriöse Stimme <strong>und</strong> integre Persönlichkeit galt, wurde er vielfach gebeten,<br />
sich zu Stefan Zweig <strong>und</strong> insbesondere dessen Zeit in Brasilien zu äußern.<br />
Über die Jahre hinweg veröffentlichte er zahlreiche Artikel in Brasilien, Argentinien,<br />
den USA <strong>und</strong> nach dem Krieg auch in Deutschland <strong>und</strong> Österreich. Schon<br />
1947 zählte er 32 Artikel in seiner Sammlung (TB Bd. 17, 27.03.1947). Die Erinnerung<br />
an diesen Schriftsteller aufrechtzuerhalten, war ihm ein wichtiges Anliegen.<br />
Daher schrieb er nicht nur zu einschlägigen Gedenkdaten wie Zweigs Geburtstag<br />
oder Todestag Artikel. Als Samuel Wainer Feder, der einmal wieder einen Zweig-<br />
Beitrag in der Redaktion abgab, einen ewigen Fre<strong>und</strong> Zweigs nannte, erwiderte<br />
Feder, <strong>das</strong>s er eben „nicht zu denjenigen [gehöre], die vergessen“ (TB Bd. 15,<br />
21.05.1943). 14 In diesem Sinn setzte er sich 1953/1954 für eine Neu-Auflage von<br />
Zweigs Brasilien – Ein Land der Zukunft in Brasilien ein, jedoch ohne Erfolg.<br />
Auch privat blieb Stefan Zweig in seinem Leben stets präsent, da er gleich von<br />
drei Seiten aufgesucht wurde. Zweigs Verleger weihte ihn in seine Meinungsverschiedenheiten<br />
mit dem Erben Manfred Altmann, Lottes Bruder, ein. Victor<br />
Wittkowski, ein junger mittelloser Schriftsteller, den Zweig in Rio getroffen hatte,<br />
nachdem die beiden bereits in Europa miteinander korrespondiert hatten, <strong>und</strong><br />
dem Zweig die Sichtung seines literarischen Nachlasses testamentarisch übertragen<br />
hatte, bat Feder wiederholt um juristischen Rat. Denn sowohl Koogan als<br />
auch Altmann wussten ihm diese Arbeit zu erschweren, weil sie mit Zweigs Entscheidungen<br />
nicht einverstanden waren. Und schließlich wollte Friderike Zweig,<br />
14. „Não so [sic] daqueles que esquecem“.<br />
121
122<br />
die erste Frau des Schriftstellers, Feders Urteil zu Zweigs Gemützustand <strong>und</strong> dessen<br />
Leben <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>en in Brasilien sowie ebenfalls juristische Hilfe gegenüber<br />
Koogan, der ihr die von Zweig für sie bestimmten Autographen lange Zeit nicht<br />
zukommen ließ. Sie blieb in regelmäßigem Briefkontakt mit Feder, der so über die<br />
Entwicklungen in der Stefan-Zweig-Forschung informiert wurde.<br />
Eine schwierige Mission – Feders Engagement für die jüdische Sache<br />
Nicht nur Victor Wittkowski <strong>und</strong> Friderike Zweig fanden in Feder einen<br />
verlässlichen Ratgeber <strong>und</strong> Vermittler. Auch andere Emigranten schätzten ihn<br />
sehr wegen seiner Neutralität <strong>und</strong> f<strong>und</strong>ierten Meinung sowie seines großen Wissens.<br />
Immer häufiger wurde er um Hilfe <strong>und</strong> Rat gebeten. Auch die deutschjüdische<br />
Gemeinde Congregação Israelita Paulista (CIP) wandte sich an ihn, als<br />
sie 1947 einen unparteiischen <strong>und</strong> erfahrenen Außenstehenden benötigte für<br />
die Beurteilung der Frage eines Zusammenschlusses mit anderen jüdischen Institutionen<br />
zu einer Gesamtvertretung aller Juden von São Paulo. Im Januar<br />
1945 hatte sie Feder erstmals nach São Paulo eingeladen <strong>und</strong> ihm auf diese<br />
Weise die Möglichkeit gegeben, dortige Literaten <strong>und</strong> Künstler kennen zu lernen<br />
wie Mario de Andrade <strong>und</strong> Lasar Segall, mit dem er in der Folge einen<br />
regelmäßigen Umgang pflegte. Später sollte durch dessen Frau Jenny, eine geborene<br />
Klabin, noch die Verbindung mit den ‚brasilianischen Rothschilds‘ hinzukommen<br />
15 . Der Journalist wurde damals auch in die dortigen Emigrantenkreise<br />
eingeführt. Dieser Besuch war der Auftakt für einen Austausch <strong>und</strong> persönlichen<br />
Kontakt mit den leitenden Mitgliedern der CIP Luiz Lorch, Ernst Koch <strong>und</strong><br />
Alfred Hirschberg, einem ehemaligen Berliner Anwaltskollegen, so <strong>das</strong>s die erwähnte<br />
Anfrage der CIP nichts Außergewöhnliches darstellte. Feder erfüllte diese<br />
Aufgabe erfolgreich <strong>und</strong> empfahl sich damit für eine leitende Stelle bei der brasilianischen<br />
Vertretung der Hilfsorganisation American Jewish Joint Distribution<br />
Committee, die er Anfang 1947 antrat, ohne jedoch ganz auf den Journalismus<br />
zu verzichten. 16 Dabei wurde Feder mehr als einmal Zeuge des großen Grabens,<br />
der zwischen den Zionisten <strong>und</strong> dem JOINT, zwischen Ost- <strong>und</strong> Westjuden vorhanden<br />
war. In São Paulo ging dieser sogar so weit, <strong>das</strong>s „sich die deutschen<br />
Juden oftmals weigerten, Unterstützung von Hilfsorganisationen anzunehmen,<br />
die von Osteuropäern geleitet wurden.“ (LESSER 1995, S. 137) 17 . Feder geriet<br />
manchmal zwischen die scheinbar unversöhnlichen Lager <strong>und</strong> musste doch<br />
versuchen, die Fronten aufzubrechen <strong>und</strong> zu vermitteln. Wie bei allen Tätigkeiten<br />
steckte er seine ganze Energie in diese Aufgabe. Nach fast zwei Jahren musste<br />
er jedoch erkennen, <strong>das</strong>s er mit der Aufgabe allein gelassen wurde:<br />
Im JOINT vor- <strong>und</strong> nachmittags gearbeitet, ohne rechte Lust, mit einer<br />
one man’s show [sic] ist die Sache doch nicht zu machen. […] Kam<br />
15. „Die Klabins haben hier die Rolle der Rothschilds übernommen“ (TB Bd. 15, 30.04.1942).<br />
16. Schon während des Pariser Exils hatte Feder einen Auftrag des JOINT übernommen (FRANKE<br />
2000, S. 105/106).<br />
17. „[...] os judeus alemães muitas vezes recusavam-se a aceitar ajuda de organizações<br />
assistenciais opera<strong>das</strong> por leste-europeus.“
neulich 1 Brief richtig bei mir an, der lediglich […] Dr. Ernst Feder<br />
adressiert war, so erhalte ich heute einen Brief […] zugestellt, der an<br />
den JOINT Rio adressiert war <strong>und</strong> dessen Adresse die Post mit „c/o<br />
Ernesto Feder“ nebst Wohnung kompletiert [sic; Eindeutschung des<br />
port. Verbs „completar“ – vervollständigen.] hatte. Die Welt identifiziert<br />
mich mit dem JOINT <strong>und</strong> ich möchte raus. (TB Bd. 18, 13.08.1948)<br />
Obgleich diese Feststellung sehr gut verdeutlichte, zu welcher Bekanntheit<br />
<strong>und</strong> welchem Ansehen es der deutsch-jüdische Journalist neben seinem journalistischen<br />
Wirken auch mit dieser Arbeit in Brasilien gebracht hatte, zeigte sie zugleich<br />
auch, wie kräftezehrend die zusätzliche Bürde für den immerhin 67-jährigen<br />
Feder war. Tatsächlich gab er Ende 1948 die Stelle beim JOINT auf.<br />
In selbem Jahr hatte er außerdem vergeblich versucht, eine große Feier<br />
anlässlich von Goethes 200. Geburtstag in Rio de Janeiro zu veranstalten, zu der<br />
Fritz von Unruh als Festredner aus den USA kommen sollte (was aus verschiedenen<br />
Gründen scheiterte; Feder selbst hielt letztlich die Festrede). Danach widmete<br />
er sich nur noch dem Journalismus. Sehr früh nahm er Kontakt zu den ersten<br />
diplomatischen Vertretern der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland auf. Nachdem er am<br />
25.06.1938 ausgebürgert (FRANKE 2000, S. 232) <strong>und</strong> später in Brasilien als staatenlos<br />
anerkannt worden war, wurde 1953 seinem Antrag auf Änderung des Status<br />
seiner Nationalität von staatenlos in deutsch stattgegeben. Noch im selben<br />
Jahr reiste er zusammen mit seiner Frau auf Kosten der deutschen Regierung,<br />
welche ihm ebenfalls 1953 <strong>das</strong> große Verdienstkreuz (TB Bd. 23, 01.04.1953) verlieh<br />
18 , erstmals in die alte Heimat zurück. 1958, nachdem Ernas Mutter im Alter<br />
von 86 Jahren in Rio gestorben war, entschlossen sich Erna <strong>und</strong> Ernst Feder auf<br />
die persönliche Aufforderung von B<strong>und</strong>espräsident Theodor Heuss, aber auch<br />
aus ges<strong>und</strong>heitlichen Gründen nach Deutschland zurückzukehren, wo sie sich<br />
wieder in Berlin, ihrer beider Heimatstadt, niederließen <strong>und</strong> Feder weiterhin publizistisch<br />
tätig war. Als er aber 1964 dort verstarb, war er sowohl in seiner Heimat<br />
Deutschland als auch im Exilland Brasilien so gut wie vergessen 19 . Mit seinem<br />
„Brasilianischen Tagebuch“ jedoch hat „der Demokrat […], der aufrechte Mensch,<br />
der geraden Hauptes durch den Dschungel der Hitler-Welt einherschritt, rein <strong>und</strong><br />
unberührt von allem Schmutz der feindlichen Gosse“ (ROSENSTEIN 1951, S. 2) der<br />
Nachwelt ein einzigartiges Zeugnis des deutschen Exils 1933-1945 <strong>und</strong> brasilianischer<br />
Zeitgeschichte der Jahre 1941-1958 vermacht.<br />
Archivalische Quellen<br />
FEDER, Ernst: Tagebücher. Bd. 15 (1941-1943); Bd. 16 (1944-1945); Bd. 17 (1946-1947); Bd. 18 (1948);<br />
Bd. 21 (1951) <strong>und</strong> Bd. 23 (1953). Ernst Feder Collection. AR 7040. Leo Baeck Institute. New York.<br />
ROSENSTEIN, Paul (1951): Mein lieber, guter alter Fre<strong>und</strong> Ernst Feder. Manuskript der Rede anlässlich<br />
des 70. Geburtstags von Ernst Feder, 18.03.1951. In: Ernst Feder Collection. AR 7040. Leo Baeck<br />
Institute. New York<br />
18. 1953 erhielt auch Getúlio Vargas einen Verdienstorden der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland<br />
(Sonderstufe des Großkreuzes).<br />
19. Nur wenige deutsche Zeitungen nahmen davon Notiz. Erna Feder lebte noch bis zu ihrem Tod<br />
1973 in Berlin.<br />
123
124<br />
Literatur<br />
ARNAU, Frank (1956): Der verchromte Urwald. Frankfurt am Main.<br />
BENITEZ, Juan Pastor (1946): A flor do exílio: Ernesto Feder e Fabrice Polderman. In: O Jornal, Rio<br />
de Janeiro, 14.03.1946.<br />
DINES, Alberto (2006): Tod im Paradies. Die Tragödie des Stefan Zweig. Frankfurt am Main.<br />
DYCK, Richard (1950): Weltgeschichte in Schattenrissen. In: Aufbau. New York, 29.12.1950.<br />
ECKL, Marlen (Hg.) (2005): „…auf brasilianischem Boden fand ich eine neue Heimat“. Autobiographische<br />
Texte deutscher <strong>Flüchtlinge</strong> des Nationalsozialismus 1933-1945. Remscheid.<br />
FEDER, Ernst (1942): Recordações Pessoais. In: Azevedo, Raul de: Vida e morte de Stefan Zweig.<br />
Sonderausgabe der Zeitschrift Aspectos. Rio de Janeiro, S. 128/129.<br />
FEDER, Ernst (1942): Recordando Stefan Zweig. In: Ebd., S. 132-134.<br />
FEDER, Ernst (1943): My Last Conversations with Stefan Zweig. In: Books Abroad. Norman, Oklahoma<br />
17 (1), S. 3-9.<br />
FEDER, Ernst (1944): Os brasileiros em Vichy. In: Aonde Vamos? Rio de Janeiro, 11.05.1944.<br />
FEDER, Ernst (1946): Dentro da Alemanha. In: Diario de Notícias. Rio de Janeiro, 06.01.1946.<br />
FEDER, Ernst (1948): Goethe in Rio. In: Allgemeine Zeitung. Mainz, 09.08.1948.<br />
FEDER, Ernst (1948): Sabia Goethe o português? In: Jornal do Brasil. Rio de Janeiro, 28.08.1948.<br />
FEDER, Ernst (1949): Goethe e o novo m<strong>und</strong>o. In: Diário de Notícias. Rio de Janeiro, 28.08.1949.<br />
FEDER, Ernst (1950a): Ein grosser Arzt <strong>und</strong> Lehrer. Paul Rosenstein wird 75 Jahre alt. In: Aufbau. New<br />
York, 28.07.1950.<br />
FEDER, Ernst (1950b): Begegnungen. Die Großen der Welt im Zwiegespräch. Esslingen, S. 197-210.<br />
FEDER, Ernst (1951): Mapas do Brasil na Casa de Goethe. In: Diário Carioca. Rio de Janeiro, 09.09.1951.<br />
FEDER; Ernst (1968): Stefan Zweigs letzte Tage. In: Arens, Hanns (Hg.): Stefan Zweig. Im Zeugnis<br />
seiner Fre<strong>und</strong>e. München / Wien, S. 174-186.<br />
FEDER, Ernst (1971): Heute sprach ich mit…Tagebücher eines Berliner Publizisten 1926-1932. Herausgegeben<br />
von Cécile Lowenthal-Hensel <strong>und</strong> Arnold Paucker. Stuttgart.<br />
FRANKE, Julia (2000): Paris - eine neue Heimat? Jüdische Emigranten aus Deutschland 1933-1939.<br />
Berlin.<br />
FURTADO KESTLER, Izabela Maria (1992): Die Exilliteratur <strong>und</strong> <strong>das</strong> Exil der deutschsprachigen Schriftsteller<br />
<strong>und</strong> Publizisten in Brasilien. Bern / Frankfurt am Main / New York.<br />
GÖRNER, Rüdiger (1971): Das Tagebuch. München / Zürich.<br />
KOIFMAN, Fábio (2002): Quixote nas trevas – o embaixador Souza Dantas e os refugiados do nazismo.<br />
Rio de Janeiro.<br />
LESSER, Jeffrey (1995): Brasil e a questão judaica. Imigração, Diplomatia e Preconceito. Rio de Janeiro.<br />
MORAIS; Fernando (2004): Olga. Companhia <strong>das</strong> Letras. São Paulo.<br />
PETERSON, Walter F. (1987): The Berlin liberal press in Exile: a history of the Pariser Tageblatt - Pariser<br />
Tageszeitung, 1933 – 1940. Tübingen.<br />
PFERSMANN, Andreas (1993): Carpeaux vs Bernanos. Eine literarische Fehde im brasilianischen<br />
Exil. In: Austriaca, (18), S. 137-150<br />
ROSENSTEIN, Paul (1954): Narben bleiben zurück. Die Lebenserinnerungen des großen jüdischen Chirurgen.<br />
Bad Wörishofen.<br />
SELLMER, Izabela (1997): “Warum schreibe ich <strong>das</strong> alles?”. Zur Rolle des Tagebuchs für deutschsprachige<br />
Exilschriftsteller 1933-1945. Bern / Frankfurt am Main / New York.<br />
SILVEIRA, Joel (1943): Eu vi nascer o nazismo! In: Diretrizes, Rio de Janeiro, 28.01.1943.<br />
TUCCI CARNEIRO, Maria Luiza (2001): O anti-semitismo na era Vargas. Fantasmas de uma geração<br />
1930-1945. São Paulo.<br />
ZWEIG, Stefan (1990): Brasilien. Ein Land der Zukunft. Frankfurt am Main.<br />
Marlen Eckl, M. A., studierte Komparatistik, Judaistik <strong>und</strong> Jura. Oktober 2005 Herausgabe<br />
der Anthologie „…auf brasilianischem Boden fand ich eine neue Heimat.“ Autobiographische<br />
Texte deutscher <strong>Flüchtlinge</strong> des Nationalsozialismus 1933-1945 (Remscheid). 2004-<br />
2006 Übersetzung der Stefan Zweig-Biographie von Alberto Dines ins Deutsche. (Tod im<br />
Paradies. Die Tragödie des Stefan Zweig. Frankfurt am Main 2006). Zurzeit absolviert sie <strong>das</strong><br />
Doktoratsstudium am Institut für Geschichte der Universität Wien zum Thema: Deutsche<br />
Exilliteratur in Brasilien.
Von deutschen Juden zu<br />
jüdischen Brasilianern:<br />
<strong>Flüchtlinge</strong> <strong>und</strong> <strong>das</strong> <strong>‚Aushandeln</strong>‘<br />
nationaler Identitäten in São Paulo<br />
in der Zeit von 1933-1945<br />
Jeffrey Lesser<br />
Atlanta<br />
Resumo: As novas identidades étnicas dos judeus, construí<strong>das</strong> no<br />
Brasil no século XX, foram o resultado de processos tanto<br />
internos como externos. A etnicidade judaico-brasileira<br />
era ao mesmo tempo subnacional e supranacional e possibilitava<br />
a diferenciação interna do grupo, permitindo<br />
porém ao mesmo tempo, desde uma visão externa, a reconcepção<br />
da realidade heterogênea dos imigrantes<br />
numa ficção de cultura comum. No decorrer do tempo, a<br />
identidade pós-migratória tornou-se uma criação consciente<br />
e propositada mesmo se a nova etnicidade nunca<br />
existiu antes da migração. No Brasil, refugiados judeus alemães<br />
(como diferenciados de judeus poloneses e judeus<br />
sírios) criaram sinagogas, agências de ajuda e escolas,<br />
mesmo quando esses exilados se tornaram parte de uma<br />
etnicidade judaico-brasileira mais ampla. Enquanto a separação<br />
desses judeus do grupo dominante poderia se<br />
originar nas diferenças de língua ou de atitudes perante o<br />
casamento, esta situação também compreendia experiências<br />
internas compartilha<strong>das</strong>, p. ex. com relação à alimentação,<br />
ao trabalho ou a hábitos no vestir. Estava em constante<br />
fluxo e, portanto, meu artigo rejeita a idéia de<br />
etnicidade baseada no esquema insider / outsider.<br />
Abstract: The new Jewish ethnic identities constructed in Brazil in<br />
the twentieth century were the result of both internal and<br />
external processes. Jewish-Brazilian ethnicity was both suband<br />
supra-national and allowed for internal group difference<br />
even while permitting outsiders to remake the reality of<br />
immigrant heterogeneity into the fiction of common culture.<br />
Over time, post-migration identity became a conscious<br />
and purposeful creation even when the new<br />
ethnicity never existed prior to migration. In Brazil, Ger-<br />
125
126<br />
man-Jewish refugees (as differentiated from Polish-Jews or<br />
Syrian-Jews) created synagogues, aid agencies and schools<br />
even as these same exiles became part of a broader Jewish-<br />
Brazilian ethnicity. While Jewish separation from the dominant<br />
group may have been based on differences such as<br />
language or attitudes towards marriage, it also contained<br />
internal shared experiences regarding things like food,<br />
work and clothing. It was also in constant flux and thus my<br />
article rejects the insider/ outsider idea of ethnicity.<br />
I. Der Rahmen des Geschehens<br />
Jede Art ethnischer Beharrung ist ein bemerkenswertes Phänomen. Denn<br />
interne (politische, Generations- u. a.) Konflikte, die Beziehungen zur<br />
Mehrheits-Gesellschaft <strong>und</strong> internationale Faktoren schaffen konstante Wechselwirkungen;<br />
<strong>das</strong> Verhandeln von Gruppenidentitäten <strong>und</strong> die Akzeptanz<br />
unzähliger Variablen, die sich ständig verändern, sind die Norm. Dieses<br />
Ineinanderspiel der Kräfte lässt sich deutlich erkennen bei der Entstehung<br />
der Gemeinschaft deutsch-jüdischer <strong>Flüchtlinge</strong> in den 1930er Jahren in<br />
Brasilien, einer Gruppe, die danach trachtete, sich in die weiße Elite der dortigen<br />
Gesellschaft zu integrieren, <strong>und</strong> dabei ihren Unterschied zu den osteuropäischen<br />
Juden akzentuierte, die früher gekommen waren.<br />
Das allgemeine Muster der jüdischen Immigration nach Brasilien<br />
beeinflusste notwendigerweise die Wege, auf denen sich dort eine spezifisch<br />
deutsch-jüdische Identität herausbildete <strong>und</strong> angefochten wurde. Wenngleich<br />
einige Juden schon während der Kolonialzeit nach Brasilien gekommen waren,<br />
so fand die Entstehung einer Gemeinschaft im heutigen Sinn erst im späten<br />
19. Jahrh<strong>und</strong>ert statt, als Juden aus Nordafrika sich während der Zeit des<br />
Kautschuk-Booms in Amazonien ansiedelten. Darauf folgten im frühen 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
eine bedeutende Zahl von osteuropäischen Juden, die sich in landwirtschaftlichen<br />
Gemeinschaften in Südbrasilien ansiedelten, die dort von der<br />
Jewish Colonization Association des Barons Maurice de Hirsch gegründet worden<br />
waren. Die landwirtschaftlichen Kolonien waren zwar ein Fehlschlag, doch<br />
die Migration dieser Juden in Brasiliens Großstädte bereitete den Weg für eine<br />
umfangreiche ost-europäische, vor allem polnische Einwanderung in den<br />
1920er <strong>und</strong> 30er Jahren. Tatsächlich kamen in manchen dieser Jahre fast 13<br />
Prozent aller Juden, die Europa verließen, nach Brasilien, <strong>das</strong> damit für<br />
die jüdische Umsiedlung zu einem der wichtigsten Länder in der Welt<br />
wurde (s. LESSER, 1991; 1994).<br />
Diese Migrationsmuster waren merklich verschieden von denjenigen in den<br />
USA, Argentinien <strong>und</strong> Kanada, wo die im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert aus Zentraleuropa<br />
eingewanderten Juden eine Gemeinschaftsbasis schufen, gegen die alle später<br />
Zugewanderten dann anliefen. Ein Historiker z. B. hat die Juden im Buenos<br />
Aires des späten 19. Jahrh<strong>und</strong>erts beschrieben als „refined Western European<br />
businessmen who were heirs to the Emancipation [and] generally committed
to the tenets of German reform and its concern for dignified services, sermons<br />
in the vernacular and the termination of rules that tended to make Jews appear<br />
different” (SOBEL 1945, S. 121). Solche Kommentare träfen auch für die USA<br />
<strong>und</strong> Kanada zu. Für die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts lässt sich<br />
sagen, <strong>das</strong>s die interne Hegemonie im Leben dieser Gemeinschaften in allen<br />
drei Ländern durch eine deutsch-jüdische Basis bestimmt wurde. Für Brasilien<br />
dagegen sind solche Kennzeichnungen nicht zutreffend, denn dort waren<br />
es die osteuropäischen Juden, die nach der Russischen Revolution kamen,<br />
welche die jüdische Kultur in formal-politischer Hinsicht beherrschten.<br />
Die fast zehntausend deutsch-jüdischen <strong>Flüchtlinge</strong> (siehe Tabelle 1), die<br />
zwischen 1933 <strong>und</strong> 1941 nach Brasilien kamen, hatten vieles mit den Eliten<br />
der Bevölkerung dieses Landes gemeinsam, doch teilten sie andererseits in<br />
nur minimalem Umfang Erfahrungen mit den schon in Brasilien lebenden<br />
Juden. So fühlten sie sich in dieser Gruppe nicht von innen her willkommen,<br />
sondern wurden ironischerweise innerhalb der jüdischen Gemeinschaft erneut<br />
zu Outsidern. Dies <strong>und</strong> <strong>das</strong> Bild Brasiliens in Deutschland als <strong>das</strong> eines<br />
‚rückständigen‘ Landes hilft zu erklären, warum die deutschen Juden bis in<br />
die späten 1930er Jahre aktiv demotiviert wurden, nach Brasilien einzuwandern,<br />
also noch lange nachdem die Emigration der vor dem Nazi-Regime<br />
Fliehenden eingesetzt hatte.<br />
Als deutsche Juden in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre dann begannen,<br />
nach Brasilien einzuwandern, integrierten sie sich rasch in die Kultur der<br />
dortigen Ober- <strong>und</strong> oberen Mittelschicht, in deren Sicht sich Brasiliens wirtschaftliche<br />
<strong>und</strong> soziale Probleme als <strong>das</strong> ‚Verschulden‘ der unteren Klassen<br />
darstellten. Dieser Diskurs verband sich leicht mit deutschen Vorurteilen über<br />
Brasilien <strong>und</strong> lieferte den <strong>Flüchtlinge</strong>n eine kulturelle Einstellung, welche diejenige<br />
der nationalen Elite widerspiegelte, in die sie sich bald eingliedern sollten.<br />
Auch andere Faktoren halfen den <strong>Flüchtlinge</strong>n, leicht in die oberen Klassen<br />
hineinzuschlüpfen. Anders als in den USA, wo die langsame Akkumulation<br />
von Kapital bei den jüdischen Immigranten zu deren Eintritt in die expandierende<br />
Mittelschicht führte, bedeutete <strong>das</strong> Fehlen gerade dieser Mittelschicht<br />
in Brasilien, <strong>das</strong>s jegliche Kapitalakkumulation viele <strong>Flüchtlinge</strong> sofort in die<br />
Schicht der oberen 25-30% der Bevölkerung springen ließ, die nicht mittellos<br />
war. Und schließlich erachteten viele in der brasilianischen Elite die Zentraleuropäer<br />
als die wünschenswertesten unter allen Einwanderern. Stadtkulturell<br />
geprägte <strong>und</strong> sozial relativ assimilierte deutsche Juden mit einem Klassenhintergr<strong>und</strong><br />
qualifizierter <strong>und</strong> leitender Berufe gelangten so, zumindest theoretisch,<br />
mit einem Sprung in die oberen Reihen der brasilianischen Gesellschaft,<br />
selbst wenn sie mittellos eintrafen. Da die deutschen Juden ja nur fünfzig<br />
Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei nach Brasilien kamen, wurde ihnen<br />
(wie zuvor den jüdischen Einwanderern aus Osteuropa) schon allein aufgr<strong>und</strong><br />
ihrer Hautfarbe ein sozialer Status zuteil. Industrialisierung <strong>und</strong> Urbanisierung<br />
in Verbindung mit dem Schema ‚rassischer‘ Unterscheidung wirkten ja<br />
dahingehend, Menschen dunkler Hautfarbe in den untersten Rängen der ökonomischen<br />
<strong>und</strong> sozialen Pyramide zu halten <strong>und</strong> half den deutschen Juden,<br />
außerordentlich schnell auf der gesellschaftlichen Leiter emporzukommen.<br />
127
128<br />
Tabelle 1<br />
Jüdische Emigration aus Deutschland <strong>und</strong> jüdische Immigration nach Brasilien<br />
1933-1941<br />
Zahl der<br />
jüdischen<br />
Emigranten<br />
aus<br />
Deutschland<br />
Zahl der<br />
deutschjüdischen<br />
Emigranten<br />
nach Brasilien<br />
Anteil der deutschjüdischen<br />
Emigration<br />
nach Brasilien an<br />
jüdischer Emigration<br />
aus Deutschland in %<br />
1933 37.000 363 0,9 10,9<br />
1934 23.000 835 3,6 22,0<br />
1935 21.000 357 1,7 20,0<br />
1936 25.000 1.772 7,0 51,8<br />
1937 23.000 1.315 5,7 65,6<br />
1938 40.000 445 3,7 63,0<br />
1940 15.000 1.033 6,8 27,2<br />
1941 8.000 408 5,1 3,7<br />
TOTAL 270.000 9.427 3,4 40,3<br />
Quellen: ROSENSTOCK 1956, S. 377; STRAUSS 1980, S. 326; Hebrew Immigrant Aid Society (HIAS-<br />
Brasil), Folder 1: Rapport d’activité pendant la periode 1933-1943 – Les juifs dans l’histoire du<br />
Brésil. YIVO-Archiv, New York.<br />
II. Der Blick auf Brasilien<br />
Anteil deutscher<br />
Juden an<br />
jüdischer<br />
Immigration nach<br />
Brasilien in %<br />
Brasilien geriet zuerst in die Aufmerksamkeit der zentraleuropäischen Juden<br />
im Jahre 1822, als <strong>das</strong> Land ein von Portugal unabhängiges Kaiserreich wurde.<br />
Damit endete die offizielle Verfolgung von Juden, obgleich die Katholische Kirche<br />
weiterhin ihre Herrschaft behielt <strong>und</strong> Nicht-Katholiken die öffentliche Ausübung<br />
ihres Glaubens untersagt war. Die Einengung der religiösen Freiheit ließ allerdings<br />
schon in den späteren Jahren des Kaiserreichs nach, um die Einwanderung von<br />
Protestanten zu fördern, <strong>und</strong> obwohl der Zensus von 1872 keine jüdischen Einwohner<br />
verzeichnete, waren vielleicht um die zweitausend Juden im Zuge der<br />
allgemeinen Einwanderung aus Europa ins Land gekommen, hauptsächlich in<br />
die Hauptstadt Rio de Janeiro. In der Tat wurde Dom Pedro II., Brasiliens Kaiser<br />
von 1841-1889, oft als Philosemit bezeichnet, wegen seiner Übersetzungen hebräischer<br />
liturgischer Dichtung ins Französische <strong>und</strong> wegen seiner Reisen ins Heilige<br />
Land. Doch <strong>das</strong> judaistische Interesse übertrug sich nicht auf ein Interesse an<br />
gegenwärtigen Juden, <strong>und</strong> <strong>das</strong> transitäre Wesen der jüdischen Geschäftsgemeinschaft<br />
führte lediglich zur Entstehung weniger gemeinschaftlicher Institutionen,<br />
darunter vor allem Friedhöfe (WOLF 1979).<br />
Für die meisten Europäer, die Juden eingeschlossen, war Brasilien in der zweiten<br />
Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts ein weit entfernter <strong>und</strong> eher abschreckender Ort.<br />
Und tatsächlich wurde <strong>das</strong> erste Projekt geplanter jüdischer Einwanderung nach<br />
Brasilien im Jahre 1881 aus Mangel an Interesse auch niemals zu Ende geführt. 1<br />
1. Siehe The American Israelite (Cincinnati), 18 March 1881, S. 300.
Ein Jahrzehnt später wurden ernsthaftere Gedanken an eine massive Ansiedlung<br />
verwandt, als Zar Nikolaus II. im Zuge seines ‚Russifizierungs‘-Plans alle<br />
Juden aus Moskau vertrieb, ein Plan, bei dem die Zwangspraxis der Russisch-<br />
Orthodoxen Religion eine wichtige Komponente darstellte. Dies hatte zur Folge,<br />
<strong>das</strong>s in Deutschland die Führer der jüdischen Gemeinschaften, die fürchteten,<br />
<strong>das</strong>s die russischen Juden sich unter ihnen ansiedeln <strong>und</strong> damit den unter Napoleons<br />
Emanzipationsdekret so verheißungssvoll begonnen Akkulturationsprozess<br />
beeinträchtigen könnten, nun darangingen, alternative Orte für die Ansiedlung<br />
dieser <strong>Flüchtlinge</strong> ausfindig zu machen. Sie gründeten rasch <strong>das</strong> Deutsche Zentralkomitee<br />
für die russischen Juden <strong>und</strong> schickten Oswald Boxer, einen Wiener<br />
Journalisten <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong> des Zionistenführers Theodor Herzl, nach Brasilien,<br />
um dort Möglichkeiten für die Neuansiedlung der russischen Juden als Landwirte<br />
zu erk<strong>und</strong>en. Vorstellungen von einer ‚Rückkehr aufs Land‘, die damals<br />
unter jüdischen Intellektuellen in Europa beliebt waren, verleiteten manche aus<br />
dem Zentralkomitee dazu, zu ignorieren, <strong>das</strong>s die meisten der Moskauer Juden<br />
städtische Handelsleute waren <strong>und</strong> keine Landwirte. Ohne Rücksicht auf diese<br />
Schwierigkeit erstattete Boxer dem Komitee, nachdem er São Paulo <strong>und</strong> Rio<br />
besucht hatte, im Mai 1891 einen enthusiastischen Bericht. Die hohen Hoffnungen<br />
wurden zerschlagen, als eine Reihe politischer Wechsel – im Zuge des Wandels<br />
vom Kaiserreich zur Republik – <strong>das</strong> Deutsche Zentralkomitee davon Abstand<br />
nehmen ließ, Immigranten nach Brasilien zu schicken. Der säkulare Charakter<br />
der neuen brasilianischen Republik <strong>und</strong> <strong>das</strong> Ende aller legalen sozialen Unterschiede<br />
aufgr<strong>und</strong> von Religionszugehörigkeit ließ die vielen Ängste hinsichtlich<br />
der Sicherheit des Lebens in Brasilien nicht geringer werden. Solche Ängste<br />
wurden zudem bestätigt, als Oswald Boxer 1892 in Rio de Janeiro am Gelbfieber<br />
starb (FALBEL 1988, S. 18).<br />
Während Brasilien in den vierzig Jahren nach Boxers Tod dem deutsch-jüdischen<br />
Bewusstseinshorizont eher fern blieb, bewirkte eine Reihe von Faktoren,<br />
darunter der Wandel des Brasilienbildes sowie restriktive Einwanderungspolitiken<br />
in anderen amerikanischen Republiken, <strong>das</strong>s seit Anfang der 1920er Jahre aber<br />
osteuropäische Juden in großer Zahl dort einwanderten. Die osteuropäischen<br />
Juden waren in Brasilien wirtschaftlich erfolgreich, doch ihre wachsende Präsenz<br />
ließ konservative Eliten eine zunehmend virulente antisemitische Kampagne anstimmen,<br />
die ihren offensten Ausdruck in den frühen 1930er Jahren fand, gerade<br />
zu der Zeit, als deutsche Juden begannen, Brasilien als ein Auswanderungsziel in<br />
Betracht zu ziehen.<br />
Trotz der Tatsache, <strong>das</strong>s in den 1920er <strong>und</strong> 1930er Jahren in allen amerikanischen<br />
Ländern eine Zunahme an Quotenreglungen <strong>und</strong> restriktiver Einwanderungsgesetze<br />
zu verzeichnen war, am deutlichsten in den USA, Argentinien<br />
<strong>und</strong> Kanada, sahen deutsche Juden Brasilien selten als einen Zufluchtsort an,<br />
selbst als ihre Situation in Deutschland sich verschlechterte. Tatsächlich sahen<br />
die meisten deutschen Juden vor 1936 Brasilien als ein Land der Unruhe <strong>und</strong> des<br />
Elends. Den gängigen Vorstellungen zufolge, mangelte es in Brasilien an<br />
Schulbildungsmöglichkeiten, <strong>und</strong> es galt als ein Land von Revolutionen <strong>und</strong> Diktaturen<br />
(INMAN 1939, S. 183). <strong>Flüchtlinge</strong> mit white-collar-Berufen befürchteten,<br />
vielleicht gezwungen zu sein, sich als Arbeiter verdingen zu müssen <strong>und</strong> keine<br />
129
130<br />
Chance zu haben, Gr<strong>und</strong>besitz oder ein Haus zu erwerben. Dieses Bild von<br />
Brasilien gelangte über einige Zeit hinweg zur Entfaltung. Auf einer Konferenz<br />
zum Thema <strong>Flüchtlinge</strong>, die 1928 in Buenos Aires stattfand, wurde insbesondere<br />
Brasilien sowie Lateinamerika allgemein als eine blue-collar-Region porträtiert,<br />
die für deutsch-jüdische Händler, Geschäftsleute <strong>und</strong> Akademiker<br />
unattraktiv sei. Haim Avni zufolge warnte <strong>das</strong> Korrespondenzblatt des Berliner<br />
Zentralbüros für jüdische Auswanderung die deutschen Juden vor den Gefahren<br />
einer Auswanderung nach Südamerika (AVNI 1985, S. 89). Das Bild<br />
war so negativ, <strong>das</strong>s zwischen 1933 <strong>und</strong> 1936, als die Auswanderung aus<br />
Deutschland am höchsten war, die Juden in der Regel eher in die USA, nach<br />
Kanada, Palästina oder Argentinien gingen als nach Brasilien, <strong>das</strong> fast keine<br />
Einreisebeschränkungen für jene hatte, die aus Zentraleuropa kamen, selbst<br />
bei solchen mit bescheidenem Kapitalbesitz.<br />
Dr. Arthur Ruppin, ein deutscher Jude, der Ende 1935 Südamerika besuchte,<br />
um dessen Potenzial für eine Ansiedlung deutscher Juden zu erk<strong>und</strong>en,<br />
zeichnete ein regelrechtes Schreckensbild von Brasilien. Ruppin, ein engagierter<br />
Zionist <strong>und</strong> später der erste Professor für Jüdische Soziologie an der Hebrew<br />
University in Jerusalem, publizierte seinen Bericht in der hebräischen Presse in<br />
Jerusalem, in fünf Artikeln in der Berliner Jüdischen R<strong>und</strong>schau, im Londoner<br />
Jewish Chronicle <strong>und</strong> später auch als Buch. Das Potenzial für ein deutsch-jüdisches<br />
Leben in Brasilien war Ruppin zufolge gering. Osteuropäische Juden<br />
seien erfolgreich gewesen, denn sie arbeiteten als „salesmen on the installment<br />
system [who] go from house to house like peddlers in order to find customers,<br />
and it seems that the German Jews cannot very well compete in that respect<br />
with the East European Jews.“ Die 2000 deutschen Juden, die vor Oktober<br />
1935 nach Brasilien eingewandert waren, hätten Schwierigkeiten, eine gewünschte<br />
Arbeit zu finden. Diese Immigranten seien „ignorant of the needs of<br />
the country and belong mostly to the commercial class. While skilled workers<br />
and artisans fo<strong>und</strong> remunerative work very quickly, this was much more difficult<br />
for the business people, who had at first to content themselves with subordinate<br />
and poorly paid positions.“ 2 Ruppin vergaß zu erwähnen, <strong>das</strong>s deutsche Juden<br />
es oft ablehnten, Unterstützung von Hilfsorganisationen anzunehmen, die von<br />
Osteuropäern geleitet wurden. Von den 835 deutschen Juden z. B., die 1935<br />
nach Brasilien immigrierten, fanden nur 494 den Weg zur lokalen HICEM (einer<br />
jüdischen Vereinigung für Flüchtlingshilfe), obwohl die Organisation für<br />
75% der Arbeitssuchenden eine Stelle fand. 3 Doch welches immer auch die<br />
Gründe waren, bis zum Jahr 1935 sahen sich deutsche Juden wenig veranlasst<br />
nach Brasilien zu emigrieren.<br />
Die brasilianischen Gesetze schienen es ihnen auch durchaus schwer zu machen,<br />
wie sie dies allen Ausländern in freien Berufen taten. Diejenigen mit europäischen<br />
Diplomen durften ihren Beruf nicht ausüben, <strong>und</strong> eine Gruppe von<br />
2. Jewish Chronicle (London), Supplement of April 1936, S. iv-vi.<br />
3. Rapport de l’administration centrale au Conseil d’Administration – 1935, S. 197. Archiv der<br />
Jewish Colonization Association, London.
Immigranten berichtete, <strong>das</strong>s die Prüfung zur Anerkennung eines ausländischen<br />
Arztdiploms so schwierig sei, <strong>das</strong>s „none - except a single dentist - is so far known<br />
to have passed“ (HIRSCHBERG 1945, S. 37). Vielen deutsch-jüdischen Ärzten<br />
war es nicht möglich, Approbationen zu erhalten, <strong>und</strong> sie wichen auf andere<br />
Berufe aus. Andere taten sich mit Brasilianern zusammen, um offiziell in freien<br />
Sparten der Medizin zu arbeiten, während sie unter der Hand als Arzt tätig waren.<br />
Belege dafür finden sich in der Zeitung Crônica Israelita, publiziert von der<br />
deutsch-jüdischen Congregação Israelita Paulista (CIP), wo eine Fülle von Annoncen<br />
erschienen, in denen jüdische Immigranten medizinische Dienste anboten<br />
(HIRSCHBERG 1976). Doch waren außerlegale Arbeitsmöglichkeiten begrenzt,<br />
<strong>und</strong> Ruppin kam zu dem Schluss, <strong>das</strong>s „even in the event of relaxations in<br />
the legal immigration restrictions in the near future the economic prospects for<br />
German Jews, unless they have a capital of at least £1,000, are limited.“ 4<br />
Arthur Ruppin glaubte, <strong>das</strong>s Brasilien niemals mehr als die 835 deutschen<br />
Juden aufnehmen würde, die 1934 dort lebten. Er irrte sich: Um 1936 war bereits<br />
die doppelte Anzahl ins Land gekommen <strong>und</strong> stellte damit einen wachsenden<br />
Anteil an der gesamten jüdischen Einwanderung nach Brasilien. Viele, die<br />
vor 1936 kamen, waren junge Leute, ledige oder erst kurz verheiratete, die später<br />
ihre Eltern oder Verwandten mittels sog. cartas de chamada nachholten,<br />
amtlicher Formulare, die es den in Brasilien Ansässigen erlaubten, für ihre Verwandten<br />
die Überfahrt im Voraus zu bezahlen, wenn sie eine Erklärung, für deren<br />
Unterhalt aufzukommen, mit eidesstattlicher Versicherung leisteten, die zuerst<br />
von der Polizei des jeweiligen Wohnortes bewilligt werden musste, um dann<br />
von der Einwanderungsabteilung des Ministeriums für Arbeit, Industrie <strong>und</strong><br />
Handel legalisiert zu werden. 5<br />
Erst nach den Nürnberger Gesetzen, verb<strong>und</strong>en mit den wachsenden Schwierigkeiten<br />
zur Einreise in die bevorzugten Zielländer, kam es dazu, <strong>das</strong>s deutsche<br />
Juden in größerer Zahl nach Brasilien zu emigrieren begannen. Doch gerade<br />
als die politischen Veränderungen in Zentraleuropa die Juden bewusst werden<br />
ließen, <strong>das</strong>s eine Emigration vielleicht <strong>das</strong> einzige Mittel zum Überleben war,<br />
begannen allerdings anti-jüdische Einstellungen in Brasilien sich formell zu<br />
immigrationsfeindlichen Politiken zu verdichten. Jüdische Organisationen in<br />
Europa, die ein Jahr zuvor noch von einer Emigration nach Brasilien abgeraten<br />
hatten, begannen indessen, nun <strong>Flüchtlinge</strong> dorthin zu leiten. Brasilien als<br />
Aufnahmeland der Jüdischen Auswanderung aus Deutschland, ein privat publiziertes<br />
Buch, animierte dazu, indem es die Einreisebestimmungen erklärte <strong>und</strong> die<br />
Möglichkeiten der sozialen Akkulturation <strong>und</strong> wirtschaftlichen Integration für<br />
Deutsche <strong>und</strong> deutsche Juden beschrieb (FRANKENSTEIN 1936). Diese Gruppen<br />
suchten auch den Kontakt zur brasilianischen Regierung, um bei ihr eine<br />
liberalere Haltung zur jüdischen Immigration zu erwirken. Doch in der Regel<br />
wurden ihre Ersuche abgewiesen.<br />
4. Jewish Chronicle (London), Supplement of April 1936, S. vi.<br />
5. Jewish Colonization Association, Bureau de Rio de Janeiro affilié à la HIAS-JCA-EMIGDIRECT,<br />
Bericht für <strong>das</strong> Jahr 1932. Séance du Conseil d’administration (16. März 1933), S. 243-44.<br />
Archiv der Jewish Colonization Association, London.<br />
131
132<br />
III. Die Kolonie bei Resende<br />
Ein bezeichnendes Beispiel für den Konflikt der gegenseitigen Ansichten <strong>und</strong><br />
Einstellungen, sowohl zwischen deutschen <strong>und</strong> osteuropäischen Juden als auch<br />
zwischen brasilianischen Eliten <strong>und</strong> Juden allgemein, bietet der 1936 von der<br />
Jewish Colonization Association (JCA) unternommene Versuch, eine neue landwirtschaftliche<br />
Kolonie zu gründen, die der brasilianischen Regierung die Einwanderer<br />
liefern sollte, die sie wollte – Landwirte. Es sei daran erinnert, <strong>das</strong>s auch<br />
die JCA sich teilweise deshalb gebildet hatte, um dahin zu wirken, <strong>das</strong>s jüdische<br />
<strong>Flüchtlinge</strong> aus Osteuropa in amerikanische Länder (<strong>und</strong> nach außerhalb Zentraleuropas)<br />
übersiedelten; ihre Funktion nun als Vermittler bei der Suche nach<br />
Siedlungsräumen für deutsche Juden war also neu.<br />
Kein Immigrationsplan wurde sorgfältiger ausgearbeitet als derjenige, der eine<br />
deutsch-jüdische Landwirtschaftskolonie bei Resende schaffen sollte, etwa 190 km<br />
westlich von Rio de Janeiro gelegen. Im Juli 1936 erwarb die JCA dort ein 2000 ha<br />
großes Landstück, stattete die Kolonie mit allem Nötigen aus <strong>und</strong> fand zudem wirkliche<br />
Landwirte, die dort siedeln wollten (MILGRAM 1990). Das Projekt wurde in Rücksprache<br />
mit dem brasilianischen Landwirtschaftsminister durchgeführt, der eingeladen<br />
wurde, <strong>das</strong> Areal zu inspizieren. Die JCA plante die Rekrutierung von solchen<br />
<strong>Flüchtlinge</strong>n aus Deutschland, für die es möglich sein dürfte, „obtain admission into<br />
the country […within] the Brazilian immigration restrictions“ 6 Mit einer bei einer Bank<br />
in Rio de Janeiro hinterlegten Bürgschaft garantierte die JCA, <strong>das</strong>s keine der 137<br />
vorgeschlagenen Familien den öffentlichen Finanzen zur Last fallen würde, <strong>und</strong> den<br />
Betreffenden gelang es sogar, sich von der Nazi-Regierung Zeugnisse über moralische<br />
Tauglichkeit <strong>und</strong> Befähigung zu verschaffen. 7 Der Segen des Landwirtschaftsministers<br />
veranlasste die Einwanderungsbehörde zur Bewilligung der Visa, die jedoch –<br />
zu aller Erstaunen – nie eintrafen. Wie es scheint, erbat sich der Außenminister, als er<br />
von der Einwanderungsbehörde informiert wurde, mehr Informationen. In der Annahme,<br />
<strong>das</strong> Ersuchen des Außenministers sei ein verdecktes Zeichen von Opposition,<br />
leitete die Einwanderungsbehörde die Angelegenheit dem Arbeitsminister zu, der die<br />
Bewilligung aufhob, ohne die JCA jemals zu informieren. 8<br />
Opposition gegen die organisierte Ansiedlung von Juden bei Resende konnte<br />
man in allen Reihen der Regierung finden. So glaubte Labienne Salgado dos Santos,<br />
ein Diplomat, z. B. nicht an „die Aufrichtigkeit der Organisation [der JCA] oder die<br />
Beständigkeit der Kolonie, wenn sie in der Hand von Juden bleibt.“ 9 Filinto Müller,<br />
6. Rapport de l’administration centrale au Conseil d’Administration – 1937, S. 66. Arquivo Histórico<br />
Judaico Brasileiro, São Paulo.<br />
7. Rapport sur l’activité de la JCA (Dez. 1936 – Jan. 1937). Séance du Conseil d’administration<br />
(30. Februar 1937) I, S. 131; Sir Osmond d’Avigdor Goldsmid (London) an den Under-Secretary<br />
of State (London) 29 April 1937. Séance du Conseil d’administration (29. Juni 1937) I, S. 113.<br />
Archiv der Jewish Colonization Association, London.<br />
8. Mr. Coote (Rio de Janeiro) an <strong>das</strong> British Foreign Office (London) 23. September 1937. FO 371/<br />
2060 A 6925/78/6. Public Records Office, London.<br />
9. Note von Labienne Salgado dos Santos über Inconvenientes da Emigração Semita, beigefügt<br />
zu Ciro de Freitas Vale (Bucharest) an Aranha, 12. September 1938, Maço 10.561 (741).<br />
Arquivo Histórico Itamaraty, Rio de Janeiro.
Chef der B<strong>und</strong>espolizei, opponierte gegen alle Pläne der Jewish Colonization<br />
Association, vor allem nachdem er den Brief eines JCA-Angestellten an die<br />
Pariser Hauptstelle der Organisation abgefangen hatte, woraus hervorging,<br />
<strong>das</strong>s die JCA regelmäßig Schmiergelder an Beamte der Einwanderungsbehörden<br />
zahle, um jüdische <strong>Flüchtlinge</strong> mit einem Touristenvisum in Brasilien<br />
einreisen zu lassen. 10 Oliveira Vianna, Ideologe des Arierkults <strong>und</strong> Jurist mit<br />
enger Verbindung zum Präsidenten Vargas sowie damals auch Berater des<br />
Arbeitsministers, verwies als Argument für die Ablehnung der Visa auf die<br />
wenigen Kolonisten, die in der ebenfalls von der JCA organisierten Kolonie<br />
Quatro Irmãos verblieben waren (MILGRAM 1990, S. 585). Dulphe Pinheiro<br />
Machado, Generaldirektor des Departamento Nacional de Povoamento (DNP<br />
– Nationales Siedlungsamt), der mit Kolonisierungsfragen betreuten Behörde<br />
des Arbeitsministers, beklagte sich über „Juden […] <strong>und</strong> andere parasitäre<br />
Elemente, die ethnische Minoritäten bilden <strong>und</strong> in den Nationen, in denen<br />
sie leben, die Ruhe stören.“ 11<br />
Im Dezember 1936 informierte der Arbeitsminister Agamenon Magalhães<br />
die Jewish Colonization Association darüber, <strong>das</strong>s „the immigration of Jews to<br />
the property acquired […] at Rezende would not be permitted.“ 12 Es wurde<br />
kein offizieller Gr<strong>und</strong> angegeben, da diese Politik aus Furcht vor negativen<br />
diplomatischen Rückwirkungen verdeckt gehalten wurde. Klagen über „antisemitischen<br />
Faschismus“ veranlassten den britischen Botschafter Sir Hugh<br />
Gurney dazu, die Angelegenheit gegenüber dem Präsidenten Getúlio Vargas<br />
zur Sprache zu bringen, der „fully recognizes the desirability of admitting<br />
agriculturists, particularly those with capital.“ 13 Aber dennoch wurden die<br />
Visa nicht bewilligt. Andere begannen bald, Druck auf Brasilien auszuüben.<br />
Leo S. Rowe, Direktor der Pan-American Union (die 1948 zum ständigen Sekretariat<br />
der Organisation Amerikanischer Staaten wurde) bat den brasilianischen<br />
Botschafter Oswaldo Aranha eindringlich darum, in dieser Sache einen<br />
„very great service which will be greatly appreciated“, zu tun. 14 Die US-<br />
Regierung griff in die Auseinandersetzung mit ein, nachdem sie festgestellt<br />
hatte, <strong>das</strong>s die neue Kolonie für Juden, deren Visa abgelaufen waren, die<br />
Möglichkeit eines legalen Aufenthalts schaffen könnte. 15 Die diplomatischen<br />
10. Brief von Filinto Müller an Francisco Campos, 5. Februar 1938. Maço 10.561 (741). Arquivo<br />
Histórico Itamaraty, Rio de Janeiro.<br />
11. Dulphe Pinheiro Machado, 9 Januar 1937. PRCNE-Serie Intercambio Comércial, Lata 174-No.<br />
468-1936. Arquivo Nacional, Rio de Janeiro.<br />
12. Hugh Gurney (British Embassy-Rio de Janeiro) an Anthony Eden (Principal Secretary of State-<br />
London), 31. Dezember 1936. FO 371/20604 A78/78/6, S. 15-17. Public Records Office, London.<br />
13. Gurney (Rio de Janeiro) an Mr. Troutbeck (London), 1. April 1937. FO 371/20604 A2910/78/6;<br />
R.G. Gahagon (Foreign 0ffice-London) an Sir Osmond d’Avigdor Goldsmid (London), 27, April<br />
1937. FO 371/20604 A2910/78/6. Public Records Office, London.<br />
14. Leo S. Rowe (Washington) an Aranha (Rio de Janeiro,) 5. April 1937. OA 37.04.05. Centro de<br />
Pesquisa e Documentação de História Contemporânea do Brasil, F<strong>und</strong>ação Getúlio Vargas,<br />
Rio de Janeiro.<br />
15. Memorandum des Department of State zum Gespräch zwischen Alfred Houston, Laurence<br />
Duggan and Mr. Manning (Division of American Republics), 16. Februar 1938. 832.52 Germans/<br />
10 LH. National Archives and Record Administration, Washington.<br />
133
134<br />
Versuche waren jedoch vergebens. Visa für Juden seien, dem Außenminister<br />
zufolge, einfach „not in accord with the present interests of the country.“ 16<br />
Nach mehr als zwei Jahren diplomatischen Drucks von britischer <strong>und</strong> USamerikanischer<br />
Seite gab die Regierung allerdings doch nach. Anfang April 1938<br />
konnte schließlich eine Kolonie bei Resende eröffnet werden, nur war diese verschieden<br />
von der anfänglich konzipierten. Die Siedler waren schon in Brasilien<br />
ansässig <strong>und</strong> dort ‚naturalisiert‘, d. h. eingebürgert, es waren keine neuen Einwanderer<br />
wie ursprünglich geplant. Mithin wurde die Eröffnung der Kolonie hochgespielt<br />
als ein Beispiel dafür, wie ausländische Bauern mit harter Landarbeit zu „guten“<br />
Brasilianern werden konnten. Ernani do Amaral Peixoto, der Interventor, d. h.<br />
an Gouverneursstelle amtierende Beamte im B<strong>und</strong>esstaat Rio de Janeiro, besuchte<br />
die Kolonie, <strong>und</strong> was er dabei als „sehr angenehm“ 17 empfand, mag die Tatsache<br />
gewesen sein, <strong>das</strong>s dort nämlich faktisch wenige Juden lebten. Die nichtjüdischen<br />
Einwohner der Stadt Resende stimmten bei <strong>und</strong> hielten eine Messe zu<br />
Ehren der Kolonisten. 18 Eine offizielle Pressemitteilung zur Eröffnung der Kolonie<br />
strich die humanitären Aspekte heraus, die diese Eröffnung des „rein brasilianischen<br />
Projekts“ möglich gemacht hätten. Keine brasilianischen Steuergelder, so<br />
betonte die Regierung, seien investiert worden, <strong>und</strong> obwohl „die Kolonie dreißig<br />
Familien Platz bietet, […] sind bis jetzt nur fünfzehn dort.“ 19 Der ursprüngliche Plan,<br />
in der Kolonie 137 Familien anzusiedeln, blieb dabei unerwähnt wie auch die<br />
Tatsache, <strong>das</strong>s schon für achtzig Familien Häuser gebaut worden waren.<br />
Der Besuch Amaral Peixotos in Resende wurde in den Nachrichten recht groß<br />
aufgemacht: Die meisten Zeitungen in Rio de Janeiro berichteten darüber, O<br />
Carioca sowie der Correio da Manhã sogar auf der Titelseite. 20 Doch wenn der<br />
Besuch des Politikers eine passende Gelegenheit zur Propaganda für <strong>das</strong> Regime<br />
war, so verschaffte im Mai 1938 <strong>das</strong> Kommen des Präsidenten Getúlio Vargas selbst<br />
auch der Jewish Colonization Association <strong>und</strong> der brasilianischen jüdischen Gemeinschaft<br />
eine Chance zur publizitären Selbstdarstellung. 21 Das Wochenblatt Idishe<br />
Presse widmete der Geschichte eine ganze Ausgabe, <strong>und</strong> der Diário de Notícias<br />
titelte: „Die Juden kehren aufs Land zurück.“ 22 Während die beim Präsidentenbesuch<br />
erwartete Besichtigung der Felder, eines Kolonistenhauses <strong>und</strong> einer Schule<br />
ansonsten ereignislos verliefen, wurde eine kurze, vielleicht erf<strong>und</strong>ene Begegnung<br />
mit einem Jungen bedeutsam. Vargas, der im Hinblick auf <strong>das</strong> Fremde so-<br />
16. Coote (Rio de Janeiro) an <strong>das</strong> British Foreign Office (London), 23. September 1937. FO 371/<br />
2060 A 6925/78/6. Public Records Office, London.<br />
17. Diário Oficial - Estado do Rio de Janeiro, 6. April 1938.<br />
18. Interview von Denise Simanke mit Heinz Lewinsky. Archiv für História Oral des Instituto<br />
Cultural Judaico Marc Chagall, Porto Alegre.<br />
19. Diário Oficial - Estado do Rio de Janeiro, 6. April 1938.<br />
20. O Carioca <strong>und</strong> Correio da Manhã, jeweils 6. April 1938; A Lyra (Resende), 7 April 1938, A<br />
Opinião (Resende), 9. April 1938.<br />
21. Exposição <strong>das</strong> demarches feitas pela JEWISH COLONIZATION ASSOCIATION junto ao Governo<br />
Brasileiro, com o propósito de trazer imigrantes agricultores para sua Fazenda de Rezende,<br />
Estado do Rio. PRRE. Box 27.586, Document 185660-1938. Arquivo Nacional, Rio de Janeiro.<br />
22. Idishe Presse (Imprensa Israelita - Rio de Janeiro), 8. Juli 1938; Diário de Notícias (Rio de<br />
Janeiro), 19. Oktober 1938.
wohl Hoffnung auf Assimilierung als auch Misstrauen zeigte, fragte den Jungen<br />
ohne erkenntlichen Gr<strong>und</strong>: „Bist du Ungar?“ – „Nein, Herr,“ antwortete der Junge,<br />
„ich bin Brasilianer.“ 23<br />
Konfuse Vorstellungen von Juden äußerten sich reichlich in den Presseberichten<br />
zur Eröffnung der Kolonie. In den meisten Fällen allerdings spiegelten sie<br />
eine Sicht ‚des Juden‘ sowohl als positiv für die Entwicklung wie auch als negativ<br />
für die brasilianische Gesellschaft wieder. Das Portrait eines Kolonisten im Diário<br />
de Notícias, <strong>das</strong> unzutreffend mit „Sohn eines Berliner Bankiers“ überschrieben<br />
war, leitete die Leser gleichzeitig zu traditionellen antisemitischen Assoziationen<br />
von reichen Juden <strong>und</strong> der Hoffnung, <strong>das</strong>s dieser Reichtum seinen Weg nach<br />
Brasilien finden möge. 24 Die Zeitung A Noite in Rio de Janeiro nannte die Kolonie<br />
„eine kleine Heimat für solche ohne Heimat“, indem sie dabei andeutete, <strong>das</strong>s<br />
Juden niemals Brasilianer werden könnten <strong>und</strong> <strong>das</strong>s Resende ein Staat im Staate<br />
sei. 25 Dies wurde verstärkt durch konstante Verweise auf die „Fazenda dos Judeus“.<br />
In der Regierung teilte man diese Ansichten <strong>und</strong> de facto wurden keinen <strong>Flüchtlinge</strong>n<br />
Visa erteilt, um sich in Resende anzusiedeln. Als die JCA 1939 eine Gruppe<br />
zur Begutachtung der Kolonie entsandte, kommentierte einer der Besucher: „It is<br />
sad and significant to see the new houses fully furnished, on small vegetable, dairy<br />
and fruit farms, fenced and equipped, standing empty and deteriorating.“ 26<br />
Der Versuch der Jewish Colonization Association nach den Regeln zu spielen<br />
<strong>und</strong> die Gunst der Regierung wiederzuerlangen, war ein Fehlschlag, doch die<br />
Weigerung des Vargas-Regimes, jüdischen Landwirten Visa zu bewilligen, deutet<br />
auf einige Punkte, die erhellenswert sind: Vorgefasste Ansichten ließen viele<br />
Politiker die Vorstellung verwerfen, <strong>das</strong>s Juden Landwirte sein könnten. Gleichzeitig<br />
sahen selbst diejenigen, die an die Wirksamkeit landwirtschaftlichen Trainings<br />
von <strong>Flüchtlinge</strong>n glaubten, in der Aufnahme dieser Gruppe sowohl politische<br />
als auch kulturelle Gefahren. Jüdische Immigranten, selbst wenn sie Landwirte<br />
waren, wurden nicht als brauchbare Ackerbauern angesehen, sondern als<br />
unerwünschte Juden.<br />
IV. Selbst- <strong>und</strong> Fremdbilder<br />
Trotz des Widerstands gegen die jüdische Einwanderung im Fall Resende kamen<br />
doch viele deutsche Juden nach Brasilien. Und tatsächlich half diese neue<br />
Präsenz deutscher Juden der bereits etablierten osteuropäischen Gemeinschaft<br />
in ihrem Kampf gegen den Antisemitismus. Der bildungs- <strong>und</strong> besitzbürgerliche<br />
Hintergr<strong>und</strong> der Neuankömmlinge wurde nämlich als weniger unerwünscht angesehen,<br />
obgleich ihre Ansiedlung in städtischen Gebieten in Widerspruch zur<br />
brasilianischen Einwanderungspolitik stand, die ja auf Landwirte ausgerichtet war.<br />
Nativisten, die in der brasilianischen Politik nach 1930 eine kritische Rolle vertra-<br />
23. A Noite (Rio de Janeiro), 30. Juni 1938.<br />
24. Diário de Notícias (Rio de Janeiro), 19. Oktober 1938.<br />
25. A Noite (Rio de Janeiro), 30. Juni 1938.<br />
26. Bericht von Mr. Tracy Phillips – 13. Januar 1939. Séance du Conseil d’administration (6. Mai<br />
1939) II. Archiv der Jewish Colonization Association, London.<br />
135
136<br />
ten, lenkten ihre Ressentiments oft gegen osteuropäische Juden, die als unproduktiv<br />
galten (da sie allgemeiner Ansicht nach nur hausieren gingen) <strong>und</strong> zudem<br />
nicht wirklich als Weiße. Die Stellung der deutschen Juden jedoch war weniger<br />
klar. Sie waren in hohem Maße staatsbürgerlich gesinnt, sprachen dieselben Sprachen<br />
wie andere nicht-jüdische Einwanderergruppen in Brasilien <strong>und</strong> waren<br />
politisch gemäßigt oder konservativ. Deutsche Juden galten auch als hoch gebildet,<br />
qualifiziert <strong>und</strong> als Immigranten, die Kapital für Investitionen mitbrachten,<br />
was tatsächlich oft der Fall war. So kommentierte der nicht-jüdische Herbert V.<br />
Levy, seinerzeit ein junger Journalist (<strong>und</strong> später B<strong>und</strong>esabgeordneter aus São<br />
Paulo sowie Generaldirektor der Finanzzeitung Gazeta Mercantil) in seinem Buch<br />
Problemas actuaes da Economia Brasileira (1934), durch Deutschlands antisemitische<br />
Kampagne biete sich Brasilien „die Gelegenheit, die Besten in den Künsten,<br />
den Natur- <strong>und</strong> Geisteswissenschaften, der Wirtschaft zu empfangen“, <strong>und</strong> in allen<br />
Bereichen kultureller Aktivität seien die deutschen Juden „von unschätzbarem<br />
Wert für den Fortschritt <strong>und</strong> die kulturelle Entwicklung“(LEVY 1934, S. 104).<br />
Es ist ein ironischer Umstand, <strong>das</strong>s, während die etablierte osteuropäisch-jüdische<br />
Gemeinschaft <strong>das</strong> gängige Bild von den deutschen Juden für den Kampf<br />
gegen den Antisemitismus einsetzte, die deutschen Juden selbst sich dagegen<br />
aktiv von allem absetzten, was ihnen als die unter ihrem Niveau stehende Kultur<br />
dieser Gemeinschaft osteuropäischer Herkunft galt. 27 Dies, glaubten sie, würde<br />
verhindern können, <strong>das</strong>s sie von den Nativisten negativ eingestuft würden, welche<br />
<strong>das</strong> Hausieren <strong>und</strong> den kollektiven Zusammenhalt der osteuropäischen Juden<br />
attackierten. Die deutschen <strong>Flüchtlinge</strong> entstammten in der Tat einer europäischen<br />
industriellen Kultur, die vielen Brasilianern der Mittel- <strong>und</strong> Oberklasse<br />
ein Vorbild zur Nachahmung war. Deutsch-jüdische Organisationen legten zudem<br />
Wert auf Erteilung von Portugiesischunterricht an ihre Mitglieder, was selbst<br />
Nativisten schwerlich kritisieren konnten. Sie schufen gleichzeitig Einrichtungen,<br />
die insbesondere auf die Förderung eines deutschen sozialen <strong>und</strong> kulturellen<br />
Lebens ausgerichtet waren, <strong>und</strong> unter den <strong>Flüchtlinge</strong>n gab es selten ein Nachlassen<br />
der Bindungen zur deutschen Hochkultur (LESSER 1989). Herbert Caro,<br />
ein aus Berlin stammender Jurist, der die Israelitisch-Brasilianische Gesellschaft für<br />
Kultur <strong>und</strong> Wohltätigkeit (SIBRA) zu gründen half, übersetzte Thomas Mann (der<br />
ebenfalls aus Deutschland flüchtete) <strong>und</strong> Hermann Hesse für die Editora do Globo,<br />
dem großen Verlagshaus, unter dessen Titeln sich auch eine Menge antisemitischer<br />
Schriften aus Europa fanden (CARO 1986, S. 48).<br />
Die ‚jüdische Frage‘ wurde zunehmend komplizierter, als eine große Zahl solcher<br />
zentraleuropäischen <strong>Flüchtlinge</strong> nach Brasilien kam. Eine Reihe einflussreicher<br />
Brasilianer begann nun, ohne die Beschränkungen preisgeben zu wollen, gleichzeitig<br />
eine fortgesetzte oder erweiterte jüdische Immigration zu unterstützen. Keiner<br />
jedoch schlug vor, aufgr<strong>und</strong> humanitärer Prinzipien eine völlig offene Politik<br />
zu gewähren. Wie in einigen Fällen der Nazi-Politik, wo gewisse Juden in ihren<br />
Positionen geduldet wurden, solange sie wirtschaftlich ‚nützlich‘ waren, argumentierten<br />
einige Diplomaten <strong>und</strong> Journalisten, <strong>das</strong>s nur vermögenden oder qualifizierten<br />
<strong>Flüchtlinge</strong>n die Einreise erlaubt werden solle. Die gut etablierte Zeitung<br />
27. Interview des Verfassers mit Rabbi Fritz Pinkuss in São Paulo am 19. August 1986.
Correio da Manhã in Rio de Janeiro publizierte Leitartikel zugunsten einer Zunahme<br />
jüdischer Präsenz, unter Verweis darauf, <strong>das</strong>s „[...] der große Exodus von jüdischen<br />
Arbeitern aus Deutschland […] alle ihre technischen, industriellen <strong>und</strong> vor<br />
allem landwirtschaftlichen Fertigkeiten ins Land bringen würde.“ 28 Ildefonso Falcão,<br />
der Brasilianische Konsul in Köln, wendete sich vertraulich an den Außenminister<br />
Afrânio de Mello Franco hinsichtlich der Möglichkeiten für die Erteilung von Immigranten-Visa<br />
an Deutsche „semitischer Rasse, die öffentliche Positionen bekleidet<br />
haben oder in freien Berufen tätig gewesen sind.“ 29 Zusammen mit ihren beruflichen<br />
Kompetenzen, so dachte Falcão, würden die Juden „einen Teil ihres Kapitals<br />
mitbringen, aufgr<strong>und</strong> einer besonderen Lizenz vonseiten der deutschen Regierung.“<br />
Er gelangte zu seinem Schluss nicht ohne äußeren Anlass: Die jüdischen<br />
Direktoren einiger von Deutschlands großen Industrien, darunter die Schürman<br />
<strong>und</strong> Tietz A. G. (Möbel) <strong>und</strong> die Ludolph Marx Gruppe, waren mit förmlichen<br />
Vorschlägen an den Konsul herangetreten, ähnliche Betriebe in São Paulo <strong>und</strong><br />
Rio de Janeiro zu errichten. 30<br />
Der starke Sinn für <strong>das</strong> ‚Deutsche‘, der einerseits Teil der deutsch-jüdischen<br />
Kultur war <strong>und</strong> zudem durch den Status, den es in Brasilien einbrachte, betont<br />
wurde, führte auch zur Entstehung einer sehr charakteristischen <strong>und</strong> separaten<br />
deutsch-jüdischen religiösen Sphäre. Die deutschen Juden folgten im Allgemeinen<br />
der liberalen Tradition des Gottesdienstes, einer Form, die aus der Emanzipation<br />
Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts erwachsen war <strong>und</strong> auf der Idee gründete, <strong>das</strong>s<br />
Juden religiös zu Hause <strong>und</strong> in der Öffentlichkeit Staatsbürger sein sollten. Die<br />
liberale Tradition (Einheitsgemeinde), die auch in der Landessprache geführte<br />
Gottesdienste einschloss, wurde von vielen osteuropäischen Juden, die die traditionelle<br />
Form des Gottesdienstes beibehielten, als unangemessen angesehen.<br />
Es war in den größeren Städten, wo es zur Organisation der ersten deutschjüdischen<br />
Religionsgemeinden in ausgedehnterem Rahmen kam. Obgleich von<br />
deutschen Juden mit ähnlichem soziokulturellem Hintergr<strong>und</strong> geschaffen,<br />
beeinflussten die Unterschiede zwischen den jeweils bestehenden jüdischen Gemeinschaften<br />
die Art <strong>und</strong> Weise, wie diese neuen Organisationen wirkten. In Porto<br />
Alegre gründete die deutsch-jüdische Gemeinschaft im Juli 1939 die bereits<br />
erwähnte Israelitisch-Brasilianische Gesellschaft für Kultur <strong>und</strong> Wohltätigkeit (SIBRA)<br />
aufgr<strong>und</strong> der Überzeugung „innerhalb des Kreises derjenigen Juden, die Deutsch<br />
sprechen, <strong>das</strong>s dort ein hinreichendes Interesse besteht, ein soziales <strong>und</strong> kulturelles<br />
Zentrum zu schaffen.“ 31 Von den ersten 200 Mitgliedern der SIBRA stammten<br />
mehr als 75 Prozent aus Deutschland <strong>und</strong> ca. ein Drittel der restlichen Personen<br />
aus Österreich oder Ungarn. 32 Anders als andere deutsch-jüdische Vereinigun-<br />
28. Oscar Messias Cardoso: A Emigração Israelita Através do M<strong>und</strong>o. Correio da Manhã, 27.<br />
August, 1933.<br />
29. Ildefonso Falcão an Afrânio de Mello Franco, 27. Juni 1933. EC/191/558/Reservado/1935/<br />
Annexo. Maço 10.561 (741). Arquivo Historico Itamaraty, Rio de Janeiro.<br />
30. Ibd.<br />
31. Interview des Verfassers mit Bernhard Wolff in Porto Alegre am 21. Juli l986.<br />
32. Em Memória dos sócios falecidos e seus familiares, l936-l986. Bernhard Wolff-Archiv<br />
(Porto Alegre).<br />
137
138<br />
gen in Brasilien wurde die SIBRA in fußläufiger Entfernung zum traditionellen<br />
osteuropäisch-jüdischen Stadtviertel Bom Fim errichtet. Diese Wahl ist insofern<br />
bedeutsam, als sie die Vermutung nahe legt, <strong>das</strong>s die deutschen Juden in Porto<br />
Alegre – vielleicht wegen der geringeren Größe der Stadt <strong>und</strong> der jüdischen Bevölkerung<br />
– hofften, eine vereinte Gemeinde zu schaffen (vgl. LESSER 1989). Anders<br />
als in São Paulo <strong>und</strong> Rio de Janeiro, wo Reibungen zwischen deutschen<br />
Juden <strong>und</strong> früher eingewanderten osteuropäischen Juden sich steigerten, kam<br />
es in Porto Alegre zu einer Integration zwischen deutschen Juden <strong>und</strong> Mitgliedern<br />
der osteuropäischen Gemeinschaft, die sich dann der SIBRA anschlossen.<br />
Der Wunsch zur Schaffung einer vereinten jüdischen Gemeinde in Porto Alegre<br />
bedeutete jedoch kein Nachlassen der Bindungen an die deutsche Hochkultur,<br />
selbst unter denen, die vor dem NS-Regime geflohen waren.<br />
Anders als die SIBRA, wurde die jüdische Kongregation von São Paulo<br />
(Congregação Israelita Paulista – CIP) geschaffen „zu dem ausdrücklichen Zweck,<br />
die individuelle Adaptierung <strong>und</strong> <strong>das</strong> kollektive Überleben“ zu fördern<br />
(HIRSCHBERG 1976, S. 17). Die CIP wurde im Oktober 1936 eingeweiht, als<br />
erstmals ein junger Rabbi aus Heidelberg geschickt wurde, der die hohen<br />
Festtagsgottesdienste für die deutschen Juden in der Stadt halten sollte. Innerhalb<br />
eines Jahres war Rabbi Fritz Pinkuss gänzlich nach São Paulo übergesiedelt,<br />
um die CIP aufbauen zu helfen, deren Gebäude weit entfernt vom traditionellen<br />
Viertel der osteuropäischen Juden, Bom Retiro, errichtet wurde.<br />
Die CIP versuchte in aggressiver Weise ein deutsch-jüdisches religiöses <strong>und</strong><br />
soziales Leben wiederaufzubauen <strong>und</strong> betrieb aktiv eine Trennung von der<br />
bestehenden jüdischen Gemeinschaft. 33 Im Jahr 1938 schuf der Vorstand der<br />
CIP die Avanhandava-Pfadfindergruppe, die zum pädagogischen ‚Schlüssel‘<br />
bei der Erziehung der jüdischen Jugend wurde, ausgerichtet auf eine brasilianische<br />
Elitekultur (CYTRYNOWICZ / ZUQUIM 1999, S. 25).<br />
Alle deutsch-jüdischen Gemeindeorganisationen förderten nachdrücklich <strong>das</strong><br />
Erlernen des Portugiesischen. Dies beruhte auf dem Glauben der meisten deutschen<br />
Juden, von denen viele einen großbürgerlichen Hintergr<strong>und</strong> besaßen,<br />
<strong>das</strong>s jemand gleichzeitig ein guter Jude <strong>und</strong> ein guter Staatsbürger sein könnte.<br />
Die Beherrschung des Portugiesischen half der deutsch-jüdischen Gemeinschaft,<br />
sich sozial <strong>und</strong> ökonomisch zu integrieren. Die Integration geschah auch im Politischen,<br />
<strong>und</strong> die enge Beziehung zwischen Führern dieser Gemeinschaft <strong>und</strong> brasilianischen<br />
Politikern beeinflusste oft in positiver Weise die Einstellung der Regierung<br />
gegenüber den jüdischen <strong>Flüchtlinge</strong>n.<br />
V. Schlussbetrachtung<br />
Für die meisten deutschen Juden, war der Kampf, im überseeischen Refugium<br />
die nationale <strong>und</strong> ethnische Identität zu bewahren, eine komplexe Herausforderung.<br />
Diese Erfahrung im ausländischen Umfeld war eine Erfahrung der beständigen<br />
Unterscheidung <strong>und</strong> Abgrenzung, sei es von nicht-jüdischen Deutschen oder<br />
von anderen jüdischen Gemeinschaften. Die neue ‚Heimat‘ war für deutsche Ju-<br />
33. Interview des Verfassers mit Rabbi Fritz Pinkuss in São Paulo am 19. August l986.
den nicht dieselbe wie für die energischen Staatspatriotismus bezeugenden deutschen<br />
Nicht-Juden, die früher eingewandert waren. Vielmehr war es bei diesen<br />
<strong>Flüchtlinge</strong>n nun genau ihre ‚Deutschheit‘, die von vielen in der brasilianischen<br />
Elite als positiv gesehen wurde. Deutsche Juden konnten z. B. deutsche Literatur<br />
pflegen als Ausdruck sowohl der Bewahrung ihrer kulturellen Wurzeln als auch<br />
ihrer Zugehörigkeit zur kultivierten brasilianischen Elite.<br />
Während die Lebenssituationen deutscher Juden <strong>und</strong> Nicht-Juden in ganz<br />
Lateinamerika sehr verschieden waren, bietet der brasilianische Fall noch eine<br />
besondere Wendung der Geschichte. Anders als bei anderen Beispielen aus amerikanischen<br />
Ländern, fanden deutsch-jüdische <strong>Flüchtlinge</strong> in Brasilien keine<br />
zentraleuropäische Basis vor: Dort lag die Macht in der Gemeinschaft eher bei den<br />
osteuropäischen Juden, die sowohl aggressive Jiddischisten als auch Zionisten<br />
waren. Dieser Mangel an institutioneller Stärke auf deutsch-jüdischer Seite veränderte<br />
die Bedingungen für kulturelle Allianzen, da die <strong>Flüchtlinge</strong> rasch erkannten,<br />
<strong>das</strong>s eine Integration in die lokale Elitekultur ihnen zahlreiche Vorteile verschaffte.<br />
Deutsch-jüdische Führer arbeiteten hart daran, ihren Status als Weiße,<br />
als Bürgerliche <strong>und</strong> ihr ‚Europäertum‘ zu behaupten, <strong>und</strong> in vielerlei Hinsicht<br />
waren sie dabei erfolgreich. Als Brasilien 1938 versuchte, seine Tore zu schließen,<br />
kamen Juden dennoch weiterhin ins Land: Tatsächlich manipulierten die führenden<br />
Akteure in der jüdischen Gemeinde Brasiliens erfolgreich die Ansichten <strong>und</strong><br />
Vorstellungen, so <strong>das</strong>s viele aus Europa flüchtende Juden in der öffentlichen<br />
Wahrnehmung als akzeptable ‚deutsche Juden‘ rekonzipiert wurden. Fast zehntausend<br />
jüdische <strong>Flüchtlinge</strong> kamen zwischen 1938 <strong>und</strong> 1942 nach Brasilien, wo<br />
ihnen <strong>das</strong> Heim im Ausland zu einer brasilianischen Heimat wurde.<br />
(Übersetzung aus dem Englischen: Rainer Domschke)<br />
Literatur<br />
AVNI, Haim (1985): Patterns of Jewish Leadership in Latin America during the Holocaust. In:<br />
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140<br />
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RENGSTORF, Karl H. (Hrsg.): Europäische Juden in Lateinamerika. St. Ingbert, S. 361-377.<br />
LEVY, Herbert V. (1934): Problemas actuaes da economia brasileira. São Paulo.<br />
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STRAUSS, Herbert A. (1980): Jewish Emigration from Germany: Nazi Policies and Jewish Responses<br />
(I). In: Leo Baeck Institute Yearbook XXV. London, S. 313-358.<br />
WOLFF, Egon / WOLFF, Frieda (1979): Os Judeus nos Primórdios do Brasil-República – visto<br />
especialmente pela documentação no Rio de Janeiro. Rio de Janeiro.<br />
Prof. Dr. Jeffrey Lesser ist Winship Distinguished Research Professor of the Humanities<br />
<strong>und</strong> Direktor des Tam Institute for Jewish Studies an der Emory University (Atlanta, USA).<br />
Er ist Spezialist in brasilianischer Geschichte <strong>und</strong> seine Forschungen konzentrieren sich auf die<br />
Themen Ethnizität, Immigration <strong>und</strong> Identität. Sein Buch Negotiating National Identity:<br />
Minorities, Immigrants and the Struggle for Ethnicity in Brazil (Durham 1999) erhielt den<br />
Best Book Prize der Brasiliensektion der Latin American Studies Association; sein Welcoming<br />
the Undesirables: Brazil and the Jewish Question (Berkeley 1994) den Best Book Prize des<br />
New England Council on Latin American Studies. Beide Bücher sind auch in portugiesischer<br />
Übersetzung erschienen als Negociando a Identidade Nacional: Imigrantes, Minorias<br />
e a Luta pela Etnicidade no Brasil (São Paulo 2001) <strong>und</strong> O Brasil e A Questão Judaica (Rio<br />
de Janeiro 1995). Sein neuestes Buch, A Discontented Diaspora: Japanese-Brazilians and<br />
the Meanings of Ethnic Militancy wird im Dezember 2007 herauskommen.
Imigração no Brasil e na Alemanha:<br />
contextos, conceitos, convergências<br />
Sérgio Costa<br />
São Paulo / Flensburg<br />
Resümee: Der Artikel vergleicht die politischen Diskurse <strong>und</strong> Praktiken,<br />
die sich in der Zeit des Zweiten Weltkriegs in Brasilien<br />
im Rahmen der „Nationalisierungs-Kampagne“ auf die Einwanderer<br />
richteten, mit den Bemühungen zur „Integration“<br />
von Migranten in Deutschland heute. Indem der Autor<br />
über einige historische <strong>und</strong> strukturelle Unterschiede<br />
hinaussieht, erkennt er wichtige Ähnlichkeiten zwischen<br />
diesen beiden Kontexten. In beiden Fällen wird den Immigranten<br />
eine schwache Identifikation mit den „nationalen<br />
Werten“ zugeschrieben, wobei der Staat versucht, diesem<br />
angeblichen Mangel durch disziplinierende <strong>und</strong>/oder<br />
assimilationistische Maßnahmen entgegenzuwirken.<br />
Abstract: The article compares discourses and policies directed to<br />
immigrants in Brazil during the „nationalization campaign“<br />
in the time of the Second World War with efforts for „integrating“<br />
immigrants in contemporary Germany. Looking<br />
beyond some historical and structural differences, the author<br />
identifies important similarities between these two<br />
contexts. In both cases immigrants are supposed to have a<br />
low identification with the „national values“ and the State<br />
tries to correct this alleged deficit using disciplinary and/or<br />
assimilationist measures.<br />
Quando se comparam os movimentos migratórios de europeus rumo à América<br />
Latina até a primeira metade do Século XX com as migrações recentes intra-européias<br />
e de outros continentes para a Europa no período pós-guerra constatam-se,<br />
como é de se esperar, diferenças estruturais importantes. No primeiro caso, se trata,<br />
f<strong>und</strong>amentalmente de uma ruptura radical nas biografias individuais e familiares, já<br />
que a migração implicava a perda quase sempre definitiva dos vínculos mais efetivos<br />
com a terra natal, visitada não mais que pela memória e revista apenas nas raras<br />
cartas de amigos e parentes, recebi<strong>das</strong> depois <strong>das</strong> várias semanas necessárias para<br />
a travessia transatlântica. Atualmente, as novas possibilidades de comunicação e<br />
transporte permitem que os imigrantes sigam mantendo laços estreitos com seus<br />
países de origem, constituindo redes de interação que, de algum modo, aproximam,<br />
socialmente, territórios geograficamente distantes. 1<br />
1. Esses novos contextos foram pesquisados em detalhe, entre outros, por Pries (1996, 2001,<br />
veja também COSTA 2006b) que, a partir do exame da migração de trabalhadores mexicanos<br />
141
142<br />
Para além dessas distinções estruturais, observam-se iniludíveis similitudes entre<br />
os discursos e políticas volta<strong>das</strong> para a imigração na Europa contemporânea e<br />
na América Latina dos anos 1930 e 1940. Tais interseções estão corporifica<strong>das</strong> nos<br />
conceitos de assimilação e integração, o primeiro adotado na América Latina, e,<br />
o seg<strong>und</strong>o preferido no contexto europeu atual. Malgrado as diferenças de ênfase,<br />
ambos conceitos e as políticas concretas a eles associa<strong>das</strong> remetem à afirmação<br />
de um identidade nacional que coincide (ou deve coincidir) com as fronteiras<br />
territoriais de cada país. Essa identidade nacional deve, seg<strong>und</strong>o seus defensores,<br />
ter precedência sobre as preferências culturais <strong>das</strong> minorias imigrantes,<br />
não se descartando medi<strong>das</strong> de incentivo ou de caráter disciplinador volta<strong>das</strong><br />
para a garantir o reconhecimento por todos do primado da identidade nacional.<br />
A idéia de integração, ainda que plenamente dominante nas discussões políticas<br />
e no discurso dos meios de comunicação sobre os imigrantes, vem sendo<br />
contestada no debate europeu sobretudo por novas contribuições empíricas e<br />
teóricas dedica<strong>das</strong> ao estudo da cultura e <strong>das</strong> identidades culturais. Conforme<br />
essa crítica, os partidários <strong>das</strong> políticas de integração baseiam-se num conceito<br />
territorial e nacionalista de cultura, sem levar em conta que as identidades contemporâneas<br />
não reproduzem, necessariamente, os vínculos com as fronteiras de<br />
um Estado-nacional determinado. No centro dessa crítica está a idéia de que as<br />
diferenças culturais são fluí<strong>das</strong> e voláteis e se articulam de acordo com as possibilidades<br />
de reconhecimento ofereci<strong>das</strong> pelo entorno social e não por meio da<br />
reprodução atávica dos vínculos de pertença a uma nacionalidade determinada.<br />
O presente artigo discute as diferenças e semelhanças entre o contexto latinoamericano<br />
na primeira metade do Século XX e a Europa contemporânea, a partir<br />
dos exemplos do Brasil e da Alemanha. As duas primeiras seções são dedica<strong>das</strong> ao<br />
estudo, respectivamente, da política de nacionalização no Brasil e da política de<br />
integração na Alemanha, considerando-se, em ambos casos, os antecedentes<br />
históricos que explicam a adoção de tais políticas. A terceira seção coteja esses<br />
dois contextos, buscando, ainda, indicar algumas linhas para a discussão crítica<br />
de políticas migratórias de caráter nacionalista.<br />
1. Brasil: racismo, mestiçagem, assimilação2 O processo moderno de constituição do auto-entendimento da nação brasileira<br />
é marcado por percalços variados, além de inflexões importantes na forma<br />
de auto-representar a identidade nacional. A transição do Império à República ao<br />
final do Século XIX é marcada, nos planos da reflexão intelectual e dos discursos<br />
políticos, pela pesada influência do racismo científico, recebido da Europa e, mais<br />
para os Estados Unidos, identificou a formação dos chamados espaços sociais transnacionais.<br />
Estes „são entendidos como novos ‚contextos sociais de interpenetração‘ (Elias). Tais contextos<br />
são espacial-geograficamente difusos e ‚de-localizados‘ e constituem, simultaneamente,<br />
um espaço social transitório que representa tanto uma importante estrutura de referências<br />
para posições e posicionamentos sociais quanto define a práxis de vida cotidiana, os projetos<br />
biográficos-(profissionais) e as identidades <strong>das</strong> pessoas, para além do contexto <strong>das</strong><br />
sociedades nacionais“ (PRIES 1996, p. 467, esta e to<strong>das</strong> as citações de textos em alemão<br />
foram traduzi<strong>das</strong> livremente pelo autor para o português).<br />
2. Essa seção retoma algumas passagens que estão aprof<strong>und</strong>a<strong>das</strong> no capítulo 6 de COSTA 2006a.
tarde dos Estados Unidos. Nesse contexto, os ideólogos f<strong>und</strong>adores da nação<br />
brasileira se viam confrontados com a dificuldade de conciliar os postulados da<br />
superioridade racial e intelectual do tipo humano de pele clara e identificado<br />
com a origem européia, com a realidade da população brasileira, caracterizada<br />
pela ampla variedade de tipos físicos e colorações de pele 3 .<br />
É sob o marco desse imaginado dilema que se constrói aquilo que se reconhecia,<br />
conforme os padrões da época, como as primeiras reflexões científicas sobre<br />
o processo de formação nacional (SCHWARCZ 1993; COSTA 2002; HOFBAUER<br />
2006). Aqui, se organizam, desde muito cedo, duas formas distintas de interpretar<br />
e aplicar, ao caso brasileiro, os novos achados da ciência racista internacional. A<br />
primeira dessas vertentes tem como seu principal expoente o médico legista<br />
Raim<strong>und</strong>o Nina Rodrigues (1862-1906) que, através de suas investigações na<br />
região do Recôncavo Baiano, buscava f<strong>und</strong>amentar sua resistência à constituição<br />
de „famílias interraciais“ 4 . A seg<strong>und</strong>a vertente, f<strong>und</strong>ada, inicialmente, sobre os<br />
trabalhos do jurista e crítico literário Sylvio Romero (1851-1914), defendia que a<br />
mescla de tipos físicos variados levaria ao branqueamento paulatino da população,<br />
vislumbrando aí as possibilidades da „regeneração racial“ dos brasileiros. De<br />
cada um desse conjunto de idéias decorriam, como se mostra abaixo, avaliações<br />
distintas do papel dos imigrantes na constituição da população.<br />
Nina Rodrigues acompanhava de perto as pesquisas da antropologia criminal<br />
italiana, capitaneada por Cesare Lombroso (1836-1909) e buscava, assim, estabelecer<br />
os nexos entre o desenvolvimento moral e o grau de „progresso biológicoracial“<br />
de cada uma <strong>das</strong> diferentes „raças“. Decorrem daí as posições de Nina<br />
Rodrigues no contexto do debate penal e jurídico da época: para ele, qualquer<br />
projeto de igualdade jurídica e política dos indivíduos pertencentes às diferentes<br />
„raças“ ignoraria o fato elementar de que, independentemente da vontade individual,<br />
negros encontravam-se impossibilitados biologicamente de atingir o grau de<br />
maturidade moral dos brancos, fato que inviabilizava sua integração, sem distinções,<br />
como cidadãos, portadores dos mesmos direitos e deveres dos brancos. Seguindo<br />
tal argumentação, Nina Rodrigues reivindicava que a imputabilidade penal<br />
fosse atribuída com base no grau de desenvolvimento biológico-moral do indivíduo.<br />
3. Por ocasião da proclamação da República, o Brasil contava com cerca de 14.333.000 habitantes,<br />
distribuídos, conforme o censo de 1890, da seguinte maneira: indígenas 440.000, brancos<br />
6.302.000, pretos 2.098.000, pardos 5.934.000. No período entre 1851-1960, o Brasil recebeu<br />
aproximadamente: 1.732.000 imigrantes provindos de Portugal, 1.619.000 da Itália, 694.000<br />
originários da Espanha, 250.000 da Alemanha, 229.000 do Japão (cf. PENA et al. 2000). Entre<br />
1551 e 1860 aportaram no Brasil cerca de 4.029.800.000 africanos escravizados, mais de<br />
40% dos pouco mais de 10 milhões de africanos trazidos para o conjunto <strong>das</strong> Américas no<br />
âmbito do tráfico negreiro (ver ALENCASTRO 2000, p. 69).<br />
4. As referências ao substantivo raça e aos adjetivos dele derivados, além de expressões<br />
correlatas como ariano, mestiço, degeneração ou regeneração racial reproduzem aqui o<br />
vocabulário dos debates da época. Já, há alguns anos, a pesquisa genética mostrou que, do<br />
ponto de vista biológico, não há elementos que possibilitem agrupar traços fenotípicos<br />
como a cor da pele, o tipo de cabelo, o formatos do nariz, etc. em grupos raciais distintos<br />
geneticamente. No uso que se faz, ainda hoje, dessas expressões, se trata de classificações<br />
culturais arbitrárias que, como se sabe, podem, em virtude do preconceito existente,<br />
apresentar conseqüências importantes para a distribuição <strong>das</strong> oportunidades sociais, bem<br />
como para as relações cotidianas (COSTA 2006a).<br />
143
144<br />
Ainda que defendesse que alguns „mestiços“ pudessem escapar ao desígnio<br />
da „degeneração“, Nina Rodrigues não acreditava que a imigração de europeus,<br />
acompanhada do sucessivo „mestiçamento“, poderia ser a solução para o „problema<br />
racial“ brasileiro. Não apoiava, por isso, os apelos de alguns de seus contemporâneos<br />
por uma imigração „regeneradora <strong>das</strong> raças“ no Brasil, a qual somada<br />
à presença dos portugueses levaria, em algumas gerações, ao completo branqueamento<br />
da população:<br />
Não acredito na unidade ou quasi unidade ethnica, presente ou futura<br />
da população brazileira, admitida pelo Dr. Sylvio Romero: não acredito<br />
na futura extensão do mestiço luso-africano a todo territorio do<br />
paiz: considero pouco provavel que a raça branca consiga fazer dominar<br />
o seu typo em toda a população brazileira. (NINA RODRIGUES<br />
1938 [1894], p. 126)<br />
Os trabalhos de Nina Rodrigues renderam no Brasil continuações em campos<br />
como a antropologia e a medicina legal, levando a que intelectuais importantes<br />
da vida nacional como Oscar Freire, Afrânio Peixoto e Artur Ramos se alinhassem<br />
em torno da chamada Escola Nina Rodrigues. Não obstante, esses seguidores<br />
buscaram, às vezes com mais, outras vezes com menos êxito, emancipar a tradição,<br />
inaugurada por Nina Rodrigues, de sua herança racista (CORRÊA 1998;<br />
HOFBAUER 2006).<br />
De fato, as idéias do autor só viriam a ser subscritas em toda sua plenitude,<br />
déca<strong>das</strong> mais tarde, pelo pesquisador nazista Heinrich Krieger (1940), para quem<br />
Nina Rodrigues foi o único pensador brasileiro a aceitar a evidência de que são<br />
necessárias intervenções legais que garantam o tratamento diferenciado no plano<br />
político e jurídico <strong>das</strong> várias „raças“. Em sua reconstrução do debate em torno<br />
do racismo científico no Brasil, Krieger se mostra enfático em condenar to<strong>das</strong> as<br />
vertentes que preconizavam a „mistura de raças“, insistindo no risco da degeneração<br />
e afirmando que a mistura não levaria a um paulatino branqueamento, mas<br />
a um rápido escurecimento da população. Discordava, por isso, de qualquer política<br />
assimilacionista que buscasse aproximar, física e culturalmente, descendentes<br />
de europeus e os demais brasileiros. Condenava, particularmente, a integração<br />
dos descendentes de alemães, pois de tal maneira estaria se „atacando um capital<br />
racial imprescindível e insubstituível“ (p. 48). No lugar de promover a integração<br />
dos alemães no seio da comunidade nacional, o projeto de Krieger envolvia uma<br />
política racial que permitisse a „formação e preservação de uma classe dirigente<br />
de brancos“ (p. 53). A essa camada branca deveria caber a condução do país e a<br />
implementação de uma política racial rígida que impedisse o „mestiçamento“.<br />
Sylvio Romero era um sôfrego leitor da bibliografia racista publicada na Europa<br />
e principalmente na Alemanha, acompanhando com especial interesse os trabalhos<br />
de Ernst Haeckel (1834-1919). Sua crença na superioridade dos brancos<br />
era inarredável, mas não era genérica. Ele buscava penetrar os meandros do<br />
racismo científico e dedicava longos trechos de seu trabalho a explicar a seus<br />
adversários a distinção entre branquicéfalos e dolicocéfalos e as razões da superioridade<br />
da „raça ariana“. O fascínio pelos „arianos“ não conhecia medi<strong>das</strong>. Admirava<br />
o „genial Bismarck“ e acreditava que a Alemanha prestava um serviço à
humanidade através de sua investida colonial na África 5 (ROMERO 1906, p. 271s).<br />
Sua defesa da „mistura racial regeneradora“ f<strong>und</strong>ava-se na crença de que qualquer<br />
perspectiva de futuro para a nação brasileira precisava enfrentar o problema<br />
no que entendia ser sua raiz última, qual seja, a fonte biológica – era preciso, numa<br />
palavra, branquear a população. Para tanto, seria necessário encontrar formas de<br />
impedir que os descendentes de europeus e os alemães, em particular, se encerrassem<br />
em grupos étnicos fechados, mas ao contrário, se espalhassem por todo o<br />
país, distribuindo seu „capital eugênico“ pelas diferentes regiões. Ele chega mesmo<br />
a propor um conjunto de medi<strong>das</strong> para forçar o convívio dos imigrantes<br />
alemães e seus descendentes com os demais brasileiros, de sorte a desencorajar<br />
os „quistos étnicos“, apressar o branqueamento e ainda afastar qualquer aventura<br />
separatista. As iniciativas sugeri<strong>das</strong> por Romero iam desde a proibição do uso da<br />
língua alemã até o estacionamento de tanques de guerra nos portos próximos às<br />
áreas de concentração de população germânica (ROMERO 1906, p. 323s).<br />
Mais tardiamente, já nos anos 1920 a 1940, Oliveira Vianna (1883-1951) retomaria<br />
a idéia da mestiçagem branqueadora, podendo ser tratado, sob tal aspecto,<br />
como um continuador explícito da obra de Sylvio Romero. Oliveira Vianna (1933)<br />
estuda em detalhe a distribuição geográfica dos diversos „grupos raciais“ que<br />
constituem a população brasileira, mostrando, através de projeções demográficas,<br />
que o branqueamento paulatino da população era fato iniludível, assente em dois<br />
processos combinados, ambos questionáveis: a imigração e a tendência dos imigrantes<br />
e seus descendentes de se casar com brasileiros, de um lado e a<br />
fec<strong>und</strong>idade maior dos brancos, por outro.<br />
A influência do racismo científico sobre os autores e discursos f<strong>und</strong>adores da<br />
nação só perderia seu ímpeto nos anos 1930 com a consolidação da ideologia<br />
nacionalista que recusava as hierarquias racistas e celebrava as virtudes do Brasil<br />
como „cadinho de raças e culturas“. Sem dúvida, o sociólogo e antropólogo<br />
Gilberto Freyre (1900-1987) é a expressão-síntese dessa nova maneira de representar<br />
a nação. Seguidor do antropólogo judeu-alemão, radicado nos Estados<br />
Unidos, Franz Boas, Freyre reconstrói a formação da nação brasileira desde a<br />
colônia (Freyre 1999 [1933]) mostrando como se verifica, nesse processo, a cons-<br />
5. Sylvio Romero, juntamente com seu estreito colaborador Tobias Barreto (1839-1889), constituía<br />
o núcleo duro da germanofilia no âmbito da chamada Escola do Recife. O fascínio de Tobias<br />
Barreto pela cultura alemã era inigualável. Irritava-o a obsessão dos brasileiros pela França,<br />
cunhando a máxima: „A Alemanha ensina a pensar – a França ensina a escrever“ (Cf. OBER-<br />
ACKER Jr. 1990, p. 274). Aprendeu alemão como auto-didata e, além de monografias, chegou<br />
a editar uma revista alemã em Recife „Der deutsche Kämpfer“, da qual era possivelmente um<br />
dos únicos leitores. Escrevia em alemão numa linguagem culta e em prosa fluente, conforme<br />
testemunham os textos originais, republicados em edição bilingue (BARRETO 1990 [1876]). Os<br />
problemas só apareciam no momento da comunicação verbal: „tão somente na sua pronúncia,<br />
não chegou a vencer, como auto-didata, uma estranha acentuação, de tal modo que os alemães<br />
tinham suas dificuldades em entendê-lo“ (OBERACKER Jr. 1990, p. 269). Polemista, acumulou<br />
mais desafetos que amigos, despediu-se do m<strong>und</strong>o doente e miserável, proferindo do leito<br />
de morte seu último pedido: „Erguei-me! Quero morrer como um soldado prussiano!“ (cf.<br />
ibid., p. 277). A abnegação de Tobias Barreto teve seu reconhecimento: emprestou seu nome<br />
à sua cidade natal e é ainda patrono de uma cadeira da Academia Brasileira de Letras, aquela<br />
ocupada por José Sarney que, na presidência da república, prefaciou a reedição <strong>das</strong><br />
Monografias em Alemão de Tobias Barreto (1990 [1876]), destacando serem suas idéias<br />
„avança<strong>das</strong> para o seu tempo e contemporâneas da nossa época“.<br />
145
146<br />
tituição de uma „brasileiridade“ como amálgama bem-sucedido dos três grupos<br />
f<strong>und</strong>adores da nação: indígenas, portugueses e africanos. Fato ainda pouco estudado<br />
no pensamento de Freyre e no discurso da mestiçagem por ele defendido<br />
são suas conseqüências xenófobas. Com efeito, a brasileiridade mestiça concebida<br />
por Freyre acaba por impor o “abrasileiramento” dos imigrantes e seus descendentes,<br />
a partir do modelo de nação assente na unidade idiomática:<br />
Seria absurdo admitirmos ao neo-brasileiro, o direito de florescer, em<br />
grupos macissos ou compactos, à parte da cultura básica e essencial do<br />
Brasil que é a luso-brasileira e a do sentimento e fórmas christãs. Seria<br />
absurdo reconhecermos no polonez ou no allemão ou no japonez o<br />
direito de aqui viver, em taes grupos, hostil ou simplesmente alheio à<br />
lingua portugueza. Por um lado, não me parece acertado exigir de qualquer<br />
neo-brasileiro naquellas condições o abandono absoluto e<br />
immediato de to<strong>das</strong> as suas tradições, de todos os seus estylos provincianos<br />
de vida (<strong>das</strong> suas provincias de origem, a grande maioria delles<br />
sendo gente do campo), de suas comi<strong>das</strong>. Valores, tantos desses,<br />
necessarios para conservar o moral daquelles neo-brasileiros na sua<br />
phase de transição de m<strong>und</strong>os velhos para um m<strong>und</strong>o novo; valores,<br />
tambem, que poderão ser incorporados com vantagem à nossa cultura<br />
e à nossa vida. Na propria conservação dos idiomas nativos pelos colonos<br />
não vejo mal nenhum mas vantagem para o Brasil, no caso de idiomas<br />
do rico conteudo cultural do allemão ou do italiano, uma vez – este<br />
é ponto que é preciso tornar bem claro – que taes idiomas se conservem<br />
não como substitutos mas como accessorios da lingua tradicional,<br />
geral e nacional do Brasil que é a lingua portugueza. O neo-brasileiro<br />
que ignora a lingua portugueza ou a conheça e não encontre nella o seu<br />
meio principal de expressão é um brasileiro incompleto, necessitado de<br />
integrar-se na nossa vida e na cultura brasileira. (FREYRE 1942)<br />
No plano político, a ideologia nacionalista da mistura de raças e culturas defendida<br />
por Freyre encontra sua materialização mais acabada na Campanha de<br />
Nacionalização implementada por Getúlio Vargas, a partir de 1938.<br />
A Campanha se encontrava vinculada a um programa mais amplo que<br />
visava a consolidar a „nacionalidade brasileira“, conforme a concepção do<br />
Ministro da Educação varguista, Gustavo Capanema. O programa incluía a<br />
constituição de um sistema escolar nacional unificado em torno do uso regular<br />
e padronizado da língua portuguesa, assim como a disseminação de<br />
supostos valores nacionais, os quais na prática compreendiam „o ufanismo<br />
verde-amarelo, a história mitificada dos heróis e <strong>das</strong> instituições nacionais e<br />
o culto às autoridades [além da] [...] ênfase no catolicismo do brasileiro, em<br />
detrimento de outras formas [considera<strong>das</strong>] menos legítimas de religiosidade“<br />
(SCHWARTZMAN et alii 1984, p. 141).<br />
Como parte desse programa nacionalizante, as ações que recebem em seu<br />
conjunto o nome de Campanha da Nacionalização foram desencadea<strong>das</strong> pelo<br />
Ministério da Guerra em janeiro de 1939 e eram volta<strong>das</strong> para „anular os inconvenientes<br />
da existência de núcleos, que não se diluem no nosso meio mas,
ao contrário, procuram se fortalecer, conservando as características dos países<br />
originais [...] [D]e todos os elementos radicados no nosso país, os mais bemorganizados<br />
são os alemães, devido ao isolamento em que procuram viver,<br />
transmitindo aos seus descendentes língua, costumes, crença, mentalidade,<br />
cultura e patriotismo“ (ofício do Ministério da Guerra, apud SCHWARTZMAN<br />
et alii 1984, p. 141).<br />
A campanha de nacionalização envolvia um esforço interministerial bastante<br />
amplo, incluindo ações nos campos da educação, da política imigratória e no plano<br />
propriamente militar. Além da unificação do currículo, a nacionalização no plano<br />
educacional envolvia a estatização do ensino básico com a desapropriação <strong>das</strong><br />
chama<strong>das</strong> escolas estrangeiras, nasci<strong>das</strong>, a propósito, do esforço <strong>das</strong> comunidades<br />
de imigrantes de suprir, historicamente, a inexistência de escolas públicas nas chama<strong>das</strong><br />
áreas de colonização estrangeira (vide FIORI 2003). Do ponto de vista legal<br />
e jurídico, as medi<strong>das</strong> adota<strong>das</strong> indicam a clara inflexão na forma de tratamento<br />
dos imigrantes que passavam a ser vistos, sobretudo, pela ótica da segurança nacional.<br />
Assim, criam-se mecanismos para permitir a triagem mais adequada daqueles<br />
que poderiam fixar residência no Brasil e para facilitar a expulsão dos considerados<br />
indesejados, tornando-se, ao mesmo tempo, mais rígidos os critérios para a naturalização<br />
de estrangeiros. Conforme o próprio „auto-retrato“ do governo Vargas, sistematizado<br />
por Capanema, os imigrantes haviam sido vistos, desde sua chegada,<br />
apenas sob a ótica da „necessidade do braço estrangeiro“, descuidando-se dos<br />
aspectos culturais e políticos implicados na imigração:<br />
Pode dizer-se que até 1930 o problema imigratório no Brasil foi tratado<br />
com erro f<strong>und</strong>amental: confiou-se demasiado na capacidade de absorção<br />
da etnia brasileira e não se cogitou de evitar a formação de núcleos<br />
coloniais com predominâncias raciais estrangeiras muito acentua<strong>das</strong>.<br />
Em consequência da formação dessas ‚colônias‘ mais ou menos homogêneas,<br />
os países emigratórios de política imperialista começaram a exportar,<br />
com os seus nacionais, as doutrinas que estes deveriam transmitir<br />
aos filhos e netos, para impedir a sua assimilação ao novo meio e,<br />
assim, facilitar futuras campanhas de anexação territoriais [...]. Daí o<br />
sentido primordial da nova legislação que pode resumir-se em poucos<br />
postulados: rigorosa seleção dos elementos estrangeiros que venham<br />
colaborar com nossa economia; sua localização, principalmente, na agricultura<br />
e nas indústrias agrícolas; composição de colônias heterogêneas<br />
do ponto de vista racial, com predominância do elemento brasileiro;<br />
distribuição de cotas imigratórias às várias nacionalidades, na proporção<br />
de sua capacidade de assimilar-se; finalmente, promoção de to<strong>das</strong><br />
as demais medi<strong>das</strong> que facilitem a fixação do imigrante no meio brasileiro.”<br />
(Arquivo Capanema, cf. SCHWARTZMAN 1983, p. 109) 6<br />
6. O próprio Vargas segue a mesma linha de interpretação ao se referir, em 1940, ao isolamento<br />
dos descendentes de alemães:<br />
„Dir-se-á que custaram muito a assimilar-se à sociedade nacional, a falar nossa língua. Mas<br />
a culpa não foi deles, a culpa foi dos governos que os deixaram isolados na mata, em<br />
grandes núcleos, sem comunicações“ (apud SCHWARTZMAN et alii 1984, p. 157).<br />
147
148<br />
No plano militar, coube às Forças Arma<strong>das</strong> no âmbito da campanha da nacionalização,<br />
a ação local voltada para impor através do envio e da presença de<br />
tropas federais nas regiões densamente povoa<strong>das</strong> por imigrantes, o primado da<br />
lealdade à pátria brasileira. Um minucioso relato de um capitão de infantaria (NO-<br />
GUEIRA 1947), enviado no escopo da campanha à cidade de Blumenau, permite<br />
vislumbrar, em detalhe, a amplitude <strong>das</strong> medi<strong>das</strong> disciplinadoras adota<strong>das</strong> pelos<br />
militares, as quais afetam absolutamente todos os âmbitos da vida cotidiana. As<br />
ações relata<strong>das</strong> pelo oficial centram-se, sobretudo, na obrigatoriedade do uso do<br />
idioma português, no combate ao associativismo de cunho étnico e na imposição<br />
do reconhecimento dos símbolos nacionais como as datas comemorativas, o<br />
hino e a bandeira 7 . Assim, o Capitão descreve, por exemplo, como o interventor<br />
federal mandou fechar mais de cem escolas em todo o Vale do Itajaí, „to<strong>das</strong> particulares,<br />
regi<strong>das</strong> por professores estrangeiros, os quais às vezes nem sabiam falar a<br />
língua pátria e por isso mesmo foram proibidos de exercer o magistério“ (p. 46s),<br />
ou como o „pernicioso jornal“ Der Urwaldbote, publicado em alemão e que, seg<strong>und</strong>o<br />
ele, chegava a tirar 85.000 exemplares diários, é fechado pelos militares (p.<br />
99s). Descreve também como a sociedade de ginástica (p. 101), a sociedade de<br />
atiradores (p. 80), as casas comerciais (p. 106) e as festividades existentes (p. 102-<br />
104) são aboli<strong>das</strong> ou refuncionaliza<strong>das</strong> para atender aos objetivos da nacionalização.<br />
Mostra também como, no âmbito dos espaços de convívio e circulação de<br />
pessoas (farmácia – p. 82s, repartições públicas – p. 87s, hospitais – p. 90, mensagens<br />
comerciais – p. 73s), vão sendo criados constrangimentos para o uso do<br />
idioma alemão 8 .<br />
Ainda que não constasse dos objetivos explícitos da campanha de nacionalização,<br />
observa-se nas ações locais dos militares descritas pelo capitão Alencar<br />
Nogueira um esforço de modificar ou abolir atividades, nas quais as relações de<br />
gênero assumiam um formato distinto do que os militares consideravam corresponder<br />
ao padrão brasileiro. Assim, o militar condena o fato de que, entre a<br />
7. O relato do capitão não faz referência direta à repressão <strong>das</strong> atividades religiosas não<br />
católicas, nem ao associativismo diretamente ou indiretamente ligado às igrejas, destacando,<br />
ainda, as boas relações entre os „ministros religiosos“ católicos e evangélicos. Essa<br />
parcimônia no tratamento <strong>das</strong> questões liga<strong>das</strong> à igreja apresenta consonância com o fato<br />
de que o governo federal não podia prescindir inteiramente do apoio <strong>das</strong> igrejas ao esforço<br />
de nacionalização (SCHWARTZMAN et alii 1984, p. 163s). No relato do capitão, há a descrição<br />
de apenas um caso de prisão e envio à capital federal de um professor que se recusara a<br />
adotar o „idioma nacional“. Sabe-se, contudo, que os casos de repressão individual direta<br />
eram freqüentes (ver RAMBO 1997a, 1997b sobre a repressão no Rio Grande do Sul).<br />
8. Vale mencionar o exemplo dos chamados fonogramas que eram uma espécie de telegrama<br />
transmitido por telefone, identificado pelos militares como „precioso instrumento para<br />
auxiliar a campanha de nacionalização“:<br />
„Um oficial designado pelo comandante, durante vários dias esteve nos escritórios [da<br />
Companhia Telefônica Catarinense], em contacto direto com os empregados e logo saía a<br />
fórmula adequada: todos os fonogramas traziam carimbada uma frase apropriada: ‚Aprenda<br />
e fale sempre a língua nacional‘. Além disso, nos telefonemas inter-urbanos, quando o<br />
chamado era feito em alemão, a telefonista insistia: ‚Fale a língua nacional para ser atendido‘ “<br />
(NOGUEIRA 1947, p. 113).<br />
No caso do serviço de correios, adotam-se providências semelhantes, carimbando-se em<br />
toda a correspondência destinada a Blumenau e às demais cidades do Vale do Itajaí „[...]<br />
com tinta lilás, a célebre frase do general Müller, ilustre militar catarinense: ‚Quem nasce no<br />
Brasil ou é brasileiro ou é traidor‘ “ (NOGUEIRA 1947, p. 113).
„elite social“ dos descendentes de alemães, separar-se e casar-se novamente era<br />
costume plenamente aceito, enfatizando, ainda, o perigo representado pelo fato<br />
de que, nas sociedades esportivas, „até as senhoras praticavam regularmente a<br />
educação física“ (p. 101, ver também p. 41). Estranha também que, nos bailes,<br />
„não são necessárias apresentações protocolares, nem permissões do esposo para<br />
que uma senhora conceda um contra-dansa [sic] a qualquer cidadão“ (p. 82). O<br />
conservadorismo do capitão com respeito às questões de gênero encontrava-se<br />
em plena consonância com a política mais ampla de formação da nacionalidade,<br />
capitaneada por Gustavo Capanema. Em várias manifestações públicas, programas<br />
de governo e projetos de lei, o principal formulador da ideologia varguista<br />
buscava assegurar que a mulher não extrapolasse seus papéis de mãe e esposa, de<br />
sorte a garantir a estabilidade do núcleo familiar. Assim, seu Plano Nacional de<br />
Educação de 1937 propõe um currículo de ensino médio especial para meninas<br />
entre 12 e 18 anos e que se destinava a prepará-las para a „vida no lar“. De forma<br />
similar, o estatuto da família, também idealizado por Capanema, determinava em<br />
seu artigo 13 que „às mulheres será dada uma educação que as torne afeiçoa<strong>das</strong><br />
ao casamento, desejosas da maternidade, competentes para a criação dos filhos<br />
e capazes da administração da casa“ (SCHWARTZMAN et alii 1984, p. 112). O<br />
artigo 14, por sua vez, definia que „não poderão as mulheres ser admiti<strong>das</strong> senão<br />
aos empregos próprios da natureza feminina, e dentro dos estritos limites da convivência<br />
familiar“ (ibid., ver também MARTINEZ-ECHAZÁBAL 1998) 9 .<br />
O argumento geralmente utilizado para legitimar e justificar uma campanha<br />
de nacionalização tão extensa e intensiva é da ordem da segurança nacional.<br />
Isto é, ao buscar reprimir os laços dos imigrantes, sobretudo alemães, com a<br />
pátria de origem e buscar fortalecer, entre esses, a lealdade ao Brasil, a campanha<br />
se prestaria a conter o avanço <strong>das</strong> idéias e <strong>das</strong> organizações partidárias<br />
nacional-socialistas nas regiões de concentração de imigrantes 10 . Essa justificativa,<br />
entretanto, encontra, hoje, cada vez menos respaldo nos estudos sobre a<br />
imigração alemã, os quais mostram que o chamado perigo nazista no sul do<br />
Brasil foi claramente inflado e exagerado com o fim explícito de justificar a repressão<br />
sobre os descendentes de alemães. Ainda que não seja tese consensual,<br />
é amplamente aceita entre os historiadores do período a assertiva de que o<br />
objetivo principal da campanha não era outro senão dif<strong>und</strong>ir a ideologia nacio-<br />
9. Curiosamente, as supostas diferenças entre a mulher brasileira e alemã são usa<strong>das</strong> por<br />
Maack (Os alemães no sul do Brasil: o ponto de vista alemão, 1939, apud SCHWARTZMAN et<br />
alii 1984, p. 159), quando busca justificar, como porta-voz dos descendentes de alemães, o<br />
fato de que estes preferiam os casamentos com descendentes de alemães:<br />
„Como os filhos de colonos alemães cedo descobriram a relutância da mulher brasileira em<br />
se dispor ao trabalho físico, foram forçados a procurar esposas tão dispostas ao trabalho<br />
quanto eles. Daí a maior parte dos casamentos se fazerem quase que exclusivamente entre<br />
alemães ou pessoas de origem alemã ou mais raramente, com colonos poloneses e italianos,<br />
os quais também não tinham relutância ao trabalho.“<br />
10. O temor ao „perigo alemão“ já havia se manifestado por ocasião da Primeira Guerra M<strong>und</strong>ial,<br />
quando foram registrados ataques a sociedades recreativas e a estabelecimentos comerciais<br />
de teuto-brasileiros e escolas e jornais „estrangeiros“. As medi<strong>das</strong> adota<strong>das</strong> pelo Estado<br />
foram, contudo, muito menos abrangentes que aquelas adota<strong>das</strong> duas déca<strong>das</strong> depois.<br />
Assim, após o fim da Primeira Guerra, os clubes, jornais e escolas teuto-brasileiros puderam,<br />
rapidamente, se reestruturar e até aprof<strong>und</strong>ar suas atividades (SEYFERTH 2003, p. 53ss).<br />
149
150<br />
nalista do Estado Novo e „aculturar“ e „assimilar“ os imigrantes à nacionalidade<br />
brasileira, nos termos como a identidade nacional era definida no governo Vargas<br />
(ver SEYFERTH 1997). Assim, Rambo (1997a, 1997b), ao analisar os relatórios que<br />
documentam toda a investigação da polícia do Rio Grande do Sul sobre o tema,<br />
mostra que o „perigo nazista“ se restringia a algumas poucas pessoas e organizações<br />
identifica<strong>das</strong> e conheci<strong>das</strong> da polícia e não a um tipo de preferência política<br />
definida pela pertença étnica 11 :<br />
A maioria dos episódios continha, de fato, um potencial de periculosidade<br />
nada desprezível. Todos eles, contudo, se limitavam a grupos<br />
ou circunstâncias perfeitamente localiza<strong>das</strong> e identifica<strong>das</strong>. A polícia<br />
tinha instrumentos para neutralizá-los em sua ação. De outra parte,<br />
oitenta a noventa por cento da população de teuto-brasileiros encontrava-se<br />
fora do alcance e da influência exercida pelos postos<br />
avançados do nazismo. (RAMBO 1997b, p. 111)<br />
Também Geertz (1998, p. 12) mostra que, mesmo no caso de Santa Catarina,<br />
onde „os integralistas efetivamente venceram na quase totalidade dos municípios<br />
típicos de colonização alemã nas eleições municipais de 1936“, não se constata<br />
uma identificação expressiva da população com o nazismo. Isto é, o apoio ao<br />
integralismo pode ser explicado por razões de ordem interna da política brasileira<br />
e não pela identificação imediata pelos eleitores descendentes de alemães entre<br />
nazismo e integralismo. 12<br />
Apesar de sua extensão e intensidade, a campanha da nacionalização<br />
não levou ao desaparecimento da etnicidade teuto-brasileira que, conforme<br />
constata com acuidade Seyferth (1994, p. 23) „se atualizou, mantendo alguns<br />
identificadores culturais e descartando outros“. F<strong>und</strong>amentalmente,<br />
observa-se que o ataque à infra-estrutura comunicativa que permitia a preservação<br />
do uso da língua conforme a norma culta levou ao abandono do<br />
idioma ou ao recurso à „variedade dialetal local“, a qual podia prescindir dos<br />
meios de transmissão da cultura letrada como jornais, livros, etc., então proibidos<br />
(ALTENHOFEN 2004, p. 84). Destituídos do idioma, os teuto-brasileiros<br />
elevam a procedência como o traço identificatório f<strong>und</strong>amental. Desde en-<br />
11. A interpretação de Seyferth (2003, p. 55ss) sobre o vínculo entre os teuto-brasileiros e o<br />
nazismo parece particularmente esclarecedora. Mesmo reconhecendo a intensa atividade dos<br />
diretórios do NSDAP no sul do Brasil, a autora mostra que a influência nazista não altera o<br />
princípio f<strong>und</strong>amental de constituição da etnicidade teuto-brasileira f<strong>und</strong>ada na lealdade ao<br />
vínculo cultural com a Alemanha e à lealdade de cidadania ao Brasil, país tratado como pátria<br />
(Heimat). Recusavam, assim, a tratar o Brasil como país-anfitrião (Gastland), conforme esperava<br />
o nacional-socialismo dos Volksdeutschen (membros do povo alemão) que viviam no Brasil.<br />
12. Salta aos olhos que em todo o minucioso relato do Capitão Alencar Nogueira sobre as ações<br />
militares no Vale do Itajaí não há nenhuma prova f<strong>und</strong>amentada de vínculo direto da<br />
população-alvo da campanha com o nazismo. As acusações do capitão são basea<strong>das</strong><br />
unicamente no fato de que a população falava alemão o que, para ele, provava sua inclinação<br />
para o nacional-socialismo. A descrição abaixo referente a uma visita dos militares a um<br />
jardim de infância é, nesse sentido, exemplar:<br />
„Muitos dos garotinhos não falavam uma só palavra em lingua portuguesa, demonstração<br />
eloquente de que tanto em casa como na escola, encontravam um ambiente favorável ao<br />
desenvolvimento do nazismo“ (NOGUEIRA 1947, p. 115).
tão, „a ‚origem‘ alemã é a qualidade étnica f<strong>und</strong>amental, etnocentricamente<br />
associada a um ethos do trabalho simbolizado pela colonização” (SEYFERTH<br />
1994, p. 23, ver também SEYFERTH 2002).<br />
Várias déca<strong>das</strong> após a campanha de nacionalização, a presença de descendentes<br />
de imigrantes principalmente no Sul do Brasil ganhou, hoje, novos significados<br />
e novas formas de tratamento político. Assim, ao lado do explícito apoio do<br />
Estado à recuperação e reinvenção de festividades de caráter étnico (FLORES<br />
1997), busca-se, atualmente, através da combinação de esforços de organizações<br />
não governamentais articula<strong>das</strong> transnacionalmente e de governos locais, estaduais<br />
e diferentes ministérios estimular o multilinguismo no país, no sentido de<br />
rejuntar, pelo menos em parte, os cacos deixados pela era <strong>das</strong> políticas nacionalistas<br />
(OLIVEIRA 2005).<br />
2. Alemanha contemporânea:<br />
discriminação, Leitkultur, integração<br />
Diferentemente do padrão brasileiro de constituição nacional, seg<strong>und</strong>o o<br />
qual, espelhando o modelo francês, o que unifica a nação é o projeto comum de<br />
futuro, o princípio de pertença inscrito no auto-entendimento da nação alemã,<br />
é referido ao passado. Ou seja, a nação, seguindo a origem romântica sobre a<br />
qual está assente, é concebida, na história alemã, como o povo unificado pela<br />
cultura e pela ancestralidade comuns. Desse modo, a nação vai sendo construída<br />
imaginariamente como ligadura idealizada, capaz de reconciliar a natureza<br />
individual idiossincrática de cada um de seus membros com o coletivo<br />
nacional, supostamente predestinado à vida em comunidade (ver GIESEN 1999,<br />
p. 178). Esse tipo de construção simbólica da nação, ao não prever a possibilidade<br />
de incluir membros não portadores da ancestralidade alemã, acarreta, ao<br />
longo da história, um conjunto importante de conseqüências para a coexistência<br />
entre „nacionais“ e imigrantes e seus descendentes. As dificuldades, como se<br />
mostra abaixo, podem ser observa<strong>das</strong> tanto no âmbito <strong>das</strong> relações cotidianas<br />
quanto <strong>das</strong> políticas de imigração.<br />
Ainda que a literatura sobre imigrantes na Alemanha se concentre, de forma<br />
geral, no período pós-guerra, a história da imigração e <strong>das</strong> políticas imigratórias<br />
começa muito antes disso. Assim, em 1910 já trabalhavam no chamado Reino da<br />
Alemanha 1,26 milhões de trabalhadores estrangeiros, provenientes f<strong>und</strong>amentalmente<br />
de regiões da Polônia, Austria-Hungria e Rússia, o que fazia do país importante<br />
empregador de trabalhadores estrangeiros. Não obstante, prevalece no<br />
período anterior à Primeira Guerra M<strong>und</strong>ial, a política de contratação de trabalhadores<br />
por tempo limitado e para setores específicos, enquanto a saída de emigrantes,<br />
em on<strong>das</strong> sucessivas, funcionava como „válvula social“, na medida em<br />
que permitia que, nos momentos de baixa performance econômica e de crescimento<br />
<strong>das</strong> taxas de desemprego, parte da população afetada deixasse o país,<br />
evitando crises sociais de maior amplitude (cf. HA 2003, p. 67).<br />
No período subseqüente, o movimento de imigrantes na Alemanha é determinado,<br />
f<strong>und</strong>amentalmente, pelas guerras. Assim, durante a Primeira Guerra, órgãos<br />
públicos e empresas priva<strong>das</strong> recorrem amplamente ao trabalho compulsó-<br />
151
152<br />
rio de estrangeiros, mantidos em regime de semi-escravidão. No período entreguerras,<br />
o perfil dos imigrantes se modifica radicalmente, uma vez que há um forte<br />
declínio da contratação de trabalhadores estrangeiros e um dramático crescimento<br />
de fugitivos e asilados políticos provenientes, sobretudo, <strong>das</strong> regiões que<br />
formariam a União Soviética.<br />
Durante a Seg<strong>und</strong>a Guerra, estima-se que a Alemanha chegou a contar com 10<br />
milhões de trabalhadores forçados na economia de guerra, os quais em parte deveriam<br />
suprir a saída dos „membros do povo alemão“ (Volksdeutschen), enviados sistematicamente<br />
para o Leste europeu com o objetivo de ocupação da região. As<br />
conseqüências da Seg<strong>und</strong>a Guerra para os movimentos populacionais perduram<br />
após o fim do conflito e até pelo menos 1950, período em que cerca de 12 milhões<br />
de sobreviventes dos campos de concentração, prisioneiros de guerra e outros<br />
„desplaçados“ buscam (re)encontrar seu lugar de residência (OLTMER 2005).<br />
Com a divisão da Alemanha no período pós-guerra, desenvolvem-se duas<br />
histórias distintas da imigração. A República Democrática Alemã, além de asilados<br />
políticos reduz o recrutamento de estrangeiros a migrantes de uns poucos países,<br />
basicamente, Polônia, Vietnã e Moçambique, sendo que o total de imigrantes em<br />
todo o período de existência da Alemanha socialista não chega a ultrapassar a<br />
casa dos 1% do total da população. Eram, basicamente, imigrantes temporários,<br />
tratados como trabalhadores individuais vinculados a uma unidade de produção<br />
específica e sobre os quais pesava uma rígida disciplina e um duríssimo controle<br />
do Estado. Eram impedidos, por exemplo, de mudar sua ocupação ou mesmo<br />
de constituir família: quando uma estrangeira engravidava „prevaleciam como<br />
alternativas ou o aborto ou a deportação“ (BADE / OLTMER 2004).<br />
A República Federal Alemã se vê envolvida nos anos que se seguem à Seg<strong>und</strong>a<br />
Guerra, inicialmente, com a absorção de milhões de „desplaçados“, deportados<br />
e fugitivos políticos, entre esses, mais de 3 milhões de alemães orientais que<br />
buscaram asilo na Alemanha capitalista até 1961, quando, então, é construído o<br />
Muro de Berlim como forma de conter a perda de população pelo país socialista.<br />
A partir de meados da década de 1950, com a retomada do crescimento econômico,<br />
tem início a política de recrutamento de mão de obra estrangeira, através de<br />
acordos bilaterais com os países dos quais saíam os trabalhadores, quais sejam: Itália<br />
(1955), Espanha e Grécia (1960), Turquia (1961), Marrocos (1963), Portugal (1964),<br />
Tunísia (1965), Iugoslávia (1968). Os imigrantes que ingressaram no país, no âmbito<br />
de tal política de recrutamento, eram tratados como trabalhadores temporários<br />
(Gastarbeiter), esperando-se que esses regressassem a seu país de origem, tão logo<br />
deixassem de ser necessários para a economia alemã ou pudessem ser substituídos<br />
por nova leva de contratados, num idealizado sistema de rotação.<br />
Não obstante, tal rotatividade não se dá na forma esperada, de sorte que a<br />
maior parte dos Gastarbeiter permanece no país, juntando-se a eles, mais tarde, os<br />
demais membros da família que, porventura, tivessem ficado no país de origem<br />
(REISSLANDT 2005). Esse sistema de recrutamento de trabalhadores estrangeiros<br />
torna-se objeto de pesa<strong>das</strong> críticas, <strong>das</strong> quais se destacam duas.<br />
A primeira crítica diz respeito à preferência da Alemanha pelos imigrantes europeus<br />
e a recusa explícita ou velada de imigrantes provenientes da Ásia e da<br />
África. Schönwälder (2004) estuda os debates políticos que acompanham a defi-
nição <strong>das</strong> diretrizes imigratórias até o começo dos anos 1970, destacando, por<br />
exemplo, como no caso da contratação de trabalhadores portugueses, temendose<br />
a vinda de trabalhadores <strong>das</strong> colônias portuguesas, informa-se às autoridades<br />
de Portugal que „German employers were not interested in dark-skinned workers“<br />
(p. 250). A orientação racista dos agentes estatais responsáveis pelo recrutamento,<br />
explícita nesse caso, era na maior parte <strong>das</strong> vezes enunciada de modo menos<br />
evidente, conforme constata Schönwälder (2004, p. 250):<br />
Non-Europeans in particular were seen as potential permanent immigrants.<br />
But it is also hardly deniable that the ideas about the mentalities,<br />
character, life style, attitude to work etc. of Asians and Africans in<br />
general played a part in such reasoning and that their assumed characteristics<br />
were seen as incompatible with German values and patterns<br />
of life. The common term ‚Afro-Asians‘ itself illustrates how people<br />
of rather different origins were merged in one category which was<br />
then ascribed particular characteristics.<br />
A seg<strong>und</strong>a crítica ao sistema de recrutamento dos Gastarbeiter está relacionada<br />
com o foco exclusivamente econômico da política adotada, gerando o<br />
paradoxo celebrizado na frase irônica do escritor suíço Max Frisch: „Nós queríamos<br />
trabalhadores mas recebemos pessoas“ (apud ANNAN 2004, p. 14s). Ou<br />
seja, a lógica do sistema dos Gastarbeiter era contratar braços para responder à<br />
demanda de um mercado de trabalho em expansão, sem qualquer política<br />
orientada para promover o bem estar do imigrante (HA 2003). A orientação<br />
utilitarista e economicista da política migratória, de alguma maneira defendida<br />
ainda hoje na Alemanha, têm conseqüências extremamente danosas para os<br />
próprios imigrantes e suas famílias e para o conjunto da sociedade alemã, na<br />
medida em que projeta um modelo de sociedade, no qual todos estão integrados<br />
ao sistema econômico como trabalhadores e consumidores, mas uma parcela<br />
significativa da população está excluída, por definição do sistema político e<br />
dos sistemas de interação e convivência social da sociedade majoritária. Voltaremos<br />
a esse ponto mais adiante.<br />
Em 1973, a recessão econômica motivada pela crise do petróleo leva o governo<br />
alemão a suspender a política pública de recrutamento de trabalhadores. Desde<br />
então, os imigrantes que entram no país são, f<strong>und</strong>amentalmente, familiares dos imigrantes<br />
vindos nas fases anteriores, asilados políticos, trabalhadores contratados individualmente,<br />
além, obviamente, da imigração não legalizada, sobre a qual não há<br />
cifras precisas. 13 A tabela 1 abaixo fornece um quadro da evolução absoluta e proporcional<br />
da população estrangeira na Alemanha nas últimas déca<strong>das</strong>, enquanto a tabela<br />
2 indica a composição por país de origem da população de imigrantes.<br />
13. Cabe também destaque aos portadores da cidadania alemã que viviam nas antigas repúblicas<br />
soviéticas e nos demais países do leste europeu e que se mudam para a Alemanha com a<br />
derrocada do socialismo. Ainda que não constem nas estatísticas como estrangeiros, esses<br />
chamados „Spätaussiedler“ enfrentam, muitas vezes, problemas de incorporação à sociedade<br />
alemã semelhantes àqueles enfrentados pelos demais imigrantes. No período de 1987 a<br />
1999, o número de imigrantes que entram no país na condição de „Spätaussiedler“ chega a<br />
2,7 milhões ().<br />
153
154<br />
Fonte: Statistisches B<strong>und</strong>esamt, Ausländerregister e B<strong>und</strong>esamt für Migration <strong>und</strong> <strong>Flüchtlinge</strong><br />
* População estrangeira se refere aqui a habitantes que, independentemente do local de<br />
nascimento, não possuem a nacionalidade alemã.<br />
**O salto demográfico no período em 1981 e 1991 se deve à reunificação <strong>das</strong> duas Alemanhas<br />
em 1990.<br />
*** A queda absoluta e relativa do número de população estrangeira entre 2001 e 2005 é<br />
atribuída a mudanças na forma de apuração dos dados e não a um efetivo declínio no número<br />
de estrangeiros.<br />
Tabela 2<br />
Composição da população estrangeira por nacionalidade e<br />
local de nascimento – República Federal da Alemanha, 2005<br />
País da<br />
nacionalidade<br />
Nascidos na Alemanha<br />
(em mil habitantes)<br />
Tabela 1<br />
População total e estrangeiros na República Federal da Alemanha<br />
em anos selecionados<br />
Ano População total População estrangeira Participação de<br />
(em mil habitantes) (em mil habitantes)* estrangeiros (em %)<br />
1951 50809 506 1,0<br />
1961 56175 686 1,2<br />
1971 61503 3439 5,6<br />
1981 61719 4630 7,5<br />
1991** 80275 5882 7,3<br />
2001 82440 7319 8,9<br />
2005*** 82438 6756 8,2<br />
Nascidos fora da Alemanha<br />
(em mil habitantes)<br />
Total (em mil<br />
habitantes)<br />
Turquia 604 1160 1764<br />
Itália 162 379 541<br />
Sérvia e Montenegro 123 370 493<br />
Polônia 14 313 327<br />
Grécia 85 224 310<br />
Outros países 397 2923 3320<br />
Total 1385 5371 6756<br />
Fonte: Statistisches B<strong>und</strong>esamt, Ausländerregister e B<strong>und</strong>esamt für Migration <strong>und</strong> <strong>Flüchtlinge</strong><br />
O crescimento do número de imigrantes ao longo <strong>das</strong> déca<strong>das</strong> de 1960 e 1970<br />
indicado na Tabela 1 motiva, a partir de meados dos anos 1970, e mais efetivamente<br />
ao longo dos anos 1980, um crescente debate público e no âmbito <strong>das</strong><br />
esferas governamentais em torno da presença dos imigrantes no país, abrindo<br />
espaço para discursos nacionalistas e políticas protecionistas visando restringir o
acesso de estrangeiros ao mercado de trabalho alemão. Assim, tanto o governo<br />
liberal-democrata no começo dos anos 1980, quanto o governo democrata-cristão<br />
do Chanceler Helmut Kohl, a partir de 1983, buscam manter e ampliar as<br />
diretrizes restritivas da política migratória, basea<strong>das</strong> f<strong>und</strong>amentalmente na „manutenção<br />
da suspensão do programa de contratações, na restrição à entrada de<br />
familiares de imigrantes e no fomento da disposição de retorno dos imigrantes [a<br />
seus países de origem]“ (REISSLANDT 2005).<br />
Até os anos 1990, faltava, portanto, qualquer sinalização política clara de que<br />
os imigrantes eram benvindos no país e que poderiam, de algum modo, ser integrados<br />
política, cultural e simbolicamente à uma nação, cujo laço de pertença<br />
primordial não fosse mais a ancestralidade. Timidamente, tal possibilidade começa<br />
a despontar em alguns dos debates políticos dos anos 1990 que, espelhando as<br />
discussões e políticas de reconhecimento multicultural verifica<strong>das</strong> particularmente<br />
no Canadá e, na Europa, no Reino Unido e nos Países Baixos, busca construir e<br />
valorizar a imagem da Alemanha como nação multicultural (LEGGEWIE 2004). O<br />
apelo ao país multicultural, contudo, nunca chegou a se tornar hegemônico,<br />
enfrentando a resistência tanto dos partidos e movimentos notoriamente de direita,<br />
quanto do próprio conjunto de forças do centro do espectro político. Para<br />
a direita, a Alemanha não podia e não pode perder suas características etnoculturais,<br />
devendo, para tanto, simplesmente renunciar aos imigrantes 14 .<br />
Mais ao centro, vai se articulando o projeto que se tornaria hegemônico, qual<br />
seja, aquele que enfatiza a necessidade da „integração dos estrangeiros“ e de sua<br />
conversão a valores apresentados como constitutivos da nação e do Estado alemães,<br />
basicamente: o respeito à constituição, o dever de enviar os filhos à escola<br />
e a igualdade de direitos entre homens e mulheres.<br />
O campo de debates e ações concretas que se articula em torno da idéia de<br />
integração não é homogêneo ou uniforme, contendo em seu interior desde setores<br />
que defendem claras políticas assimilacionistas até setores mais moderados<br />
que acreditam que a integração de imigrantes é compatível com um certo grau<br />
de atendimento de deman<strong>das</strong> de natureza etno-culturais. Entre os usos mais<br />
assimilacionistas da idéia de integração, encontram-se os que defendem que a<br />
adaptação dos imigrantes à cultura hegemônica alemã (deutsche Leitkultur) deve<br />
representar, em última instância, o critério para definir se um estrangeiro pode ou<br />
não permanecer no país (ver OBERNDÖRFER 2001). Ainda que o discurso da<br />
„Leitkultur“ tenha perdido seu apelo político, parece-me que o padrão de „política<br />
14. Esse desejo ficou expresso de forma trágica e triste nos atentados contra os centros de<br />
triagem de candidatos a asilo político dos anos 1992-1993 em cidades da antiga Alemanha<br />
oriental e que contaram com o apoio tácito ou explícito de boa parte da população local. Ao<br />
mesmo tempo, contudo, os ataques covardes aos candidatos a asilo foram repudiados por<br />
sucessivas passeatas e manifestações públicas, as quais representaram a maior mobilização<br />
cívica da Alemanha do pós-guerra até então (BÖCKER / THRÄNHARDT 2003).<br />
Um exemplo recente de como a imagem do país „racial“ e etnicamente homogêneo persiste<br />
entre a direita alemã foi proporcionado pelo Partido Nacional-Democrático da Alemanha<br />
(NPD) na véspera da Copa do M<strong>und</strong>o de Futebol em 2006. Em um de seus cartazes, o partido<br />
exibia o tronco do jogador negro Patrick Owomoyela, com o uniforme da seleção acompanhado<br />
dos dizeres: „Branco – cor não apenas do uniforme. Por uma equipe verdadeiramente NACIONAL“<br />
(„Weiß - nicht nur eine Trikotfarbe - Für eine echte NATIONAL-Mannschaft“; taz 01/04/06).<br />
155
156<br />
de integração“ que vem sendo implementado, hoje, é, conforme se mostra abaixo,<br />
bastante tributário da idéia de que existe uma cultura nacional hegemônica, à<br />
qual o estrangeiro deve procurar se integrar.<br />
A coalizão verde-socialdemocrata que governou o país entre 1998 e 2005,<br />
procurou, conforme seus próprios termos, produzir uma inflexão positiva no debate<br />
sobre imigração, propondo o pleno reconhecimento de que a Alemanha é,<br />
hoje, um Einwanderungsland, isto é, um país claramente marcado pela presença<br />
de imigrantes (WENGELER 2006) 15 . Algumas medi<strong>das</strong> importantes foram<br />
introduzi<strong>das</strong> nesse período, sendo a principal delas a mudança nas regras para a<br />
concessão da cidadania alemã. Abandona-se, nesse momento, o princípio do „ius<br />
sanguinis“ em favor do direito de solo, isto é, desde janeiro de 2000, crianças que<br />
nascem na Alemanha, filhos de pais de estrangeiros e cuja mãe ou pai vive no país<br />
há pelo menos 8 anos, passam a ser portadoras da nacionalidade alemã.<br />
Para além <strong>das</strong> mudanças planeja<strong>das</strong> pelo governo, foi o 11 de setembro de<br />
2001 que produziu a inflexão real nos discursos e, de algum modo, nas políticas<br />
volta<strong>das</strong> para a imigração na Alemanha. Depois dos atentados nos Estados Unidos,<br />
organizados e executados com o apoio da célula terrorista de Hamburgo,<br />
medos e paranóias latentes se tornaram públicos, produzindo on<strong>das</strong> de franca<br />
xenofobia e de hostilidade aberta contra os imigrantes, sobretudo os muçulmanos<br />
(ATES 2006). Desse modo, o temor da Überfremdung, isto é, da sobreestrangeirização<br />
da Alemanha, e o apelo por um maior controle social sobre os<br />
estrangeiros, tornaram-se eixos f<strong>und</strong>amentais do debate em torno da imigração:<br />
Entre uma ordem claramente baseada nos direitos de cidadania e os<br />
defensores de uma formação estatal restritiva, autoritária e com ênfase<br />
na segurança, a tendência é que o pêndulo pese para a seg<strong>und</strong>a direção.<br />
(TRAUTMANN 2006, p. 149)<br />
O clamor por mais segurança e mais controle sobre os estrangeiros apresentou<br />
impactos evidentes sobre as políticas de imigração e integração adota<strong>das</strong> a<br />
partir desse período. Assim por um lado, cresceu a vigilância sobre os imigrantes,<br />
principalmente muçulmanos, verificando-se que tanto a polícia quanto o organismo<br />
de monitoramento e proteção do Estado de Direito (Verfassungsschutz), criado<br />
no pós-guerra como anteparo a uma eventual ameaça à ordem pela direita<br />
nacionalista, vem dedicando parte importante de seus esforços à fiscalização da<br />
população e <strong>das</strong> organizações muçulmanas, mesmo aquelas com objetivos claramente<br />
compatíveis com os princípios constitucionais (SCHIFFAUER 2006).<br />
No plano <strong>das</strong> políticas de integração propriamente ditas, adota-se um conjunto<br />
de medi<strong>das</strong> com o fim explícito de disciplinar as preferências culturais dos<br />
15. O reconhecimento político da condição da Alemanha como Einwanderungsland é, em face<br />
dos próprios desenvolvimentos demográficos, tardio, já que, dada a composição etária da<br />
população de imigrantes em relação à população autóctone, to<strong>das</strong> projeções indicam um<br />
aumento rápido e crescente da chamada população com Migrationshintergr<strong>und</strong>, ou seja<br />
com histórico de imigração conforme a expressão politicamente correta cunhada para<br />
caracterizar pessoas cuja mãe e/ou cujo pai não nasceu na Alemanha e/ou não possui a<br />
nacionalidade alemã. Entre as crianças menores de 5 anos residentes na Alemanha, 32% do<br />
total apresentam histórico de imigração, cifra que chega a mais de 60% em cidades maiores<br />
como Nuremberg, Frankfurt sobre o Meno e Stuttgart (SPIEWAK 2007).
imigrantes, fortalecendo a identificação desses com a „cultura alemã“ e os supostos<br />
„valores políticos nacionais“. Exemplos desse tipo de política são os chamados<br />
cursos de integração, cuja freqüência é obrigatória para quem deseja se naturalizar<br />
ou receber certos benefícios do Estado social. Nesses cursos, ensina-se a língua<br />
alemã e aspectos da vida, da história e da cultura do país, conforme expresso<br />
na própria legislação que os regulamenta:<br />
O curso se presta a:<br />
1. Aquisição de conhecimentos suficientes da língua alemã [...].<br />
2. Transmissão de conhecimentos cotidianos como também conhecimentos<br />
sobre a ordem legal, a cultura e a história na Alemanha, em especial<br />
também dos valores do Estado democrático da República Federal<br />
da Alemanha e dos princípios do Estado de Direito, igualdade de tratamento,<br />
tolerância e liberdade religiosa.<br />
(Integrationsverordnung, B<strong>und</strong>esgesetzblatt, ano 2004, parte I no. 68,<br />
publicado em Bonn em 17 de dezembro 2004).<br />
De forma similar, os discursos políticos e a simbologia que recobrem a atuação<br />
dos governos federal e estaduais no campo da imigração e integração, vêm sendo<br />
igualmente pautados pela idéia do primado da cultura nacional e da língua<br />
alemã. Assim, por exemplo, na chamada Primeira Cúpula Nacional da Integração<br />
(Nationaler Integrationsgipfel) que reuniu a Chanceler Merkel e lideranças <strong>das</strong><br />
organizações de imigrantes, agentes da economia, dos meios de comunicação e<br />
outras organizações civis em julho de 2006, decidiu-se que se elaboraria um programa<br />
que coordenasse as diversas ações na área da integração, dando ao programa<br />
o nome de Plano Nacional de Integração (Nationaler Integrationsplan) 16 .<br />
Também nos pronunciamentos <strong>das</strong> autoridades responsáveis pelo relacionamento<br />
com imigrantes, a ênfase no nacional está sempre presente, definindo-se a priori o<br />
que se entende efetivamente por nacional. Vale aqui, como exemplo, a posição do<br />
Secretário do Interior da Bavária, Günter Beckstein:<br />
Quando culturas distintas convivem, existe o perigo do surgimento de<br />
sociedades paralelas. Nesse caso há a grande ameaça de que a vida<br />
comum se torne uma vida de uns contra os outros. Eu me reporto<br />
aqui aos exemplos da sociedade americana com suas black cities e<br />
Chinatows, mas também aos Banlieus na França e aos subúrbios ingleses<br />
[...]. Quando falo de cultura hegemônica [Leitkultur], não me refiro<br />
ao conceito que causa mal-entendido [...]. Nós temos na Alemanha<br />
16. A seg<strong>und</strong>a cúpula nacional da integração que teve lugar em julho de 2007 teve seu prestígio<br />
arranhado pela recusa de quatro organizações representantes dos imigrantes turcos em tomar<br />
parte no evento. A recusa buscava dar forma ao repúdio <strong>das</strong> organizações à nova legislação<br />
contra estrangeiros aprovada pouco antes da conferência e que determina que „esposas que<br />
queiram se juntar a seus maridos turcos residentes na Alemanha têm que ter pelo menos 18<br />
anos e saber pelo menos 200 a 300 palavras de alemão“ (DROBINSKI 2007, p. 2). A intenção do<br />
legislador com o dispositivo é inibir o casamento arranjado e impedir que as imigrantes, por não<br />
saber alemão, fiquem isola<strong>das</strong> e indefesas diante da opressão masculina. As organizações<br />
representantes de imigrantes, contudo, consideram que a legislação fere a constiuição e é<br />
etnicamente discriminatória, na medida em que, por exemplo, „americanos e japoneses estão<br />
excluídos <strong>das</strong> regras mais duras de imigração de suas cônjuges.“ (PRANTL 2007, p. 11).<br />
157
158<br />
não só que observar a ordem legal-formal, mas também a ordem de<br />
valores que é a base da primeira ordem. (Zeitonline 41/2005)<br />
Também a ênfase no aprendizado da língua alemã é, muitas vezes, exagerado,<br />
sugerindo-se o abandono da língua materna, como fez, recentemente o Ministro<br />
do Interior Wolfgang Schäuble em diálogo público com um jovem pai turcoalemão,<br />
residente em Berlim. O Ministro se mostra interessado em saber porque o<br />
jovem escolheu uma mulher da Turquia para se casar e aconselha que juntamente<br />
com a esposa, que ainda não falava alemão, abrissem mão do idioma turco na<br />
comunicação com a filha:<br />
O Senhor tem que cuidar agora para que sua esposa aprenda direito o<br />
alemão e fale alemão com sua filha. (DIE ZEIT, Leben, 31/05/2007)<br />
Esse tipo de definição prévia do que é o ‚nacional‘ e quem são os seus portadores<br />
e a sugestão de que falta disposição dos estrangeiros para se ‚integrar‘, que têm<br />
lugar na política institucionalizada, encontra correspondência na cobertura dos<br />
meios de comunicação de massa de questões liga<strong>das</strong> à imigração. Predominam<br />
na cobertura, conforme mostra o estudo detalhado de Eder/Rauer/Schmidtke<br />
(2004), a identificação dos imigrantes com situações-problema (desemprego, fracasso<br />
escolar) e a indicação de que a insuficiente integração decorre da baixa<br />
identificação do imigrante com os valores da sociedade nacional.<br />
Conforme os autores esse tipo de representação, ao invés de proporcionar a<br />
efetiva integração, afasta os imigrantes da sociedade majoritária, na medida em<br />
que os torna mero objeto no lugar de sujeito da política e cristaliza as fronteiras<br />
simbólicas que separam os incluídos e os excluídos da comunidade nacional. No<br />
lugar de grupos estanques separados por linhas identificatórias rígi<strong>das</strong>, a integração<br />
precisaria ser pensada, conforme os autores, como um processo dinâmico de<br />
negociação política, no qual a definição do que é a pertença e o nacional não são<br />
definidos de antemão, mas no âmbito <strong>das</strong> próprias interações sociais:<br />
Integração não deveria mais ser pensada como um processo unilateral<br />
de adaptação e internalização dos parâmetros que valem na sociedade<br />
majoritária. Cabe, na verdade, conectar a auto-percepção dos imigrantes,<br />
suas construções identitárias e orientações para a ação com<br />
as exigências e expectativas defini<strong>das</strong> e comunica<strong>das</strong> pela sociedade<br />
majoritária. A idéia que f<strong>und</strong>a os modelos de integração predominantes<br />
e que postula a existência de formas de identidade coletivas relativamente<br />
estáveis e defini<strong>das</strong> pela tradição, não faz jus ao fato de que<br />
identidade é sempre o resultado de processos públicos de negociação.<br />
(EDER et alii 2004, p. 273s).<br />
3. À guisa de conclusão: convergências e indagações<br />
As diferenças entre as políticas volta<strong>das</strong> para imigração no Brasil dos anos<br />
1930 e 1940 e a Alemanha contemporânea são seguramente gigantescas e provêm<br />
não só da distância cronológica entre os dois contextos visitados, mas também<br />
da própria natureza distinta <strong>das</strong> dinâmicas de constituição da nação nos dois
países. Só mesmo uma comparação sistemática dos dois contextos que fosse baseada<br />
em estudo muito mais aprof<strong>und</strong>ado que a aproximação sumária feita no presente<br />
artigo, poderia indicar, efetivamente, onde se encontram as diferenças e<br />
similitudes entre os dois contextos.<br />
Não obstante, saltam aos olhos algumas convergências, que não deixam de<br />
ser irônicas, na medida em que, no contexto brasileiro, os alemães eram objeto de<br />
algumas <strong>das</strong> políticas nacionalizantes que seus compatriotas buscam, hoje,<br />
implementar na Alemanha. Gostaria de destacar, particularmente, dois pontos<br />
comuns entre as políticas migratórias no Brasil e na Alemanha, a saber: i) a crença<br />
no primado da identidade nacional como eixo articulador da integração e ii) a<br />
utilização <strong>das</strong> relações de gênero como critério de diferenciação entre o nós (a<br />
nação) e eles (os imigrantes, genericamente).<br />
Tanto a campanha da nacionalização brasileira quanto as medi<strong>das</strong> de<br />
integração adota<strong>das</strong> atualmente na Alemanha estão basea<strong>das</strong> na idéia de que<br />
existe um conjunto de valores e formas de vida que emana da história nacional<br />
para constituir a identidade nacional, entendida como o cimento simbólico que<br />
une os diferentes indivíduos que fazem parte da nação. O elemento mais visível<br />
desse substrato cultural correspondente à nação seria o idioma comum a ser<br />
reconhecido por todos os que desejam fazer parte da nação ou residir no âmbito<br />
dos limites territoriais do Estado-nação em questão. A justificativa para a importância<br />
da aquisição do idioma no caso da campanha de nacionalização é meramente<br />
simbólico-afetiva, isto é, esquecer o idioma de origem representaria a prova<br />
da adesão e sua lealdade à nova pátria. No caso alemão, usa-se adicionalmente<br />
o argumento da igualdade de oportunidades, isto é, quem não sabe o ‚idioma<br />
nacional‘ teria mais dificuldade de se integrar ao mercado de trabalho, interagir<br />
com o entorno social, etc. – argumento, diga-se, nem sempre plausível 17 . Tanto no<br />
caso brasileiro, como no caso alemão, o aprendizado do novo idioma não é<br />
apresentado como ganho cultural adicional, mas como imposição e, muitas vezes,<br />
como substitutivo para a língua materna.<br />
Também em ambos os casos, os imigrantes são apresentados nos discursos<br />
públicos como ameaça à segurança, aos valores e aos modos de vida nacionais<br />
(ver GHADBAN 2003). Nessas representações os imigrantes aparecem, de forma<br />
genérica e indiferenciada, como um bloco mais ou menos homogêneo, onde<br />
diferenças individuais pouco contam. To<strong>das</strong> essas circunstâncias operam não em<br />
favor da integração, entendida como um crescente processo de interpenetração<br />
e interação entre grupos de pessoas que se apresentam como separa<strong>das</strong>. Ao contrário:<br />
separam, por completo, aquilo que supostamente se quer juntar.<br />
Algo similar se dá com as construções de gênero. Essas são utiliza<strong>das</strong> como<br />
17. O exemplo do conselho do ministro do interior ao jovem turco mencionado acima é expressivo.<br />
Nada indica que uma criança, que aprendesse alemão com a mãe não fluente no idioma<br />
poderia ter melhores oportunidades sociais que uma criança que aprendesse turco com a<br />
mãe turca e, mais tarde, na escola, alemão. Sobretudo quando, como é o caso, o local de<br />
residência é o bairro de Kreuzberg em Berlim, região habitada por uma expressiva população<br />
de origem turca e onde boa parte do comércio e da prestação de serviços requer o idioma<br />
turco, as chances da criança bilingüe seriam obviamente maiores e não menores que as<br />
chances da criança monoglota no alemão, preferida pelo ministro.<br />
159
160<br />
marca identitária, de sorte a fazer dos padrões observados no grupo definido<br />
como ‚o outro da nação‘, a prova mesma de que não pertencem à comunidade<br />
nacional. No Brasil, são as relações igualitárias verifica<strong>das</strong> entre homens e mulheres<br />
de descendência alemã que supostamente os fariam diferentes da nação. Na<br />
Alemanha contemporânea, ocorre o inverso, ou seja, supõe-se que a igualdade<br />
de oportunidades para ambos os gêneros é traço que define a nacionalidade<br />
alemã e dificulta a integração, sobretudo, dos muçulmanos, já que esses estariam<br />
impedidos, por suas convicções religiosas, de reconhecer homens e mulheres<br />
como portadores dos mesmos direitos. O que não se leva em conta, nessa forma<br />
de argumentar, é que a igualdade entre homens e mulheres não é traço étnico do<br />
‚povo alemão‘, mas conquista política <strong>das</strong> lutas feministas que se encontra inscrita<br />
na constituição do país e na legislação européia, tendo, portanto, efeito vinculante<br />
para todos que vivam no território da União Européia. Há, portanto, mecanismos<br />
efetivos para impor o respeito à igualdade de homens e mulheres a todos, independentemente<br />
<strong>das</strong> supostas preferências culturais de grupos determinados.<br />
De todo modo, na forma como vêm sendo conduzida, as políticas que deveriam<br />
promover a igualdade de gênero entre a população muçulmana têm servido,<br />
na maior parte dos casos, para estigmatizar as muçulmanas e aumentar a opressão<br />
sobre elas. Assim, quando se proíbe as professoras primárias, como acontece<br />
em alguns estados federados da Alemanha, de cobrir suas cabeças com o véu<br />
muçulmano, mesmo quando estas declaram utilizá-lo por vontade e arbítrio próprios,<br />
não se está produzindo igualdade de oportunidades, mas restringindo a<br />
liberdade individual e o acesso às oportunidades sociais 18 .<br />
Cabe, por fim, destacar que as políticas de assimilação no Brasil e de integração<br />
na Alemanha têm em comum o fato de partirem de uma noção de cultura como<br />
totalidade homogênea e da idéia de que a identidade étnica individual é uma<br />
entidade que existe, independentemente <strong>das</strong> situações efetivas de contato social.<br />
Isto é, os formatos de políticas de assimilação ou integração planejados têm como<br />
premissa a idéia de que alguém que possa ser identificado como alemão ou descendente<br />
de alemão, no caso brasileiro, ou como turco ou descendente de turco<br />
na Alemanha, apresentará invariavelmente um conjunto de preferências culturais<br />
e disposições para se comportar conforme um modelo próprio a essas unidades<br />
culturais: a identidade alemã, a identidade turca. Contra essa concepção,<br />
autores como Hall (1992), Gilroy (2001, 2004, 2005) e Pieterse (2004, 2007) vêm<br />
defendendo um conceito dinâmico de cultura, o qual descarta tanto a homogeneidade<br />
<strong>das</strong> culturas nacionais quanto a referência à identidade étnica como<br />
um estoque prévio de disposições e preferências culturais. Conforme essa noção<br />
dinâmica de cultura, as identidades culturais são formas provisórias e contingentes<br />
de articulação de uma determinada posicionalidade circunstancial no bojo<br />
de uma relação particular. Isto é, a identidade individual e do grupo não é pré-<br />
18. O primeiro levantamento representativo sobre o tema preparado pela F<strong>und</strong>ação Konrad<br />
Adenauer, ligada ao partido democrata-cristão, mostra que a expressiva maioria <strong>das</strong><br />
muçulmanas investiga<strong>das</strong> declara portar o véu exclusivamente por vontade própria e que<br />
não percebem o hábito como reprodução da opressão masculina. Não obstante, se sentem<br />
como cidadãs de seg<strong>und</strong>a classe na Alemanha, não por conta da opressão religiosa, mas<br />
pela discriminação contra estrangeiras e estrangeiros (DIE ZEIT 14/09/2006).
política, mas sim definida a partir <strong>das</strong> informações e possibilidades de reconhecimento<br />
comunica<strong>das</strong> pelo entorno social, num momento determinado e diante<br />
de uma situação específica.<br />
As alusões a identidades culturais nacionais, religiosas, regionais, etc. contam<br />
na medida em que constituem formas estabeleci<strong>das</strong> e socialmente dif<strong>und</strong>i<strong>das</strong> de<br />
organização discursiva de um repertório complexo e muito variado de atitudes,<br />
formas de comportamento, disposições morais, etc. Nesse sentido, referências,<br />
por exemplo, a turcos, brasileiros, alemães, muçulmanos, europeus têm importância<br />
para o convívio intercultural não porque definem a priori disposições identitárias<br />
coletivas e individuais que necessariamente se reproduzirão, como uma programação<br />
cultural inescapável, nas situações efetivas de interação, mas sim porque<br />
pré-determinam expectativas <strong>das</strong> partes e obrigam os envolvidos a se posicionar<br />
em relação a elas. Nesse sentido, as políticas nacionalistas de assimilação como<br />
aquelas que se verificaram no Brasil ou de integração como aquelas que vêm<br />
sendo observa<strong>das</strong> na Alemanha, operam como sistemas de referências externas<br />
que podem levar os grupos que supostamente deveriam integrar, a, reativamente,<br />
buscar petrificar as fronteiras culturais que os definem como grupo. Isto é, quando<br />
os sinais externos indicam o risco da estigmatização e conotação negativa <strong>das</strong><br />
marcas culturais atribuí<strong>das</strong> ao grupo, os laços internos são fortalecidos e as barreiras<br />
identitárias que supostamente deveriam ser atenua<strong>das</strong> são, na verdade,<br />
recria<strong>das</strong>, recodifica<strong>das</strong> e fortaleci<strong>das</strong>. Conforme mostrado, assim se deu no caso<br />
dos teuto-brasileiros que, mesmo perdendo sua vida associativa e seu idioma – o<br />
que seguramente representou uma perda para todo o país –, reconstituíram sua<br />
etnicidade através de outros marcadores identitários. Em que medida o mesmo<br />
pode estar se dando na Alemanha, sobretudo com relação à população muçulmana<br />
– permanece ainda uma questão aberta.<br />
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Prof. Dr. Sérgio Costa se formou em Ciências Econômicas e Sociologia pela Universidade<br />
Federal de Minas Gerais e obteve o doutorado e a livre docência em sociologia pela<br />
Universidade Livre de Berlim. É pesquisador do Centro Brasileiro de Análise e Planejamento<br />
(CEBRAP, São Paulo) e, atualmente, professor visitante da Universidade de Flensburg,<br />
Alemanha (2006-2007). Suas áreas de pesquisa, publicação e atuação profissional são<br />
sociologia política, sociologia comparativa e teoria social contemporânea. Seus temas de<br />
especialização são democracia e diferenças culturais, racismo e anti-racismo, movimentos<br />
sociais e política transnacional.<br />
163
Muro de Berlim, Alemanha, 2002<br />
Foto: Adri Felden/Argosfoto; incluída na exposição itinerante Berlim, Berlin, exibida em 2006 em<br />
São Paulo (Instituto Martius-Staden), Valinhos, Sto. André, Florianópolis, em 2007 em Apucarana.
Bahnhof Zoo<br />
„Nós sempre teremos Berlim“<br />
(Estação Ferroviária<br />
Central em Berlim, ao lado<br />
do Jardim Zoológico)<br />
Porque os trens estão<br />
fugindo de Berlim e as pessoas<br />
querem chegar sem sair, elas se<br />
beijam. Meninos, meninas,<br />
meninos/meninas, meninas/<br />
meninos se babam e se lambem<br />
às cãibras. E se puxam sem<br />
pular nas portas que fecham<br />
esmagando biscoitos e bengalas.<br />
Os cães emocionados<br />
enforcam-se nas correntes. Os<br />
perus dos sanduíches incham<br />
nos traficantes. Bufam locomotivas<br />
impacientes. Não há apito<br />
que faça parar as despedi<strong>das</strong>.<br />
Pan<strong>das</strong>, jacarés e falcões<br />
chacoalham as grades, enquanto<br />
carregadores solitários<br />
encoxam bagagens.<br />
(Berlim Ocidental<br />
Alemanha – 1998)<br />
Os turcos<br />
Fernando Bonassi<br />
São Paulo<br />
Textos escritos durante o período de vigência da bolsa de artes do DAAD, em 1998.<br />
Quando Suleyman pousou em<br />
Berlim o muro já tinha desaparecido.<br />
Chegou ofegando de tanto<br />
correr daquela aldeia onde se<br />
tropeça na entrada e se cai<br />
depois da saída. Na época pensou<br />
que os alemães falavam sózinhos<br />
porque era o seu jeito de pensar.<br />
Não tinha visto muitas pessoas até<br />
então, mas sabia que poderiam<br />
ser muito diferentes de um lugar<br />
pro outro. Agora, no seu trailer<br />
de donners, procura se vigiar.<br />
Vendendo os sanduíches mais<br />
baratos de Kreuzberg, já sabe que<br />
a Alemanha não está falando<br />
sozinha porque pensa, mas que é<br />
quase o contrário disso.<br />
(Berlim Ocidental<br />
Alemanha 1998)<br />
Despojos de guerra<br />
O pai de Karin foi preso bem no dia 7 de maio de 1945. Ela tinha seis<br />
meses. Os soviéticos queriam a forra de Leningrado sem vergonha e o<br />
mandaram pra Sos’va. Ninguém soube o que ele fez, a ponto de envergar<br />
to<strong>das</strong> as unhas pra sempre. No dia em que ele voltou, 10 anos depois, com os<br />
últimos prisioneiros que Adenauer foi buscar em Moscou, a mãe de Karin<br />
tinha ido drenar pântanos perto de Oth-Marschen. Quando Karin viu aquele<br />
homem parado na porta, foi logo oferecendo um prato de comida, pois era o<br />
certo de fazer com estranhos na época. (Hamburgo – Alemanha – 1998)<br />
165
166<br />
Um caminhão de coisas<br />
Eduardo está morando à beira de um dos maiores anéis viários de<br />
Berlim. O final e começo de quatro ou cinco rodovias enovelam-se<br />
bem embaixo da sala. Por isso mudou-se pra lá, sublocando os dois<br />
outros cômodos. Há um corredor que leva aos quartos, direto da<br />
porta de entrada. Assim, mal vê as pessoas que vivem na casa. Toda<br />
noite, ao chegar do trabalho, sai pra varanda e senta-se na poltrona<br />
que passa os dias sob sol e chuva. Há tempos esse móvel deixou de ser<br />
„apenas encardido“. Eduardo fica ali, tomando sopa de copinho,<br />
deixando aqueles caminhões de coisas encherem sua cabeça.<br />
(Berlim Ocidental – Alemanha – 1998)<br />
Intriga internacional<br />
Tensão no Aeroporto de Hamburgo. Esquadrão de bombas<br />
interdita Terminal 4 com 6 cães farejadores, 85 homens, 12 Opel<br />
Astra com 1 mês de uso e 9 caminhões de bombeiros. O fluxo é<br />
interrompido até Alsterkrugchaussee, onde 3 UTIs móveis ficam de<br />
motor ligado. Fitas amarelas e vermelhas estendi<strong>das</strong> em toda área.<br />
Policiais bilíngües evacuam turistas. Atrás do escudo blindado, um<br />
agente ajoelha-se e aponta detetor de metais pras 2 malas<br />
abandona<strong>das</strong>. Quando o velho distraído e de sorvete na mão<br />
aparece pra buscá-las, todos querem matá-lo... de mentirinha.<br />
(Hamburgo – Alemanha – 1998)<br />
São Petersburgo 1998<br />
Durante o cerco de Leningrado, Yuri gostava do inverno por<br />
três razões: parava os alemães, alguma coisa chegava pela trilha do<br />
Ladoga congelado e os cadáveres deixavam de feder. Enquanto<br />
esperavam por isso, a mãe de Yuri lhe dava um cinto pra chupar.<br />
Era uma época em que as pessoas morriam tanto que estavam<br />
sempre se despedindo. Yuri e sua mãe também comeram outras<br />
coisas que não eram exatamente de comer... mas ele não quer falar<br />
sobre seu pai. O que importa é que pelo menos os dois sobraram e<br />
hoje Yuri nem liga que suas calças fiquem caindo.<br />
(Colonia – Alemanha – 1998)
História da fotografia alemã<br />
No dia quinze de agosto de mil novecentos e sessenta e um, o<br />
soldado da então República Democrática da Alemanha, Hans<br />
Conrad Schumann, nascido na Seg<strong>und</strong>a Guerra M<strong>und</strong>ial, sai<br />
correndo de Berlim Oriental, cruza a chamada „terra de ninguém“,<br />
solta o fuzil, põe o pé direito na cerca de arame farpado que logo<br />
virará muro, é fotografado pra História, pisa com pé esquerdo em<br />
Berlim Ocidental, à época Alemanha Federal, sorri, é abraçado e<br />
continua correndo até o dia vinte de junho de mil novecentos e<br />
noventa e oito, quando enforca-se no jardim de casa, em Kipfenberg,<br />
já Alemanha Reunificada.<br />
(Berlim Ocidental/Berlim Oriental<br />
Alemanha – 1998)<br />
A margaridinha<br />
O que está faltando?<br />
Se Klaus e Andrea começam bem o dia, é quase certo que não<br />
vão chegar do mesmo modo até a noite. Em alguma daquelas<br />
dezesseis ou dezessete horas que permanecem acordados, qualquer<br />
coisa desconhecida que parte de um ofende o outro<br />
insuportavelmente e vice-versa. Começam a conversar sobre cores<br />
de tulipas, cartões de crédito, filosofias pessoais baratas ou<br />
refina<strong>das</strong> e, num seg<strong>und</strong>o, pronto... tudo azeda. Claro que jamais<br />
houve qualquer gesto violento entre eles. Nem um tapa, empurrão,<br />
nada. Klaus e Andrea querem saber se é isso que está faltando.<br />
(Iserlohn – Alemanha – 1998)<br />
Werner está há dois dias no banheiro de sua casa em Wilmersdorf.<br />
Com uma lanterna na mão, foca uma certa margaridinha do azulejo, a<br />
meia altura do chão. Os azulejos são cobertos com essas<br />
margaridinhas, de forma que manter a atenção bem naquela já está<br />
lhe dando dor de cabeça. Ele tem certeza que ela se move quando<br />
não está vendo. Como ninguém o estava levando a sério, resolveu<br />
tirar a coisa a limpo. Não pode sair pra nada. Se for pegar comida na<br />
cozinha ou mesmo uma lata de cerveja, ele tem certeza que a maldita<br />
margaridinha vai mudar de lugar.<br />
(Berlim Ocidental – Alemanha – 1998)<br />
167
168<br />
Snow Board<br />
Há tanta gente se acabando na região de Hintertux que ninguém<br />
mais acredita em acidente. Em Munique os pais desesperados trancam<br />
seus filhos, quebram e incendeiam as pranchas. É verdade que snow<br />
board nunca matou assim na Alemanha. Pra piorar, os cadáveres<br />
congelam enrodilhados nas árvores, dando maior trabalho à polícia.<br />
Legistas garantem que trata-se de fato inédito. Um inquérito é aberto em<br />
cima do outro sem fim... mas simplesmente não se consegue descobrir o<br />
que está fazendo os moleques lançarem-se <strong>das</strong> montanhas desse jeito.<br />
(Munique – Alemanha – 1997)<br />
Meus caros amigos<br />
Jasper está entregando<br />
pizzas com a 250. Malu<br />
aprende alemão a frases<br />
vistas. Marcelo arrumou um<br />
namorado economista. Marc<br />
não quer mais pintar quadros<br />
sem coisas pulando pra fora<br />
da tela. Osvaldo tem uma<br />
coreografia pronta e agora<br />
tenta convencer bailarinos a<br />
trabalharem de graça.<br />
Adriana demitiu-se.<br />
Suleyman finalmente comprou<br />
mostarda americana<br />
pros sanduíches. Christian<br />
conseguiu a tradução russa<br />
do Pequeno Príncipe. Lore<br />
está se desintoxicando e<br />
acabou com os meus<br />
Lexotans. Preciso comprar<br />
chinelos, passar Minâncora<br />
nas espinhas e ter mais<br />
paciência.<br />
(Berlim Ocidental<br />
Alemanha – 1998)<br />
Mentindo sinceramente<br />
William comprou um álbum<br />
cheio de fotografias no mercado<br />
de pulgas de Münster. Pagou<br />
120 marcos, mas até pagaria<br />
mais. Aquilo era „um verdadeiro<br />
documento“. Depois começou a<br />
tentar entender quem era<br />
quem: casou pares abraçados,<br />
matou velhos que desapareciam<br />
no meio e fez <strong>das</strong> senhoras<br />
<strong>das</strong> últimas páginas, aquelas<br />
meninas <strong>das</strong> primeiras. Agora<br />
mostra o álbum e diz que são<br />
seus próprios antepassados. Pra<br />
cada um inventa uma história.<br />
Afinal todos acabam inventando<br />
uma história e, dessa forma,<br />
pelo menos William acredita<br />
estar mentindo sinceramente.<br />
(Münster<br />
Alemanha – 1998)
Cinderela<br />
Jacira mora em Suape. Müller mora em Donauwörth. Jacira<br />
tem apenas 15 anos, mas já é puta velha. Müller tem apenas 32 anos<br />
mas já está cansado de procurar mulher. Jacira põe foto no book<br />
de uma agência de viagens no centro de Recife. Müller tira duas<br />
semanas de férias na fazenda do pai. A foto de Jacira é copiada e<br />
viaja por cima do Atlântico. Müller escolhe a foto em Stuttgart.<br />
Müller e mais 120 homens vêm num vôo charter, desde Frankfurt.<br />
Jacira vai encontrar Müller no hotel. Eles têm cinco dias acertados.<br />
No sexto se casam e vão pra Baviera plantar batata.<br />
(Munique – Alemanha – 1998)<br />
Vacas Distraí<strong>das</strong><br />
Moritz está remetendo uma carta muito bem circunstanciada à<br />
companhia de eletricidade da Alemanha, especificamente ao setor<br />
de energia eólica. Além da exposição de motivos, dividida em,<br />
introdução, os fatos, as conseqüências e conclusão, segue anexo<br />
relatório da produção anual de leite <strong>das</strong> sete vacas holandesas<br />
desde 1995. É que depois que começaram a instalar esses enormes<br />
ventiladores a beira da sua fazenda em Delmenhorst, elas estão<br />
dando menos 890 mililitros por cabeça/dia e ele tem certeza que<br />
essas malditas pás giratórias estão distraindo seus bichos.<br />
(Dortm<strong>und</strong> – Alemanha – 1998)<br />
Energia Elétrica<br />
Maximiliam cresceu sob o signo da energia elétrica, ou falta dela.<br />
Durante a Guerra as luzes eram apaga<strong>das</strong> bem no momento em<br />
que mais se precisava. Bombardeiros não perderiam a chance.<br />
Quando os Russos fecharam Berlim, com as hidrelétricas do outro<br />
lado... bem, só de madrugada. Todos aproveitavam freneticamente<br />
aquelas duas horas passando roupa ou ouvindo rádio. Agora que a<br />
conta está incluída no aluguel do apartamento, deixa to<strong>das</strong> as luzes<br />
acesas. Só não sabe dizer se é pra compensar o tempo perdido, ou<br />
porque, depois de velho, ficou com medo de escuro.<br />
(Berlim Oriental – Alemanha – 1998)<br />
169
170<br />
Cena brasileira<br />
(2007)<br />
É o cruzamento<br />
da pressa com a falta<br />
de tempo. O encontro<br />
do ser com o<br />
nada; o entroncamento<br />
da fome de<br />
passar com a vontade<br />
de correr. E subitamente<br />
pára. É quase<br />
nada. O cidadão se<br />
aproxima lentamente<br />
do semáforo fechado.<br />
O outro se aproxima<br />
lentamente do<br />
farol aberto. É um sinal<br />
para os dois. Um<br />
que pousa o pé contra o acelerador, fazendo quatrocentos cavalos turbinados<br />
mamarem petróleo no motor niquelado. O outro com essa fome que não é de<br />
hoje e nem sabe de onde vem. Uma falta de carne, de gordura, de óleo. Comeria<br />
os quatrocentos cavalos grelhados, com pão e molho vinagrete. Há entre eles um<br />
alarme teleguiado por emissões de on<strong>das</strong> curtas, que haverá de informar um<br />
„sinistro em andamento“ na empresa de „segurança“. A empresa de segurança<br />
contratada é longe. Num lugar sinistro perto de onde o outro mora, quando vai<br />
pra casa. Um mora com o conforto <strong>das</strong> cercas eletrifica<strong>das</strong>; o outro com a luz<br />
cortada por falta de pagamento. Tem documento sim. Qualquer bandido tem. O<br />
cidadão também. Ninguém é melhor que ninguém, em tese. Tese mesmo nenhum<br />
deles fez, que um e outro não estão preocupados, ou pensando, nessas coisas.<br />
Quanto a „ter mesmo“, um, de todo modo, tem bem mais que o outro. Se vê pelas<br />
carcaças: uma blindada na estrutura sobre pneus reforçados na cintura, a outra,<br />
um esqueleto de osso duro espetado e esmagado contra os muros do m<strong>und</strong>o. Na<br />
cabeça, cabelos alisados e tratados ou abandonados pra crescer enroscados à<br />
bel prazer. Genericamente são iguais. A lei é para todos, mas nem todos têm como<br />
servir-se dos tribunais de injustiça. Os dois lados são ambos, mas são contrários,<br />
estão apontados quando se encontram. Um se acredita intocável escondido em<br />
seu automóvel, o outro apostando de peito aberto na crença do corpo fechado.<br />
Não têm o que dizer e não se falam. De um lado o cidadão faz que não, abanando<br />
a mão como quem não quer comprar nem doar o que quer que seja. O outro não<br />
está pedindo, mas mandando, ou exigindo, o que pensa que é seu. Há uma arma<br />
no meio do caminho. Um tem muito o que lembrar, outro quer mais é esquecer. A<br />
blindagem da cabine é de nível dois. A arma nas mãos do outro é de nível três. Os<br />
técnicos não estão ali para dizer se o nível é baixo, alto ou quem é melhor que o<br />
outro nessa história. Cada vida vale a mesma tristeza. Seria um drama patético,<br />
Foto: Guilherme Nascimento
não fosse trágico desfecho anunciado, pois é bom avisar desde logo que esse é<br />
um caso de vida ou morte, por mais que tentemos evitá-las. Pode até ser que um<br />
tente esconder seu calibre por trás de flores murchas, brinquedos importados de<br />
povos escravizados ou mesmo fabricados pelo outro, tranqüilo em seu carro do<br />
ano. Ele não acha que é com ele, por mais que o outro aponte aquela coisa<br />
indubitável na direção hidráulica em que se encontra. Ele disfarça e faz que não.<br />
O outro diz que sim, ainda que o primeiro não o ouça. Que ele quer aquele relógio<br />
dourado no pulso do outro, já que ele mesmo só tem uma fitinha do Bonfim que<br />
teima em ficar pregada atrasando os seus desejos. O outro olha as horas, preocupado<br />
nos compromissos. O compromisso do outro é com o „agora mesmo“.<br />
Aquele sentado pensa em investir alguma coisa pra ter um pouco mais depois,<br />
quando estiver descansando. Mas isso não vai acontecer.<br />
Não haverá mais esse tempo quando, por exemplo, o outro pressiona<br />
o gatilho...<br />
Apesar de não querer, o fato é que ele sente um frio na espinha com o barulho<br />
esquisito na vidraça estilhaçada, depois um calor agudo na testa enrugada de<br />
preocupações inadiáveis e, agora, inaudíveis. Porque fica surdo, depois fica cego<br />
e morre em poucos seg<strong>und</strong>os, agarrado ao seu Rolex.<br />
A procedência do referido relógio é desconhecida até pelos parentes que o<br />
receberam de herança. O outro sumiu.<br />
Fim<br />
Fernando Bonassi nasceu em São Paulo, em 1962. É roteirista de cinema e TV, dramaturgo,<br />
cineasta e escritor de diversas obras, entre elas Um Céu de Estrelas; Subúrbio; Crimes<br />
Conjugais; 100 Histórias Colhi<strong>das</strong> na Rua; O Amor é Uma Dor Feliz; Uma Carta Para Deus;<br />
Vida da Gente; O Céu e o F<strong>und</strong>o do Mar; 100 Coisas; Declaração Universal do Moleque<br />
Invocado e São Paulo/Brasil, estes últimos ambos finalistas do Prêmio Jabuti nos seus anos<br />
de lançamento. Em 2003 publicou a novela Prova Contrária e em 2005 o romance O Menino<br />
que se Trancou na Geladeira, ambos pela Editora Objetiva. É co-roteirista de filmes como Os<br />
Matadores (de Beto Brant); Através da Janela (de Tata Amaral); Castelo Ra Tim Bum (de<br />
Cao Hamburguer); Carandiru (de Hector Babenco – Prêmio TAM do Cinema Brasileiro para o<br />
melhor roteiro adaptado de 2003); Garotas do ABC (de Carlos Reichenbach), Cazuza (de<br />
Sandra Werneck – Prêmio TAM do Cinema Brasileiro para o melhor roteiro adaptado de 2004).<br />
Em 2006 é co-autor, com o cineasta chinês Yu Lik Way, do roteiro da co-produção Brasil/China<br />
Plastic City. No teatro, destacam-se as montagens de Preso Entre Ferragens (dirigida por<br />
Eliana Fonseca); Apocalipse 1,11 (em colaboração com o Teatro da Vertigem); Três Cigarros e<br />
a Última Lasanha (com Renato Borghi e direção de Débora Dubois); Souvenirs (dirigida por<br />
Márcio Aurélio); Arena Conta Danton com a Cia. Livre de Teatro e a encenação do fragmento<br />
Estilhaços de São Paulo, no espetáculo Megalopolis do Theater der Klänge (Stuttgart,<br />
Alemanha). Tem diversos prêmios como roteirista no Brasil e no exterior, além de obras literárias<br />
adapta<strong>das</strong> para o cinema e textos em antologias na França, Estados Unidos e Alemanha. O<br />
romance Subúrbio teve os direitos comprados pelo Deutsches Schauspielhaus de Hamburgo.<br />
A adaptação teatral estreou no dia 04 de abril de 1998. Nesse mesmo ano, foi vencedor da bolsa<br />
do Künstlerprogramm do DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst). Desde 1997 é<br />
colunista do jornal Folha de São Paulo.<br />
171
Käthe Kollwitz: A Marcha dos Tecelões (Weberzug; 1897)<br />
Renina Katz: Retirantes (xilogravura, do álbum Antologia Gráfica, 1948-56)<br />
Autvis, Brasil, 2007
Käthe Kollwitz e<br />
o meio artístico brasileiro:<br />
recepção e ressonância<br />
Eliana de Sá Porto De Simone<br />
Heidelberg<br />
Resümee: Das Werk der Käthe Kollwitz hat weit über den deutschsprachigen<br />
Raum hinaus gewirkt. In Brasilien fand schon<br />
1933 die erste Begegnung damit statt, anlässlich einer Ausstellung<br />
in dem Clube dos Artistas Modernos in São Paulo.<br />
Im selbem Jahr verfasste der Kunstkritiker Mário Pedrosa<br />
den Essay As tendências sociais da arte e Käthe Kollwitz. Beides<br />
zusammen, Ausstellung <strong>und</strong> Essay, entfalteten eine<br />
beachtliche Wirkung auf die brasilianische Kunstszene<br />
wegen eines zunehmenden Interesses am sozialen Charakter<br />
der Kunst <strong>und</strong> einer Aufwertung der Graphik. Es<br />
war zu dieser Zeit, <strong>das</strong>s die erste Generation moderner<br />
graphischer Künstler begann, sich in Brasilien zu entwikkeln.<br />
Diese Tendenzen <strong>und</strong> Einflüsse sind im Werk von<br />
Künstlern wie Lívio Abramo (1903-1992), Carlos Scliar<br />
(1920-2001) <strong>und</strong> Mário Gruber (*1927) zu erkennen sowie<br />
bei Renina Katz (*1926), deren Arbeit thematisch <strong>und</strong><br />
ästhetisch vielleicht am auffälligsten durch Käthe Kollwitz<br />
geprägt worden ist.<br />
Abstract: The repercussion of Käthe Kollwitz’ oeuvre has far overreached<br />
the German-speaking world. In Brazil, the first<br />
contact with it occurred yet in 1933, on the occasion of<br />
an exhibition in the Clube dos Artistas Modernos in São<br />
Paulo. In the same year the art critic Mário Pedrosa wrote<br />
the essay As tendências sociais da arte e Käthe Kollwitz.<br />
Both, the exhibition and the essay, displayed a considerable<br />
effect on the Brazilian art scene due to an increasing<br />
interest in the social character of art and a valorization of<br />
graphic arts. It was during this time that the first generation<br />
of modern graphic artists began to evolve in Brazil.<br />
These tendencies and influences can be recognized in<br />
the oeuvre of artists like Lívio Abramo (1903-1992), Carlos<br />
Scliar (1920-2001) and Mário Gruber (*1927) as well as in<br />
Renina Katz (*1926), whose work has possibly been influenced<br />
most noticeably by Käthe Kollwitz in terms of thematic<br />
and aesthetic figuration.<br />
173
174<br />
Introdução<br />
Pontos de aproximação entre a arte alemã e o meio brasileiro já se fizeram<br />
notar desde o século XIX, seja através da ação dos chamados „artistas viajantes<br />
ou itinerantes“ (como ficaram conhecidos os artistas que acompanharam as expedições<br />
científicas alemãs e austríacas da primeira metade do século XIX), seja<br />
através da ação direta de artistas atuantes no Brasil como August Müller (1815-<br />
1883), Johann Georg Grimm (1846-1887) ou Thomas Driendl (1849-1916).<br />
No início do século XX, artistas do modernismo também tiveram importantes<br />
pontos de tangência com a arte alemã. Para Anita Malfatti, por exemplo, os anos<br />
da estadia em Berlim foram decisivos para sua formação, onde entre outros, estudou<br />
com o artista Lovis Corinth (1858-1925). A passagem de Emiliano Di Cavalcanti<br />
pelo atelier de Georg Elpons (1865-1939) em São Paulo, embora de maneira menos<br />
central, também demonstra essa questão. Lasar Segall (1891-1957), nascido<br />
na Lituania e naturalizado brasileiro em 1927, viveu vários anos na Alemanha e<br />
trouxe ao Brasil uma bagagem artística fortemente ligada ao Expressionismo, particularmente<br />
à vertente do movimento Die Brücke, de Dresden, do qual o artista<br />
fora um dos f<strong>und</strong>adores.<br />
Uma circunstância peculiar caracteriza a recepção e a ressonância da obra de<br />
Käthe Kollwitz no Brasil, iniciada nos anos 30 do século XX, pois não houve contato<br />
direto entre os artistas brasileiros e a artista alemã. Assim, a divulgação de sua<br />
obra pelos intelectuais Mário Pedrosa, Mário de Andrade e Flávio de Carvalho,<br />
determinou importante fonte de inspiração e estímulo para os jovens artistas que<br />
se dedicavam à então recém „redescoberta“ arte da gravura, que notadamente<br />
priorizava a inspiração social. Entre esses artistas destacam-se Lívio Abramo (1903-<br />
1992), Carlos Scliar (1920-2001) e Renina Katz (1926), que por várias vezes declararam<br />
a admiração por Käthe Kollwitz e o impacto que sua obra causara sobre<br />
suas carreiras artísticas. Outro importante fator para a divulgação da obra de<br />
Käthe Kollwitz no Brasil, foram as exposições de suas obras em São Paulo e no Rio<br />
de Janeiro, também ocorri<strong>das</strong> na década de 30: no Rio organizada pelo galerista<br />
alemão Theodor Heuberger e em São Paulo por Flávio de Carvalho, diretor do<br />
Clube dos Artistas Modernos.<br />
Neste sentido, esse trabalho procurará circunscrever os três aspectos da repercussão<br />
da obra de Käthe Kollwitz, como veremos intrinsecamente interligados<br />
entre si: as exposições, a ação dos intelectuais e finalmente seus efeitos sobre a<br />
produção artística brasileira.<br />
As exposições em São Paulo e no Rio de Janeiro.<br />
A ação de Theodor Heuberger, Flávio de Carvalho,<br />
Mário Pedrosa e Mário de Andrade<br />
No Brasil, a emergência da preocupação social na arte coincidiu com a época<br />
da Revolução de 1930 e o período que imediatamente a antecedeu, abrangendo<br />
as crises políticas da década de 1920, agrava<strong>das</strong> pela crise econômica<br />
m<strong>und</strong>ial de 1929. O governo Vargas, apesar <strong>das</strong> iniciais medi<strong>das</strong> socializantes,<br />
assumia feições cada vez mais centralizadoras e autoritárias, revelando um cla-
o alinhamento com os regimes nazista e fascista, que culminaram com a criação<br />
do „Estado Novo“, em 1937, eliminando toda e qualquer liberdade política;<br />
em consequência disso, iniciou-se um período de dissoluções de partidos, proibição<br />
da imprensa livre, prisões e exílios de artistas e intelectuais. Graciliano<br />
Ramos em Memórias do Cárcere e Jorge Amado em Subterrâneos da Liberdade<br />
descreveram suas experiências sob a repressão da ditadura Vargas. O estado de<br />
São Paulo, palco da revolução constitucionalista de 1932, teve papel particularmente<br />
importante no desenvolver deste quadro de agitação político-social, como<br />
bem descreve Mário Pedrosa:<br />
Da década de 1920 para a de 1930, grandes acontecimentos políticos<br />
sacudiram o Brasil [...] e São Paulo se tornou o ponto nevrálgico da<br />
revolução [...]. Em nenhum outro Estado da Federação, o processo de<br />
transformação política e social foi mais acentuado do que na terra de<br />
Piratininga. As convulsões ali foram maiores e terminaram com a revolta<br />
da burguesia e pequena burguesia paulistas, em nome da<br />
reconstitucionalização geral e da autonomia do Estado. A divisão de<br />
classes, já num sentido moderno, foi maior em São Paulo. Se<br />
Higienópolis, o bairro aristocrático, era hostil ao novo poder revolucionário,<br />
o Brás, proletário, era favorável... se foi Higienópolis que fez a<br />
Semana de Arte Moderna em 1922, foram Cambuci e adjacências que<br />
fizeram a Família Artística Paulista na outra etapa. Se o local em que se<br />
realizou a Semana foi o majestoso foyer do Teatro Municipal, a sede da<br />
Família [Artística Paulista] era uma sala do Edifício Santa Helena, no<br />
Largo da Sé, onde desde 1933 se localizava a maior parte dos Sindicatos<br />
operários criados com a revolução. (PEDROSA 1975, p. 40)<br />
Nesse contexto, as exposições de Käthe Kollwitz no Rio e em São Paulo (1930<br />
e 1933) e a divulgação de sua obra por Mário Pedrosa, Mário de Andrade e Flávio<br />
de Carvalho, com ênfase em seus aspectos político-sociais, determinaram importante<br />
fonte de inspiração e estímulo para os artistas que se dedicavam à recém<br />
„redescoberta“ arte da gravura.<br />
No Rio de Janeiro houve duas exposições de gravuras em 1930 e em 1933,<br />
organiza<strong>das</strong> pelo galerista alemão Theodor Heuberger, radicado no Brasil desde<br />
1924, „[...] grande animador cultural a articular o meio artístico brasileiro com a<br />
música, as artes decorativas e as artes plásticas alemãs“ (AMARAL 1981). A mostra<br />
de 1930, uma coletiva denominada Exposição de Livros e Artes Gráficas, foi apresentada<br />
na Biblioteca Nacional no Rio de Janeiro e posteriormente enviada a São<br />
Paulo, para o Escritório Comercial Alemão; esta exposição reunia aquarelas, desenhos<br />
e principalmente gravuras dos mais representativos artistas alemães, desde<br />
a geração da passagem do século, como Max Liebermann e Lovis Corinth, até<br />
os nomes dos expressionistas mais arrojados como Otto Dix, Georg Grosz, Erik<br />
Heckel, Oskar Kokoschka e Karl Schmidt-Rottluff, além de representantes da<br />
Bauhaus, como Willi Baumeister e Johannes Itten. Entre os expositores constava<br />
também Käthe Kollwitz. Apesar de ter certamente representado o primeiro contato<br />
do público brasileiro com a mais avançada arte alemã, a exposição não teve<br />
aparentemente grande eco; os únicos comentários sobre a mostra são de Mário<br />
175
176<br />
de Andrade, que a ela dedica um curto artigo no Diário Nacional, e do artista Lívio<br />
Abramo (1903-1992), que menciona entusiasticamente seu primeiro contato com<br />
a obra de Käthe Kollwitz e de artistas expressionistas (ABRAMO 1983). Sob o título<br />
Artes gráficas Mário de Andrade comenta elogiosamente „o estado de perfeição<br />
em que se encontram as artes gráficas na Alemanha“; mais adiante menciona<br />
ainda „edições de luxo e gravuras“ e apesar de referir-se „aos ilustradores Slevogt<br />
e Orlik“, e a „Georg Grosz, que é um gênio“, o autor não se detém longamente<br />
sobre o assunto, tampouco comenta obras em particular de nenhum dos artistas<br />
participantes, ressaltando, por fim, a superioridade francesa no campo gráfico<br />
(ANDRADE 1930 in ANCONA LOPEZ 1976, p. 253-255). A obra de Käthe Kollwitz<br />
só recebeu sua atenção na mostra que se realizaria três anos mais tarde.<br />
Dedicada exclusivamente à obra de Käthe Kollwitz, a exposição de 1933 foi<br />
mostrada inicialmente na Galeria Heuberger, localizada na avenida Rio Branco,<br />
no Rio de Janeiro. Desde 1930, Theodor Heuberger dirigia a Associação Pró-Arte,<br />
por ele f<strong>und</strong>ada, que entre outras atividades culturais, organizava anualmente<br />
um salão de artes plásticas. A Pró-Arte teve „o mérito de ser a primeira que apresentou<br />
ao público brasileiro os trabalhos de Käthe Kollwitz“, seg<strong>und</strong>o comenta em<br />
seu primeiro número o articulista de Base, uma revista dedicada à arte, técnica e<br />
pensamento, publicada no Rio, num artigo intitulado Exposição Käthe Kollwitz em<br />
São Paulo. O artigo, de apenas uma página, traz três reproduções de xilogravuras<br />
da artista: um auto-retrato, além de Viúva I, do ciclo Guerra (1922/23), e Desempregados,<br />
do ciclo Proletariado. O texto é curto mas demostra, apesar da terminologia<br />
um tanto ingênua, uma apreensão acurada em relação ao aspecto social da<br />
obra da artista, além do conhecimento de sua difícil situação devido à perseguição<br />
sofrida por ela sob o regime nazista.<br />
A exposição teve um grande sucesso; e não há de admirar, porque<br />
com Käthe Kollwitz tem a humanidade uma artista que desenha com<br />
prof<strong>und</strong>a observação as faltas mais importantes de nosso universo. É<br />
este o mérito de Käthe Kollwitz, de não desenhar naturezas mortas,<br />
porém, vendo com os olhos abertos tudo que a circ<strong>und</strong>a. Faz ver a<br />
vida dos oprimidos.<br />
Käthe Kollwitz nascida em 1867, vive no norte de Berlim, num bairro<br />
pobre, onde seu marido pratica seu ofício de médico. Não é por acaso<br />
que ela mora num bairro pobre, mas lhe pesaria a consciência, se não<br />
estivesse junto aos pobres, se não tomasse parte nos seus sofrimentos.<br />
Assim sendo, vê-se nas suas obras, as quais são desenha<strong>das</strong> com fortes<br />
traços penetrativos, quase masculinos, sempre a vida dos pobres: os<br />
sem trabalho, mulheres grávi<strong>das</strong>, fome, guerra, revolta, morte.<br />
Por este motivo é ela hoje em dia um dos mártires do movimento<br />
político alemão. Käthe Kollwitz combatente pela humanidade nós vos<br />
saudamos! (KOLLWITZ 1933, p. 9)<br />
No início de 1933, a Pró-Arte assinava um acordo com o Clube dos Artistas<br />
Modernos (CAM), de São Paulo, que previa „intercâmbio de sócios na freqüentação<br />
<strong>das</strong> sedes, intercâmbio e auxílio dos artistas, intercâmbio de exposições“ (ALMEIDA<br />
1976). Como um primeiro resultado deste intercâmbio foi enviada a São Paulo a
mostra de Käthe Kollwitz. Em seu curto período de vida (f<strong>und</strong>ado em novembro<br />
de 1932 e fechado pela polícia cerca de um ano mais tarde) o CAM cumpriu o<br />
papel de forum de arte e inteligência. O artista e intelectual Flávio de Carvalho,<br />
dirigia o clube, incutindo-lhe um cunho inovador e combativo que marcaria<br />
época na cena artística paulistana da década de 1930.<br />
Entre as atividades do CAM constavam também concertos e conferências, estas<br />
sempre sobre assuntos polêmicos e muitas vezes de clara tendência de esquerda,<br />
como a de Tarsila do Amaral sobre arte proletária, e a de Caio Prado Jr., ambos<br />
recém-chegados da União Soviética, e a do muralista mexicano David Alfaro<br />
Siqueiros. Por ocasião da exposição de Käthe Kollwitz, Mário Pedrosa proferiu sua<br />
famosa conferência As tendências sociais da arte e Käthe Kollwitz, que assumiu grande<br />
importância não só na carreira do intelectual, como também na história da<br />
crítica de arte no Brasil. Para a exposição editou-se um pequeno catálogo de quatro<br />
páginas, com quatro reproduções, uma por página, sendo as três primeiras as mesmas<br />
publica<strong>das</strong> na revista Base e a quarta, também uma xilogravura, da série Guerra,<br />
A Viúva II (1922/23); na capa, além do título da mostra, há indicações sobre as<br />
técnicas <strong>das</strong> obras presentes (águas-fortes e litogravuras, xilogravuras não estão<br />
menciona<strong>das</strong> apesar de incluí<strong>das</strong>), período de duração da mostra (de 1º a 20 de<br />
junho de 1933) e referência ao local de realização, com endereço e telefone. Nas<br />
páginas seguintes estavam lista<strong>das</strong> as gravuras, 84 ao todo, com preços e títulos em<br />
português. Através destes constata-se que a exposição proporcionou uma visão<br />
bastante completa da obra gráfica de Kollwitz: águas fortes do início da carreira, os<br />
dois ciclos A Revolta dos Tecelões e A Guerra dos Camponeses inteiros, além dos ciclos<br />
xilogravados Guerra e Proletariado, vários auto-retratos e obras de diferentes períodos.<br />
Sem dúvida, o predomínio da xilogravura, segmento formalmente mais arrojado<br />
no conjunto de sua obra, e que mais se aproxima ao expressionismo, causou<br />
equívoco entre artistas, críticos e público, que julgaram Käthe Kollwitz como pertencente<br />
a essa corrente artística. Através de diversas declarações em seus diários<br />
– „Foi interessante conhecer Pechstein... mas para mim suas obras não passam de<br />
talentosas garatujas“ (1910); „O expressionismo é arte de atelier... estéril... sem raízes<br />
vivas“ (1916); „Certamente não sou expressionista... para mim só existe a forma<br />
humana, mas que deve ser destilada, reduzida à essência“ (1917); (KOLLWITZ 1989,<br />
p. 340) – e de análises da recepção de sua obra na Alemanha, podemos afirmar que,<br />
não obstante a efetiva influência expressionista que recebera durante um certo<br />
período, Käthe Kollwitz ainda se sentia fortemente ligada às origens naturalistas/<br />
realistas de sua obra. Se se considera a carga emocional e o „pathos“ social, além do<br />
cont<strong>und</strong>ente modo de expressão da gravura na madeira, como pontos em comum<br />
entre Kollwitz e a vanguarda alemã do início do século, pode-se então caracterizar<br />
sua obra, paralelamente à de Edvard Munch, como „expressionista de primeira<br />
hora“. Nesse sentido, em seu artigo sobre a versão paulistana da mostra de 1933,<br />
Mário de Andrade acerta quando define a artista como „pré-expressionista“, mas<br />
engana-se ao julgá-la pertencente „ao grupo da Brücke com Schmitt-Rottluff,<br />
Kirchner, Felix Müller“. O autor, que havia visitado a exposição e até mesmo adquirido<br />
uma xilogravura, escreve entusiasticamente sobre a „arte proletária de Käthe<br />
Kollwitz“. Aqui registra-se um outro equívoco, que se repetirá em outros autores, a<br />
exemplo de Mário Pedrosa; trata-se da „origem proletária“ de Käthe Kollwitz. Mui-<br />
177
178<br />
to provavelmente devido à um erro de tradução, a profissão de seu pai, em vez de<br />
„construtor“ constava como „pedreiro“ na literatura sobre a artista; daí a interpretação<br />
de Mário de Andrade:<br />
Movida talvez pelo meio que nascera e vivera [...] suas criações jamais<br />
tiveram uma concessão burguesa. É talvez o tipo mais característico<br />
de pintura proletária de nossos dias. (ANDRADE 1933, p. 6)<br />
E pouco tempo depois Pedrosa definiria „a fidelidade à sua classe [...]. Filha<br />
de pedreiro, [Käthe Kollwitz] continua através de sua longa vida, filha de pedreiro“<br />
(PEDROSA 1975, p. 28). Conforme afirmamos anteriormente, apesar de sua<br />
origem burguesa, já havia três gerações a família da artista muito se distanciava<br />
dos modelos de classe devido às suas fortes tendências socialistas. Daí se explica<br />
o engajamento e a identificação de Käthe Kollwitz com as causas da classe trabalhadora,<br />
sem no entanto ser ori<strong>und</strong>a desta. Assim, não é errada a análise de<br />
Mário de Andrade no que se refere ao „proletarismo essencial“ e ao „irreconciliável<br />
sentido social de suas obras“. O autor destaca as séries xilograva<strong>das</strong> Proletariado<br />
e Guerra, observando „seu impressionante realismo [...] que não deforma<br />
por exagero“; compara-a acertademente ao artista espanhol Francisco Goya,<br />
em seu ciclo Desastres de Guerra:<br />
Ninguém soube como Käthe Kollwitz perceber que é nos fenômenos laterais<br />
<strong>das</strong> guerras, nos soffrimentos dos seus sem culpa, que está o horror<br />
culminante da existência dos soldados do m<strong>und</strong>o [...]. Proletariamente<br />
Käthe Kollwitz, com um desprezo perfeito ignora os militares que estão lá<br />
se batendo porque querem nas trincheiras, em nome de tristes depravações<br />
do sentimento da pátria. A culminância do horror da guerra, ela<br />
sabe encontrar apenas nos pais, nas mães, nas viuvas, no povo. É rudimentar,<br />
é legítimo, é irrespirável como ela consegue crear uma noção<br />
menos balofa, menos pomposa, menos deturpada do que seja heroismo...<br />
o heroismo sem enfeite intelectual. (ANDRADE 1933, p.8)<br />
Quanto à técnica, Mário de Andrade declara sua preferência pelas litografias e<br />
especialmente pelas xilogravuras de Käthe Kollwitz:<br />
Da madeira sobretudo ela tira simultaneamente toda a eficácia estética<br />
sugestionadora. Ao mesmo tempo que faz valer a maior elasticidade<br />
do pau nos grandes planos pastosos do preto, converte essa ab<strong>und</strong>ância<br />
de escureza em mais uma força expressiva dos seus themas tão<br />
sombrios. Outra qualidade simultaneamente estética e expressiva é a<br />
maneira de lascar a prancha, revelando a malvadez do pau. Os momentos<br />
de luz <strong>das</strong> suas xilogravuras se convertem por isso num trançado<br />
de estrepes feridores, que maltratam o próprio observador e<br />
avigoram a aspereza dos assuntos. (ANDRADE 1933, p. 8)<br />
Desse modo, com sua peculiar terminologia, enfatizando etapas formais do<br />
processo paralelamente aos efeitos sobre o conteúdo <strong>das</strong> obras, Mário de Andrade<br />
consegue chamar atenção ao segmento xilogravura, o que certamente repercutirá<br />
na recepção da obra de Kollwitz entre os artistas brasileiros.
O texto de Mário Pedrosa, comentando a exposição de Käthe Kollwitz em<br />
São Paulo, assumirá enorme importância na divulgação de sua obra no Brasil.<br />
Trata-se do ensaio As tendências sociais da arte e Käthe Kollwitz, já mencionado<br />
anteriormente. Bem mais longo e melhor estruturado do que o artigo de<br />
Mário de Andrade, e sobretudo alicerçado em sólida base teórica, o ensaio de<br />
Pedrosa foi apresentado ao público como conferência elucidativa à mostra,<br />
no dia 16 de junho de 1933, na sede do CAM, e pouco depois publicado no<br />
periódico O Homem Livre. Essa conferência foi um fato marcante não só em<br />
sua carreira, pois com ela estreara como crítico de artes plásticas, como também<br />
na crítica e na arte brasileira da época, pois constituíra a primeira análise<br />
artística sob o ponto de vista social. Intelectual de esquerda, ligado ao partido<br />
comunista e posteriormente ao socialista, Mário Pedrosa foi um ativo militante<br />
político; na carga revolucionária da obra de Käthe Kollwitz encontrou um eco<br />
para suas idéias estéticas. Muito provavelmente Pedrosa a conhecera durante<br />
sua primeira viagem à Europa em 1928, quando passou pela Suiça e Alemanha<br />
(ARANTES 1991). A conferência fora estruturada em duas partes; a primeira e<br />
mais longa, não faz referência direta à obra de Kollwitz; trata-se, antes, de<br />
reflexões teóricas a respeito <strong>das</strong> tendências sociais da arte no decorrer da<br />
história, visivelmente influencia<strong>das</strong> por princípios estéticos marxistas. Já no<br />
início, Pedrosa define a arte como „manifestação social“ e discute como os<br />
modos de produção de um povo condicionam suas formas de arte; analisando<br />
a origem social da arte, demonstra essa dependência desde os povos primitivos,<br />
passando pela arte grega e medieval, enfatizando sobretudo o importante<br />
papel da ligação do homem com a natureza:<br />
Enquanto a técnica não foi de todo separada da condição humana, o<br />
trabalho e a arte não se separaram. Enquanto a mão do homem pôde<br />
exercer uma ação diretriz sobre a técnica (mediadora entre homem e<br />
natureza) e os instrumentos-máquinas, a arte não perdeu seu caráter<br />
eminentemente social. Essa fase do modo produtivo e da técnica coincidiu<br />
com a eclosão da grande arte social da Grécia e, mais tarde, com<br />
a arte interessada e religiosa da Idade Média. (PEDROSA 1933, p. 12)<br />
E prossegue em sua análise histórica, chegando até os tempos em que a burguesia<br />
se impõe como classe dominante:<br />
A Renascença marcou o início do individualismo, com as primeiras<br />
vitórias decisivas do regime capitalista nascente [...]. Sob a forma de<br />
luta entre o ideal monástico medieval e o ideal terreno da Renascença,<br />
revelou-se pela primeira vez uma dissociação crescente na concepção<br />
única entre natureza e sociedade: De função pública que exercia na<br />
Grécia, a arte vai assim degringolando até reduzir-se a uma mera distração<br />
de ociosos abastados, a ornamento e vaidade de príncipes, e<br />
até a disciplina de luxo. (PEDROSA 1933, p. 16)<br />
Abordando o „presente estado“, com a sociedade dividida em duas classes<br />
antagônicas, burguesia e proletariado, o autor percebe a atividade artística como<br />
dividida „estética e socialmente“:<br />
179
180<br />
De um lado a arte desses criadores que ficam absorvidos por essa<br />
seg<strong>und</strong>a natureza superposta à primitiva que é a nossa natureza moderna<br />
e mecânica – a técnica – desligados completamente da sociedade<br />
[...] para não tomar uma atitude em frente à implacável batalha <strong>das</strong><br />
duas classes inimigas [...], fechados num hermetismo diletante [...]. No<br />
outro lado, colocam-se os artistas sociais, aqueles que se aproximam<br />
do proletariado e [...] divisam a síntese futura entre natureza e sociedade<br />
[...]. É o que explica o realismo do proletariado e os artistas que<br />
o exprimem. É o caso de Käthe Kollwitz. (PEDROSA 1933, p. 18)<br />
Nesta seg<strong>und</strong>a parte, ao analisar a obra da artista, Mário Pedrosa justifica seus<br />
pressupostos teóricos:<br />
O destino da arte de Käthe Kollwitz não está, pois, na própria arte.<br />
Está socialmente no proletariado. É uma arte partidária e tendenciosa.<br />
Mas que assombrosa universalização! [...] É um novo humanismo superior,<br />
um autêntico e novo classicismo, surgindo dramática e espontaneamente<br />
da própria vida. (PEDROSA 1933, p.25)<br />
Ao observar os temas preferidos por Kollwitz, o autor destaca a guerra,<br />
enfatizando o ponto de vista de sua apreensão:<br />
A guerra vista pelo povo, a guerra do lado de lá da barricada social,<br />
sentida pelo proletariado, sem deformação ideológica ou tendenciosa,<br />
sem a ignóbil masturbação patriótica com que é exaltada, sem reclame<br />
de soldados [...] sem glória, sem generais estrelados e gordos [...]. A<br />
guerra de Kollwitz só tem sacrifícios anônimos e monstruosos, só tem<br />
viúvas a quem não resta mais nada, na miséria e na dor.<br />
(PEDROSA 1933, p. 26-27)<br />
Examinando as fases da obra da artista, Pedrosa assinala acertadamente uma<br />
primeira fase de influência naturalista e uma seg<strong>und</strong>a fase que coincide com a<br />
imposição do proletariado como classe na Alemanha:<br />
A doutrina do socialismo científico surgia pela primeira vez como arma<br />
específica [...] no combate pela sua emancipação. Surgiram assim simultaneamente<br />
a primeira organização revolucionária da classe, o seu<br />
partido político que era então a social-democracia, e a sua primeira<br />
grande artista na pessoa de Käthe Kollwitz. (PEDROSA 1933, p. 29)<br />
Numa atitude inédita para a crítica de seu tempo, Mário Pedrosa descreve na<br />
obra de Käthe Kollwitz traços que a caracterizam como arte feminina:<br />
Dentro do próprio proletariado, a artista tem sua preferência. É que,<br />
além de sua classe, ela é de seu sexo. É a artista da mulher proletária.<br />
(PEDROSA 1933, p. 30)<br />
Mas logo a seguir nos induz à associação de feminilidade com sentimentalismo:<br />
„a reação feminina é puramente instintiva e sentimental“, e procura com<br />
esse argumento justificar a ausência da representação dos opressores do proletariado,<br />
a burguesia, ao contrário do exemplo de George Grosz, com sua sátira
„cerebral e consciente“ (PEDROSA 1933, p. 33). Mais uma vez registramos o<br />
preconceito em relação ao sexo feminino na análise da obra de Kollwitz, presente<br />
em diferentes autores.<br />
Quase totalmente ausente no ensaio de Pedrosa está a análise do processo<br />
artístico; obviamente o autor dá preferência aos aspectos do conteúdo, em detrimento<br />
do exame da expressão formal. Era a tônica da crítica de arte de ênfase<br />
social, que se afirmava na época. Apenas numa passagem, a respeito da xilogravura,<br />
aponta a coincidência entre a força expressiva do material e a cont<strong>und</strong>ência do<br />
assunto gravado:<br />
A intensidade dramática que a madeira violentada revela é de tal ordem<br />
que a obra de arte atinge aqui a unidade e a integração ideal<br />
entre a vontade e o sentimento do artista e a capacidade interior de<br />
expressão do próprio material. (PEDROSA 1933, p. 31)<br />
Finalizando, Mário Pedrosa reafirma a missão revolucionária da obra de<br />
Käthe Kollwitz, contido em seu caráter proletário, ou seja, de instrumento de<br />
divisão de classe:<br />
A arte social [...] não é de fato um passatempo delicioso: é uma arma<br />
[...]. A dialética da dinâmica social [...] faz com que uma obra destas, tão<br />
prof<strong>und</strong>amente inspirada de amor e fraternidade humana, sirva entretanto,<br />
para alimentar o ódio de classe mais implacável. E com isto está<br />
realizada a sua generosa missão social. (PEDROSA 1933, p. 34)<br />
A ressonância da obra de Käthe Kollwitz entre os artistas brasileiros:<br />
Lívio Abramo, Carlos Scliar e Renina Katz<br />
Com a publicação do ensaio em O Homem Livre, jornal claramente de esquerda,<br />
a exposição de Käthe Kollwitz teve seu eco definitivo no meio político-intelectual<br />
mais avançado de São Paulo. Entre os colaboradores do periódico constava<br />
Lívio Abramo, um dos primeiros artistas gráficos da modernidade brasileira, que<br />
então ilustrava matérias daquele jornal; a partir de então e durante toda a década<br />
de 1930, sua obra será marcada por uma notável influência de Käthe Kollwitz.<br />
Lívio Abramo, descendente de imigrantes italianos que seguiram para São<br />
Paulo, trazia do meio familiar uma experiência de ativa participação política e de<br />
empenho cultural; seu avô, Bartolomeu Scarmagnan, com o qual o artista conviveu<br />
e que retratou, isto em 1926, era um „anarquista bakunista militante“, seg<strong>und</strong>o<br />
afirma o próprio artista em entrevista a Vera D´Horta Beccari (BECCARI 1981,<br />
p. 5). Seu aprendizado artístico autodidata iniciou-se naquele ano, com instrumentos<br />
rudimentares: „uma gilete e um pedaço qualquer de madeira“ (ibid., p. 5).<br />
Pouco depois Abramo começou a trabalhar como ilustrador para o semanário<br />
anarquista Lo Spaghetto, porta-voz da comunidade operária italiana em São Paulo;<br />
desse período data uma série de linóleos onde se manifestam preocupações de<br />
f<strong>und</strong>o social, já que o artista sentia de perto os problemas da crise econômica:<br />
Em 1928, 29, já tinha começado a crise que em 1930 explodiu em<br />
todo o m<strong>und</strong>o. Durante todos esses anos eu vivia de expedientes,<br />
181
182<br />
vendia queijos, fazia desenhos para jornalecos... Ninguém tinha dinheiro<br />
para nada. (BECCARI 1983, p. 7)<br />
Daí os temas sempre relacionados ao desemprego, ao operário e a sua condição;<br />
as principais características formais desta série são a priorização da forma<br />
geométrica e ausência de meios tons, que atestam uma fase de experimentação<br />
técnica. Desta destacam-se as gravuras 1° de Maio (1928), Rebelião (1928) e Bastilha<br />
(c. 1927/29) pois se reconhecem trabalhadores empunhando ferramentas como<br />
armas e multidões subleva<strong>das</strong>, reduzi<strong>das</strong> a formas chapa<strong>das</strong>, que se deslocam em<br />
bloco sob eixos diagonais.<br />
Em 1930, Lívio Abramo visita a versão paulistana da exposição de Livros e Artes<br />
Gráficas Alemãs, organizada por Theodor Heuberger:<br />
Vi uma exposição de alemães fabulosos [...]. Havia uma coleção magnífica<br />
de gravuras originais de todos os gravadores alemães expressionistas<br />
– Heckel, Schmidt-Rotlluff, Barlach, Lionel Feininger, Käthe Kollwitz –<br />
só da Käthe Kollwitz havia mais de dez gravuras fabulosas [...] era uma<br />
gravura melhor que a outra. Bem, depois dessa exposição, resolvi – É<br />
isso que eu quero fazer! (BECCARI 1983, p. 7)<br />
E ainda, numa outra declaração sobre a mostra:<br />
Quem mais me impressionou foi Käthe Kollwitz, com suas águas fortes;<br />
tiveram influência sobre mim, pois eu também me interessava por<br />
problemas sociais. (FERREIRA 1983, p. 33)<br />
Como se pode concluir de suas afirmações, o entusiasmo de Lívio Abramo<br />
pela obra de Käthe Kollwitz é notório. Também aqui se verifica a classificação da<br />
artista como „expressionista“, confirmando o equívoco na recepção brasileira da<br />
obra de Kollwitz, ao qual nos referimos anteriormente.<br />
Na década de 1930 Abramo intensifica sua militância política, tornando-se<br />
membro do Partido Comunista, e após sua dissidência deste, do Partido Socialista:<br />
Fui expulso do partido (comunista) [...]. Entrei para o partido Socialista<br />
em 1933, na ala esquerda; toda a turma trotskista estava lá [...] fiquei<br />
muito amigo de Mário Pedrosa [...] e colaborei intensamente na campanha<br />
para criar uma frente única antifascista. (FERREIRA 1983, p. 39)<br />
O engajamento de Abramo, contudo, não condiciona politicamente sua obra,<br />
que como a de Kollwitz, mantém-se autônoma, independente de interesses de<br />
partidos ou tendências panfletárias, como se verifica no realismo socialista.<br />
A amizade com Mário Pedrosa levou-o à colaboração no jornal O Homem<br />
Livre; certamente Abramo não ficou alheio à exposição de Käthe Kollwitz no CAM<br />
e ao ensaio do autor a respeito. É o que pode ser notado em suas ilustrações para<br />
aquele periódico e em sua obra até o final dos anos 1930. Na ilustração para a<br />
matéria Frente Única, publicada a 2 de julho de 1933, as figuras masculinas representa<strong>das</strong><br />
f<strong>und</strong>em-se numa só forma, que ocupa quase toda a superfície gravada<br />
e se impõe monumentalmente ao observador; esse modo de fazer surgir as<br />
figuras do f<strong>und</strong>o negro, iluminando-as com „um sulco de luz“ (FERRAZ 1955, p.
10-11) e f<strong>und</strong>indo-as escultoricamente<br />
numa só forma, indica<br />
o conhecimento do artista<br />
da produção de Käthe<br />
Kollwitz, sobretudo <strong>das</strong> xilogravuras<br />
da série Guerra<br />
(1922/23); o gesto do abraço,<br />
<strong>das</strong> mãos uni<strong>das</strong>, <strong>das</strong> feições<br />
tensas e dos punhos fechados,<br />
também presentes na linguagem<br />
plástica da artista, reforçam<br />
a mensagem de Abramo.<br />
Em outro número do semanário<br />
O Homem Livre (de 24 de<br />
julho de 1933), em duas ilus- Lívio Abramo: Meninas de Fábrica (xilogravura, 1935)<br />
trações diferentes (Desempregados<br />
e Pão) é a temática que faz referência a Kollwitz, enquanto que as feições<br />
caricaturais na primeira e de forma geometrizada na seg<strong>und</strong>a indicam maior<br />
proximidade ao expressionismo do grupo Die Brücke. De 1935 datam Meninas de<br />
Fábrica e Operário, que comprovam que o trabalhador e o universo deste continuam<br />
desempenhando papel principal em sua obra. Meninas de Fábrica é um<br />
documento do cotidiano do proletariado urbano, um registro dessa nova classe<br />
que se impõe como força produtora; formalmente, esta obra remete à Maria<br />
e Elisabeth (1928), de Käthe Kollwitz, pela semelhança do corte <strong>das</strong> figuras femininas<br />
em primeiro plano e pelo trabalho de textura; esta confere maior refinamento<br />
à obra, ao contrário <strong>das</strong> do primeiro período que explorava o contraste<br />
de branco e preto em formas chapa<strong>das</strong> e geométricas. Na xilogravura Operário,<br />
o corte estreito da composição confere monumentalidade à figura do operário:<br />
só o rosto está representado, à maneira do auto-retrato xilogravado de Käthe<br />
Kollwitz, de 1923; também é encontrada certa semelhança na alternância de<br />
traço fino e na abertura de claros, além<br />
da correspondência de expressão, reflexiva<br />
no Operário, questionadora no Autoretrato.<br />
A gravura Rua ultrapassa o aspecto<br />
documento e adquire um claro tom<br />
de denúncia, que transparece na magreza<br />
dos personagens, na pobreza representada.<br />
Essa dimensão dramática é ainda<br />
mais acentuada na série sobre a guerra<br />
civil espanhola, realizada entre 1937 e<br />
1940; nas gravuras desta série notam-se<br />
mudanças de estilo e técnica, sobretudo<br />
nas representações de figuras humanas<br />
em grupo, nas obras Espanha (1938) e nas<br />
duas versões de Êxodo (1939); se até en-<br />
Lívio Abramo: Operário (xilogravura, 1935)<br />
tão o geometrismo e as formas angulosas<br />
183
184<br />
da primeira fase estavam ainda presentes, aqui predominam as linhas curvas em<br />
movimentos rítmicos; em Êxodo nota-se uma aproximação com a obra Revolta<br />
de Käthe Kollwitz, quer quanto à temática (a massa humana mobilizada), quer<br />
quanto à composição (o deslocamento) sugerido pelos traços em movimentos<br />
rítmicos. A derrota da democracia na Espanha, a vitória dos estados totalitários,<br />
durante a primeira fase da II a Guerra M<strong>und</strong>ial, refletida no Brasil através da<br />
ditadura Vargas, teve graves conseqüências para Abramo; o artista passou anos<br />
sem trabalhar artisticamente, voltando a produzir somente em 1947, já numa<br />
fase diversa, onde a temática social é substituída predominantemente pelo interesse<br />
pela paisagem brasileira.<br />
Após 1945, com o final da II a Guerra M<strong>und</strong>ial e a restauração da democracia<br />
no Brasil, surge uma seg<strong>und</strong>a geração de artistas gráficos; trata-se de artistas<br />
figurativos, que constituem uma espécie de resistência à onda internacionalista<br />
abstrata que vinha se impondo também no Brasil no final da década de 40. Ao<br />
caráter apolítico e neutro do abstracionismo, estes jovens artistas, que acabavam<br />
de reconquistar o livre direito de expressão, antepunham uma arte engajada<br />
com forte caráter crítico-social e tendências realistas; esse engajamento coincidia<br />
com a postura política de esquerda, o que muitas vezes implicava numa<br />
associação de sua produção com o realismo socialista, dado nem sempre necessariamente<br />
verdadeiro, como comprova o artista Mario Gruber num depoimento<br />
(AMARAL 1984).<br />
Nesse contexto destaca-se Carlos Scliar (1920-2001), que atua como um verdadeiro<br />
articulador e promotor da gravura brasileira, estabelecendo um fio de<br />
ligação entre artistas do sul do país, São Paulo, Rio e até Recife. Nascido no Rio<br />
Grande do Sul, Scliar esclarece as raízes de sua formação artística e intelectual:<br />
Tínhamos uma fonte de informações muito grande que nos articulava<br />
com a Europa, em particular com a Alemanha, em decorrência da<br />
colonização alemã no Rio Grande do Sul. Assim lembro-me de uma<br />
livraria internacional, de um velho anarquista amigo de meu pai [...]<br />
onde encontrava livros de procedência da Alemanha pré-Seg<strong>und</strong>a<br />
Guerra; na década de 30 comprei livros com reproduções de George<br />
Grosz, Käthe Kollwitz, Otto Dix [...]. A formação cultural alemã naquela<br />
época era f<strong>und</strong>amental. (SCARANCI 1981, p. 60)<br />
A gravura atrairia Scliar por sua reprodutibilidade imediata e, consequentemente,<br />
pela possibilidade de atingir um público maior. Scliar viajava constantemente<br />
para São Paulo desde 1940; em uma dessas ocasiões acabou por levar para<br />
Porto Alegre, que comemorava seu bicentenário, uma exposição com obras dos<br />
melhores artistas paulistas (Aldo Bonadei, Clovis Graciano, Rebolo, Fulvio<br />
Pennacchi, Lívio Abramo, entre outros), rompendo-se, parcialmente, o isolamento<br />
regional. Em 1942, organizou em São Paulo um dos primeiros álbuns coletivos<br />
de gravura, no qual constavam obras de Lívio Abramo, que depois de grande<br />
insistência do jovem artista concordara em participar. Em 1943, Scliar foi convocado<br />
pela FEB a lutar na II a Guerra, o que constituiu uma experiência decisiva<br />
para sua vida artística; desse período datam uma série de desenhos, alguns dos<br />
quais seriam transformados também em xilogravuras. É o caso de Soldados no
front, que traduz ao mesmo tempo sua experiência pessoal e o drama humano<br />
universal; embora seguindo uma ordem diversa de composição, a prof<strong>und</strong>idade<br />
de expressão dos personagens, acentuada pela incisão enérgica na madeira,<br />
este trabalho faz referência à gravura Povo, da série Guerra de Käthe Kollwitz; da<br />
mesma forma como a artista retrata o outro lado da guerra, o de suas vítimas, a<br />
visão de Carlos Scliar, sintetizada em seus Soldados, resume a dimensão humana,<br />
a miséria da guerra, que nada tem a ver com louvor ao heroísmo do realismo<br />
socialista ou com a ácida crítica de Grosz ou Dix. Em 1949, em Paris, entra<br />
em contato com a Associação Latino-Americana; o artista mexicano Leopoldo<br />
Méndez, idealizador do Taller de Gráfica Popular, muito o influenciaria, não só<br />
em sua obra como também, pouco mais tarde, na f<strong>und</strong>ação dos Clubes de Gravura<br />
no Brasil; essa influência faz se sentir nas gravuras do álbum Les Chemins de<br />
Faim, ilustrações para a edição francesa do livro Seara Vermelha, de Jorge Amado.<br />
De volta ao Brasil, em 1950, Scliar f<strong>und</strong>a a revista Horizonte, um fórum de<br />
idéias e espaço para divulgação de obras de artistas gaúchos com postura crítico-social;<br />
entre estes, as obras de Käthe Kollwitz merecem grande destaque,<br />
tendo sido publica<strong>das</strong> diversas vezes, como ilustrações ou até mesmo como<br />
capa da revista; paralelamente à revista, Scliar f<strong>und</strong>a o Clube de Gravura de Porto<br />
Alegre, inspirado na experiência do Taller de Gráfica Popular; as obras produzi<strong>das</strong><br />
pelos artistas do clube possibilitavam o financiamento de Horizonte; um dos números<br />
da revista, de 1951, traz como capa uma gravura de Scliar que representa<br />
uma demonstração popular pela paz, onde a expressão da massa humana<br />
condensada em bloco, mobilizada num objetivo comum, leva mais uma vez a<br />
pensar na Marcha dos Tecelões de Käthe Kollwitz como possível ponto de partida.<br />
A iniciativa de trabalho gráfico em grupo, graças à facilidade de contatos de<br />
Scliar com artistas de outros centros, foi transportada, no início dos anos 50,<br />
para outras cidades, tais como São Paulo, Rio, Santos e Recife. Assim, também<br />
através de Horizonte, que era o órgão de divulgação do Clube de Gravura de<br />
Porto Alegre, muitos artistas brasileiros foram ao mesmo tempo estimulados para<br />
a produção na área da gravura, e entraram em contato com a obra de Kollwitz.<br />
Entre os próprios gaúchos destaque-se Vasco Prado (*1914), cuja ilustração<br />
Para que nossos jovens não morram na Coréia, também publicada em Horizonte<br />
remete ao desenho preparatório para a gravura Campo de Batalha de Käthe<br />
Kollwitz, no que se refere à temática e na construção da composição.<br />
Em São Paulo, também no decênio de 1940, emerge um grupo de jovens que<br />
se dedicou à pesquisa do expressionismo, como tendência artística e plástica. São<br />
eles: Luis Sacilotto, Luis Andreatini, Marcelo Grassmann e Otávio Araujo. Sem<br />
dúvida, conheciam Käthe Kollwitz pois, como freqüentadores da Seção de Arte<br />
da Biblioteca Municipal de São Paulo, tiveram acesso, nesta época, à ampla e<br />
atualizada bibliografia especializada em arte moderna. Esta seção foi criada em<br />
1945, pelo crítico Sergio Milliet, reunindo livros, catálogos, revistas e outros periódicos,<br />
além de ilustrações. Mas já antes, desde 1942, a bibliografia e iconografia<br />
estava sendo reunida. Estes jovens, com o apoio de Carlos Scliar, expõem no Rio<br />
de Janeiro já em 1944 na União Cultural Brasil – Estados Unidos. Além do grupo<br />
expressionista uma nova geração com interesse predominantemente social afirma-se<br />
com a exposição dos „19 Pintores“, cuja fonte de referência também era o<br />
185
186<br />
expressionismo alemão, estando aí incluída a obra de Käthe Kollwitz. Mario Gruber,<br />
a quem referiu-se em nota anterior, é um dos artistas do grupo dos „19“ para quem<br />
o expressionismo e a arte social desempenham um importante papel.<br />
A essa geração pertence Renina Katz (1926), carioca, descendente de poloneses,<br />
radicada em São Paulo desde 1951. Engajada politicamente desde<br />
muito jovem, a artista era ativa participante da UNE (União Nacional dos Estudantes);<br />
numa entrevista declara diretamente ser Käthe Kollwitz seu modelo<br />
de drama e militância:<br />
Eu sou realmente da geração pós-guerra. E isso é importante porque<br />
todo meu trabalho nesse período estava muito marcado pela situação<br />
que vivíamos [...], aquela era uma época de rebelião, de protesto, de<br />
afirmação ideológica [...]. Nós tivemos toda uma aproximação com o<br />
expressionismo, e também algumas coisas mexicanas, como o Posada, o<br />
Leopoldo Méndez [...]. Estas influências, que eram fortes do ponto de<br />
vista da temática social, atingiram muito a minha geração [...]. Este assunto<br />
era o assunto, quer dizer, a miséria, a pobreza, a má distribuição<br />
da riqueza, enfim, todos os temas que o expressionismo alemão muito<br />
antes já tinha tratado, ecoaram aqui entre nós com muito vigor [...].<br />
Durante uns dez anos foi mais ou menos o que eu fiz [...]. O meu modelo<br />
eram os expressionistas mais dramáticos, militantes [...]. Não era exatamente<br />
o Munch, mas a Käthe Kollwitz. (BECCARI 1981, p. 10)<br />
Como Lívio Abramo e Carlos Scliar, a artista refere-se a Käthe Kollwitz como<br />
expressionista considerando principalmente a produção de xilogravura da obra<br />
da artista alemã. De fato, do final dos anos 1940 ao final dos 50, período no qual<br />
reconhece a influência de Kollwitz em seus trabalhos, a artista trabalhou predominantemente<br />
com xilo e linoleogravuras. A descoberta da obra da artista alemã<br />
deu-se por volta de 1950, através de reproduções de um livro „encontrado<br />
num sebo em São Paulo“, conforme nos conta a artista (KATZ 1990, p.2). A<br />
identificação foi imediata, refletindo-se em sua produção dos dez anos seguintes,<br />
caracterizando também sua participação na Bienal de Veneza de 1956 e na<br />
exposição „Contribuição ao Realismo“, no Museu de Arte Moderna de São Paulo,<br />
ocorrida naquele mesmo ano. Nesse período a artista adquiriu dois livros sobre<br />
Käthe Kollwitz, que de certa forma funcionaram como fontes iconográficas: um<br />
livro da coleção „Blaue Bücher“ (SCHMALENBACH 1948) e uma publicação<br />
sueca dos anos 40. Em 1951 Renina participa da f<strong>und</strong>ação do Clube de Gravura<br />
de São Paulo, que também sob o estímulo de Scliar, tornara-se por algum tempo,<br />
um núcleo de difusão <strong>das</strong> artes gráficas, marcado pela participação política e<br />
engajamento social. O grupo organizou um curso de xilogravura, pelo qual a<br />
artista era responsável, e publicou a revista F<strong>und</strong>amentos; Renina Katz conta que<br />
haviam planejado até mesmo uma exposição com obras de Käthe Kollwitz, mas<br />
que, por motivos de organização, não pôde ser realizada. Sobre a experiência<br />
da gravura, f<strong>und</strong>amental nesse período de sua obra como um meio para atingir<br />
um público mais amplo, afirma a artista:<br />
A multiplicação de um original provoca a revisão da atitude diante da<br />
tradição valorativa da peça única, assim como uma renovação no con-
ceito de que é o exclusivo que confere valor ao objeto artístico. Na<br />
obra multiplicada, o valor aumenta na medida do seu desdobramento<br />
e no patrocínio de um convívio sem barreiras, para além <strong>das</strong> diferenças<br />
sociais e distâncias geográficas. (KATZ 1949, p. 17)<br />
Em 1953, Renina expõe desenhos e gravuras neo-realistas, seg<strong>und</strong>o a avaliação<br />
no texto do catálogo, no Museu de Arte Contemporânea em São Paulo. Pelos<br />
títulos <strong>das</strong> obras expostas, tais como Jovem Tecelã, Moça Camponesa, Jovem Mãe,<br />
Camponesas do café, Mulheres no campo, Maternidade, percebe-se já uma associação<br />
temática com Käthe Kollwitz; a gravura reproduzida na capa do catálogo,<br />
Fome, revela não só a recepção de um motivo presente no repertório de Kollwitz<br />
como também claras semelhanças de linguagem expressiva; a concentração na<br />
figura humana, o par mãe-e-filho, contra um f<strong>und</strong>o implacavelmente vazio que<br />
superdimensiona a condição de miséria, remete à Na porta da igreja da artista<br />
alemã; além disso notamos no traço fino empregado por Renina Katz, apesar de<br />
tratar-se de uma xilogravura, uma certa analogia à incisão fina na chapa de metal<br />
utilizada por Kollwitz em seus primeiros ciclos gráficos. Essa gravura fazia parte de<br />
uma série então ainda incompleta Camponeses sem terra – Os Retirantes que, juntamente<br />
com a série Favelas, determinou o cerne de sua produção artística de<br />
1948 até 1956; e estas obras foram publica<strong>das</strong> posteriormente sob o título de Antologia<br />
Gráfica; na introdução desta edição observa Flávio Motta:<br />
Toda uma geração (do após-guerra) saiu para narrar „do povo para o<br />
povo“ [...]. Supunha a sobrevivência de um repertório popular [...]<br />
velhas tradições se reavivaram. Esta por exemplo da gravura em madeira<br />
[...]. Por vêzes, em Renina, lembra as lições de Käthe Kollwitz,<br />
também mulher voltada ao social. O povo sofrido, as crianças abandona<strong>das</strong>,<br />
os lavradores, a guerra, a fome, tudo isso emergia do mesmo<br />
clima nos anos 40/50. (MOTTA 1972, p.43)<br />
Na série Retirantes Renina retrata os personagens que a miséria do Nordeste<br />
obriga a abandonar o campo em direção à cidade, onde nenhum destino melhor<br />
os espera; é o que se lê na expressão de desânimo, tristeza e perplexidade desses<br />
adultos e crianças em sua trajetória pelo interior até a chegada em alguma inóspita<br />
capital. Pelo conteúdo crítico-social e pela estrutura narrativa, os Retirantes<br />
podem ser comparados como um todo ao ciclo A Revolta dos Tecelões de Käthe<br />
Kollwitz; Renina Katz transpõe a atitude de protesto e a revolta contra a injustiça<br />
social da artista alemã para um contexto brasileiro. Numa <strong>das</strong> primeiras imagens<br />
representa um grupo de retirantes caminhando, como o grupo da Marcha dos<br />
Tecelões de Kollwitz: a mesma concentração e determinação no grupo de homens,<br />
mulheres e crianças, apesar do pouco ou nada que lhes oferece a sorte; do<br />
ponto de vista da técnica, como já dito anteriormente, nas xilogravuras deste<br />
ciclo, Renina consegue também um efeito de gravura em metal, devido à incisão<br />
fina sobre a madeira. Numa outra imagem Renina representa uma mocinha com<br />
um menino no colo, cuja pobreza e expressão de perplexidade lembram personagens<br />
tão frequentemente presentes na obra de Käthe Kollwitz, como a menina<br />
com bebê no colo, do cartaz Em prol da Grande Berlim. Na série Favelas nota-se,<br />
187
188<br />
Renina Katz: Retirantes (linoleogravura,<br />
do álbum Antologia Gráfica, 1948-56)<br />
Käthe Kollwitz: As Mães (Die Mütter;<br />
xilogravura, da série Guerra, 1922/23<br />
como em Kollwitz, a preponderante presença feminina; assim como Käthe Kollwitz,<br />
que tematizou a vida da mulher proletária nos cortiços e subúrbios de Berlim no<br />
início do século, Renina relata sobre as favela<strong>das</strong> <strong>das</strong> grandes cidades brasileiras,<br />
e da dura condição de vida: carregando pesados fardos de madeira, baldes d’água<br />
morro acima e bacias de roupa, ou lavando roupas num espaço estreito, improvisado<br />
entre os barracos. Seg<strong>und</strong>o a artista, o predomínio da representação da<br />
mulher em sua obra deste período não é casual: assim como Käthe Kollwitz, Renina<br />
também percebe que é exatamente nas classes menos favoreci<strong>das</strong> que a mulher<br />
desempenha o papel mais importante, no sentido de assegurar a sobrevivência<br />
cotidiana da família (o que se constata nas imagens acima menciona<strong>das</strong>), pois<br />
muitas vezes o homem desesperado pelo desemprego e a miséria, entrega-se ao<br />
alcoolismo, à marginalidade ou abandona a família (KATZ 1990, p. 3). Uma gravura<br />
publicada na Antologia Gráfica e não pertencente aos ciclos acima mencionados<br />
é Morte no Laranjal; trata-se de uma <strong>das</strong> oito linoleogravuras que foram concebi<strong>das</strong><br />
para ilustrar o livro Subterrâneos da Liberdade de Jorge Amado; tanto do<br />
ponto de vista da temática (a violência contra a mulher trabalhadora, particularmente<br />
a camponesa) quanto da composição (o corpo que jaz oblíquo em relação<br />
ao observador) percebemos semelhanças com Estupro do ciclo A Guerra dos Camponeses<br />
de Käthe Kollwitz. Nas gravuras finais da Antologia Gráfica, nota-se uma<br />
mudança em direção à adaptação geométrica da figura humana, como em Mãe e<br />
filho e Meninos, além de maior espontaneidade no traço e no corte da madeira;<br />
mas a escolha dos motivos aludem ainda à presença de Käthe Kollwitz. Apesar <strong>das</strong><br />
mudanças estilísticas e ao desenvolvimento posterior de sua obra em outras direções<br />
(maior preocupação formal, arte neo-figurativa), Renina Katz mantém viva<br />
sua admiração pela artista alemã, tendo recentemente homenageado a artista<br />
com a obra Retrato de Käthe Kollwitz: uma versão aquarelada de um dos mais<br />
expressivos auto-retratos de Käthe Kollwitz. (KATZ 1990).<br />
Autvis, Brasil, 2007
Materiais de arquivo<br />
KATZ, Renina (1949): Biografia. Arquivo Bibliográfico do Museu de Arte Contemporânea de São Paulo.<br />
KATZ, Renina (1990): Entrevista à Eliana de Sá Porto De Simone. Arquivo particular de Eliana de Sá<br />
Porto De Simone.<br />
Bibliografia<br />
ALMEIDA, Paulo Mendes de (1976): De Anita ao Museu. São Paulo.<br />
AMARAL, Aracy (1981): Os Alemães. In: Suplemento Cultural do Estado de São Paulo, ano I / número<br />
40, 15/3/1981.<br />
AMARAL, Aracy (1984): .Arte para quê ? A preocupação social na arte brasileira 1930 - 1970.<br />
São Paulo.<br />
ANCONA LOPEZ, Telê Porto (org.)(1976): Taxi e Cronicas no Diário Nacional. São Paulo.<br />
ANDRADE, Mário de (1933): Käthe Kollwitz. In: Diário de São Paulo 21/9/1930.<br />
ARANTES, Otília Beatriz Fiori (1991): Mário Pedrosa - Itinerário crítico. São Paulo<br />
BECCARI, Vera D’Horta (1981): Renina Katz. In: Cultura (suplemento de O Estado de São Paulo),<br />
4/10/1981.<br />
BECCARI Vera d’Horta (1983) A busca de uma nova linguagem para a gravura. In: Livio Abramo -<br />
Catálogo de Exposição. Centro Cultural São Paulo.<br />
FERRAZ, Geraldo (1955): Lívio Abramo. In: Catálogo de exposição. Museu de Arte Moderna de São Paulo.<br />
FERREIRA, Ilsa Leal (1983): Lívio Abramo.<br />
(Dissertação de Mestrado – USP). São Paulo.<br />
KOLLWITZ, Käthe (1933): Catálogo de<br />
exposição: Clube dos Artistas Modernos. São<br />
Paulo.<br />
KOLLWITZ, Käthe (1989): Die Tagebücher.<br />
(Hrsg. von Jutta-Bohnke Kollwitz). Berlin.<br />
MOTTA, Flávio (1972): Renina Katz – Antologia<br />
Gráfica. Xilogravuras e Linóleos: 1948 - 1956.<br />
São Paulo.<br />
PEDROSA, Mário (1975): Entre a Semana e<br />
as Bienais. In: M<strong>und</strong>o, homem, arte em<br />
crise. São Paulo, p. 28.<br />
PEDROSA, Mário (1933) As tendências sociais<br />
da arte e Käthe Kollwitz In: O Homem Livre,<br />
p.1-14.<br />
SCARINCI, Carlos (1981): A Gravura<br />
Contemporânea no Rio Grande do Sul 1900<br />
- 1980. Alteridade / Identidade. (Dissertação<br />
de Mestrado – USP). São Paulo.<br />
SCHMALENBACH, Fritz (1948): Käthe Kollwitz.<br />
(Die Blauen Bücher). Bern.<br />
Renina Katz: Favela (linoleogravura, do<br />
álbum Antologia Gráfica, 1948-56)<br />
Dr a . Eliana de Sá Porto De Simone (São Paulo, 1957) se formou em História da Arte<br />
pela Universidade de São Paulo. Vive atualmente na Alemanha, onde trabalha como docente<br />
convidada na Universidade de Heidelberg e como curadora independente, realizando projetos<br />
na área da arte brasileira contemporânea.<br />
189
Recortes fotográficos: Encontro de educadores sociais,<br />
com participação de voluntárias alemãs, na ONG<br />
COMVIVA (Centro de Educação Popular Comunidade<br />
Viva); fonte do desenho de f<strong>und</strong>o: Instituto Paulo Freire<br />
(www.paulofreire.org, página: Paulo Freire/Vida e Obra)
Protagonismo juvenil:<br />
Proposta para a formação de educadores sociais e<br />
agentes voluntários em projetos sócio-comunitários.<br />
A contribuição do pensamento de Paulo Freire<br />
Alexandre Magno Tavares da Silva<br />
Caruaru<br />
Resümee: Dieser Artikel erörtert einige Erfahrungen <strong>und</strong> Reflexionen<br />
aus der Arbeit von Erzieher(inne)n <strong>und</strong> Volontären,<br />
die in sozialgemeinschaftlichen Projekten zur Betreuung<br />
von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen in Armutsverhältnissen in<br />
der nordostbrasilianischen Region des agreste pernambucano<br />
tätig sind. Ausgehend von den Überlegungen<br />
Paulo Freires werden wir uns auf den ‚Kinder- <strong>und</strong><br />
Jugendprotagonismus‘ als sozialerzieherische Kategorie<br />
<strong>und</strong> Praxis konzentrieren, um die Stellung dieses Konzepts<br />
im Lern- <strong>und</strong> Arbeitsprozess von Sozialerzieher(inne)n<br />
sowie freiwilligen Sozialarbeitern in nicht-schulischen Bereichen<br />
zu erörtern. Diese Diskussion deutet auf die Notwendigkeit<br />
hin, eine Reihe von sozialerzieherischen Erfahrungen<br />
zu fokussieren <strong>und</strong> zu thematisieren, die sich<br />
im sozialen Alltag in Ländern der ‚Dritten Welt‘ entfalten<br />
<strong>und</strong> die – obgleich reich an Bedeutung <strong>und</strong> Potenzial (für<br />
die Konfrontation mit einer lebensverneinenden Wirklichkeit)<br />
– Gefahr laufen, unbeachtet zu bleiben vonseiten der<br />
akademischen Aufmerksamkeit, die diese Bereiche nicht<br />
als Räume der Wissens- <strong>und</strong> Kompetenzentwicklung wahrnimmt.<br />
Andererseits intensiviert sich die Teilnahme junger<br />
Leute aus dem internationalen Volontariat, besonders<br />
auch aus Deutschland, die monatelang bei sozialgemeinschaftlichen<br />
Projekten mitwirken. Wenn der Kinder-<br />
<strong>und</strong> Jugendprotagonismus die theoretisch-methodologischen<br />
F<strong>und</strong>amente sozialerzieherischer Ausbildung<br />
<strong>und</strong> Arbeit verändert, so beeinflusst dieser Rahmen auch<br />
in bedeutsamer Weise die Theorie <strong>und</strong> Praxis solcher freiwilligen<br />
Sozialarbeit, die ermöglichen soll, <strong>das</strong>s diese interkulturelle<br />
Erfahrung dazu beiträgt, eine gerechte <strong>und</strong> solidarische<br />
Gesellschaft zu schaffen.<br />
Abstract: This article discusses some experiences and reflections<br />
arising from the work of educators and volunteers engaged<br />
191
192<br />
in social-communitary projects for care of children and juveniles<br />
in situations of poverty and social exclusion in Brazil’s<br />
northeastern region called agreste pernambucano. Based<br />
on cogitations of Paulo Freire the article concentrates on<br />
‚juvenile protagonism‘ as social educational category and<br />
practice, in order to discuss its place in the formative process<br />
of social educators as well as social volunteers in nonscholar<br />
environments. This discussion points to the necessity<br />
to focus on and bring up a series of experiences in social<br />
education which evolve in common social life in countries<br />
of the ‚Third World‘ and which – albeit charged with significations<br />
and potentials (for confronting a life negating reality)<br />
– risk to pass unregarded by academic attention that<br />
doesn’t perceive these contexts as spaces for the production<br />
of knowledge and competences. On the other side,<br />
there is an increasing participation of young people, from<br />
the international voluntariat, especially from Germany as<br />
well, who interact during months in social-communitary<br />
projects. If the infant-juvenile protagonism is changing the<br />
theoretical and methodological fo<strong>und</strong>ations of social educational<br />
training and work, this situation also significantly<br />
influences the theory and practice of such voluntary social<br />
work which should make it possible that this intercultural<br />
experience may contribute to construct an equitable and<br />
solidary society.<br />
Introdução<br />
Nos últimos anos tem-se percebido um aumento significativo do engajamento<br />
de jovens e adultos que, inquietos diante da situação de pobreza e marginalização,<br />
vão tentando dar sua parcela de contribuição no elaborar estratégias de<br />
compreensão e intervenção neste quadro. Podemos exemplificar a multiplicação<br />
dos espaços de participação popular: nos Projetos Sócio-Educativos, Observatórios<br />
da Cidadania, Conselhos Municipais de Direito, Movimentos Sociais<br />
e Populares, etc. muitos desses jovens e adultos atuam em projetos sócio-comunitários,<br />
que cada vez mais tornam-se alvos de pesquisas e programas<br />
extensionistas de universidades.<br />
Se por um lado a produção de conhecimentos no espaço acadêmico está carregada<br />
de possibilidades teóricas de interpretação e análise da estrutura social 1<br />
(sobretudo quanto aos elementos geradores <strong>das</strong> condições de marginalização e<br />
empobrecimento da maior parte da população e as respostas viabiliza<strong>das</strong> pela<br />
sociedade civil organizada), por outro lado torna-se necessário que este espaço<br />
acadêmico conheça de que forma está ocorrendo o processo de dar-se conta da<br />
realidade social, da produção de saberes nas práticas cotidianas, sugeri<strong>das</strong> pelos<br />
1. Com referenciais psicológicos, filosóficos, econômicos, sociológicos, antropológicos etc.
próprios educadores e educadoras sociais; torna-se necessário precisamente<br />
para possibilitar um reconhecimento e visualização do papel desses atores sociais<br />
(que atuam em espaços não-escolares, projetos sociais, de desenvolvimento,<br />
etc.) enquanto sujeitos históricos, produtores de saberes e conhecimentos, cuja<br />
experiência educativa é construída sobretudo com a colaboração da atuação<br />
<strong>das</strong> crianças, adolescentes e jovens na teia dos acontecimentos no cotidiano<br />
social (cf. GRACIANI 1997).<br />
Esta situação exige do espaço acadêmico um revisitar <strong>das</strong> formas:<br />
• de aprender com as experiências cotidianas,<br />
• de atuar junto às comunidades,<br />
• de dialogar com os espaços escolares e não-escolares,<br />
• no exercício de planejamento, execução e divulgação <strong>das</strong> pesquisas científicas,<br />
• na montagem dos projetos extensionistas, e especialmente<br />
• do compromisso ético enquanto acadêmicos, junto aos mais empobrecidos e<br />
marginalizados.<br />
1. Adolescentes e jovens enquanto protagonistas<br />
no espaço social: o para que e o para quem<br />
Embora se perceba a importância dos adolescentes e jovens em seu papel<br />
ativo dentro da estrutura social, estes ainda não foram reconhecidos plenamente<br />
enquanto sujeitos históricos e sociais, continuando sendo excluídos <strong>das</strong> formas<br />
ativas de participação social e política 2 . Uma <strong>das</strong> causas para esta postura decorre<br />
da imagem construída sobre a infância e a juventude ao longo da história (sobretudo<br />
sua ausência como função ativa dentro da História da Educação), que<br />
muitas vezes está enraizada em um olhar sociocêntrico por parte do m<strong>und</strong>o adulto<br />
3 . Por outro lado há também a falta de conhecimento em torno da produção de<br />
saberes e competências desses adolescentes e jovens que nas suas experiências<br />
de vida no cotidiano social, i.e. no m<strong>und</strong>o da escola, da comunidade, da família,<br />
do trabalho, etc (cf. SILVA 2001, p.12-13), tecem novas formas de olhar, interpretar<br />
e agir e cujo resultado está cada vez mais fazendo parte <strong>das</strong> iniciativas de formação<br />
dos educadores e educadoras sociais. Como exemplo podem ser citados os<br />
vários grupos de discussão sobre políticas públicas em alguns municípios do agreste<br />
pernambucano e que estão exigindo dos educadores sociais uma discussão em<br />
torno à necessidade de um maior interagir com os adolescentes e jovens dentro<br />
dessas questões, como também uma participação propositiva dos educadores e<br />
2. „ [...] el concepto de niño es un concepto culturalmente construido y por ello mismo no es<br />
universalizable en su formación ni homogeneizable; no puede por ello ser dogmático pues<br />
es por naturaleza evolutivo y sobre-determinado por los procesos socio-culturales y económicopolíticos.<br />
[...] Tenemos que reconocer que las culturas dominantes nos imponen una ideología<br />
del niño que es funcional a los proyectos sociales, económicos y políticos de la dominación“<br />
(SCHIBOTTO 1990, p. 363s).<br />
3. „Naquele momento, uma versão marginalizadora e preconceituosa <strong>das</strong> crianças <strong>das</strong> classes<br />
populares agudizava-se e tornava-se hegemônica, não só no cenário nacional mas em todos<br />
os países do então chamado Terceiro M<strong>und</strong>o, de tal modo que a infância pobre e fracasso na<br />
escola pública apareciam como elementos de um inseparável e quase insuperável problema<br />
social“ (KRAMER / LEITE 2001, p. 15).<br />
193
194<br />
educadoras junto aos conselhos municipais na área de saúde, educação, assistência<br />
social, desenvolvimento sustentável, etc.<br />
A conquista do Estatuto da Criança e do Adolescente 4 contribuiu significativamente<br />
para a reconstrução da imagem em torno <strong>das</strong> crianças, adolescentes e<br />
jovens, passando a serem vistos de Objetos (passivos) a Sujeitos Sociais (ativos)<br />
nas ações sócio-educativas; entretanto ainda se precisa trilhar um longo caminho,<br />
sobretudo no revisitar alguns paradigmas e conceitos no campo pedagógico<br />
e sociológico, para dar conta desta nova realidade.<br />
Esta mudança de olhar encontra na categoria Protagonismo um elemento<br />
favorável para o entendimento e a efetivação, não apenas dos direitos f<strong>und</strong>amentais<br />
<strong>das</strong> crianças, adolescentes e jovens (que está resumido no artigo 4º do Documento<br />
5 ), mas para dar-se conta do protagonismo implícito no cotidiano <strong>das</strong> lutas<br />
populares em suas diversas formas de manifestação. Nesse sentido, o resgate, o<br />
entendimento, a tematização em torno da criança, do adolescente e do jovem<br />
enquanto sujeitos históricos e sociais, passa necessariamente pelo conhecimento<br />
e discussão em torno da presença desse protagonismo também nas lutas populares.<br />
Este protagonismo na experiência da América Latina está assentado em um<br />
tripé, sendo as bases: (a) Teologia da Libertação, (b) Pedagogia Libertadora, (c)<br />
Surgimento dos Movimentos Sociais organizados.<br />
Protagonismo infanto-juvenil:<br />
referência no protagonismo <strong>das</strong> classes populares<br />
Para falar sobre o protagonismo infanto-juvenil gostaríamos de tomar como<br />
referência dois aspectos específicos: (1 o .) A situação de exclusão social na qual<br />
crianças e adolescentes estão inseridos, (2 o .) As estratégias de enfrentamento por<br />
parte <strong>das</strong> classes populares.<br />
Seg<strong>und</strong>o os dados do Atlas da exclusão social no Brasil (CAMPOS et al. 2003),<br />
a exclusão social no Brasil é mais acentuada nas regiões do Norte e do Nordeste.<br />
Contando com 28% da população nacional, o Nordeste abriga 72,1% do total de<br />
municípios brasileiros com maior índice de exclusão. No Nordeste, especialmente,<br />
60% da população vivem abaixo da linha de pobreza – 32% abaixo da linha de<br />
indigência – contra 20% na região Sudeste, onde apenas 6,8% da população<br />
vivem abaixo da linha de indigência. Em virtude da elevada incidência de pobreza<br />
no Nordeste, a região, apesar de abrigar apenas 29% da população brasileira,<br />
responde por mais da metade – 51% – dos pobres do País.<br />
Assim, nossa pobreza é em grande medida, um problema nordestino, embora<br />
esteja presente em todo o território nacional. O acumulo de renda por parte da<br />
minoria mais rica é apontado como algumas <strong>das</strong> causas desta situação, não apenas<br />
no Brasil mas em vários países do „Terceiro M<strong>und</strong>o“. Diante desta realidade, nas<br />
4. Lei 8.069 de 13 de julho de 1990 que garantiu os direitos <strong>das</strong> crianças e adolescentes no Brasil.<br />
5. „É dever da família, da comunidade, da sociedade em geral e do Poder Público assegurar,<br />
com absoluta prioridade, a efetivação dos direitos referentes à vida, à saúde, à alimentação,<br />
à educação, ao esporte, ao lazer, à profissionalização, à cultura, à dignidade, ao respeito, à<br />
liberdade e à convivência familiar e comunitária“ (BRASIL. Estatuto da Criança e do<br />
Adolescente, 1990).
pequenas comunidades situa<strong>das</strong> na periferia <strong>das</strong> grandes cidades, podem ser vistos<br />
diversos exemplos de estratégia de sobrevivência, através da atuação <strong>das</strong> pessoas<br />
no setor informal da economia. A nível m<strong>und</strong>ial a Organização Internacional do<br />
Trabalho, ao se referir sobre o conceito e impactos do setor informal, aponta o<br />
caráter do trabalho familiar, a pouca produtividade tecnológica e habilidade de<br />
trabalho, o ritmo intensivo, um desenvolvimento à margem dos processos sistemáticos<br />
de formação para o trabalho e sem regulação oficial pelas leis trabalhistas .<br />
Diante deste quadro pode-se verificar que quem tem jeito, corta cabelo, ou<br />
cozinha, faz docinhos para vender fora, costura, faz pequenos artesanatos, bijuterias,<br />
faz serviço de reparação em aparelhos eletrodomésticos, serviços de pintura,<br />
corte e costura, restauração de móveis e utensílios domésticos, serviços de reparo<br />
em residências, lavagem de roupas etc. No vasto m<strong>und</strong>o da economia informal<br />
proliferam as atividades que muitas vezes escapam ao controle do sistema político-educativo<br />
e econômico. Assim, milhares de pessoas em diversas partes do<br />
Brasil e do m<strong>und</strong>o vivem/sobrevivem destas estratégias, espaços criados, alguns<br />
conquistados e/ou mantidos sob pressão e/ou „aliança“ com o sistema. 6<br />
Neste processo é freqüente a presença de adolescentes e jovens 7 . Para muitos<br />
desses sujeitos poucas são as oportunidades cria<strong>das</strong> para que possam refletir sobre<br />
suas condições e experiências de vida enquanto trabalhadores ou iniciantes<br />
no m<strong>und</strong>o do trabalho.<br />
As experiênias nas quais estão inseridos estão rechea<strong>das</strong> de representações; é<br />
preciso ouví-las, possibilitar-lhes a palavra. Deixá-los falar do jeito que vivem e/ou<br />
sobrevivem, contar suas histórias, dizer como vêem o m<strong>und</strong>o, como percebem a<br />
realidade, seja na zona rural seja na urbana, apontarem as situações de exploração<br />
e como estão construindo estratégias de enfrentamento 8 .<br />
Eles e elas têm seus anseios, esperanças e projetos; e abrem pequenas „brechas“<br />
dentro do sistema socio-político-econômico, criando elementos para que possam<br />
permanecer dentro da vida. Entre esses elementos está a inserção nos movimentos<br />
sociais populares, nos quais pouco a pouco vão criando formas de identificar seus<br />
saberes e expressões de competências, numa forma de protagonismo. Ao falar sobre<br />
esta inserção do adolescente e o jovem enquanto Sujeitos Sociais, CUSSIANOVICH<br />
(1999), aponta o protagonismo como importante categoria na história sócio-cultural<br />
da criança e destaca seus cinco elementos importantes:<br />
• Protagonismo como um Direito Humano;<br />
• Protagonismo como expressão de solidariedade;<br />
• Protagonismo é independente de idade;<br />
6. Muitos desses espaços não oferecem apenas a possibilidade de gerar renda como também<br />
de formação alternativa para o trabalho, considerando que o acesso às agências formais de<br />
preparação para o m<strong>und</strong>o do trabalho é praticamente impossível para a maior parte da<br />
população.<br />
7. Seg<strong>und</strong>o dados da Organização M<strong>und</strong>ial do Trabalho publicado pelo UNICEF (1997), o<br />
número de crianças trabalhadoras no m<strong>und</strong>o está entre 100 e 200 milhões. Deste número<br />
cerca de 73% são compostos por meninas e meninos com idade de 10 a 14 anos.<br />
8. „A fala da criança é tão importante quanto a ação para atingir um objetivo. As crianças não<br />
ficam simplesmente falando o que elas estão fazendo; sua fala e ação fazem parte de uma<br />
mesma função psicológica complexa, dirigida para a solução do problema em questão“<br />
(VIGOTSKI 1999, p. 34).<br />
195
196<br />
• Protagonismo enquanto conceito e eixo prático da participação;<br />
• Protagonismo enquanto exercício de organização.<br />
Aqui, quer se entender o protagonismo dos adolescentes e jovens como expressão<br />
de suas críticas sobre a estrutura social criando formas e soluções para<br />
seus problemas.<br />
Entre los factores que han permitido la emergencia de ciertas<br />
expresiones de protagonismo de los niños y adolescentes trabajadores<br />
en América Latina podemos señalar: - La irrupción de las organizaciones<br />
populares como actores sociales; el protagonismo de la mujer popular<br />
organizada en la vida cotidiána de las poblaciones; los movimientos<br />
sociales en favor de la infancia en los últimos 15 años y su impacto en<br />
la defensa de los derechos del niño; las germinales experiencias de<br />
organización de los niños trabajadores de la década de 70 como el<br />
Manthoc en Perú, etc. y el esfuerzo por acompañar estas experiencias<br />
con una reflexión teórica. (MNNATSOP 1997, p. 90)<br />
Dentro do processo da luta pela sobrevivência, adolescentes e jovens, sobretudo<br />
em países do „Terceiro M<strong>und</strong>o“, vão elaborando e expressando diferentes formas<br />
de verem a si mesmos e o m<strong>und</strong>o que os cerca. Neste processo, o debate latinoamericano<br />
sobre o protagonismo infanto-juvenil vem ganhando gradativamente<br />
seu espaço e possui seus primeiros momentos concretos nos fins dos anos 70 9 .<br />
Este protagonismo possui suas raízes sobretudo no protagonismo <strong>das</strong> classes<br />
populares organiza<strong>das</strong> na América Latina e está ligado, como aludimos acima, às<br />
novas correntes pedagógicas que se concretizam:<br />
• na pedagogia da Libertação;<br />
• no surgimento dos movimentos sociais;<br />
• na Teologia da Libertação;<br />
• na organização de adolescentes e jovens trabalhadores.<br />
Dentro desta perspectiva, surge um novo olhar em torno da adolescência e<br />
da juventude, de perceber que por exemplo, a luta pelos Direitos não é monopólio<br />
exclusivo dos adultos, que adolescentes e jovens estão a cada dia construindo<br />
a necessidade de refletirem sobre suas experiências de vida. Antes uma <strong>das</strong><br />
grandes motivações eram as condições de trabalho, e hoje outros focos foram<br />
descobertos, como é o caso da luta pela produção cultural, políticas públicas e<br />
sociais, lazer, moradia, etc. Nesse sentido, podemos abaixo destacar algumas<br />
características desse protagonismo 10 .<br />
9. Como exemplo podemos citar o Movimiento de Niños Trabajadores Hijos de Obreros Cristianos<br />
MANTHOC, do Peru, que nasceu dentro do movimento da juventude trabalhadora em 1976.<br />
10. „[...] hablar de protagonismo infantil, de organización de los niños trabajadores, de los niños<br />
como sujeto y movimiento social significa romper con los esquemas dominantes, con prenociones<br />
y prejuicios fuertemente enraizados. Significa poner de cabeza la relación entre adulto y niño,<br />
proyectar un modelo de niñez totalmente diferente, en fin cuestionar radicalmente „la exaltación<br />
de la infancia como período de protección y preparación a la vida“ exaltación que „permite<br />
privatizar al niño, confinarlo al ámbito de la familia, de la pequeña vecindad; permite oír su<br />
tono de voz para no escuchar el mensaje de su palabra“ (Alejandro Cussiánovich: Algunas<br />
notas sobre los niños como sujeto social; documento del MANTHOC não publicado).
• Participação em ações que dizem respeito a problemas relativos ao bem comum,<br />
na escola (grêmios estudantis, conteúdos escolares cada vez mais relacionados<br />
à experiência de vida dos adolescentes e jovens), na comunidade<br />
ou na sociedade mais ampla – como exemplo podemos citar a iniciativa de<br />
uma professora de História em uma escola pública da cidade de Caruaru que<br />
estimulou seus alunos a escreverem a história do bairro no qual a escola está<br />
localizada. Nesta ação os alunos passaram a conhecer melhor as necessidades,<br />
avanços e as histórias dos personagens do bairro;<br />
• Participação na organização e planejamento <strong>das</strong> atividades, no que envolve o<br />
conhecimento relacionado, da execução, dos resultados – como exemplo<br />
podemos citar a participação de educandos e educan<strong>das</strong> na elaboração dos<br />
programas de atividades sócio-educativas (oficinas de arte, música, artesanato,<br />
horticultura, etc.);<br />
• Passagem da mensagem da cidadania criando acontecimentos em que a criança<br />
e os adolescentes ocupam uma posição de centralidade – Como por<br />
exemplo nas oficinas da cidadania realiza<strong>das</strong> em vários bairros da cidade de<br />
Caruaru (Vila Kennedy, Vila Pe. Inácio, Cedro, Morro Bom Jesus, COHAB III),<br />
nas quais os(as) adolescentes e jovens partilharam os diversos olhares em<br />
torno dos bairros em suas histórias, necessidades e possibilidades de enfrentamento<br />
da falta de condições de vida (carta ao prefeito, elaboração de um<br />
informativo sobre cidadania, etc.);<br />
• Formar superior de educação para a cidadania não por palavras, mas pelo<br />
curso dos acontecimentos – p. ex. através da participação de educandos e<br />
educan<strong>das</strong> em seminários e fóruns municipais de defesa dos direitos da criança<br />
e do adolescente, participação nas manifestações públicas como GRITOS<br />
DOS EXCLUÍDOS ou CAMPANHAS DA FRATERNIDADE, etc.;<br />
• Protagonismo concebe o adolescente e o jovem como fonte de iniciativa, que<br />
é ação; como fonte de liberdade, que é opção; e como fonte de compromissos,<br />
que é responsabilidade – p. ex. na participação de assembléias avaliativas nos<br />
projetos sócio-comunitários, na montagem de informativos, jornais, encontros<br />
de formação exclusivo para os adolescentes e jovens, etc.;<br />
• É um tipo de intervenção no contexto social para responder problemas reais<br />
em que a criança e o adolescente são atores principais.<br />
Os aspectos citados acima surgiram do diálogo entre educadores sociais e<br />
educandos(as) nos vários momentos de partilha de saberes dentro dos espaços<br />
escolares e não-escolares. 11 .<br />
2. Dando-se conta da rua enquanto espaço de atuação<br />
Refletindo sobre a leitura do protagonismo infanto-juvenil enquanto elemento<br />
na formação dos educadores sociais e de participantes em programa de<br />
11. Entre esses momentos podemos citar os Encontros Nacionais do Movimento de Meninos e<br />
Meninas de Rua, dos Seminários da Pastoral do Menor da CNBB, dos cursos de formação de<br />
educadores sociais, dos encontros de formação para meninos e meninas em projetos<br />
comunitários etc.<br />
197
198<br />
voluntariado internacional, partimos de uma <strong>das</strong> idéias do pensador Paulo Freire<br />
em torno do dar-se conta da criança, do adolescente e dos jovens como sujeitos<br />
sociais e culturais.<br />
Nesse processo de dar-se conta, podemos destacar alguns cenários, cujos<br />
elementos e acontecimentos presentes, favorecem a discussão e análise dos adolescentes<br />
e jovens em condições de pobreza como sujeitos sociais e protagonistas.<br />
Estes cenários são de importância f<strong>und</strong>amental no processo do dar-se conta<br />
do educador e da educadora social e do voluntário em torno da experiência do<br />
protagonismo.<br />
Podemos destacar alguns cenários importantes desta trama:<br />
• Nas condições de vida;<br />
• Na experiência de vida junto aos educadores dentro dos Movimentos Sociais<br />
Populares;<br />
Em suas condições de vida<br />
Não se pode discutir sobre protagonismo infanto-juvenil no que se refere ao<br />
seu dar-se conta, sem uma atenção ao processo sócio-histórico da sociedade<br />
globalizada e capitalista, sobretudo o desenrolar dos acontecimentos na sociedade<br />
brasileira 12 . A participação coercitiva sobretudo dos adolescentes e jovens<br />
brasileiros no m<strong>und</strong>o do trabalho, teria que extravasar <strong>das</strong> fábricas para os espaços<br />
públicos, transformando-se, com isso, os filhos dos trabalhadores em „meninos<br />
e meninas NA e DE rua“. 13<br />
Atualmente eles estão nas ruas e praças <strong>das</strong> grandes e pequenas cidades, tanto<br />
na zona rural como na urbana. Na andarilhagem pelas ruas, vão fazendo de<br />
tudo: produzem pequenos objetos, catam lixo (papel, vidros, latas etc.), vendem<br />
bombons, flores, santinhos e bugigangas, engraxam sapatos, lavam e tomam conta<br />
de automóveis em estacionamentos etc. Elas e eles se viram. Jogam futebol,<br />
brincam de esconder. Dormem na calçada, fogem da polícia. Estão nas ruas.<br />
A Rua, adolescentes e jovens<br />
Nas ruas, muitas vezes dormem, trabalham, amam, roubam, comem, andam<br />
sem rumo, brincam, apanham, vivem e morrem. A rua aparece como um espaço,<br />
em que muitas vezes é possível retirar aquilo que lhes foi tirado e negado pela<br />
estrutura social. São estas cenas que podem ser vistas ao se caminhar pelas ruas<br />
tanto dos grandes centros urbanos, como também <strong>das</strong> pequenas cidades situa<strong>das</strong><br />
nas áreas rurais, dando, assim, o sinal de que a presença de adolescentes e<br />
jovens presentes nas ruas não é mais um fenômeno característico dos grandes<br />
centros urbanos.<br />
12. „Diferentemente do caso europeu, a expansão capitalista brasileira, no século XIX não<br />
incorporou suficientemente os grupos proletários adultos disponíveis nas cidades, nem os<br />
liberados pelos setores produtivos estagnados, como na agricultura. Ao contrário, desarticulou<br />
a produção rural e a pequena indústria familiar, desestabilizando a vida <strong>das</strong> populações<br />
liga<strong>das</strong> a essas atividades e incrementando a migração interna, em busca de oportunidades,<br />
que a cidade não tinha condição de oferecer satisfatoriamente“ (SILVA 2001 p.14).<br />
13. O conceito de Meninos e Meninas de Rua é um dos mais ambíguos e de difícil manejo<br />
analítico-operativo, pois abarca um conjunto de situações muito diferencia<strong>das</strong> (ver<br />
SCHIBOTTO 1990, p. 176).
Entretanto, pensa-se muitas vezes que estar na rua é estar fora da casa, portanto<br />
sem laços familiares; é estar fora do mercado de trabalho. Nesse sentido, a rua<br />
sempre é pensada como um ‚estar fora‘. Esta mesma lógica representa as crianças,<br />
adolescentes e jovens. São chamados de: „pivetes, moleques, trombadinhas; cheira<br />
cola, menores de rua, marginal, malandro, meninos e meninas de rua, pibes, riesgo<br />
cien, gurises, chiquilines, callejeros, petisos, piranhas, pajeros fruteros, polilas, guambras,<br />
gamines, chinos, pelaos, chiquillos, cipotes, quinchos, güirros, bichos, patojos, chavos,<br />
pelones, palomos, etc“ (LIEBEL 1994, p. 14).<br />
Embora a experiência nas ruas possua uma marca de extrema marginalização,<br />
os que transitam por ela não podem ser tomados enquanto ‚fora‘ da<br />
realidade. Estar na rua não significa de modo algum a não existência de outros<br />
referenciais (sobretudo de família, de casa, de escola, da comunidade),<br />
muito pelo contrário, pode significar de início, no processo de aprendizagem<br />
que nela se desenrola, a busca de alternativas à precariedade desses espaços<br />
(da família, da casa e da escola). Essa aprendizagem possui muitas vezes um<br />
caráter contraditório do qual os educadores sociais e voluntários precisam<br />
estar atentos para não terem uma visão idealista e romântica da rua, como<br />
também não deixar de aproveitar os saberes que nela são produzidos e que<br />
são base para a construção de uma proposta sócio-educativa que venha a<br />
transformar a vida desses meninos e meninas (a mesma enxada que pode trazer<br />
a opressão para o trabalhador do campo, pode ser transformada em uma<br />
ferramenta de luta e transformação social).<br />
3. Paulo Freire e os educadores sociais: possibilidades de<br />
uma proposta alter(n)ativa no mirar a criança e o adolescente<br />
enquanto protagonistas na ação sócio-educativa<br />
No início dos anos 80 eram poucas as oportunidades ou reflexões que pudessem<br />
ajudar os educadores sociais a refletirem suas práticas e construirem uma<br />
proposta educativa centrada na necessidade dos educandos e educan<strong>das</strong>. Foi aí<br />
que em meados de 1983, Paulo Freire se encontrava com Educadores e Educadoras<br />
Sociais que atuam no atendimento a crianças e adolescentes em situação<br />
de pobreza no Brasil; o momento era o de refletir e construir com o educador<br />
(que tanto influenciou as propostas alternativas de atendimento à criança e ao<br />
adolescente), novas possibilidades de enfrentamento da situação de marginalização<br />
na qual as crianças, adolescentes e jovens se encontravam. Naquela ocasião<br />
ele chamava atenção para a construção de uma nova postura educativa dos<br />
educadores e educadoras sociais no trabalho junto às crianças, adolescentes e<br />
jovens que pouco a pouco se descobriam enquanto sujeitos sociais e protagonistas<br />
na ação sócio-educativa.<br />
A partir daquele momento, educadores/as embarcavam num processo de elaboração/criação<br />
constante de suas vi<strong>das</strong>, de suas práticas; vendo e revendo,<br />
fazendo e refazendo princípios educativos voltados a um atendimento não<br />
paternalista, mas sobretudo libertador. Esse processo procura tomar como ponto<br />
de partida o Pensar a Prática do cotidiano tanto nas situações de Rua, como<br />
dentro dos Projetos Sócio-Comunitários. Nesta convivência, educadores e edu-<br />
199
200<br />
cadoras iam construindo condições para efetivar situações grupais autênticas em<br />
que se pudessem captar as expectativas, histórias de vida, valores etc., através da<br />
real participação da Meninada 14 .<br />
Passados vinte e quatro anos, a participação ativa <strong>das</strong> crianças, adolescentes e<br />
jovens (sobretudo os dois últimos) no processo educativo vem se tornando um<br />
elemento presente e que vem colaborando, levantando novos olhares em torno<br />
da formação do/a educador/a social, e dos voluntários, no sentido de perceberem<br />
a necessidade de se identificarem com as necessidades dos adolescentes e<br />
jovens, sem perder sua individualidade, buscarem com eles e elas as propostas<br />
para suas inquietações do ‚existir no m<strong>und</strong>o‘, fazendo a história com as crianças, os<br />
adolescentes e os jovens.<br />
Necessário se torna o educador e a educadora perceberem que a Rua não é<br />
só medo e também não é só brincadeira. As crianças, adolescentes e jovens,<br />
efetivamente, tem de se ‚virar‘, aprender a se ‚safar‘ e a se ‚sustentar‘. Conquistar<br />
o ponto de venda, travar relações amigáveis ou não, com outras crianças (e<br />
mesmo com adultos) que com ela disputam o espaço, se inserir ou não em<br />
atividades ilícitas, lidar com a pressão dos órgãos repressivos, lidar com a identidade<br />
marginal criada, que ela sente no olhar <strong>das</strong> pessoas. Por outro lado na<br />
sociedade capitalista industrial, a rua deixa de ser um lugar comum, espaço<br />
geral de sociabilidade para se restringir a um espaço monofuncional destinado<br />
a circulação. O espaço de socialização livre da rua é substituído pelo <strong>das</strong> instituições,<br />
sobretudo, da escola.<br />
Procurando se dar conta da cotidianidade de vida nas ruas<br />
Para enfrentar este espaço resta sobretudo aos adolescentes e jovens desenvolverem<br />
estratégias de sobrevivência. Como destacou Paulo Freire em sua conversa<br />
com os educadores e educadoras sociais,<br />
Quem vive sob o ataque generalizado, metido num terreno como esse,<br />
ou inventa manhas de defesa, entre elas a da „insensibilidade“, ou não<br />
sobrevive. Para sobreviver tem que robustecer a pele, a mente, a<br />
emocionalidade. É preciso, então entender o jogo de manhas f<strong>und</strong>amentais,<br />
que são as expressões <strong>das</strong> resistências, que as crianças têm<br />
que criar para poderem sobreviver enquanto presenças no m<strong>und</strong>o.<br />
(FREIRE 1985, p. 20)<br />
É preciso, sobretudo entender a cotidianidade da rua, a cotidianidade do<br />
14. Como ilustração tem-se os vários seminários organizados em várias regiões do Brasil por<br />
vários educadores e coordenadores de projetos sócio-comunitários. Surgia também o<br />
Movimento Nacional de Meninos e Meninas de Rua, a Pastoral do Menor, e aqui no agreste<br />
pernambucano o MACA, Movimento de Apoio às Crianças e Adolescentes, cuja atividade<br />
principal era a de realizar um intercâmbio entre educadores e educadoras, no qual as<br />
experiências cotidianas do atendimento eram pensa<strong>das</strong> com o apoio de leituras no campo<br />
da educação particular. Educadores partilhavam e aprof<strong>und</strong>avam as experiências no campo<br />
da educação artística, da escolarização, da horticultura e criação de pequenos animais, da<br />
orientação e iniciação profissional,etc. Os encontros ocorriam dentro dos projetos sóciocomunitários<br />
o que dava oportunidade aos educadores em pensar em uma prática concretamente<br />
vivenciada.
perambular dessas crianças, adolescentes e jovens. Os autores alemães Manfred<br />
Liebel e Uwe von Dücker (acadêmicos militantes na causa da criança e do adolescente,<br />
sobretudo em países da América Central e Latina), apontam significativas<br />
contribuições para analisar e discutir a rua enquanto espaço que possibilita a<br />
geração de propostas educativas que tomam as crianças e adolescentes como<br />
atores sociais. No caso de Uwe von Dücker (1996), ele destaca que o importante<br />
é que as crianças e adolescentes se tornem totais participantes na construção de<br />
sua nova vida. Se queremos tirá-los <strong>das</strong> ruas é preciso que elas participem ativamente<br />
no desenrolar desse processo.<br />
Enquanto as condições sócio-econômicas da sociedade não mudarem essencialmente,<br />
a construção de uma proposta de trabalho social precisa ter<br />
como ponto de partida a vida real, <strong>das</strong> condições da<strong>das</strong>, dos saberes instituídos<br />
pelo grupo, e a proposta pode ser orientada nas seguintes teses: (a) a<br />
criança, o adolescente e o jovem devem aprender a sobreviver de forma humana<br />
no espaço da rua, (b) o adulto precisa estar junto e assumir seu papel de<br />
acompanhante e animador, (c) o adulto deve entender a experiência de vida<br />
<strong>das</strong> crianças, adolescentes e jovens nas ruas, (d) o adulto deve estar preparado<br />
para aprender com as crianças, os adolescentes e jovens e por último (e) a<br />
criança, o adolescente e o jovem precisam participar plena e ativamente na<br />
construção de suas vi<strong>das</strong>. 15<br />
4. Uma outra pedagogia é possível<br />
Nesse sentido, para os educadores, educadoras, voluntários e voluntárias sociais,<br />
o entendimento da dinâmica da rua é f<strong>und</strong>amental. Destaca-se aqui a necessidade<br />
de problematizar o cotidiano desta meninada nas ruas. Sobre este aspecto,<br />
Paulo Freire salienta que „a ação de educar tem necessariamente um ponto<br />
de partida que é o de ter a compreensão da criança, do adolescente e do<br />
jovem em sua própria cotidianidade, enquanto uma certa classe social, seus valores,<br />
aspirações, medos, etc. [...] é importante que se compreenda, por exemplo, o<br />
que é que se está dando dentro desta cotidianidade“ (FREIRE 1985, p. 20).<br />
Dentro desta mesma reflexão, é possível problematizar e tematizar a rua tomando-a<br />
como ponto de partida e não de chegada, enquanto espaço onde é<br />
possível construir uma proposta pedagógica, a chamada Pedagogia da Rua<br />
(Straßenpädagogik), que nasce do processo da educação popular e de um entendimento<br />
da andarilhagem <strong>das</strong> crianças, adolescentes e jovens pelas ruas, e as<br />
estratégias encontra<strong>das</strong> por eles para enfrentar a situação de marginalidade. Um<br />
dos princípios básicos para isso, como aponta Dücker (1996), é a criança, o adolescente<br />
e o jovem problematizarem, tematizarem a vivência nas ruas. Eles devem<br />
15. „Die vom Kind auf der Straße erworbenen Kenntnisse <strong>und</strong> Erfahrungen sollen ihm erhalten<br />
bleiben: (a) Das Kind soll menschliches Überleben auf der Straße erlernen; (b) Der Erwachsene<br />
soll hierbei die Rolle des Begleiters <strong>und</strong> “Animators” übernehmen; (c) Der Erwachsene<br />
soll versuchen, aus dem Verständnis einer Arbeit mit dem Kind zu dem Verständnis eines<br />
Lebens mit dem Kind zu gelangen; (d) Der Erwachsene soll sich bereitfinden, von <strong>und</strong> mit<br />
dem Kindern zu lernen; (e) Das Kind muß an dem Aufbau eines ‚neuen Lebens‘ voll beteiligt<br />
sein“. (DÜCKER 1996, p.195)<br />
201
202<br />
refletir a própria experiência de vida e aprender a formular possibilidades de intervenção,<br />
com o apoio e presença dos educadores nas ruas 16 .<br />
A partir dos aspectos já colocados, consideramos que o entendimento por parte<br />
dos educadores, educadoras e voluntários sociais, de que o trabalho educativo a<br />
ser feito com as crianças, adolescentes e jovens é de caráter político, ideológico e<br />
pedagógico. Isto torna-se condição f<strong>und</strong>amental para que os mesmos percebam<br />
que a problemática <strong>das</strong> crianças, adolescentes e jovens marginalizados não pode<br />
ficar apenas resumida a uma ocupação de trabalho produtivo, uma formação profissional,<br />
uma atividade de atendimento, escolarização, que muitas vezes pode significar<br />
um paternalismo, assistencialismo, sem haver uma reflexão em torno dos<br />
acontecimentos do cotidiano. Por detrás da vida de sofrimento e miséria em que<br />
vivem as crianças e adolescentes marginalizados, existe um m<strong>und</strong>o que gera certos<br />
valores, certas crenças, certos fazeres, e a própria forma como essas crianças e esses<br />
adolescentes elaboram os instrumentos de sobrevivência.<br />
Por estarem nas ruas, becos e praças cometendo as mais diversas ‚trelas‘, as<br />
crianças, adolescentes e jovens em situação de pobreza, estão em um m<strong>und</strong>o que<br />
não é o m<strong>und</strong>o do educador, e inevitavelmente, há um choque que leva o educador<br />
a se colocar numa postura de querer converter o m<strong>und</strong>o dos meninos e<br />
meninas de rua sem antes haver um processo reflexivo e crítico. Para Paulo Freire,<br />
„quando se pensa em converter o outro é porque temos um ponto de partida, que<br />
é o seguinte: onde se está é melhor, o que a gente é, é melhor, senão não haveria<br />
porque converter o outro“ (FREIRE 1985, p. 12).<br />
No trabalho sócio educativo dentro de projetos sócio-comunitários, os educadores,<br />
educadoras e voluntários devem colaborar no sentido de as crianças,<br />
adolescentes e jovens chegarem „a entender, em termos críticos, a razão de ser<br />
de sua luta; precisam entender a sua andarilhagem pelas ruas <strong>das</strong> cidades, [...] só<br />
mudam quando se assumem na vida em que vivem. Quer dizer, não mudam definitivamente<br />
mas se preparam para mudar“ (ibid.).<br />
Ainda seg<strong>und</strong>o Freire, esta tarefa, para o educador enquanto facilitador do<br />
processo educativo, não é fácil, pois<br />
demanda sensibilidade social e histórica [...] ao lado do entendimento<br />
cientificamente rigoroso da realidade que ensina ao educador a compreender<br />
certas formas de comportamento de pura rebeldia ou de<br />
outro fatalismo entre os oprimidos para, com eles, tentar a sua superação<br />
(...) pois o nosso amor por esses meninos negados no seu direito<br />
de ser, só se expressa autenticamente quando nosso sonho é o de<br />
criar um m<strong>und</strong>o diferente. (Ibid., p. 13)<br />
16. „Viele lateinamerikanische Straßenpädagogen haben über educación popular zu einem<br />
neuen Bewußtsein gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> die zum Gr<strong>und</strong>prinzip einer ‚Erziehung auf der Straße’,<br />
einer vom Lebensfeld des Kindes ausgehenden Pädagogik erhoben: für die auf der Straße<br />
lebenden Kinder soll die Straße ‚Lernstoff‘ bleiben <strong>und</strong> die ‚Problematik‘ eines menschlichen<br />
Lebens auf der Straße ständig thematisiert werden. Ihre ‚Lebenssituation‘ soll ihnen ‚bewußt‘<br />
<strong>und</strong> nicht ausgeklammert werden, <strong>und</strong> schließlich zum Inhalt allen Lernens werden.<br />
Sie sollen reflektieren <strong>und</strong> selbst neue Lösungen formulieren lernen, wobei die Straßenpädagogen<br />
die Rolle der ‚Provozierenden‘ oder ‚Animierenden‘ einnehmen“ (DÜCKER 1996,<br />
p.47; ver também LIEBEL 1994, p. 94-99).
Os(as) educadores(as) e voluntários(as) indo para além da cotidianidade<br />
O compreender a cotidianidade não é um simples conversar com os educandos<br />
sobre as atividades desenvolvi<strong>das</strong>, mas especialmente dar-se conta do educando,<br />
‚o ir além dele‘. O perguntar-se quem é essa criança, adolescente e jovem e o que ela<br />
significa para o educador, educadora, voluntário e voluntária. Para Freire, nesse<br />
momento, a mente da meninada muda de atitude, muda de postura, muda de<br />
posição com relação ao comportamento da mente no normal, no cotidiano. Quer<br />
dizer, a mente se enquadra numa posição de quem quer conhecer.<br />
Nesse sentido, é preciso imergir no cotidiano do educando (da criança, do adolescente<br />
e jovem de rua, que está diante do educador confeccionando um objeto,<br />
realizando uma atividade de escolarização, horta, arte, lazer, esporte, etc). Entretanto,<br />
jamais poderemos ficar nele. Devemos mergulhar no m<strong>und</strong>o cotidiano para sair<br />
dele com a meninada, numa compreensão destes enquanto participantes de uma<br />
classe social, com seus valores, aspirações, medos etc. Acreditamos, portanto, que<br />
todos esses elementos devem estar presentes nos princípios que orientam uma proposta<br />
formativa para educadores, educadoras sociais e voluntários sociais.<br />
Considerações finais<br />
Resta agora, tentar perceber, na prática histórica de um projeto de atendimento<br />
sócio-comunitário, a aplicabilidade destes elementos pensados por Paulo Freire<br />
e por outros pensadores, comprometidos com a elaboração de uma prática<br />
educativa direcionada à transformação da realidade com os oprimidos.<br />
Sabe-se, contudo, como Paulo Freire, que as práticas libertadoras estão sujeitas<br />
a limites, e é a própria experiência que ensina, pois „muitas vezes se faz o que se<br />
pode e não o que se gostaria de fazer. Há limites econômicos, limites ideológicos,<br />
sociais, limites históricos“ (FREIRE 1985, p. 22).<br />
O autor apresenta um grande desafio no sentido de possibilitar a construção de<br />
elementos que compõem um novo olhar dos educadores, educadoras e voluntários<br />
em relação às crianças, adolescentes e jovens, sobretudo aqueles que estão em<br />
situação de extrema pobreza. Considerando que esta reflexão esteve baseada na<br />
experiência junto a educadores e educadoras sociais no agreste pernambucano<br />
queremos concluir esta nossa reflexão deixando algumas questões:<br />
• Quais seriam as implicações deste texto para os agentes de desenvolvimento<br />
(voluntários ou não), que estão vindo para a América Latina afim de colaborar<br />
no processo do trabalho social em projetos sociais e comunitários em ONGs,<br />
Movimentos Sociais e Comunitários, Associações Rurais e Urbanas, etc?<br />
• Quais as implicações do protagonismo infanto-juvenil, como também dos sujeitos<br />
envolvidos em movimentos sociais, comunitários, ONGs, Projetos Sociais,<br />
etc, para a formação e acompanhamento desses agentes do desenvolvimento?<br />
• Que concepção de diálogo intercultural poderá ser construída a partir desta<br />
nova ótica de relacionamento com os oprimidos e excluídos da sociedade?<br />
203
204<br />
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Prof. Dr. Alexandre Magno Tavares da Silva se doutorou em Ciências da Educação<br />
(Pedagogia Social) pela Johann Wolfgang Goethe-Universität (Frankfurt). Educador Social,<br />
Antropólogo e docente-pesquisador da área de F<strong>und</strong>amentos da Educação da Universidade<br />
Federal de Pernambuco – Campus de Caruaru. E-mail: tavaresmagno@uol.com.br –<br />
tavaresmagno@gmail.com
Der Sertão <strong>und</strong> Amazonas<br />
von Spix <strong>und</strong> Martius:<br />
Von der Dürre, durch die<br />
Verheißung bis zur Öde<br />
Karen Lisboa<br />
São Paulo<br />
Resumo: O presente artigo tem por objetivo apresentar as principais<br />
imagens que Spix e Martius criaram sobre o Sertão e o<br />
Amazonas no contexto da expedição que realizaram pelo<br />
Brasil entre 1817 a 1820, relatada na obra Reise in Brasilien.<br />
Em conformidade com os preceitos de Alexander von<br />
Humboldt para representar a natureza num estilo estético-científico<br />
e sob a forte influência da filosofia romântica,<br />
a natureza brasileira, além de ser objeto científico, é apreendida<br />
como fonte de sentimentos, inspirando os naturalistas<br />
a uma viagem sentimental pelo Brasil, em que a região<br />
equatorial assume especial importância. Além da experiência<br />
com o m<strong>und</strong>o da natureza, focaliza-se nesse breve<br />
texto a imagem que os autores constroem sobre a população<br />
indígena. Enquanto as imagens sobre a natureza<br />
tropical transmitem em sua maioria prazer e fascínio, rompendo<br />
com as teses decadentistas acerca da natureza tropical<br />
defendi<strong>das</strong> por pensadores europeus no século XVIII,<br />
nas representações dos índios essa matriz é retomada e<br />
corroborada por valores cristãos. Ao longo <strong>das</strong> descrições,<br />
evidencia-se a dúvida dos autores quanto à humanidade<br />
dos indígenas e da sua capacidade de absorver a<br />
‚civilização‘, questão central que ocupava os europeus<br />
desse período sobretudo quando na função de viajante.<br />
Abstract: The present article aims to present the main images which<br />
Spix and Martius created about the Sertão and the<br />
Amazonas during the expedition through Brazil they realized<br />
between 1817 to 1920 and related thereafter in their<br />
opus Reise in Brasilien. In conformity with the principals<br />
Alexander von Humbold established for representing nature<br />
in an aesthetical-scientific style and <strong>und</strong>er the strong<br />
influence of romantic nature philosophy, the Brazilian nature,<br />
besides being a scientific object, is apprehended as a<br />
source of sentiments inspiring the naturalists to a senti-<br />
205
206<br />
mental voyage through Brazil, in which the equatorial region<br />
assumes special importance. Apart from the experience<br />
with the natural world, this short article focuses on<br />
the image which the authors weave about the indigenous<br />
population. While the images of the tropical nature mostly<br />
transmit pleasure and fascination, breaking with the<br />
decadentist thesis about tropical nature, as defended by<br />
European thinkers in the 18 th century, in the images about<br />
the indigenous this matrix is reassumed and reinforced by<br />
Christian values. Along the descriptions the authors doubts<br />
about the humanity of the indigenous and their aptitude for<br />
absorbing ‚civilization‘ become evident, as representing the<br />
central question which occupied the Europeans of that<br />
period particularly when acting as traveling explorers.<br />
Im Juli 1817 treffen die beiden bayerischen Naturforscher Johann Baptist Spix<br />
<strong>und</strong> Carl Friedrich Philipp Martius in Rio de Janeiro ein, im Zuge einer Expeditions-<br />
Reise im Auftrag der Königlichen Akademie der Wissenschaften in München, unter<br />
der Schirmherrschaft von König Maximilian Joseph I. von Bayern. Ursprünglich<br />
sollte die Expedition von Buenos Aires aus über <strong>das</strong> heutige Chile, Ecuador <strong>und</strong><br />
Venezuela bis nach Mexiko führen. Die unstabile politische Lage der Region jedoch<br />
erschwerte die Umsetzung dieses Projekts. Dann aber kam der Zufall zu Hilfe, <strong>und</strong><br />
Brasilien wurde unerwartet zum neuem Reiseziel: Die Erzherzogin Leopoldine aus<br />
Österreich wurde mit dem portugiesischen Erbprinzen Dom Pedro (später Dom<br />
Pedro I.) vermählt; infolgedessen ging sie nach Brasilien, wohin sich die portugiesische<br />
königliche Familie <strong>und</strong> der ganze Hof vor den napoleonischen Truppen seit<br />
1808 zurückgezogen hatten. Im Gefolge Leopoldines befanden sich Gelehrte, Naturforscher<br />
<strong>und</strong> Maler, die <strong>das</strong> Land erk<strong>und</strong>en sollten 1 . Da ihr Vater, Kaiser Franz I.,<br />
Schwiegersohn des Bayrischen Königs war, ergab es sich, <strong>das</strong>s Spix <strong>und</strong> Martius als<br />
Naturforscher der Münchner Akademie im Gefolge der Braut Platz fanden.<br />
In Rio bekamen Spix <strong>und</strong> Martius eine Stadt zu sehen, die geprägt war durch<br />
die Präsenz nicht nur einer großen Anzahl von versklavten Afrikanern, sondern<br />
auch von Europäern verschiedener Nationen, vor allem Briten, die seit 1810 wirtschaftliche<br />
Privilegien <strong>und</strong> Vorteile genossen 2 . Aufgr<strong>und</strong> der Niederlassung der<br />
portugiesischen Krone in der Kolonie, die 1808 die Häfen für andere Nationen<br />
hatte öffnen lassen, endete <strong>das</strong> alte Kolonialsystem <strong>und</strong> damit die Exklusivität der<br />
portugiesischen Kolonialherrschaft in Brasilien. Ausländer konnten von da an<br />
ohne größere Hindernisse <strong>das</strong> Land besuchen; viele von ihnen kamen mit kommerziellen<br />
wie auch wissenschaftlichen Absichten. Diesen Prozess bezeichnete<br />
1. Dazu zählten der Botaniker Emanuel Pohl, der Mineraloge Rochus Schüch, der italienische<br />
Naturforscher Giuseppe Radi, der Zoologe Johann Natterer, der Entomologe Johann Christian<br />
Mikan, der Hofgärtner Heinrich Wilhelm Schott, der Maler Thomas Ender, der Jäger Ferdinand<br />
Wilhelm Sochor, die Zeichner G.K. Frick, Johann Buchberger <strong>und</strong> Franz Joseph Frühbeck.<br />
2. Schon seit 1810 hatten die Briten <strong>das</strong> Recht, in Brasilien Handel zu betreiben, wie auch zu<br />
reisen <strong>und</strong> wohnhaft zu werden (PINTO 1975, S.133).
der Historiker Sergio Buarque de Holanda als eine „Wiederentdeckung“ Brasiliens,<br />
die geleitet war von den neokolonialistischen Interessen der europäischen<br />
Nationen in Übersee (HOLANDA 1976, S. 13).<br />
Spix <strong>und</strong> Martius verweilten ein halbes Jahr in Rio, um die Hauptstadt des<br />
damaligen Vereinten Königreiches von Portugal, Brasilien <strong>und</strong> der Algarve sowie<br />
ihre Umgebung zu erk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> die Reise vorzubereiten. Durch den Austausch<br />
mit anderen Naturforschern vor Ort, wie mit Baron von Langsdorff 3 , beschlossen<br />
Spix <strong>und</strong> Martius, <strong>das</strong>s die Reise <strong>das</strong> Innere des Landes nach Nordosten <strong>und</strong><br />
Norden hin erfassen sollte, da die Küsten wie auch <strong>das</strong> südwestliche Hinterland<br />
schon bekannter waren 4 . So planten Spix <strong>und</strong> Martius den Sertão im Nordosten<br />
zu durchqueren, was einige ihrer Kollegen für äußerst gefährlich hielten – der<br />
‚Flug des Ikarus‘ diente als Vergleich <strong>und</strong> Mahnung.<br />
Kurz vor Weihnachten 1817 brachen sie mit ihrer Reisetruppe auf. In einem<br />
Zeitraum von zweieinhalb Jahren legten sie zirka 10.000 km in Brasilien zurück.<br />
Von Rio aus sind sie nach São Paulo geritten, dann nach Nordosten, durch die<br />
heutigen B<strong>und</strong>esländer Minas Gerais, Bahia, Piauí, Maranhão, Pará <strong>und</strong> schließlich<br />
durch den Norden in <strong>das</strong> Amazonasgebiet gelangt. 1820 trafen sie nach langer<br />
Schifffahrt wieder in Europa ein, dort ging es über Land von Lissabon bis nach<br />
München weiter, wo sie im Dezember schließlich feierlich vom König empfangen<br />
wurden. Mittlerweile waren die zahlreichen Kisten ihrer zoologischen, botanischen,<br />
mineralogischen <strong>und</strong> ethnografischen Sammlungen, die während der Expedition<br />
sukzessive abgeschickt worden waren, heil in München eingetroffen. Und<br />
dann begann die letzte <strong>und</strong> ebenfalls große Etappe der Reise: <strong>das</strong> Aufarbeiten des<br />
Gesammelten, Gesehenen, Erlernten, Erlebten <strong>und</strong> Erfahrenen. Eine Herkules-<br />
3. Georg Heinrich von Langsdorff studierte Medizin <strong>und</strong> Naturwissenschaften in Göttingen. Auf<br />
einer Weltumsegelung mit Kapitän Krusenstern gelangte er 1803 auch an die Küste Brasiliens.<br />
1813 kommt er als Generalkonsul Russlands nach Brasilien zurück. Während seines<br />
siebenjährigen Aufenthalts hat er Expeditionen angeleitet <strong>und</strong> selbst unternommen sowie<br />
Forscher auf seiner Fazenda Mandioca in der Nähe von Rio aufgenommen. 1821 war Langsdorff<br />
wieder in Europa <strong>und</strong> organisierte eine neue Expedition an der Astronomen, Botaniker <strong>und</strong><br />
Künstler teilnehmen sollten. 1824 wurde diese Reise angetreten, dann aber zunächst wieder<br />
abgebrochen. Der Maler Johann Moritz Rugen<strong>das</strong> nahm zu Beginn an ihr Teil, verließ die<br />
Truppe dann aber <strong>und</strong> machte alleine seinen Weg auf dem großen Kontinent. Ein Jahr später<br />
begann die endgültige Reise, die über São Paulo nach Goiás bis zum Amazonasstrom führte.<br />
Der Maler Hercules Florence hat die unglückliche Expedition beschrieben, in der sein Kollege<br />
Adrien Aimé Taunay in einem Fluss ertrank <strong>und</strong> Langsdorff für immer seine geistigen Fähigkeiten<br />
verlor (siehe LISBOA 1997, S. 29-32).<br />
4. Wie zum Beispiel Friedrich von Sellow, der 1814 von Langsdorff aufgefordert, in Brasilien<br />
landet, um an den Küsten des brasilianischen Nordostens botanische <strong>und</strong> zoologische Studien<br />
zu unternehmen. Auch Wilhelm Freyreiss, Gründer der Einwandererkolonie Leopoldina im<br />
Süden Bahias, bereiste mit Langsdorff <strong>und</strong> dem Prinzen Wied-Neuwied Minas Gerais. Wied-<br />
Neuwied reiste alleine weiter, nach der Küste von Bahia, <strong>und</strong> sammelte reichlich Material<br />
<strong>und</strong> Erlebnisse, die er zwischen 1820 <strong>und</strong> 1821 in seiner Reise nach Brasilien wiedergab.<br />
Wilhelm Ludwig von Eschwege arbeitete schon seit 1811 für die portugiesische Krone mit<br />
dem Auftrag mineralogische Studien zu betreiben wie auch die Metallindustrie <strong>und</strong> den<br />
Kohleabbau in der Region von Minas Gerais einzuführen. Seine Beobachtungen <strong>und</strong> Reiseerfahrungen<br />
hat er im Buch Pluto Brasiliensis festgehalten. Als 1816 in Europa wieder Frieden<br />
herrscht, kommen auch die Franzosen nach Brasilien. Neben der wichtigen Künstlermission,<br />
zu der die Maler Nicolas Antoine Taunay <strong>und</strong> Jean-Baptist Debret zählen, bereist<br />
der Naturforscher August de St.Hilaire <strong>das</strong> Land während sechs Jahren im Auftrag des<br />
Musée d’Histoire Naturelle de Paris (LISBOA 1997, S. 29 ff).<br />
207
208<br />
aufgabe, da der Wissenshorizont dieser Gelehrten sich noch im enzyklopädischen<br />
Rahmen bewegte. Ihr Forschungsspektrum erstreckte sich somit über zoologische,<br />
botanische, mineralogische, physikalische, astronomische <strong>und</strong> klimatische<br />
Fachbereiche. Darüber hinaus, dank der historischen <strong>und</strong> philosophisch-philologischen<br />
Vorbereitungen, über die die Forscher durch die Akademie verfügten,<br />
war es auch ihr Anliegen<br />
[...] die Beobachtung der verschiedenen Sprachen, der Volkstümlichkeiten,<br />
der mythischen <strong>und</strong> historischen Überlieferungen, der älteren <strong>und</strong> neueren<br />
Monumente, als Schriften, Münzen, Idole, <strong>und</strong> überhaupt Alles dessen,<br />
was über den Culturzustand <strong>und</strong> über die Geschichte der Ureinwohner<br />
sowohl, als der sonstigen Bewohner Brasiliens [...] [festzuhalten].<br />
(SPIX / MARTIUS 1980, S. 6-7)<br />
Die dritte Etappe beschäftigte Spix <strong>und</strong> Martius bis zu ihrem Lebensende. Spix 5<br />
starb sechs Jahre nach der Heimkehr an einem Fieber – ein ‚Erbe‘ der Expedition <strong>und</strong><br />
Schicksalsschlag. Somit konnte der 45-jährige Zoologe sein Forschungsvorhaben<br />
nicht beenden. Martius 6 jedoch lebte noch weitere Jahrzehnte <strong>und</strong> wurde ein<br />
Brasilienspezialist. Fast alles, was er schrieb, natur- oder geisteswissenschaftlich, handelte<br />
von Brasilien: der Reisebericht, die ethnografischen Studien, die literarischen<br />
Texte wie Gedichte <strong>und</strong> ein Roman – Frey Apollonio, ein Roman aus Brasilien 7 –, <strong>das</strong><br />
Traktat Bemerkungen über die Verfassung einer Geschichte Brasiliens 8 <strong>und</strong> <strong>das</strong> botanische<br />
Werk. Zu Letzterem zählt vor allem die wissenschaftliche Leitung <strong>und</strong> Herausgabe<br />
der Flora Brasiliensis – sehr wahrscheinlich die größte Flora über ein Land 9 – <strong>und</strong><br />
5. Johann Baptist von Spix, 1781 in Höchstadt an der Aisch geboren, studierte Philosophie, Theologie<br />
<strong>und</strong> Medizin in Würzburg. Er promovierte in Medizin, widmete sich dann aber der Zoologie.<br />
Bevor er nach Brasilien kam, war er auf Forschungsreisen in Frankreich, Italien <strong>und</strong> in der Schweiz.<br />
Als ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften <strong>und</strong> Kurator der zoologischen<br />
Sammlung übernahm er die Leitung der Brasilienexpedition. Nach seiner Rückkehr aus<br />
Brasilien wurde er zum Hofrat ernannt <strong>und</strong> zum Ritter erhoben. Er starb 1826.<br />
6. Carl Friedrich Philipp von Martius, 1794 in Erlangen als Sohn eines Hofapothekers geboren,<br />
studierte Medizin, promovierte in Botanik <strong>und</strong> trat 1815 als Eleve in die Bayerische Akademie<br />
der Wissenschaften. Nach der Brasilienreise ebenfalls in den Adelsstand erhoben bekam<br />
er den Lehrstuhl für Botanik an der Universität München <strong>und</strong> wurde zum lebenslänglichen<br />
Sekretär der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ernannt. Er war korrespondierendes<br />
Mitglied vieler Akademien, u. a. des Instituto Histórico e Geográfico Brasileiro (IHGB)<br />
<strong>und</strong> starb 1868 im Alter von 74 Jahren.<br />
7. Der Roman blieb bis 1992 unveröffentlicht. Sein Herausgeber, Erwin Theodor Rosenthal, hat<br />
ihn gleichzeitig ins Portugiesische übersetzt unter dem Titel Frey Apollonio - um romance do<br />
Brasil publiziert.<br />
8. Der Aufsatz Bemerkungen über die Verfassung einer Geschichte Brasiliens wurde 1845 erstmals<br />
in der portugiesischen Übersetzung von Wilhelm Schüch in der Revista do Instituto<br />
Histórico e Geográfico veröffentlicht. Der Originaltext wurde erst kürzlich von E. T. Rosenthal<br />
entdeckt, transkribiert <strong>und</strong> im Martius-Staden-Jahrbuch 2003 veröffentlicht (siehe hierzu<br />
LISBOA 1997, S. 178ff <strong>und</strong> GUIMARÃES 1987; 1988).<br />
9. Die vollständige Herausgabe der Flora Brasiliensis hat 66 Jahre erfordert. In ihren 40 Bänden<br />
werden 22.767 Pflanzenarten beschrieben, davon 5869 zum ersten Mal. Als Martius starb,<br />
war erst ein Drittel fertig. Zwei Nachfolger haben <strong>das</strong> Projekt weitergeführt, welches mit<br />
dem Beitrag von 60 Botanikern <strong>und</strong> verschiedener Herbarien aus ganz Europa (Paris, Wien,<br />
St. Petersbug, Genf, Berlin, London) zustande gekommen ist. Das Projekt wurde auch vom<br />
brasilianischen Kaiser D. Pedro II mitfinanziert.
<strong>das</strong> bedeutende dreibändige Werk Historia Naturalis Palmarum mit seinen 245 handkolorierten<br />
Lithographien nach Vorlagen von Martius sowie Rugen<strong>das</strong>, Ferdinand<br />
Bauer, Eduard Poeppig <strong>und</strong> auch Frans Post. 10<br />
Der erste Band der Reise in Brasilien kommt 1823 heraus; er umfasst die Überfahrt<br />
nach Rio, den dortigen Aufenthalt, die Reise nach São Paulo bis Villa Rica<br />
(heute Ouro Preto in Minas Gerais). Der zweite Band wurde 1828 herausgegeben,<br />
bereits nach Spix’ Tod. In diesem Band wird die Reise von Villa Rica bis São Luis<br />
beschrieben. Der dritte <strong>und</strong> umfangreichste Band, von 1831, behandelt die neunmonatige<br />
Expedition im Amazonasgebiet. Dazu erschien noch ein Kompendium<br />
indianischer <strong>und</strong> afro-luso-brasilianischer Lieder <strong>und</strong> Melodien, von den Reisenden<br />
selbst gesammelt <strong>und</strong> notiert, <strong>und</strong> der prachtvolle Atlas mit 41 Lithographien<br />
in Folio von Landschafts-, Städte-, Pflanzen-, Tier- <strong>und</strong> Menschenbildern sowie<br />
sämtlichen Landkarten.<br />
Das Reisewerk von Spix <strong>und</strong> Martius zählt zu den relevantesten wissenschaftlichen<br />
Beiträgen über die Natur <strong>und</strong> Gesellschaft Brasiliens der ersten Hälfte des 19.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts. Als geschichtliche Quelle wie auch als Forschungsobjekt an sich,<br />
behält <strong>das</strong> Werk dieser Autoren weiterhin einen wichtigen Stellenwert für die<br />
Geistes- <strong>und</strong> Naturwissenschaften. Mein Anliegen ist es, auf den folgenden Seiten<br />
einen Einblick in <strong>das</strong> Natur- <strong>und</strong> Menschenbild dieser Forscher zu gewinnen.<br />
Dabei werde ich mich auf die Reisebeschreibungen über den Sertão <strong>und</strong> den<br />
Amazonas konzentrieren, da diese Regionen eine besondere Rolle im Geamtprojekt<br />
der Naturforscher spielten. Der Sertão, d. h. vorwiegend <strong>das</strong> Hinterland des heutigen<br />
Nordostens, war, wie schon erwähnt, damals weitgehend terra incognita;<br />
<strong>und</strong> <strong>das</strong> Amazonasgebiet war ihr so ersehntes <strong>und</strong> zentrales Ziel, wo jedoch die<br />
Widersprüche ihres Natur- <strong>und</strong> Menschenbildes am stärksten in Erscheinung treten,<br />
speziell bei Beobachtungen über die indigene Bevölkerung, die hier aus diesem<br />
Gr<strong>und</strong> ebenfalls herangezogen werden.<br />
Die Natur als Gegenstand des Fühlens <strong>und</strong> Klassifizierens<br />
Die artenreiche Natur wurde von den Autoren in zwei verschiedenen Dimensionen<br />
erfasst: Auf der einen Seite wurden die Naturobjekte durch eine rein pragmatische<br />
Herangehensweise nach klassifikatorischen Kriterien untersucht <strong>und</strong> beschrieben.<br />
Sie folgten Carl Linnés System, <strong>das</strong> sich Mitte des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts in den<br />
europäischen Forscherkreisen als Norm durchgesetzt hatte. Somit wurde eine einheitliche<br />
‚Sprache‘ in der Forschung ermöglicht. Die Linnésche Aufgabe lautete,<br />
„die ganze Natur taxonomisch zu erfassen“. Dafür mussten die Naturforscher, wie<br />
auch Spix <strong>und</strong> Martius, an die notwendigen ‚Quellen‘ gelangen <strong>und</strong> vor allem neue<br />
Arten ‚entdecken‘: Herbarien wurden aufgestellt, Exemplare aus dem tierischen<br />
Reich gesammelt, Beobachtungen vor Ort notiert, Messungen aller Art durchgeführt<br />
<strong>und</strong> dazu eine große Anzahl von Zeichnungen gefertigt. Dieses umfangreiche<br />
Material diente dann zum späteren Beschreiben <strong>und</strong> Klassifizieren der Naturobjekte<br />
<strong>und</strong> ihrer Dokumentierung (LEPENIES 1976, S. 55ff, S. 153; THOMAS 1989, S. 102-3;<br />
VANZOLINI 1981, S. IX; GEORGE 1985, S. 39; FOUCAULT 1985, S. 148).<br />
10. Über weitere bio-bibliographische Informationen zu Spix <strong>und</strong> Martius siehe LISBOA 1997, Kap. II.<br />
209
210<br />
Andererseits beruhte die Beziehung der Autoren zur Natur nicht nur auf dieser<br />
pragmatischen Behandlung, gekennzeichnet vom Sammeldrang <strong>und</strong> der<br />
Entdeckungseuphorie, sondern auch auf einer gemütsbewegenden Dimension.<br />
Beeinflusst u. a. von Alexander von Humboldt – ein Leitstern dieser <strong>und</strong> vieler<br />
anderer Naturforscher, die die Tropen besuchten 11 – sowie von Goethes Vorsätzen,<br />
Wissenschaft mit Dichtung zu vereinigen, <strong>und</strong> der Naturphilosophie Schellings erklärte<br />
Martius, wenige Jahre nach seiner Heimkehr aus Brasilien in einem Brief an<br />
Goethe, <strong>das</strong>s Klassifizieren <strong>und</strong> Systematisieren nicht ausreichen, um die Natur zu<br />
verstehen. Man müsse vielmehr den „Geist“ der Natur erfahren, welcher nur durch<br />
<strong>das</strong> „Naturgefühl“ des Beobachters erfasst werden kann. Dieses Naturgefühl zwischen<br />
dem Forscher <strong>und</strong> der beobachteten Natur führe schlussendlich zum Verständnis<br />
ihres „Ganzen“. Zum Ausdruck gebracht werde es durch die Poetisierung<br />
<strong>und</strong> Ästhetisierung der Naturgegenstände, ganz im Sinne der romantischen<br />
Stimmungsbeziehung 12 <strong>und</strong> des „Naturgemäldes“ Humboldts, einer Anleitung, um<br />
die tropische Natur zu beschreiben 13 . In diesem Sinne erklärte Martius:<br />
So wird also die Natur selbst als Gegenstand der Wissenschaft in ihren<br />
Totalbeziehungen einem Kunstwerk ähnlich, <strong>das</strong> höchste Kunstwerk<br />
nicht allein in objektiver, sondern auch in subjektiver Beziehung<br />
auf den Forscher. (Brief von Martius an Goethe vom 18.5.1825; wiedergegeben<br />
in A. MARTIUS 1932, S. 80-82)<br />
Somit ging es Spix <strong>und</strong> Martius auch darum, die Naturbeschreibungen pragmatischer<br />
Art mit einer literarischen <strong>und</strong> künstlerischen Darstellung zu vereinen.<br />
Dadurch offenbarte sich die wissenschaftliche Expedition ebenfalls als eine sentimentale<br />
Reise durch Brasilien.<br />
Der Sertão <strong>und</strong> Amazonas:<br />
von der Dürre durch die Verheißung bis zur Öde<br />
Bevor die Forscher ihr ersehntes Ziel erreichten, nämlich die an Arten so<br />
reichen äquatorialen Breiten Brasiliens, legen sie einen langen <strong>und</strong> beschwerlichen<br />
Weg durch den Sertão des Südostens (heute Minas Gerais) <strong>und</strong> des Nordostens<br />
zurück, mit einem Abstecher nach Salvador <strong>und</strong> Ilhéus. Auf dieser Etappe<br />
der Expedition, stoßen die Reisenden an ihre körperlichen <strong>und</strong> seelischen Grenzen.<br />
Die klimatischen Umstände erschweren die Erreichung ihrer Ziele <strong>und</strong> gefährden<br />
den täglichen Ablauf der Reise. Nicht nur die beteiligten Expeditions-<br />
11. Die Naturforscher Alexander von Humboldt <strong>und</strong> Aimé Bonpland bereisten <strong>das</strong> nordwestliche<br />
Südamerika <strong>und</strong> die Karibik von 1799 bis 1804. 1807 erscheint Ansichten der Natur, Humboldts<br />
erste wissenschaftlich-literarische Abhandlung über die Reise in <strong>das</strong> tropische Amerika.<br />
12. Die „Stimmungsbeziehung“ zwischen Mensch <strong>und</strong> Natur ist eine typische Eigenschaft der<br />
romantischen Literatur (siehe HUDDE 1982, S. 135-52).<br />
13. In Ansichten der Natur definiert Humboldt <strong>das</strong> „Naturgemälde“: es kann ein Bild, ein<br />
Gedicht oder eine wissenschaftliche Abhandlung sein <strong>und</strong> dient dem „fühlenden Menschen“<br />
als Beweis von dem Zusammenwirken der Kräfte <strong>und</strong> der Erneuerung des Genusses, welche<br />
die Betrachtung der Natur in den Tropen bietet (HUMBOLDT 1986, S. 7-9; LÖSCHNER 1982, S.<br />
251). In Bezug auf Spix <strong>und</strong> Martius habe ich dieses Thema an anderer Stelle eingehender<br />
behandelt (LISBOA 1994 <strong>und</strong> 1997).
teilnehmer waren betroffen, sondern auch die Lasttiere, die zum Transport unentbehrlich<br />
waren. Die Dürre im Sertão führte zur Verdurstung einiger Maulesel; die<br />
drohenden Gefahren vor Augen verließ der Reiseführer eines Tages ohne Vorwarnung<br />
die Truppe, ein schwerer Verlust angesichts des Mangels an Karten <strong>und</strong><br />
Wegweisern durch die menschenleeren Gegenden; der Indio Custódio, der Spix<br />
<strong>und</strong> Martius während acht Monaten begleitete, tat es ebenso; einer ihrer stärksten<br />
Männer, ein Mestize, erlag einem Schlangenbiss (SPIX / MARTIUS 1980, S. 713).<br />
Sämtliche gesammelten Gegenstände (wie Skelette, Tiere, Mineralien) wurden<br />
zwangsläufig zurückgelassen, da nicht mehr genügende Maultiere zum Transport<br />
vorhanden waren. Als die Truppe in den damals noch kleinen <strong>und</strong> ärmlichen Ort<br />
Feira de Santana eintraf, im Hinterland des heutigen Bahia, bekamen die Reisenden<br />
<strong>das</strong> „vollkommene Bild der Sertanejos“ zu sehen, denen der Zweck ihrer Reise unglaublich<br />
schien. Einer der Bewohner äußerte seine Zweifel: „Wie könnt Ihr glauben,<br />
(...) <strong>das</strong>s man sich um Käfer <strong>und</strong> Kräuter willen der Gefahr zu verdursten aussetzen<br />
werde?“, <strong>und</strong> war sich sicher, sie seien auf der Suche nach Edelmetallen (ebd., S. 719).<br />
In der Tat verlagerten sich die Prioritäten der Expedition, so<strong>das</strong>s Spix <strong>und</strong> Martius<br />
<strong>und</strong> die ganze Truppe, trotz aller Planungen <strong>und</strong> vorbereitenden Maßnahmen, nur<br />
noch auf der Suche nach Wasser waren. Dem Leser wird der Überlebungskrieg in der<br />
Caatinga mit Details nahe gebracht – verlassene Ortschaften <strong>und</strong> Fazen<strong>das</strong>, ausgetrocknete<br />
Zisternen, armselige Sertanejos, die sich vor kümmerlichen Quellen drängeln<br />
<strong>und</strong> st<strong>und</strong>enlang auf etwas Wasser warten; an einer dieser Quellen wird den<br />
Reisenden der Zugang verboten, weil man sie für Engländer hielt (ebd., S. 721); <strong>und</strong><br />
wenn sie Wasser fanden, war es oft verdorben. Obwohl ungenießbar, tranken Vieh<br />
<strong>und</strong> Mensch davon. Sie erkrankten, litten an anhaltender Diarrhöe, Fieber, Kopfweh<br />
<strong>und</strong> Schwindel (ebd., S. 723-24). Martius erlebte, wie auch sein Diener mit Fieber in<br />
„fürchterlichen Zuckungen, in Kinnbackenkrampf <strong>und</strong> Wahnsinn verfiel, <strong>und</strong> [...] am<br />
vierten Tage starb“ (ebd., S. 808). Im letzten Teil der Überquerung des Sertão, im heutigen<br />
Staat Piauí, sind die Forscher so krank <strong>und</strong> erschöpft, <strong>das</strong>s sie tagelang in Hängematten<br />
von Sklaven aus den benachbarten Fazen<strong>das</strong> getragen wurden.<br />
Trotz allem werden Messungen gemacht, die Natur beobachtet, Fazen<strong>das</strong> besucht,<br />
Ortschaften beschrieben; der Meteorit von Bendegó untersucht, beim legendären<br />
Monte Santo, wo r<strong>und</strong> 80 Jahre später der schreckliche Bürgerkrieg<br />
von Canudos ausbricht. Auch die schon in sehr geringer Zahl vorhandenen<br />
Indianerdörfer werden erk<strong>und</strong>et (Coroados, Puri, Botocudos, Camacãs). Beschreibungen<br />
des Sertão werden festgehalten:<br />
Wir sahen große Pflanzungen von Bohnen, Mais <strong>und</strong> Mandioca, in denen<br />
alle Pflanzen [...] von heftiger Sonnenhitze verbrannt waren; andere Felder,<br />
von unmäßiger Dürre ausgetrocknet, waren seit mehreren Jahren unbestellt<br />
geblieben, <strong>und</strong> wiesen Reihen von blattlosen Strünken auf, aus denen<br />
bereits alles Leben entwichen war. [...] große Viehherden waren überdies<br />
vor Hunger <strong>und</strong> Durst umgekommen. (SPIX / MARTIUS 1980, S. 730)<br />
Zudem werden die Menschen des Sertão regionsbezogen differenziert charakterisiert.<br />
Der Sertanejo aus Bahia habe an Bildung <strong>und</strong> Lebensbedürfnissen<br />
den Sertanejos aus Minas Gerais nachgestanden (ebd., S. 510/11). Die Beschreibung<br />
soll es bezeugen:<br />
211
212<br />
Eine kleine schmutzige Hütte, umgeben mit einer vernachlässigten Bananenpflanzung,<br />
eine Roça, die mit Bohnen <strong>und</strong> Mandioca bestellt wird, eine<br />
Heerde von Rindvieh <strong>und</strong> einigen mageren Pferden, welche selbst für<br />
ihren Unterhalt sorgen muss, <strong>das</strong> befriedigt die höchsten Wünsche dieser<br />
verwilderten Leute. Sie leben von Vegetalien, getrockenem Rindfleische,<br />
Milch, einer Art süsser Käse (Requeixão) [sic], <strong>und</strong> [...] von den Früchten<br />
des Imbuzeiro-Baumes. [...] Jagd <strong>und</strong> die Freuden der sinnlichen Liebe<br />
sind die Genüsse, durch welche sie sich für ihre Einsamkeit entschädigen.<br />
Selten sieht man unter ihnen einen Weissen von rein europäischer Abkunft;<br />
viele sind Mulatten, andere [...] beurk<strong>und</strong>en die vermischte Abstammung<br />
von Indianern <strong>und</strong> Weissen [...]. (Ebd., S. 607)<br />
In São Luiz angekommen, nach dreizehnmonatiger Reise von Minas Gerais<br />
aus, wurden die durch Krankheit <strong>und</strong> Erschöpfung geschwächten Forscher im<br />
Hause des englischen Konsuls bis zur ihrer ges<strong>und</strong>heitlichen Besserung gepflegt.<br />
Unterdessen erhielten sie auch die Erlaubnis, die Provinz von Grão-Pará zu bereisen,<br />
was sie für den nächsten <strong>und</strong> letzten Abschnitt der Brasilienreise aufmunterte,<br />
wie der Bericht zeigt:<br />
Nun stand uns jene reichste <strong>und</strong> w<strong>und</strong>ervollste Natur offen, welche<br />
sich unter der Segnung des Aequators ausbreitet; <strong>und</strong> da wir während<br />
der ganzen Reise von allen Wünschen der Seele uns dorthin getrieben<br />
fühlten, so war es, als gäbe uns die erhaltene Erlaubnis jede verlorene<br />
Kraft des Körpers zurück, um jenes Land der letzten Verheissung erfolgreich<br />
zu besuchen. (Ebd., S. 850)<br />
Amazonien war der Höhepunkt ihrer Expedition, den sie erst nach fast zwei<br />
Jahren Brasilienreise erreichten, davon über ein Jahr von Minas Gerais aus quer<br />
durch den Sertão bis nach São Luis. Dort sind sie ihrer Berufung als Naturforscher<br />
am besten gefolgt. An keinem Ort bewährte sich ihr Pragmatismus, Sammeldrang<br />
<strong>und</strong> ihre Entdeckerfreude, vermischt mit ihrem Naturgefühl, so sehr wie in den<br />
äquatorialen Breiten, wo <strong>das</strong> „Gleichgewicht“ „der schönsten Harmonie aller irdischen<br />
Weltkräfte“ zu spüren war. Darüber hinaus sei diese Gegend<br />
für süsse herzzerschmelzende Wehmut geschaffen, <strong>das</strong> Land philosophischer<br />
Beschaulichkeit, heiliger Ruhe, tiefen Ernstes. (Ebd., S. 1101)<br />
In diesem Sinne standen die beiden Forscher ganz im Gegensatz zu den Philosophen<br />
der Aufklärung, die um jeden Preis die „Entartung“ der tropischen Natur<br />
mit diffamatorischen Theorien zu beweisen versuchten 14 . Der Enthusiasmus der<br />
Forscher beruhte dabei nicht nur auf ihrer metaphysischen Wahrnehmung, <strong>das</strong>s<br />
14. Hier nehme ich Bezug auf die ausführliche Analyse von Antonello Gerbi zu den Entartungstheorien<br />
über die tropische südamerikanische Natur <strong>und</strong> ihre Urbewohner, eingeführt von<br />
Buffon 1749 in seiner Histoire naturelle, générale et particulière, <strong>und</strong> die daraus folgende<br />
Debatte innerhalb der philosophischen <strong>und</strong> naturwissenschaftlichen Kreise des 18. <strong>und</strong> 19.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts. Innerhalb dieser Debatte ist Alexander von Humboldts enthusiastisches Naturbild<br />
der Tropen als ein Durchbruch gegenüber den diffamierenden Theorien zu verstehen<br />
<strong>und</strong> stellt einen Gegensatz zu den Ansichten Hegels dar, der weiterhin die Inferiorität der<br />
Natur <strong>und</strong> der (Ur-)Bewohner im südlichen Amerika vertrat (GERBI 1960).
die äquatorialen Breiten die reine Harmonie tellurischer Kräfte ausstrahle <strong>und</strong><br />
dadurch eine Gegend seien, die philosophische Kontemplationen, Wehmut, heilige<br />
Ruhe <strong>und</strong> Ernst ermögliche, sondern auch auf der Beobachtung der artenreichen<br />
Natur. Als Anhänger vitalistischer Naturlehren erkannten sie in jedem Lebewesen<br />
eine immanente Lebensfreude. Und diese manifestiere sich nirgendwo stärker<br />
als in den äquatorialen Breiten, dank der üppigen Natur:<br />
Noch nie war uns die Schöpferkraft der mütterlichen Erde so majestätisch<br />
entgegengetreten, als hier, wo in überschwenglicher Fülle die Pflanzenwelt<br />
hervorquillt. (SPIX / MARTIUS, 1980, S. 882)<br />
Dass Martius an dieser Stelle einen literarischen Exkurs in den Reisebericht<br />
einfügt, ist nicht unüberlegt <strong>und</strong> soll noch einmal auf die Einzigartigkeit des Ortes<br />
hinweisen: „Da dieser Reisebericht auch ein Spiegel unseres innern Lebens seyn<br />
[soll] [...], so sey erlaubt ein Blatt des Tagebuches beizufügen“:<br />
Pará, den 16. August 1819. Wie glücklich bin ich hier, wie tief <strong>und</strong> innig<br />
kommt hier so Manches zu meinem Verständnisse, <strong>das</strong> mir vorher unerreichbar<br />
stand! Die Heiligkeit dieses Ortes, wo alle Kräfte sich harmonisch<br />
vereinen, <strong>und</strong> wie zum Triumphgesang zusammentönen, zeitigt Gefühle<br />
<strong>und</strong> Gedanken. Ich meine besser zu verstehen, was es heisse, Geschichtsschreiber<br />
der Natur seyn. [...] Es ist 3 Uhr Morgens; ich verlasse<br />
meine Hangmatte, denn der Schlaf flieht mich Aufgeregten; ich öffne die<br />
Läden, ich sehe hinaus in die dunkle, hehre Nacht [...]. (Ebd., S. 888).<br />
Das sind die einführenden Worte einer Schilderung, wo <strong>das</strong> Schauspiel der tropischen<br />
Natur in der Vielfältigkeit ihrer Lebenwesen, Geräusche, Gerüche, Farben, Spannungen<br />
<strong>und</strong> Bewegungen so beschrieben wird, <strong>das</strong>s alle Sinnesorgane angesprochen<br />
werden. Im Reisebericht ist kaum ein besseres Beispiel ästhetischer Behandlung<br />
der Naturobjekte im Sinne des Humboldtschen Naturgemäldes als dieses zu finden.<br />
Dem Leser sollte es möglich sein, die Gefühle <strong>und</strong> den Genuss der Naturbetrachtung<br />
in den Tropen nachzuvollziehen <strong>und</strong> sich dabei auch zu bilden. Ebenfalls wird darauf<br />
hingewiesen, <strong>das</strong>s nirgendwo die göttliche Dimension der Natur ausgeprägter sei als<br />
im Amazonasgebiet. Der Exkurs endet mit dem Einbruch der Nacht:<br />
In Schlaf <strong>und</strong> Traum sinkt die Natur, <strong>und</strong> der Aether, sich in ahnungsvoller<br />
Unermesslichkeit über die Erde wölbend, von zahllosen Zeugen<br />
fernster Herrlichkeit erglänzend, strahlt Demuth <strong>und</strong> Vertrauen in <strong>das</strong><br />
Herz des Menschen: die göttlichste Gabe nach einem Tag des Schauens<br />
<strong>und</strong> des Geniessens. (SPIX / MARTIUS 1980, S. 893)<br />
Die theophanische Dimension dieser Urwälder, die der romantischen Seele<br />
der Forscher Genuss sowie wissenschaftliche Erkenntnis verschaffen, erleidet<br />
zuweilen eine Bedrohung durch <strong>das</strong> erschreckende <strong>und</strong> „blutrünstige“ grüne<br />
Dickicht. In vielen Situationen gleicht die Reise der Autoren einem Gang durchs<br />
Fegefeuer. Sie sind nicht ganz ges<strong>und</strong> aus São Luís bzw. Belém losgefahren, <strong>und</strong> ihr<br />
Zustand, trotz aller Motivation, verbessert sich während der Reise natürlich nicht.<br />
Da waren der andauernde Regen, die Strapazen der Reise an sich, schlechte<br />
Übernachtungslager <strong>und</strong> zudem Mosquitos <strong>und</strong> allerlei Ungeziefer, die sie „zur Ver-<br />
213
214<br />
zweiflung peinigten“, gegen welche sie „lästige Kriege“ nutzlos führen mussten, denen<br />
selbst die Indios nicht entkamen. Kaimane <strong>und</strong> onças holten die Truppe nicht<br />
selten aus dem Schlaf. Der Tropenwald konnte erdrückend werden. Am Rio Negro<br />
wurde, um ein Beispiel zu nennen, laut Spix die Reise durch die „Stille <strong>und</strong> Einförmigkeit<br />
des Waldes“ „melancholisch“. (SPIX / MARTIUS 1980, S. 1292)<br />
Ihres Forscherauftrages sind sie sich bewusst, aber der Preis ist hoch. Als Martius,<br />
getrennt von Spix, um die Zeit besser auszunutzen, den westlichsten Teil seiner<br />
Expedition erreicht, an der Grenze zum heutigen Kolumbien, lässt die anfängliche<br />
Faszination <strong>und</strong> Euphorie um die äquatorialen Gegenden nach:<br />
Hitze, Mosquiten <strong>und</strong> Krankheit hielten mich in der verdunkelten Cajüte<br />
zurück, als endlich [...] <strong>das</strong> jubelnde Geschrei der Indianer [...] mich<br />
hervorrief. Tief ergriffen vom Schauder dieser wilden Einsamkeit setzte<br />
ich mich nieder, um eine Zeichnung davon zu entwerfen [...]; aber ich<br />
versuche nicht, dem Leser die Gefühle zu beschreiben, welche sich<br />
während dieser Arbeit in meiner Seele drängten. Es war diess der<br />
westlichste Ort, wohin ich meine Reise ausdehnen konnte. Während<br />
er mich mit allen Schrecknissen einer Menschheit fremden, starren<br />
Wildniss einengte, fühlte ich mich von einer unaussprechlichen Sehnsucht<br />
nach Menschen, nach dem gesitteten, theuren Europa ergriffen.<br />
Ich dachte, wie alle Bildung, wie <strong>das</strong> Heil der Menschheit aus Osten<br />
gekommen sey. Schmerzlich verglich ich jene glücklichen Länder mit<br />
dieser furchtbarsten Oede; [...]. (Ebd., S. 1256-57)<br />
Der hier kurz zusammengefasste Hinweis, <strong>das</strong>s die Europäer die Träger der<br />
‚Zivilisation‘ sind, steht im Hintergr<strong>und</strong> aller Bewertungen, die die Autoren über<br />
die Bevölkerung Brasiliens <strong>und</strong> ihren Entwicklungszustand machen. Ausgehend<br />
von rassentheoretischen Auffassungen, vertraten Spix <strong>und</strong> Martius die Ansicht,<br />
<strong>das</strong>s die Europäer, als Angehörige der „caucasischen Rasse“, intellektuell <strong>und</strong><br />
moralisch wie auch in ihrem Wissen <strong>und</strong> ihren Leistungen den übrigen „Rassen“<br />
(gelb <strong>und</strong> schwarz) überlegen seien (ebd., S. 259-60). Von diesem ethno- <strong>und</strong><br />
eurozentrischen Standpunkt aus wird die indigene wie auch die afrikanische bzw.<br />
die ethnisch gemischte Bevölkerung beobachtet <strong>und</strong> untersucht. Die Forscher<br />
möchten feststellen, auf welchem zivilisatorischen Niveau sie leben <strong>und</strong> ob sie<br />
„zivilisierbar“ seien. Auch sie zweifeln schließlich, wie andere Naturforscher <strong>und</strong><br />
Denker im 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>ert, an der Menschlichkeit der „americanischen<br />
Rasse“. Sie fragen sich, ob die Indios nun Halbmenschen, Halbtiere, Wilde, bis zur<br />
„Rohheit entartete Wesen“ seien. Diese Zweifel standen noch ganz im Rahmen<br />
der Debatte des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts über die Unterlegenheit nicht nur der Natur,<br />
sondern auch der Ureinwohner der tropischen Breiten. Es w<strong>und</strong>ert nicht, <strong>das</strong>s<br />
der berühmte deutsche Anatom <strong>und</strong> Anthropologe Johann Friedrich Blumenbach<br />
zu dieser Zeit den Schädel eines Botocudo-Indio untersuchte <strong>und</strong> überzeugt<br />
war, <strong>das</strong>s es sich um <strong>das</strong> Bindeglied zwischen dem Orang-Utan <strong>und</strong> dem<br />
Menschen handle. Damit gehörte er nicht zur menschlichen Gattung (CUNHA<br />
1992, S. 5-8, STOCKING 1987, GERBI 1960).<br />
Spix <strong>und</strong> Martius besuchten einige Indios des Volkes der Muras, am Amazonas:<br />
Sie betraten die rauchige Hütte eines Anführers,
um den ärmlichen <strong>und</strong> unreinlichen Hausrath zu überschauen. Noch<br />
nirgends war <strong>das</strong> rohe Elend des americanischen Wilden so unheimlich<br />
<strong>und</strong> traurig erschienen. Alles deutete darauf hin, <strong>das</strong>s selbst die einfachsten<br />
Bedürfnisse auf eine fast thierische Weise befriedigt würden.<br />
(SPIX / MARTIUS 1980, S. 1071)<br />
Laut der Beschreibung waren die Männer, Frauen <strong>und</strong> Kinder total unbekleidet.<br />
„Der Ausdruck der Physiognomien war wild, unstät <strong>und</strong> niedrig“ (ebd.). Als Martius,<br />
am Rio Japurá, eine Ortschaft der noch ziemlich isolierten Miranhas besuchte, <strong>und</strong><br />
dort wegen seines schlechten Ges<strong>und</strong>heitszustands ein paar Wochen verweilte, glaubte<br />
er Zeuge aller „Erscheinungen ihres verwahrlosten Lebens“ gewesen zu sein:<br />
Die Überzeugung stellte sich vor Allem fest in mir, <strong>das</strong>s dieser Wilde<br />
von Gott, als dem gütigen Vater <strong>und</strong> Erzeuger aller Dinge, keine Vorstellung<br />
hat. [...] Die Seele dieses gefallenen Urmenschen ist nicht unsterblich<br />
[...] <strong>und</strong> nur Hunger <strong>und</strong> Durst mahnen an die Existenz. Eben<br />
deshalb wird <strong>das</strong> Leben nicht als hohe Gabe geachtet, <strong>und</strong> der Tod ist<br />
gleichgültig. (Ebd., S. 1268)<br />
Anhand christlich-moralischer Werte werden die Miranhas, von denen Martius<br />
ein kleines Mädchen als ‚lebendes Kabinettobjekt‘ bis nach München mitnimmt 15 ,<br />
der untersten Stufe der menschlichen Entwicklung, fast den Tieren, zugeordnet:<br />
Das Band der Liebe, schlaff. Statt Zärtlichkeit Brunst, statt Neigung<br />
Bedürfniss; die Mysterien des Geschlechts entweiht <strong>und</strong> offen, der Mann<br />
aus Bequemlichkeit halb bekleidet, <strong>das</strong> nackte Weib Sclavin; statt der<br />
Scham Eitelkeit; die Ehe ein nach Laune wechselndes Concubinat; des<br />
Hausvaters Sorge sein Magen [...]; sein Zeitvertreib Völlerei <strong>und</strong> dumpfes<br />
Nichtsthun; der Weiber Schaffen blind <strong>und</strong> ohne Ziel; ihre Freuden<br />
schnöde Lust; die Kinder der Eltern Bürde, darum vermieden; väterliche<br />
Neigung aus Berechnung, mütterliche aus Instinct; Familienväter ohne<br />
Sorgen [...]; Erziehung äffische Spielerei der Mutter [...] . (Ebd., S. 1268)<br />
Der telegraphische Stil der Beschreibung endet mit kategorischen Worten:<br />
So ist <strong>und</strong> lebt der Urmensch dieser Wildniss! Auf der rohesten Stufe<br />
der Menschheit, ist er ein beklagenswerthes Rätsel sich selbst <strong>und</strong> dem<br />
Bruder aus Osten, an dessen Brust er nicht erwarmet, in dessen Arm<br />
er, von höherer Humanität wie von einem bösen Hauche getroffen,<br />
hinschwindet <strong>und</strong> stirbt. (Ebd., S. 1268)<br />
Um dieses „Rätsel“ zu erklären, <strong>das</strong> schließlich den Wert <strong>und</strong> Erfolg der zivilisatorischen<br />
Aufgabe der Europäer in Frage stellt, wird der Gr<strong>und</strong> des Untergangs<br />
15. Das Miranha-Mädchen wie auch ein Junge aus dem Stamm der Puri waren die einzigen der<br />
sechs Indios, die zusammen mit den Forschern die Überfahrt überlebten <strong>und</strong> Europa erreichten.<br />
Der Junge starb in München nach sechs Monaten, <strong>das</strong> Mädchen nach einem Jahr. Sie<br />
konnten kaum Portugiesisch <strong>und</strong> sprachen auch unter sich keine gemeinsame Sprache. In<br />
München wusste niemand genau, was mit ihnen geschehen sollte. Sie waren „Gegenstand<br />
der Sensationslust, der Neugierde, des Unverständnisses <strong>und</strong> der Ratlosigkeit“ (HELBIG<br />
1994, S.182). Im Reiseatlas sind ihre Portraits abgebildet.<br />
215
216<br />
der Indigenen ihnen selbst zugeschrieben. Obwohl Spix <strong>und</strong> Martius sich im Reisebericht<br />
mit der umstrittenen Frage auseinandersetzen, wie man am besten die<br />
Indios „zivilisiere“ <strong>und</strong> sich oft sehr kritisch gegenüber der Kolonisation (bzw. den<br />
Missionen <strong>und</strong> aldeamentos) zeigen sowie sich offen gegen die Sklaverei der Indios<br />
<strong>und</strong> die Kriege der Kolonisatoren aussprechen, erlangen die Indios deshalb<br />
keinen besseren Stellenwert. Die Autoren bedauern es, <strong>das</strong>s sie nicht die Auffassung<br />
der „Perfectibilität der rothen Menschenraçe“ teilen 16 . Sie sehen sich konfrontiert<br />
mit der „unverhältnissmässigen“ großen Sterblichkeit der Indios – trotz<br />
naturreicher Umgebung –, die so nur durch eine „arme Leibesbeschaffenheit“<br />
erklärt werden kann <strong>und</strong> nicht aufgr<strong>und</strong> des Kontakts mit den „Weissen“. Es scheint,<br />
als ob die Indios die „höhere Entwicklung, welche Europa ihnen einimpfen will,<br />
nicht „ertragen“; die „Civilisation“ wirke wie ein „zerstörendes Gift“. Die brasilianischen<br />
Ureinwohner seien bestimmt, „wie manches Andere in der Reihe der Naturwesen“,<br />
sich aufzulösen „<strong>und</strong> aus der Zahl der Lebendigen zu treten, bevor sie die<br />
höhere Stufe, [...] erreicht haben“; sie seien ein „verkümmerter Ast am Stamme des<br />
menschlichen Geschlechts“ (ebd., S. 935). Mit anderen Worten: Das Hinschwinden<br />
der Indios lag weitaus mehr an einer natürlichen körperlichen Schwäche <strong>und</strong> an<br />
ihrer mangelden „Perfectibilität“ als an der Kolonisation der Weißen, bzw. die Kolonisation<br />
hat einen Prozess beschleunigt, der schon vorausbestimmt war.<br />
Den Indios die Perfektibilität abzusprechen, weist darauf hin, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Prinzip der<br />
Entartungstheorien <strong>und</strong> der Verwerflichkeit der Ureinwohner Amerikas, die Cornelius<br />
De Pauw 17 nach Buffon weiterführend vertrat, bei Spix <strong>und</strong> Martius aufgegriffen<br />
wird. Im Kontext der Indigenen-Politik bzw. in der zur damaligen Zeit im brasilianischen<br />
Parlament geführten Debatte über eine Gesetzgebung, die den Indios gewisse<br />
Rechte zusprechen sollte, war die Frage der Perfektibilität <strong>und</strong> der Fähigkeit, die Zivilisation<br />
anzunehmen, ein ausschlaggebendes Kriterium. Denn damit entschied sich<br />
<strong>das</strong> Argument für oder gegen die Ausrottung der Indios, bzw. ob es Sinn machte, sie<br />
‚geschützt‘ durch christliche Missionen oder weltliche Einrichtungen (wie z. B. die<br />
aldeamentos) in die Gesellschaft zu integrieren (s. CUNHA 1992). Im Reisebericht ist in<br />
dieser Hinsicht die Äußerung einer resignierten Haltung der Autoren eindeutig:<br />
Wer sich zu einer ähnlichen Ansicht der Natur der americanischen Raçe<br />
bekennen kann [d.h. Mangel an Perfectibilität], wird mit Mitleiden auf<br />
die Mittel blicken, welche einer menschenfre<strong>und</strong>lichen Regierung zu Je-<br />
16. Rousseau hat dem Begriff der Perfectibilité eine Doppeldeutigkeit zugewiesen: die<br />
Perfectibilité als gr<strong>und</strong>legende Fähigkeit des Menschen, die ihn vom Tier differenziert,<br />
erlaubt ihm, motiviert durch die Umstände, allmählich seine übrigen Fähigkeiten zu entwikkeln.<br />
Das Umgekehrte kann aber auch passieren. Als Folge der menschlichen Freiheit, kann<br />
es zum Verlust der erworbenen Fähigkeiten kommen. Der Mensch kann gattungsgeschichtlich<br />
oder individuell unter <strong>das</strong> Niveau des Tieres absinken. Insofern ist der Geschichte der Gattung<br />
kein fester Weg vorgezeichnet, jedoch ist die Perfectibilité eine Voraussetzung der<br />
Geschichtlichkeit der Menschen (s. STOCKING 1987; KOHL 1986, S. 181). Spix <strong>und</strong> Martius<br />
verwenden ebenfalls den Begriff Perfectibilité <strong>und</strong> seine Gegenbegriffe wie „Degeneration“<br />
oder „Entartung“. Das Vorhandensein der Perfektibilität ist bei ihnen conditio sine qua<br />
non, damit ein Mensch oder eine „Menschenrasse“ die Zivilisation erlangt, bzw. es werden<br />
Geschichtlichkeit <strong>und</strong> Zivilisation mit Humanität verb<strong>und</strong>en.<br />
17. Laut Cornelius de Pauw waren die Ureinwohner Amerikas „privés à la fois d´intelligence et<br />
de perfectibilité“. (vgl. LISBOA 1997, S. 163).
ner Gunsten übrig bleiben. Die erleuchtesten Staatsmänner Brasiliens<br />
sind bereits zu der Überzeugung gelangt, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Land im Allgemeinen<br />
durch Gründung neuer Aldeas keine mit Kosten im Verhältniss stehende<br />
Vortheile [...] erreichen werde, da man allgemein glaubt, die indianische<br />
Raçe sterbe allmählich aus. (SPIX / MARTIUS 1980, S. 935)<br />
Ausblick<br />
Die hier nur kurz diskutierten Aspekte dieses umfangreichen Werks lassen abschließend<br />
die folgenden Punkte hervorheben:<br />
Mit Spix <strong>und</strong> Martius wurde der von Europäern <strong>und</strong> auch Brasilianern noch<br />
kaum bereiste Sertão im Nordosten literarisch <strong>und</strong> naturwissenschaftlich erfasst.<br />
Die Rezeption ihres Werkes in der brasilianischen Literatur (vor allem der Literatura<br />
regionalista) <strong>und</strong> Wissenschaft ist noch nicht systhematisch untersucht worden 18 .<br />
Ein gutes Beispiel für die Rezeption von Spix’ <strong>und</strong> Martius’ Werk innerhalb Brasiliens<br />
ist bei Euclides da Cunha zu erkennen. Sein Klassiker Os Sertões, von 1902,<br />
zeigt an manchen Stellen Berührungspunkte mit dem Reisewerk wie auch mit den<br />
naturhistorischen Studien der deutschen Forscher.<br />
Spix <strong>und</strong> Martius gehörten zu den Naturforschern, die aufgr<strong>und</strong> gewandelter<br />
wissenschaftlicher Prinzipien <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> ihres persönlichen Vorhabens <strong>das</strong><br />
negative Bild der tropischen Natur in Frage stellten <strong>und</strong> in dieser Natur eine unerschöpfliche<br />
Quelle entdeckten. Nachhaltig wird davon für Jahrzehnte ihre/die<br />
Brasilienforschung geprägt. Die Naturbeschreibungen vereinen Dichtung <strong>und</strong><br />
Kunst mit Wissenschaft. Diese sollen den Leser belehren, aber auch den Genuss,<br />
den der Beobachter in der tropischen Natur empfindet, vermitteln. In einem Gegensatz<br />
zur positiven <strong>und</strong> enthusiastischen Erfahrung der Natur, vor allem der<br />
äquatorialen Breiten, <strong>und</strong> ihrer wissenschaftlichen Behandlung steht jedoch die<br />
negative Begegnung mit den Menschen in dem fremden Land, vor allem mit jenen,<br />
die den Autoren kulturell <strong>und</strong> ethnisch am weitesten entfernt stehen. Ihre<br />
ethno- <strong>und</strong> eurozentrische Auffassung hindert sie daran, die kulturelle Verschiedenheit<br />
zu erkennen <strong>und</strong> zu verstehen <strong>und</strong> damit Vorurteile abzubauen. Das betrifft<br />
nicht nur die indigene Bevölkerung, die als entartet eingestuft <strong>und</strong> an deren<br />
Menschlichkeit gezweifelt wird, sondern auch die Schwarzen, die Mestizen <strong>und</strong><br />
oft auch die weißen Bewohner des Landes, was hier allerdings nicht thematisiert<br />
wurde 19 . Zwischen den Bildern der genießbaren <strong>und</strong> wissenschaftlich so unerschöpflich<br />
reichen Natur <strong>und</strong> der weitgehend minderwertigen Bevölkerung, bildet<br />
sich eine Spannung, die sich in der europäischen Reiseliteratur des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
zu Brasilien als Topos durchsetzt. Hier wird eine wichtige Funktion dieser<br />
Gattung innerhalb der neokolonialistischen Interessen angesprochen – der Reisebericht,<br />
der die ‚Peripherien‘ auf der diskursiven Ebene im Interesse der<br />
hegemonialen ‚Zentren‘ konstruiert 20 . Die ‚Zivilisation‘ wird zum Euphemismus<br />
18. Flora Süssekind untersucht in O Brasil não é longe daqui (1991) die Rezeption der europäischen<br />
Reiseliteratur <strong>und</strong> ihre Transkulturation in der brasilianischen Literatur des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />
doch nicht spezifisch in dem hier erläuterten Sinne.<br />
19. Mehr hierzu siehe LISBOA 1997, Kap. IV.<br />
217
218<br />
der Rechtfertigung, die andersartigen Menschen, d. h. die nicht europäischen<br />
oder nicht weißen bzw. ‚minderwertigen‘ zu dominieren. Darüber hinaus wird<br />
auch dieser Topos innerhalb der brasilianischen Literatur <strong>und</strong> Wissenschaft rezipiert<br />
<strong>und</strong> im Laufe des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts zu einem der wichtigsten Themen.<br />
Trotz der Grenzen der Autoren, die fremde Kultur historisch <strong>und</strong> anthropologisch<br />
zu verstehen, ist der ethnologische Beitrag Spix’ <strong>und</strong> Martius’ nicht zu unterschätzen.<br />
Martius hat noch weitere Studien über die indigene Bevölkerung herausgegeben,<br />
vor allem über ihre Sprachen <strong>und</strong> medizinischen Kenntnisse bzw. Naturheilverfahren.<br />
Ebenfalls haben die Forscher eine umfangreiche ethnographische<br />
Sammlung von zirka 740 Artikeln zusammengestellt, die neben der Sammlung von<br />
Johann Natterer (in Wien) zu den wichtigsten in der ersten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
zählt. Sie blieb jedoch über 40 Jahre in Kisten verschlossen. Weder die Akademie<br />
noch der König gewährten ihr einen gebührenden Platz. Erst ein Jahr vor<br />
Martius’ Tod (1867) wurde sie der Öffentlichkeit präsentiert <strong>und</strong> als Bestand des neu<br />
gegründeten Völkerk<strong>und</strong>e-Museum in München übernommen 21 .<br />
Diese Verzögerung ist auch ein Ausdruck dafür, welchen Stellenwert unsere<br />
‚Zivilisation‘ jenen Kulturen bzw. Kulturobjekten damals zuteil werden ließ. Und<br />
leider ist dies ein noch nicht beendetes Kapitel in unserer Geschichte, abgesehen<br />
davon, <strong>das</strong>s spätere Ethnologen, darunter auch Deutsche wie Curt Nimuendajú<br />
<strong>und</strong> Theodor Koch-Grünberg, dazu beigetragen haben, die Auffassungen ihrer<br />
Vorläufer kritisch zu überarbeiten mit dem Anliegen, den indigenen Völkern einen<br />
gerechten Platz in der Gesellschaft einzuräumen.<br />
Literatur<br />
Quellen<br />
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MARTIUS, Alexander v. (Hrsg.) (1932): Goethe <strong>und</strong> Martius. Mittelwald.<br />
MARTIUS, Carl Friedrich Philipp von (1992): Frey Apollonio - Ein Roman aus Brasilien. [1831]. Berlin.<br />
MARTIUS, C. Fr. Ph. von (1992): Frey Apollonio - um romance do Brasil. [1831]. (Org. e trad. Erwin<br />
Theodor). 1a. ed. São Paulo.<br />
MARTIUS, C. Fr. Ph. von (1982): O Estado do direito entre os autóctones do Brasil. [1832]. (Trad.<br />
Alfredo Löfgren). São Paulo.<br />
MARTIUS, C. Fr. Ph. von (2003): Bemerkungen über die Verfassung einer Geschichte Brasiliens. In:<br />
Martius-Stade-Jahrbuch 50. São Paulo, S.189-212.<br />
MARTIUS, C. Fr. Ph. von (1845): Como se deve escrever a história do Brasil. (Trad. Wilhelm Schüch).<br />
In: RIHGB 24. Rio de Janeiro, S. 381-403.<br />
MARTIUS, C. Fr. Ph. von (1982): Como se deve escrever a história do Brasil. [1845]. (Trad. Wilhelm<br />
Schüch). In: MARTIUS (1982), S. 85-107.<br />
MARTIUS, C. Fr. Ph. von (1867): Beiträge zur Ethnographie <strong>und</strong> Sprachenk<strong>und</strong>e, zumal Brasiliens.<br />
(2 Bde.). Leipzig.<br />
MARTIUS, C. Fr. Ph. von (1904): A ethnographia da América, especialmente do Brasil. O passado e<br />
20. Vgl. PRATT 1999, S. 31-33.<br />
21. König Maximilian Joseph I., Schirmherr der Expedition von Spix <strong>und</strong> Martius, beabsichtigte<br />
ein „Museum Brasilianum“ einzurichten, speziell für die Brasilien-Sammlungen. Mit seinem<br />
Tod 1825 wurde <strong>das</strong> Projekt jedoch von seinem Nachfolger nicht weitergeführt. Die<br />
ethnografische Sammlung blieb Jahrzehnte in unangemessenen Konditionen aufbewahrt,<br />
bis sie endlich im Völkerk<strong>und</strong>e-Museum ihren Platz fand. Während der Luftangriffe im II.<br />
Weltkrieg wurde sie nicht in Sicherheit gestellt, da man sie für zweitranging hielt. Dass sie<br />
relativ unversehrt die Angriffe überstand, war reines Glück (s. ZERIES 1980, S. 10-11).
o futuro do homem americano. [1867]. (Trad. A. Löfgren, revisão T. Sampaio). In: RIHGSP IX. São<br />
Paulo, S. 535-562.<br />
MARTIUS, C. Fr. Ph. von (1823-1850): Historia Naturalis Palmarum. (3 Bde). Leipzig.<br />
SPIX, Joh. Bapt. von / MARTIUS, C. Fr. Ph. von (1823-1831): Reise in Brasilien auf Befehl Sr.<br />
Majestät Maximiliam Joseph I. Königs von Baiern in den Jahren 1817-1820. Theil 1-3 <strong>und</strong> Atlas,<br />
München / Leipzig.<br />
SPIX, Joh. Bapt. von / MARTIUS, C. Fr. Ph. von (1980): Reise in Brasilien auf Befehl Sr. Majestät Maximiliam<br />
Joseph I. Königs von Baiern in den Jahren 1817-1820. (3 Bd. <strong>und</strong> Atlas). Stuttgart. [Faksimile].<br />
WIED-NEUWIED, Maximilian (1989): Viagem ao Brasil. [1820/21]. (Trad. Edgar Süssekind de Mendonça<br />
e Flavio Poppe de Figueiredo). São Paulo.<br />
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FOUCAULT, Michel ( 3 1985): As palavras e as coisas. (Trad. Salma Tannus Muchail). São Paulo.<br />
GEORGE, Wilma (1985): As idéias de Darwin. (Trad. Sônia Régis). São Paulo.<br />
GERBI, Antonello (1960): La disputa del nuevo m<strong>und</strong>o. (Trad. Antonio Alatorre). México.<br />
GUIMARÃES, Manoel Salgado (1987): Geschichtschreibung <strong>und</strong> Nation in Brasilien (1838-1857).<br />
Berlin.<br />
GUIMARÃES, Manoel Salgado (1988): Nação e civilização nos trópicos: o IHGB e o projeto de uma<br />
história nacional. In: Estudos Históricos 1, Rio de Janeiro, S. 5-27.<br />
HELBIG, Jörg (Hrsg.) (1994): Brasilianische Reise 1817-1820. Carl Friedrich Philipp von Martius zum<br />
200. Geburtstag. München.<br />
HOLANDA, Sergio Buarque de (Hrsg.) ( 4 1976): História Geral da Civilização Brasileira. O Brasil<br />
Monárquico – O processo da Civilização. (Tomo II, vol. 1). São Paulo.<br />
HUDDE, Hinrich (1982): Naturschilderung bei den Rousseau-Nachfolgern. In: HEITMANN, Klaus<br />
(Hrsg.): Europäische Romantik. (Bd. 15, II). Wiesbaden, S. 135-52.<br />
KOHL, Karl Heinz (1986): Entzauberter Blick. Frankfurt a/M.<br />
LEPENIES, Wolf (1976): Das Ende der Naturgeschichte. München.<br />
LISBOA, Karen M. (1994): „Reise in Brasilien“ – Bilder der Natur <strong>und</strong> Skizzen einer Zivilisation. In:<br />
Staden-Jahrbuch 42, S. 47-67.<br />
LISBOA, Karen M. (1997): A Nova Atlântida de Spix e Martius. Natureza e civilização na Viagem pelo<br />
Brasil 1817-1920. S. Paulo.<br />
LÖSCHNER, Renate (1982): Humboldts Naturbild <strong>und</strong> seine Vorstellung von künstlerisch-physiognomischen<br />
Landschaftsbildern. In: KOHL, Karl-Heinz (Hrsg.): Mythen der Neuen Welt. Zur Entdeckungsgeschichte<br />
der Neuen Welt. Berlin, S. 245-53,<br />
PINTO, Virgílio Noya (1975): Balanço <strong>das</strong> transformações econômicas no século XIX. In: MOTA,<br />
Carlos Guilherme (Hrsg.): Brasil em Perspectiva. (6a. ed.). São Paulo, S. 126-45.<br />
PRATT, Mary Luise (1999): Os olhos do império, relatos de viagem e transculturação. (Trad. Jézio<br />
Hernani Bonfim Gutierre). Bauru.<br />
SCHWARCZ, Lilia (1993): O espetáculo <strong>das</strong> raças. São Paulo.<br />
STOCKING, George W. (1987): Victorian Anthropology. New York.<br />
SÜSSEKIND, Flora (1991): O Brasil não é longe daqui. São Paulo.<br />
THOMAS, Keith (1989): O Homem e o m<strong>und</strong>o natural. (Trad. João Roberto Martins Filho). São Paulo.<br />
VANZOLINI, P. E. (1981): The scientific and political contexts of the bavarian expedition to Brasil. In:<br />
SPIX, J. B. von / WAGLER, J. G.: Herpetology of Brazil, s. l. Society for the Study of amphibians and<br />
reptiles. S. 9-29.<br />
ZERRIES, Otto (1980): Unter Indianern Brasiliens. Innsbruck.<br />
Prof. Dr. Karen Macknow Lisboa studierte Geschichte in Zürich <strong>und</strong> an der Universidade<br />
de São Paulo (USP), wo sie 2002 in Sozialgeschichte promovierte. Danach Lehrtätigkeiten in São<br />
Paulo <strong>und</strong> am Lateinamerika-Institut der Freien Universität in Berlin; Kuratorin von Ausstellungen,<br />
darunter „Martius: Percurso de um olhar errante pelo Brasil do Século XIX“ (Pinacoteca do<br />
Estado de São Paulo); zur Zeit Professorin für brasilianische Geschichte an der Unifesp<br />
(Universidade Federal de São Paulo). Zahlreiche Publikationen über deutsche bzw. europäische<br />
Reiseliteratur in Brasilien, darunter (1997) A nova Atlântida de Spix e Martius. Natureza<br />
e civilização na „Viagem pelo Brasil (1817-1820)“ (Hucitec / Fapesp, São Paulo).<br />
219
Fotografie von Robert Avé-Lallemant, <strong>und</strong>atiert.<br />
(Aus : C.-N. Lührsen, Die Familie Avé-Lallemant <strong>und</strong> ihre Töchternachkommen,<br />
in: Deutsches Familienarchiv 23, 1963, S. 205-243, Bildteil).
Robert Avé-Lallemant (1812-1884)<br />
<strong>und</strong> seine Brasilienbücher<br />
Franz Obermeier<br />
Kiel<br />
Resumo: Robert Avé Lallemant (1812-1884) permaneceu na memória<br />
até hoje, principalmente devido aos seus dois relatos<br />
de viagens pelo norte e pelo sul do Brasil (em 1859 e<br />
1860). O presente artigo comenta, pela primeira vez, o<br />
conjunto <strong>das</strong> outras obras suas, incluindo publicações<br />
sobre temas de medicina, estudos naturais e obras beletrísticas<br />
com referência ao Brasil, como p. ex. uma adaptação<br />
literária (1871) do relato de viagem de Hans Staden,<br />
além de posicionamentos frente à emigração alemã para<br />
o sul do Brasil, publicados em alguns folhetos de assuntos<br />
de política atual da década de 1870.<br />
Abstract: Robert Avé Lallemant (1812-1884) has remained in memory<br />
until today principally because of both his travel reports to<br />
northern and southern Brazil (in 1859 and 1860). This article<br />
comments for the first time his other works, including<br />
publications about medicine, natural studies and belletristic<br />
works, such as a literary adaptation (1871) of Hans Staden’s<br />
travel book, besides his opinion on the German emigration<br />
to South Brazil, published in the 1870s in some booklets<br />
on daily policy matters.<br />
Die Familie Avé-Lallemant ist heute wohl in erster Linie noch Brahmsliebhabern<br />
bekannt, da Theodor Avé-Lallemant (1806 Magdeburg – 1890 Hamburg)<br />
als Musiker ein intimer Fre<strong>und</strong> von Brahms war <strong>und</strong> sein Nachlass, heute<br />
zum Teil unlängst vom Brahms-Institut in Lübeck übernommen, zahlreiche<br />
Brahmsautographen <strong>und</strong> Dokumente zu ihm enthält (APPEL 2001). Die Familie<br />
selbst stammte aus dem französischen Adelsgeschlecht der Lallemant de<br />
Betz (FOUQUET 1941, LÜHRSEN 1963). Einige der Mitglieder der Familie sind<br />
in Frankreich auch als heute weniger bekannte Schriftsteller hervorgetreten.<br />
Der Familienlegende nach soll der Gründer der deutschen Linie 1764 aus einem<br />
französischen Kloster geflohen sein <strong>und</strong> in Magdeburg im preußischen<br />
Militär <strong>und</strong> später als Lehrer tätig gewesen sein. Die Kinder wurden alle protestantisch<br />
erzogen. Von seinen Nachkommen kamen einige nach Lübeck, neben<br />
dem bald nach Hamburg umgesiedelten Theodor Avé-Lallemant auch<br />
sein als Jurist <strong>und</strong> Kriminologe bekannter Bruder Benedikt, eigentlich Friedrich<br />
Christian Benedikt Avé-Lallemant (1809 Lübeck – 1892 Berlin), Verfasser<br />
einer allerdings wissenschaftlichen Kriterien nicht genügenden sozialpoliti-<br />
221
222<br />
schen <strong>und</strong> linguistischen Studie über <strong>das</strong> deutsche Gaunertum (AVÉ-LALLEMANT<br />
1858-1862), in die die Erfahrungen seiner langjährigen Tätigkeit als Jurist in<br />
Lübeck einflossen. Später schrieb er damals erfolgreiche Kriminalromane.<br />
Der Bruder Friedrich (1807 Lübeck - 1876 Lübeck) war 1843-1848 als Pastor<br />
in Rio de Janeiro tätig, kehrte wegen seiner von der Gemeinde nicht gebilligten<br />
konservativen Gr<strong>und</strong>einstellung nach Europa zurück <strong>und</strong> war später<br />
Pastor in Warnemünde, dann Privatier in Lübeck. 1<br />
Ein weiterer Bruder Robert Christian Berthold Avé-Lallemant sollte als<br />
Arzt <strong>und</strong> Brasilienreisender seine Bedeutung erlangen. Robert wurde 1812<br />
in Lübeck geboren. Er besuchte zuerst eine Lübecker Privatschule, dann<br />
<strong>das</strong> bekannte Lübecker Katharineum <strong>und</strong> studierte Medizin in Berlin, Heidelberg,<br />
Paris <strong>und</strong> Kiel. Über seine Jugendzeit hat er Erinnerungen verfasst,<br />
die später aus einem Manuskript im Nachlass seiner Tochter Martha von<br />
einem Verwandten zum Teil veröffentlicht wurde (1928). 2 Seine Dissertation<br />
über Blasenerkrankungen wurde 1837 in Kiel eingereicht <strong>und</strong> veröffentlicht.<br />
Anschließend ging er nach Rio, wo neben seinem Bruder Friedrich<br />
auch der Bruder Louis (1802 Magedeburg-1869 Rio) <strong>und</strong> der Bruder Alexander<br />
(1815 Lübeck-1868 Petropolis), letztere beide als Kaufleute lebten<br />
(HINDEN 1921, S. 119-231 passim). Alexander betrieb u. a. die Agentur der<br />
damaligen Hamburger Dampfschifffahrtslinie 1857 in Rio (Robert Avé-<br />
Lallemant, Bedenken 1872, S. 19).<br />
Robert arbeitete an der Santa Casa da Misericordia <strong>und</strong> am Hospício Dom<br />
Pedro II <strong>und</strong> leitete <strong>das</strong> Gelbfieberhospital Nossa Senhora da Saúde. Er wurde<br />
schließlich Mitglied des brasilianischen Ges<strong>und</strong>heitsrats. Im Jahr 1855<br />
kehrte Robert nach Lübeck zurück, erwarb ein Haus in Lübeck <strong>und</strong> schrieb<br />
eine größere Abhandlung über <strong>das</strong> Gelbfieber, insbesondere dessen Behandlung<br />
während Schiffsreisen, in die einige bereits schon zuvor in Deutsch<br />
<strong>und</strong> Portugiesisch veröffentlichte Texte eingeflossen sind (1857 <strong>und</strong> kleinere<br />
Texte der Bibliographie). Neben der Tätigkeit als Armenarzt begann er in<br />
Lübeck mit schriftstellerischen Arbeiten. Darüber hinaus war er Vorstand<br />
des Lübecker Musikvereins <strong>und</strong> wurde 1872 in den in Lübeck gebildeten<br />
literarischen Sachverständigen-Verein durch den Senat berufen. Dem Lübecker<br />
Ärzteverein trat er nicht bei, war aber Ehrenmitglied der neu gegründeten<br />
Lübecker geographischen Gesellschaft. 3 Ein Sohn Roberts,<br />
1. Er veröffentlichte seine Erinnerungen später als Erinnerungen an Brasilien, 3 Teile (Lübeck<br />
1854). Zu der Kritik an seinem religiösen Konservativismus siehe HINDEN 1921, S.125-126,<br />
dort wird auch <strong>das</strong> Engagement des Bruders Robert in dem deutschen Verein Germania in<br />
Rio <strong>und</strong> sein Eintreten für den Anschluss der dortigen protestantischen Gemeinde an die<br />
preußische Staatskirche <strong>und</strong> für den Bau einer Kirche erwähnt (l. c., S.146-147).<br />
2. Die Jahresangaben <strong>und</strong> Kurztitel ohne Personenangabe verweisen im Folgenden auf die<br />
Bibliographie der Werke Robert Avé-Lallemants im Anhang. Laut dortigen Angaben (1928,<br />
S. 956) handelt es sich bei dem Manuskript um Erinnerungen bis zur Ausreise nach Brasilien.<br />
Veröffentlicht wurde nur der die Jugend in Lübeck betreffende Teil bis zum Beginn des<br />
Universitätsstudiums. Der Verbleib des restlichen Manuskripts aus dem Besitz von Roberts<br />
Tochter Martha ist unbekannt.<br />
3. Nachruf von N.N. in: Lübeckische Blätter, 1884, S.500-502, hier S.501.
Germán Avé-Lallemant (1835-1910) 4 , wanderte als Geologe <strong>und</strong> Mineraloge<br />
nach Argentinien aus, weil er in Preußen wegen seiner sozialistischen<br />
Ideen keine beruflichen Möglichkeiten hatte.<br />
Anlass von Roberts zweitem Brasilienaufenthalt war eigentlich seine durch<br />
Alexander von Humboldt vermittelte Tätigkeit als Arzt auf der österreichischen<br />
Fregatte Novara, die eine wissenschaftliche Weltreise unternahm. 5 Avé-Lallemant<br />
hatte Humboldt am 12.12.1856 in Berlin besucht <strong>und</strong> den Besuch auch beschrieben<br />
(1930). 6 Er unterbrach die Reise, die ihm nicht zusagte, schon in Rio de<br />
Janeiro <strong>und</strong> startete schließlich im Februar 1858 mit Billigung der Behörden zu<br />
einer großen Forschungsreise durch Brasilien. Die Reise führte ihn durch weite<br />
Teile des damals besiedelten riesigen Gebiets. Im Oktober 1859 war er wieder in<br />
Lübeck <strong>und</strong> sollte dort schließlich jeweils zweibändige Berichte über seine<br />
Brasilienreisen verfassen: Reise durch Südbrasilien im Jahre 1858 (Leipzig 1859)<br />
<strong>und</strong> Reise durch Nordbrasilien im Jahre 1859 (Leipzig 1860). Die nicht wieder<br />
aufgelegten Bücher sind heute sehr selten, später wurden sie auch ins Portugiesische<br />
übersetzt (siehe Bibliographie). In der Lübecker Gesellschaft zur Beförderung<br />
gemeinnütziger Tätigkeit in Lübeck hielt Avé-Lallemant regelmäßig Vorträge<br />
7 ; auch in München hielt er bei Ärzte- <strong>und</strong> Naturwissenschaftlertreffen Vorträge<br />
„in höchst geistreicher, lebhafter <strong>und</strong> fesselnder Weise“ wie es in einem Nachruf<br />
von 1885 zu lesen ist (SARTORI 1885, S.188) Erwähnt sei noch seine<br />
Mitherausgeberschaft der populärwissenschaftlichen Zeitschrift Gaea, Natur <strong>und</strong><br />
Leben, Zeitschrift zur Verbreitung naturwissenschaftlicher <strong>und</strong> geographischer Kenntnisse<br />
sowie der Fortschritte auf dem Gebiete der gesammten Naturwissenschaften<br />
(Stuttgart: Lehmann, erschienen von 1865–1909).<br />
Im Jahr 1869 nahm er wie zahlreiche weitere Persönlichkeiten auf offizielle<br />
Einladung an der Eröffnung des Suezkanals teil <strong>und</strong> reiste anschließend bis Nubien<br />
weiter, worüber er in einem weiteren Reisebuch Fata Morgana, Reiseeindrücke<br />
aus Ägypten <strong>und</strong> Unteritalien (2 Bde., Altona 1872) berichtet hat, <strong>das</strong> sich<br />
4. Die Eintragungen zu ihm bei LÜHRSEN (1963) sind unvollständig <strong>und</strong> fehlerhaft. Es handelt<br />
sich um einen Sohn von Robert, geboren 1835 in Lübeck. Als Bergbauingenieur ging er 1869<br />
nach Buenos Aires <strong>und</strong> wirkte in San Luis in seinem Beruf, später kurzzeitig als Hochschullehrer<br />
am dortigen Colegio <strong>und</strong> als Herausgeber der ersten argentinischen Arbeiterzeitschrift El<br />
Obrero. Er hinterließ neben politischen Artikeln auch zahlreiche botanische <strong>und</strong> kartographische<br />
Werke <strong>und</strong> starb 1910 in San Luis. Zu ihm siehe Germán Avé Lallemant (2001) <strong>und</strong> die<br />
Werkauswahl 1974.<br />
5. Die Reise stand unter der Leitung von Bernhard von Wüllerstorf-Urbair. Die Ergebnisse<br />
wurden später publiziert als Reise der österreichischen Fregatte Novara um die Erde in den<br />
Jahren 1857, 1858, 1859, 9 Bde. in mehreren Abteilungen, Wien 1861-1875. Zum österreichischen<br />
Beitrag an den Entdeckungsreisen siehe: SEIPEL 2001. Die während der Novara-Expedition<br />
gesammelten Objekte befinden sich heute im Museum für Völkerk<strong>und</strong>e, Wien.<br />
6. Avé-Lallemant arbeitete später an der Humboldtbiographie mit, veröffentlicht zu dessen<br />
100. Geburtstag von Carl Christian Bruhns (1830-1891): Alexander von Humboldt, eine wissenschaftliche<br />
Biographie, 3 Bde., Leipzig 1872. Er schrieb den Teil über Humboldts Parisaufenthalt.<br />
Paul Range (1882-1959), der den Text über den Besuch bei Humboldt 1930<br />
herausgegeben hat, war angeheirateter Verwandter der Avé-Lallemants <strong>und</strong> Professor für<br />
Geologie <strong>und</strong> Bergbau in Berlin.<br />
7. Die Titel seiner Vorträge für diese Gesellschaft mit der Tradition der regelmäßigen „Dienstagvorträge“<br />
finden sich in einem Verzeichnis (1789-1888) im Stadtarchiv Lübeck. Die seit 1789<br />
bestehende Gesellschaft gibt die Lübeckischen Blätter heraus. Zu ihr SANDER (1960).<br />
223
224<br />
laut einem Nachruf von 1884 „durch eine blühende Diction <strong>und</strong> lebhafte Auffassungsgabe<br />
auszeichne[t]“. 8 Einige kleinere Reiseberichte <strong>und</strong> ein Werk über<br />
Camões, wichtig für die damals erst entstehende Lusitanistik, sind noch zu<br />
nennen. An sonstigen Veröffentlichungen verdient der von ihm 1863 edierte<br />
Briefwechsel des in Lübeck geborenen, später in Hamburg wirkenden Naturforschers<br />
<strong>und</strong> Philosophen Joachim Jungius 9 (1587-1657) <strong>und</strong> eine Biographie<br />
desselben von 1882 hervorgehoben zu werden. Auch als Dramatiker versuchte<br />
er sich. Er schrieb ein historisches Drama über den Erzbischof<br />
Carranza. 10 Sehr geschickt veröffentlichte der <strong>das</strong> Werk herausgebende Hamburger<br />
Verlag Mentzel zuvor, wohl auf Veranlassung von Avé-Lallemant selbst,<br />
eine Sammlung von Kritiken seiner beiden zuvor erschienenen Werke Anson<br />
<strong>und</strong> des Reisewerks Fata Morgana (siehe Bibliographie). Avé-Lallemants Epos<br />
Anson ist in ottave rime (je 8-zeiligen Strophen) geschrieben, der Form des<br />
italienischen Heldengedichts <strong>und</strong> seiner Aneignung bei Ariost <strong>und</strong> Boiardo.<br />
Die 10 Gesänge des von Luis de Camões inspirierten Epos über die Weltumsegelung<br />
des Engländers George Anson (1697-1762) in den Jahren von 1740-<br />
1744 waren bereits 1866 fertig gestellt, laut dem Vorwort von Ein hanseatischer<br />
Admiral; unter diesem Titel veröffentlichte Avé-Lallemant im Jahre 1866 einen<br />
Auszug aus dem ersten Teil des sechsten Gesangs über den Lübecker Marcus<br />
Meyer, ehemals hamburgischer Ankerschmied, der zu Zeiten von Jürgen<br />
Wullenwever (geb. ca. 1492 in Hamburg; hingerichtet 1537) gegen die Dänen<br />
kämpfte, was damals angesichts des als Befreiung stilisierten Kriegs gegen Dänemark<br />
natürlich nationalistisch überhöht wurde. Der Autor widmet den Auszug<br />
seiner Vaterstadt <strong>und</strong> kündigt Lesungen an. Er schreibt selbst, <strong>das</strong>s der<br />
Druck, dessen Erlös den Verw<strong>und</strong>eten der österreichischen Marine im Kampf<br />
gegen Dänemark im deutsch-dänischen Krieg zugute kommen sollte (Vermerk<br />
auf dem Titelblatt), ein Versuchsballon sei, um die öffentliche Aufnahme des<br />
Werks zu testen (Vorwort S. 5). Unter dem Titel Anson hat er <strong>das</strong> Epos schließlich<br />
in Altona 1868 vollständig veröffentlicht. Besonders erwähnt werden soll<br />
in diesem Artikel neben seinen Reisebüchern über Brasilien noch eine moralisierende<br />
Bearbeitung von Hans Stadens Brasilienbuch von 1557 mit dem Titel<br />
Hans Staden von Homberg bei den brasilianischen Wilden oder die Macht des<br />
Glaubens <strong>und</strong> Betens (Hamburg: Agentur des Rauhen Hauses 1871). Robert<br />
Avé-Lallemant starb 1884 in Lübeck. Ein Nachruf würdigte seine Verdienste in<br />
den Lübeckischen Blättern, der Zeitschrift der erwähnten Gemeinnützigen Gesellschaft<br />
(N.N. 1884). Durch die Nachkommen seiner Brüder ist die Familie<br />
8. Nachruf wohl von dem Redakteur Rahtgens in: Lübeckische Blätter, 1884, S.500-502, hier S. 501.<br />
9. Nach dem später in Hamburg wirkenden Universalgelehrten Jungius ist heute die gleichnamige<br />
wissenschaftliche Gesellschaft in Hamburg benannt, die Joachim Jungius Gesellschaft<br />
der Wissenschaften e. V., gegründet 1947, die nach ihren Statuten Geistes- <strong>und</strong> Naturwissenschaftler<br />
verschiedenster Bereiche zusammenbringen will.<br />
10. Bartolomé de Carranza (1503-1576) war Erzbischof von Toledo <strong>und</strong> 1546-1548 Teilnehmer<br />
des Trienter Konzils. Er vertrat die dort beschlossenen disziplinarischen Reformen, insbesondere<br />
die Forderung der Residenzpflicht der Bischöfe in ihren Diözesen. Wegen seiner<br />
Comentarios sobre el catechismo christiano (Antwerpen 1558) kam er mit der Inquisition in<br />
Konflikt <strong>und</strong> war mehrere Jahre bis kurz vor seinem Tod eingekerkert.
der Avé-Lallemants bis heute auch in Brasilien weit verbreitet. Im Familienarchiv<br />
der Avé-Lallemants finden sich Dokumente auch zu Robert Avé-<br />
Lallemant, allerdings keine bislang unbekannten Texte. 11<br />
Die Brasilienreisen von Avé-Lallemant<br />
Avé-Lallemant wurde eher zufällig zum Schriftsteller. In Rio begann er mit verschiedenen<br />
medizinischen Aufzeichnungen zum Gelbfieber, die er später als Buch<br />
veröffentlichen sollte, mit einem Teil für die Erstbehandlung auf Schiffen, wenn<br />
kein Arzt anwesend war. Bereits in dem medizinischen Werk, <strong>das</strong> seine Aufzeichnungen<br />
über <strong>das</strong> gelbe Fieber 1857 bündelte (Das gelbe Fieber, nach dessen geographischer<br />
Verbreitung, Ursachen, Verschleppbarkeit, Haupterscheinungen, Behandlung<br />
<strong>und</strong> anderen wissenschaftlichen Beziehungen), wandte er bewusst Elemente<br />
literarischer Gestaltung an, für die er sich im Vorwort entschuldigt hat (1857, Vorwort<br />
S. 5): „Für <strong>das</strong> hie <strong>und</strong> da etwas buntfarbige Colorit meiner Darstellung bitte<br />
ich um Entschuldigung“. Vorausgegangen war eine Publikation zum selben Thema<br />
in Brasilien 1850 in Portugiesisch: Observações acerca da epidemia de febre<br />
amarella do anno de 1850 no Rio de Janeiro (Rio de Janeiro: Villeneuve,1851).<br />
Besonders dramatisch geschildert wird etwa der Ausbruch einer aus Bahia in Rio<br />
eingeschleppten Gelbfieberepidemie 1849, als er am dortigen Krankenhaus tätig<br />
war (1857, S. 123ff); er geht dort individuell auf einzelne, ihn persönlich berührende<br />
Krankheitsschicksale ein.<br />
Die Forschungsreisen von Avé-Lallemant wurden wegen seiner langjährigen<br />
Verdienste für <strong>das</strong> brasilianische Ges<strong>und</strong>heitswesen von der dortigen Regierung<br />
finanziell unterstützt (Avé-Lallemant, Deutsche Kolonisation, 1872, S.<br />
20). Seine Reisebücher bedürften einer detaillierteren Studie, die im Rahmen<br />
dieses Aufsatzes sicher nicht zu leisten ist. GÜNKEL 1985 ist hier nur ein Anfang.<br />
Es herrscht Konsens in der Literatur, <strong>das</strong>s er keine neuen wissenschaftlichen<br />
Erkenntnisse erbracht hat, als aufmerksamer Beobachter der sozialen<br />
Verhältnisse im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert gebührt ihm aber ein wichtiger Platz unter<br />
den deutschsprachigen Reisenden. Der bekannteste deutsche Brasilienreisende<br />
der Zeit, Maximilian von Wied-Neuwied, sah sich selber nicht nur als<br />
Reisender zur persönlichen Bildung, sondern als Forscher <strong>und</strong> legte in seinen<br />
Büchern Wert auf die ethnologischen <strong>und</strong> pflanzenk<strong>und</strong>lichen Beobachtungen.<br />
Die Naturk<strong>und</strong>ler Spix <strong>und</strong> Martius hatten bei ihrer Reise konkrete naturk<strong>und</strong>liche<br />
Projekte, deren Ergebnisse, nach dem frühen Tod von Spix, Martius<br />
dann sein Leben lang beschäftigen sollten. Das tägliche Leben in den Kolonien<br />
<strong>und</strong> die Beobachtungen der damaligen Gesellschaft haben in diesen Werken<br />
nicht den Stellenwert inne wie bei Avé-Lallemant.<br />
Das Titelblatt der Reise durch Südbrasilen ist mit einem Holzschnitt als Titelvignette<br />
illustriert. Er zeigt Aimé Bonplands Estancia Santa-Anna in Corrientes am<br />
Uruguay. Der Autor schildert in dem Buch seinen Besuch bei Bonpland 12 , der sich<br />
11. Ich danke Frau Sabine Beckmann, geb. Avé-Lallemant aus Kiel für die Herstellung des Kontakts<br />
zur Familie.<br />
12. Bonpland eigentlich Goujaud, geb. 1773 in La Rochelle, gest. 1858 in Restauración, Paraguay,<br />
225
226<br />
einige Jahre nach seiner Forschungsreise mit Alexander von Humboldt in Argentinien<br />
<strong>und</strong> Paraguay niedergelassen hatte. Avé-Lallemant, der später auch Alexander<br />
von Humboldt in Berlin persönlich kennen lernte, hat den Besuch bei dem<br />
berühmten Naturforscher, der wenige Tage später starb, sicher als einen der Höhepunkte<br />
seiner Reise empf<strong>und</strong>en.<br />
Die Reise führte Avé-Lallemant praktisch durch <strong>das</strong> gesamte damals erschlossene<br />
Brasilien. Er bereiste zuerst die Provinz Rio Grande do Sul, in die er von Rio<br />
aus mit dem Dampfschiff fuhr, <strong>und</strong> die sich dort entwickelnden Ansiedlungen von<br />
deutschen Auswanderern. Dort drang er bis in <strong>das</strong> ehemals jesuitische Missionsgebiet<br />
am Uruguay vor. Nach einer Pause in Porto Alegre setzte er die Reise durch<br />
die Provinzen Paraná <strong>und</strong> São Paulo fort, um schließlich mit dem Schiff von Santos<br />
nach Rio zurückzukehren. Von dort aus brach er im November 1858 zu den nördlichen<br />
Provinzen auf. Er fuhr zuerst mit dem Schiff nach Bahia, besuchte den Rio<br />
Pardo im Staat Bahia <strong>und</strong> fuhr die Küste weiter bis zum Fluss Mucuri. Dort erlebte<br />
er <strong>das</strong> Elend neu angesiedelter Deutscher, Elsässer <strong>und</strong> Holländer, für einen Teil<br />
konnte er ihre Übersiedlung nach Rio dort aushandeln. Er veröffentlichte auch<br />
wenig später einen Bericht zur Abschreckung für weitere Auswanderer (Am Mucuri,<br />
Hamburg 1859). Sein Urteil ist eindeutig:<br />
Und so lange die hiesige Regierung es duldet, daß Privatunternehmungen<br />
mittelst Kolonisten angefangen, <strong>und</strong> Kolonisten dazu engagirt werden,<br />
wird sie immer die alte Geschichte erleben: Verlockung von Auswanderern,<br />
Unglück <strong>und</strong> Elend der Eingewanderten, <strong>und</strong> als nächsten<br />
Rückschlag heftige Angriffe <strong>und</strong> Verläumdungen nicht solcher Privatunternehmungen,<br />
sondern des ganzen Kaiserthums, nicht solcher<br />
Engageurs <strong>und</strong> Unternehmer, sondern der ganzen Landesregierung <strong>und</strong><br />
deren Principien. (S. 4/5)<br />
Das schmale Büchlein ist auch für Avé-Lallemants schriftstellerische Entwicklung<br />
von Bedeutung, da es sich um den ersten nichtwissenschaftlichen Text handelt,<br />
den er veröffentlicht hat. Die Broschüre bleibt aber nicht bei der anklagenden<br />
Polemik stehen, sondern schildert anhand der konkreten Abfolge der Reise<br />
die individuelle Wahrnehmung des Autors, der wie schon in dem Buch über <strong>das</strong><br />
Gelbe Fieber in Rio von Einzelschicksalen ausgeht, die ihm in improvisierten Krankenhäusern<br />
der Mucuri-Gegend berühren:<br />
Im unzulänglichen Hause befanden sich etwa 60 Menschen, von denen<br />
über die Hälfte krank war. Größtentheils von niederträchtigen Agenten<br />
in Deutschland beschwatzt, waren sie im September des Jahres<br />
1858 dorthin gebracht worden. Contractmäßig sollten Viele von ihnen<br />
gleich nach Philadelphia [ein Ort in der Gegend] kommen, was<br />
bereiste von 1799 bis 1804 zusammen mit Alexander von Humboldt Spanien <strong>und</strong> Südamerika.<br />
Nach seiner Zeit als Vorsteher der Kaiserlichen Botanischen Gärten in Frankreich ging er<br />
nach dem Sturz von Napoleon nach Buenos Aires, wo er als Naturforscher tätig war, später<br />
nach Paraguay, wo seine Matepflanzungen auf den Widerstand des Diktators José Gaspar<br />
Rodríguez Francia (1766–1840) stießen, der ihn jahrelang inhaftieren ließ. Er lebte nach<br />
einigen Umzügen schließlich auf einem Gut bei Corrientes, <strong>das</strong> ihm der paraguayische Staat<br />
geschenkt hatte.
aber nicht geschehen war. Andere hatten in einiger Entfernung von<br />
Bella vista ihr Stück Urwald bekommen, <strong>und</strong> hatten auch <strong>das</strong> saure<br />
Umhauen der gewaltigen Stämme begonnen; sie waren aber an Leib<br />
<strong>und</strong> Seele matt <strong>und</strong> krank geworden, <strong>und</strong> sahen so einer schaurigen<br />
Zukunft entgegen, wenn sie auch contractmäßig ein volles Jahr von<br />
der Direction erhalten werden sollten (S. 14).<br />
Am Schluss formuliert der Autor noch einmal sein Fazit:<br />
Wie Vieles bleibt mir noch zu sagen übrig über die Mucurianlage, über<br />
den Unsinn, Nordeuropäer schlankweg an einen unges<strong>und</strong>en Küstenfluß<br />
in einer heißen Gegend überzusiedeln, <strong>und</strong> eine Kolonie 27 Meilen<br />
lang auszudehnen, oder wenn man will, noch viel länger, ehe auch<br />
nur ein einziger Punkt die Kraft einer Selbstexistenz in sich hat, […]<br />
über den Unsinn, mit Europäern verkehren zu wollen, ohne durch<br />
Selbstanschauung Europa kennen gelernt <strong>und</strong> europäische Erziehung<br />
<strong>und</strong> Humanität eingesogen zu haben. (S.59)<br />
Die Konfrontation mit dem jegliche der offenk<strong>und</strong>igen Missstände leugnenden<br />
Direktor der Kolonie Dr. Ernesto Ottoni <strong>und</strong> dem Reisenden <strong>und</strong> kritisch<br />
beobachtenden Avé-Lallemant gibt dem Text zusätzliche Schärfe. Die literarische<br />
Schilderung entsteht aus konkreten, anfangs oft medizinischen Beobachtungen<br />
unter den Hungernden <strong>und</strong> Siechen <strong>und</strong> weitet sich zu einem Gesamtbild einer<br />
verfehlten Kolonialpolitik an konkreten Erfahrungen aus.<br />
Bereits im April 1859 brach Avé-Lallemant erneut von Rio aus zur Fortsetzung<br />
seiner Reise nach Nordbrasilien auf <strong>und</strong> fuhr über Bahia nach Pernambuco <strong>und</strong><br />
von dort in <strong>das</strong> Innere des Landes nach Alagoas <strong>und</strong> Sergipe, dann über den<br />
Fluss Tocantins zum Amazonas, nach Manaus <strong>und</strong> von dort bis zur peruanischen<br />
Grenze. Nach der Rückreise durch Pará <strong>und</strong> Pernambuco kehrte er mit dem Schiff<br />
nach Europa zurück.<br />
Stilistisch ist Avé-Lallemants Bericht vor allem dann bemerkenswert, wenn er<br />
die Balance zwischen Beobachtung <strong>und</strong> Stimmungsbild an der südbrasilianischen<br />
Küste wiedergibt:<br />
Es war ein frischer Morgen. Der leichte Landwind führte balsamische<br />
Düfte zu uns herüber, während unsere Blicke sich weideten an dem<br />
schönen Küstenbild, mochten nun ganz schroffe <strong>und</strong> kahle Felsabhänge<br />
demselben einen wilden Charakter geben, oder an sanften Senkungen<br />
<strong>und</strong> oben auf geraden Flächen eine üppige Vegetation ihm den vollen<br />
Ausdruck einer tropischen Landschaft geben. Weiterhin machten sich<br />
einzelne Inseln kenntlich, unter ihnen die Ilha Raza mit ihrem Leuchtthurm<br />
auf dem flachen Hügel. (Reise nach Südbrasilien Bd.1, S. 74.)<br />
Verglichen mit der Reiseroute des 1815-1817 reisenden Prinzen von Wied-<br />
Neuwied ist auffällig, <strong>das</strong>s Avé-Lallemant <strong>das</strong> Amazonasgebiet bis zur peruanischen<br />
Grenze als wichtiges Reiseziel integriert hat. Wied-Neuwied war überwiegend in<br />
den küstennahen Provinzen geblieben <strong>und</strong> hatte von dort die nächst gelegenen<br />
Indianerstämme <strong>und</strong> auch den Rio Pardo besucht.<br />
227
228<br />
Die Reisebücher fanden durchaus eine positive Aufnahme in der Zeit.<br />
Eine zeitgenössische Kritik in einer geographischen Zeitschrift vermerkt dies<br />
exemplarisch. 13<br />
Avé-Lallemant <strong>und</strong> die Natur der Tropen<br />
Botanische Interessen sind bei einem universal interessierten Wissenschaftler<br />
wie Avé-Lallemant keine Überraschung. So verw<strong>und</strong>ert es nicht, <strong>das</strong>s er auch hier<br />
einen kleinen Beitrag zur Pflanzenk<strong>und</strong>e Südamerikas leisten wollte. Es sind dies<br />
die Wanderungen durch die Pflanzenwelt der Tropen (Breslau 1881). Schon in seiner<br />
Studienzeit hatte er sich nach dem Vorwort dieses Buchs als Liebhaber mit Botanik<br />
beschäftigt. Auch in dieser Abhandlung wendet er eine naturwissenschaftlich<br />
korrekte Beschreibung an, um dem Leser die majestätischen Eindrucke der tropischen<br />
Natur auch sinnfällig vor Augen zu führen. Die seit den Forschungen von<br />
Martius <strong>und</strong> Spix <strong>und</strong> durch viele botanische Gärten auch in Europa bekannten<br />
Palmen Brasiliens beschreibt er beispielsweise anhand der Species Taquara:<br />
Wegen ihrer eleganten <strong>und</strong> fast majestätischen Erscheinungen sind<br />
nun diese herrlichen Gebirgstaquaras längst in die Gärten der großen<br />
Brasilianischen Emporien herabgezogen worden. Hier stehen sie dann<br />
wohl in dichter Zusammengruppirung an beiden Seiten des Landhauses,<br />
welches sie weit überragen. In anmuthiger Verflechtung ihrer Graskronen<br />
bilden sie zwar auch dort ihr schönes Naturchoas [sic] hoch<br />
oben in der Luft, <strong>und</strong> der Seewind tändelt <strong>und</strong> tobt eben so anmuthig<br />
mit dem flatternden Graslaub, wie der Gebirgssturm, aber die ächten<br />
Bergtaquaras sind <strong>und</strong> werden sie nimmermehr, eben so wenig wie<br />
jene Araucarien, jene Polypodiaceen, deren Riesenmaß doch nur im<br />
wilden Hochwald erreicht wird, wie sehr man sich auch bemüht, sie in<br />
der Ebene <strong>und</strong> in der Cultur groß zu ziehen. (Wanderungen, S. 16/17)<br />
Dieses literarische Verfahren hält der Autor durch, indem er etwa die berühmten<br />
Wasserfälle von Paulo Affonso (nach der Phantasie bereits von Frans Post<br />
gemalt <strong>und</strong> ein beliebtes künstlerisches Motiv im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert) in dem Kapitel<br />
Cactuswaldungen am Rio de São Francisco in Brasilien (S. 159-171) beschreibt, wobei<br />
er hier einfach ein Selbstzitat aus einer Reisebeschreibung einfügt.<br />
Natürlich geht es ihm nicht nur um eine romantische Szenerie wie in dem für<br />
die brasilianische Literaturentwicklung wichtigen Werk des französischen Brasilienreisenden<br />
<strong>und</strong> Bibliothekars an der Bibliothèque Sainte Geneviève Ferdinand<br />
Denis (1798-1890), den Scènes de la nature sous les tropiques (Paris: Louis Janet<br />
1824). Für Denis sollte die Wahrnehmung der üppigen Natur Brasiliens besonders<br />
literarisch auch für die Brasilianer selbst die Entwicklung einer eigenständigen<br />
Literatur ermöglichen, unabhängig von der des Mutterlandes Portugal, eine Anregung,<br />
die in frühromantischen Kreisen Brasiliens <strong>und</strong> in den Anfängen der<br />
13. Eine Rezension von N. N. (1860) sagt, <strong>das</strong> Buch sei „ein anziehendes Reisewerk, <strong>das</strong> man<br />
bald lieb gewinnt“ (S. 490); „Das Werden der Colonisation […] wird uns mit lebendigen<br />
Zügen vor die Seele geführt“ (S. 493).
indigenistischen Literatur dort auf fruchtbaren Boden fiel. 14 Avé-Lallemants Werke<br />
sind auch nicht Rousseaus Rêveries d’un promeneur solitaire (publiziert 1782)<br />
verpflichtet, der natürlich auf ungleich höherem literarischen Niveau die Natur<br />
als Katalysator eigener Erinnerungen <strong>und</strong> Assoziationen nutzt; der Arzt <strong>und</strong> Wissenschaftler<br />
aus Lübeck versucht als bereits erfahrener Reiseschriftsteller in dem<br />
Buch die Balance zwischen wissenschaftlich angemessener Behandlung des Themas<br />
<strong>und</strong> literarischer Gestaltung auch für den fachfremden Leser zu halten <strong>und</strong> in<br />
seinen gefälligen Schilderungen damit ein breiteres Publikum zu erreichen.<br />
Avé-Lallemant <strong>und</strong> die deutsch-brasilianische Kolonisation<br />
Publizistisch blieb <strong>das</strong> Interesse insbesondere für deutsch-brasilianische Fragen<br />
bei Avé-Lallemant immer bestehen. Avé-Lallemant befürwortete die deutsche<br />
Kolonisation durchaus im Prinzip, aber nur zu akzeptablen Bedingungen <strong>und</strong> in<br />
den südwestlichen Teilen Brasiliens (Bedenken S. 40) <strong>und</strong> nicht in den nach seiner<br />
Meinung für Europäer klimatisch ungeeigneten Nordprovinzen. Bereits in Rio de<br />
Janeiro selbst hatte er mit einem literarischen Werk begonnen, <strong>das</strong> später in den<br />
Reisebericht einfloss. Er schickte von dort einen Auszug seiner späteren Reisebeschreibung,<br />
eine „jammervolle Kolonisationsgeschichte“ (Am Mucuri 1859, Vorerinnerung<br />
unpag.) über <strong>das</strong> Elend der Auswanderer am Fluss Mucuri am<br />
08.04.1859 nach Hamburg, wo er noch im selben Jahr veröffentlicht wurde als Am<br />
Mucuri, eine Waldgeschichte aus Brasilien zur Erläuterung, Warnung <strong>und</strong> Strafe für<br />
Alle, die es angeht (Hamburg: Perthes-Besser & Mauke 1859). Die Warnung wird in<br />
den Vorerinnerungen auch explizit hervorgehoben: „Du sollst nicht auswandern“<br />
<strong>und</strong> die dort erwähnte Strafe wünscht Avé-Lallemant den Agenten an den Hals,<br />
die in Europa Kolonisten anwerben <strong>und</strong> in Brasilien ins Elend stürzen. Das Buch<br />
nimmt die Schilderung des persönlichen Zusammentreffens mit den Leidtragenden<br />
während der Nordbrasilienreise des Autors zum Ausgangspunkt.<br />
Das Thema der Bedingungen deutscher Auswanderer führte nicht nur wegen<br />
des Werks von Avé-Lallemant, sondern wegen der damals verstärkt einsetzenden<br />
Auswanderung zu einer breiten Diskussion in Deutschland. So hatte Johann Jacob<br />
Sturz, anfangs ein Befürworter der Auswanderung nach Brasilien, bald davor gewarnt<br />
<strong>und</strong> favorisierte die La Plata-Staaten als besser geeignetes Ziel für Deutsche.<br />
15 Der aus Frankfurt stammende Sturz (1800–1877 Berlin) kannte Brasilien<br />
<strong>und</strong> Mexiko aus eigener Anschauung. Von 1843-1859 war er in Berlin als brasilianischer<br />
Generalkonsul tätig, wurde schließlich entlassen, als er sich gegen die<br />
Sklaverei in Brasilien aussprach <strong>und</strong> publizistisch gegen <strong>das</strong> Parcerie-System kämpfte.<br />
Er war schließlich kurzzeitig als Generalkonsul für Uruguay tätig. Am 12. November<br />
1859 hatte die preußische Regierung die Auswanderung nach Brasilien<br />
praktisch verboten (<strong>das</strong> so genannte Heydt’sche Reskript). Anlass war vor allem<br />
14. Ich behandle Ferdinand Denis in meinem Aufsatz Ferdinand Denis (1798-1890), Bibliothekar<br />
an der Bibliothèque Sainte-Geneviève in Paris <strong>und</strong> Brasilienforscher, in: Auskunft, Heft 4.2007,<br />
noch nicht erschienen.<br />
15. Die Titel von Sturz sind in der Bibliographie aufgeführt. Seine materialreichste Studie, auf<br />
die sich Avé-Lallemant hier wohl bezieht, ist STURZ (1868). Zum Thema WEHNER (1925) <strong>und</strong><br />
SUDHAUS (1940).<br />
229
230<br />
<strong>das</strong> in Brasilien existierende Parcerie-System. Gegen Kopfprämien organisierten<br />
Gesellschaften die Auswanderung aus Europa, wobei den Auswanderungswilligen<br />
die Schifffahrt als Vorschuss bezahlt wurde, den sie dann durch oft langjährige<br />
Arbeit auf den Plantagen der Großgr<strong>und</strong>besitzer abarbeiten mussten, was zu einer<br />
finanziellen Abhängigkeit führte.<br />
Avé-Lallemant galt angesichts seiner Reisebücher als Autorität in brasilianischen<br />
Fragen <strong>und</strong> mischte sich dann in tagespolitische Angelegenheiten ein, wenn<br />
es ihm angemessen schien. Nach Avé-Lallemants Meinung war seine frühe Publikation<br />
über die Missstände bei der Organisation deutscher Kolonien durchaus ein<br />
Anlass, <strong>das</strong>s die Regierung „die durch <strong>das</strong> Ausschreiten jener Mucuryverwaltung<br />
unsicher gewordene <strong>und</strong> höchst gefährdete Auswanderung nach Brasilien […]<br />
im höchsten Grade erschwert […]“ habe (Die deutsche Kolonisation 1872, S. 7). Die<br />
schon in seinen Reiseberichten angedeutete positive Sicht der Kolonisierung von<br />
Südbrasilien sollte Avé-Lallemant anlässlich einer polemischen Debatte noch verstärkt<br />
vertreten. Die Fragen der Auswanderung wurden in der deutschen Öffentlichkeit<br />
auch nach der Reichsgründung breit diskutiert. Am 20. April 1872 hatte<br />
der deutsche Gesandte in Brasilien, der Minister-Resident Graf Solms, anlässlich<br />
eines größeren Projekts, in <strong>das</strong> Land Kolonisten einzuführen, eine Depesche an<br />
<strong>das</strong> Reichskanzler-Amt über die von der brasilianischen Provinzregierung von Rio<br />
Grande do Sul beabsichtigte Ansiedlung von 40.000 europäischen Einwanderern<br />
gesandt, in der er dringend vor der Auswanderung nach Brasilien warnte. Die<br />
Depesche wurde in der deutschen Presse auch veröffentlicht. Avé-Lallemant zitiert<br />
nach einem Zeitungsartikel (Kölnische Zeitung Nr. 213, später gedruckt in den<br />
Hamburger Nachrichten) aus dem Bericht (Bedenken S. 7-11). Anlass war ein Projekt<br />
des Präsidenten der Provinz, die damals São Pedro do Rio Grande do Sul hieß,<br />
<strong>und</strong> der Firmen Caetano Pinto Irmão <strong>und</strong> Holtzweißig & Co., die die Auswanderung<br />
organisieren sollten. Die Zahl der Einwanderer wurde wegen Bedenken,<br />
<strong>das</strong>s es in der Provinz zu einer zu starken Konzentration deutscher Siedler kommen<br />
könnte, bereits auf 20.000 herabgesetzt.<br />
Deutsche aus Südbrasilien reichten daraufhin eine Petition im Reichstag für<br />
erleichterte Auswanderungsmodalitäten ein. Vor dem Hintergr<strong>und</strong> dieser negativen<br />
öffentlichen Meinung gegen deutsche Auswanderung nach Brasilien war es<br />
offenk<strong>und</strong>ig, <strong>das</strong>s die Bedenken der Abgeordneten überwogen. Am 10. Mai 1872<br />
wurde dieses Gesuch vom Reichstag diskutiert (Stenographische Berichte 19. Sitzung<br />
vom 10.05.1872, Bd.28, S. 320-325). Die Angelegenheit wurde nach überwiegend<br />
negativer Debatte an den Reichskanzler delegiert. Bismarck, der ohnedies<br />
gegen Auswanderung war, lancierte gerne Dokumente in die Öffentlichkeit<br />
<strong>und</strong> ließ die Depesche des Grafen Solms in der Presse veröffentlichen. Dieser<br />
Bericht wurde zusätzlich, sicher auf Bismarcks persönliche Initiative, vom Reichskanzler-Amt<br />
den B<strong>und</strong>esregierungen (Länderregierungen) übersandt mit der Bitte,<br />
sie öffentlich bekannt zu machen, um der Auswanderung nach Brasilien entgegenzutreten.<br />
In Hamburg wurden von der hamburgischen Auswanderer-Behörde<br />
Expeditionen nach Brasilien mit Kontrakten, die zu einer Schulddienstbarkeit<br />
führten, mit Erlass vom 09.08.1872 verboten.<br />
Robert Avé-Lallemant reagierte in mehreren kleinen Broschüren auf die Debatte.<br />
Persönliche Besucher bei Avé-Lallemant aus Rio Grande do Sul (erwähnt in
Bedenken S. 11), die die Auswanderung unterstützten, waren Anlass dafür, <strong>das</strong>s<br />
Avé-Lallemant öffentlich Stellung bezog. Er verwies darauf, <strong>das</strong>s der erst im März<br />
1872 in Rio eingetroffene Graf Solms seine Depesche bereits am 20. April des Jahres<br />
verfasst hatte <strong>und</strong> deshalb über keine weitergehenden Kenntnisse der Verhältnisse<br />
des Landes oder der deutschen Siedlungszentren dort verfügen konnte. In<br />
Rio werde die Depesche sicher als Provokation <strong>und</strong> <strong>und</strong>iplomatisch aufgefasst<br />
(Bedenken S. 29). Avé-Lallemant empfiehlt zudem die Auswanderung nach Rio<br />
Grande do Sul explizit (Bedenken S. 32). Er verweist auf die Armut in Lübeck, die er<br />
als Armenarzt aus eigener Anschauung kannte (Bedenken S. 33). In einer Nachschrift<br />
hebt er den Nachhall der Reichstagsdebatte in der Deutschen Zeitung in<br />
Porto Alegre hervor, die ihm am 02. August zugesandt wurde, wo ihm angesichts<br />
seines Eintretens für die deutsche Einwanderung in Südbrasilien gedankt wird.<br />
Das Argument der schlechten Bedingungen armer Schichten in Europa bringt<br />
Avé-Lallemant auch in einem anderen, wenig später publizierten Pamphlet, <strong>das</strong><br />
diesmal die Diskussion im Reichstag mit einbezog:<br />
Hat Herr Kapp [ein Debattenredner im Reichstag] nie an <strong>das</strong> weiße, an<br />
<strong>das</strong> Europäische an <strong>das</strong> Deutsche Sklavenleben gedacht? Ist die ungeheure<br />
Auswanderung aus Deutschland wirklich nur eine Geisteskrankheit,<br />
<strong>und</strong> durch kein materielles Missverhältnis begründet. Ich bin seit<br />
meiner Rückkehr aus Brasilien neun Jahre angestellter Armenarzt hier in<br />
meiner Vaterstadt Lübeck gewesen. Die nordische Armut aber ist für<br />
einen aus den Tropen heimkehrenden Arzt, […] so entmuthigend, so<br />
entsetzlich <strong>und</strong> eben wegen der Macht der Verhältnisse so hoffnungslos,<br />
daß ich keinen Tag gehabt habe, an dem ich nicht meine ganze Armenpraxis<br />
hätte nach irgend einem Kolonisationspunkt in Südbrasilien übersiedeln<br />
mögen. (Die deutsche Kolonisation, S. 15)<br />
Der Autor beharrte darauf, <strong>das</strong>s nicht die brasilianische Gesetzgebung, die er<br />
während seines langen Aufenthalts kennen gelernt hatte, an den dortigen Missständen<br />
schuld sei, sondern die für Deutsche ungeeigneten Verhältnisse in der<br />
nordbrasilianischen Gegend <strong>und</strong> <strong>das</strong> persönliche Versagen einzelner Ausbeuter.<br />
Er wehrte sich gegen die Ergebnisse der Behandlung des Themas in der Reichstagssitzung<br />
vom 10. Mai 1872, die eine seiner Meinung nach berechtigte Bitte der<br />
Bewohner Südbrasiliens nach Erleichterung der Einwanderung zu Unrecht nicht<br />
berücksichtigt hat. Und er setzte sich dafür ein, <strong>das</strong> Edikt vom 12.11.1859 angesichts<br />
der geänderten Umstände aufzuheben <strong>und</strong> fordert Hilfe für die Ausgewanderten<br />
von Seiten des Mutterlandes (Die deutsche Kolonisation S.20/21).<br />
Im Jahre 1874 wurde Avé-Lallemant von belgischen Agenten, die die Auswanderung<br />
organisierten, verklagt, da er ihre Praktiken öffentlich als „Menschenhandel“<br />
bezeichnet hatte. Er gewann den gegen ihn angestrengten Prozess vor Lübecker<br />
Gerichten, wobei er sich selbst ohne Anwalt verteidigt hat (SARTORI 1884, S. 501).<br />
Avé-Lallemants moralisierende Staden-Bearbeitung<br />
Die sozioökonomischen Gr<strong>und</strong>lagen des imperialistischen Zeitalters führten<br />
dazu, <strong>das</strong>s auch die protestantisch geprägten Länder eine Weltmission im 19. Jahr-<br />
231
232<br />
h<strong>und</strong>ert aufbauten. Diese betraf nicht nur die Einheimischen, sondern bald auch<br />
die Auswanderer nach Übersee. Die Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts verstärkt einsetzende<br />
Auswanderung aus Europa aus politischen <strong>und</strong> ökonomischen Gründen<br />
wurde schon bald auch in Deutschland von kirchlich protestantischer Seite als<br />
neues Aufgabenfeld erkannt. 1832 gründete der Hamburger Pastor Johann<br />
Hinrich Wichern (1808-1881) <strong>das</strong> so genannte Rauhe Haus in Horn, damals ein<br />
Dorf vor Hamburg, vor allem für die Betreuung der jugendlichen, verwahrlosten<br />
Stadtbevölkerung. Auch andere Autoren widmeten sich der Frage der Mission<br />
für Auswanderer verstärkt, wie der evangelische Theologe <strong>und</strong> Missionar<br />
Friedrich Fabri (BADE 1975).<br />
In Johann Hinrich Wicherns Denkschrift über die innere Mission von 1851 wurde<br />
die Betreuung dieser Auswanderer als zum Gebiet der inneren Mission zugehörig<br />
aufgefasst (WICHERN, Werke, Bd. 2, 1965, S. 169-182 hier S.179); er dachte<br />
dabei anfangs vorrangig an Deutsche „in Europa außerhalb des Vaterlands“ (ebd.).<br />
In derselben Denkschrift von 1851 thematisiert Wichern auch die Herausgabe<br />
von geeigneten Druckschriften (ebd., S. 172 <strong>und</strong> 180). Dort wird die „Herausgabe<br />
einer besseren Volksliteratur <strong>und</strong> die Verbreitung christlicher Volksschriften <strong>und</strong><br />
besserer Erbauungsbücher als Gegengift gegen die schlechte Presse, die in Deutschland<br />
übermächtig geworden ist“, gefordert (S. 172). Im Jahr 1844 verfasst er ein<br />
Memorandum über die Gründung einer Verlagsbuchhandlung (Werke, Bd. 4,1,<br />
1958, S. 296-299). Damit sollte sowohl der Druck als auch die Verlagsbuchhandlung,<br />
die seit 1842 schon einzelne Drucke verlegt hatte, im Rauhen Haus selbst<br />
verfügbar sein. Das Rauhe Haus gab auch einige Zeitschriften über die von ihm<br />
wesentlich mit geprägte christliche Sozialfürsorge heraus (Fliegende Blätter 1844/<br />
45-1941, Neuauflage 2004).<br />
In diesem Kontext der Herausgabe „besserer Volksliteratur“ ist auch die<br />
Staden-Bearbeitung Robert Avé-Lallemants zu sehen, wie uns der Erscheinungsvermerk<br />
„Hamburg Verlag der Agentur des Rauhen Hauses, Reading Pa. [i. e.<br />
Pennsylvania]: Pilger Buchhandlung (Wackernagel & Bendel)“ 16 zeigt, ein deutlicher<br />
Hinweis auf die intendierten ersten Rezipienten <strong>und</strong> die Beschaffungsmöglichkeiten<br />
des Werks auch in den USA, einem Hauptziel deutscher Auswanderer.<br />
Avé-Lallemant kannte nach eigenen Angaben im Vorwort (S.V) <strong>das</strong><br />
Buch von Staden zum Zeitpunkt seiner Brasilienreisen noch nicht, was nicht<br />
verw<strong>und</strong>ert, da die erste neuere deutsche Ausgabe des Textes erst wieder 1859<br />
von Karl Klüpfel in der Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart herausgegeben<br />
wurde (STADEN 1859), also dem Jahr, in dem auch der erste Band<br />
der Brasilienreise von Avé-Lallemant gedruckt wurde. Er rechtfertigt seine eigene<br />
Ausgabe einer Textbearbeitung mit dem religiösen Argument. Durch den<br />
Bezug auf eine in Südamerika selber spielende Geschichte war <strong>das</strong> Buch in<br />
einer moralisierenden Bearbeitung durchaus auch für Auswanderer geeignet,<br />
denen in Stadens Gestalt eine vorbildhafte Figur, die durch seinen Glauben<br />
16. Der Druck erfolgte nur in Hamburg, die Buchhandlung in Pennsylvania hat nur den Vertrieb<br />
in den USA übernommen. Zum deutschen Druck in den USA siehe für die Frühzeit ARNDT<br />
(1989). An Büchern mit parallelem Vermerk konnte ich nur einen Titel nachweisen: PRESSEL<br />
(1875). Das Archiv des Wichernhauses in Hamburg enthält keine Informationen zu dem Buch<br />
von Avé-Lallemant oder seiner Entstehungsgeschichte.
Notsituationen dank göttlichen Schutzes meistert, vorgeführt werden konnte.<br />
Robert Avé-Lallemant schreibt:<br />
So könnte denn eine Veröffentlichung, die <strong>das</strong> Buch des Hans Staden<br />
zum Gegenstande hat, überflüssig erscheinen. Aber keineswegs ist sie<br />
überflüssig. Einmal soll meine Darstellung die gewissenhafte Wahrheitsliebe<br />
des Märtyrers aus Hessen, wenn wir ihm Schritt für Schritt durch<br />
seinen schrecklichen brasilianischen Aufenthalt nachfolgen, beweisen.<br />
Und dann pflücken wir damit wieder einmal die köstlichste Frucht aus<br />
Stadens Geschichte, daß <strong>das</strong> Anrufen Gottes, <strong>das</strong> laute Beten zu Gott<br />
aus Nöthen hilft, in denen alle <strong>und</strong> jegliche Menschenhülfe fern steht,<br />
aus denen nur ein W<strong>und</strong>er, nur Gottes unmittelbarer Wille retten<br />
kann. (Vorwort vom Juli 1871, S. IX)<br />
Avé-Lallemant nimmt damit eine Argumentation wieder auf, die sich in Stadens<br />
Buch selbst findet, der sein literarisches Werk als Zeugnis für die ihm zuteil gewordene<br />
göttliche Gnade ansieht.<br />
Moralisierende Bücher mit einer im brasilianischen Kontext situierten Geschichte<br />
waren zu der Zeit nichts Neues. Avé-Lallemant kannte sicher die damals ungemein<br />
beliebten, für Kinder geeigneten moralisierenden Geschichten von Amalie<br />
Schoppe, geb. Weise (1791-1858), die lange in Hamburg lebte. Amalie Schoppe war<br />
eine heute vergessene, viel schreibende Schriftstellerin, die allenfalls durch ihre<br />
Hilfe für die Ausbildung des jungen Friedrich Hebbel noch in Erinnerung geblieben<br />
ist. Mit ihren Colonisten (Leipzig 1836) hatte sie auch <strong>das</strong> Thema des Lebens in den<br />
Kolonien, hier Australien, bereits bearbeitet. Amalia Schoppe hat in dem Buch Die<br />
Auswanderer nach Brasilien oder die Hütte am Gigitonhonha, (Berlin 1828, 2. Aufl.<br />
1852) erstmals ein Brasilienthema aufgegriffen (NEUMANN 2005). Der Roman mischt<br />
krude historische Realität <strong>und</strong> Fiktion. Die Tatsache der wirtschaftlichen Abhängigkeit<br />
vieler ihre Überfahrt durch langjährige Verpflichtungen an Gr<strong>und</strong>herren finanzierende<br />
Kolonisten wird mit einer Familiengeschichte verknüpft, wo der Sohn einer<br />
weißen Familie entgegen jeder damaligen historischen Realität als Sklave verkauft<br />
wird, <strong>und</strong> schließlich auf persönliche Intervention der Kaiserin Leopoldine<br />
freikommt. Die rührselige Geschichte erfreute sich großer Beliebtheit, es gibt eine<br />
Übersetzung ins Französische – Le colon du Brésil, traduit de l’allemand d’Amélie<br />
Schoppe par F. C. Gérard (Rouen 1866) – mit einer Approbation des Erzbischofs von<br />
Rouen <strong>und</strong> eine andere französische Fassung – Les émigrants au Brésil, imité de<br />
Mme Amélie Schoppe, par Louis Friedel (Tours 1839) – sowie weitere französische<br />
Ausgaben. Brasilien ist in diesen Texten nicht mehr als ein Hintergr<strong>und</strong> einer moralisierenden<br />
Geschichte, vor dem sich die inneren Qualitäten der Gestalten in widriger<br />
persönlicher Lage erweisen. Amalie Schoppe wurde 1791 in Burg auf Fehmarn<br />
geboren, in Hamburg leitete sie eine Erziehungsanstalt für Mädchen <strong>und</strong> lebte von<br />
der Schriftstellerei. 1851 siedelte sie zu einem ihrer Söhne nach New York über <strong>und</strong><br />
starb 1858 in Schenectady bei New York. 17<br />
Avé-Lallemants Nacherzählung schwankt zwischen dominanten Erzählerparaphrasen,<br />
kleinen Einschüben <strong>und</strong> direkten Zitaten aus dem Staden-Original<br />
17. Weitere Werke von Amalia Schoppe in BRÜGGEMANN (1982ff), hier Bd. 4 (1998), S. 823-829.<br />
233
234<br />
besonders bei Gesprächspassagen. Am Ende des Buchs bringt der textinterne Autor<br />
noch einmal ein Urteil über Staden:<br />
Und damit unser Staden nicht nur vor dem Forum der gewissenhaften<br />
Berichterstattung <strong>und</strong> des tieffsten, lautersten Christensinnes als ein<br />
Stern erster Größe erscheine, müssen wir, um auch denen zu genügen,<br />
denen Frömmigkeit <strong>und</strong> Glaubensstärke wie eine Nebensache oder<br />
gar Characterschwäche erscheint, <strong>und</strong> nur Gelehrsamkeit <strong>und</strong> Wissenschaft<br />
schätzenswert ist, unsern Staden auch als ein Muster von<br />
Beobachter <strong>und</strong> Naturforscher wenigstens erwähnen. (S.102/103)<br />
Der Autor schließt mit einem Ausblick auf <strong>das</strong> Schicksal von Eobanus Hessus,<br />
des Sohns eines berühmten Humanisten, den Staden in Brasilien getroffen hat<br />
<strong>und</strong> der später dort gegen die Franzosen kämpfte. Er gibt Staden selbst noch<br />
einmal <strong>das</strong> Wort, als er sein Gebet (am Ende des ersten Buchs im Original) zitiert.<br />
Wir wissen nicht, ob <strong>das</strong> Buch von Avé-Lallemant dem brasilianischen Schriftsteller<br />
<strong>und</strong> Kinderbuchautor Monteiro Lobato (1882-1948) bekannt war, dies ist<br />
eher unwahrscheinlich. Dieser hat eine Bearbeitung des Stadenschen Reisebuchs<br />
herausgegeben <strong>und</strong> später die wohl bekannteste Fassung von Stadens<br />
Geschichte als Kinderbuch, konnte aber kein Deutsch <strong>und</strong> hat auch seine Übertragung<br />
als freie Bearbeitung unter Zuhilfenahme bereits edierter portugiesischer<br />
Ausgaben erstellt. 18 Es ist wenig bekannt, <strong>das</strong>s sich Lobato zweimal mit<br />
Staden beschäftigt hat, er hat eine nahe am Text bleibende Fassung <strong>und</strong> eine<br />
Nacherzählung für Kinder verfasst. Lobato hat die erstere dieser Fassungen Meu<br />
cativeiro entre os selvagens do Brasil (Rio: Companhia Cia. ed. nacional, ohne<br />
Jahr, erstmals 1926) bewusst nicht als Übersetzung betitelt, sondern als „texto<br />
ordenado literariamente por Monteiro Lobato“, also „in literarische Form gebrachter<br />
Text“ (Prefácio, S. 5). Hintergr<strong>und</strong> des Erscheinens war, <strong>das</strong>s Lobato<br />
nach dem Scheitern seines ersten Verlags, der Companhia Gráfico Editora Monteiro<br />
Lobato in São Paulo, die 1925 bankrott ging, die Companhia Editora Nacional mit<br />
Sitz in Rio de Janeiro <strong>und</strong> einer Filiale in São Paulo gegründet hat. Das erste dort<br />
gedruckte Buch war eben diese Hans-Staden-Ausgabe Meu cativeiro entre os<br />
selvagens do Brasil. Das erfolgreich abgesetzte Buch erschien in einer Auflage<br />
von 3000 Stück übrigens mit einer parallelen, wenig bekannten Ausgabe des<br />
auch die frühe Kolonialzeit beschreibenden Brasilienbuchs Histoire d’un voyage<br />
faict en la terre du Brésil ([Genf] 1578) von Jean de Léry, ebenfalls durch Monteiro<br />
Lobato übertragen: Historia de uma viagem feita á terra do Brasil, texto ordenado<br />
literariamente por Monteiro Lobato (Rio/São Paulo, Cia. ed. nacional 1926). Wie<br />
bei Staden handelt es sich um einen „literarisch geordneten“ Text. Der Erfolg<br />
der Stadenausgabe hat Monteiro Lobato wohl dazu gebracht, bald nicht nur<br />
zwei Nachdrucke seiner Stadenbearbeitung in seinem eigenen Verlag zu verlegen<br />
(2. Ausgabe 1926 <strong>und</strong> 3. Auflage 1927), sondern eine weitere, ungleich<br />
18. Monteiro Lobato benutzte die von Löfgren übersetzte <strong>und</strong> 1900 herausgegebene Ausgabe<br />
von Staden, eine zweite Auflage von Löfgrens Übertragung erschien, allerdings erst nach<br />
Monteiros Fassung, 1930. Frau Vanete Santana hat dieses Jahr an der Universität Campinas<br />
eine Dissertation zu Monteiro Lobatos Stadentexten vorgelegt.
erfolgreichere Bearbeitung für Kinder zu verfassen. Diese erschien bereits 1927<br />
als Aventuras de Hans Staden <strong>und</strong> ist mit über 32 Auflagen bis heute die meist<br />
aufgelegte Fassung von Stadens Geschichte <strong>und</strong> vielen brasilianischen Kindern<br />
seit ihrer Jugend präsent. In der Fassung für Kinder fügt er als Rahmenhandlung<br />
ein, <strong>das</strong>s die Geschichte zwei Kindern von ihrer Großmutter erzählt wird.<br />
Zusammenfassung<br />
Robert Avé-Lallemants umfangreiches Werk bedürfte fast 150 Jahre nach dem<br />
Beginn seiner Brasilienreisen einer Wiederentdeckung <strong>und</strong> ist für unsere Kenntnis<br />
des imperialen Brasiliens von zentraler Bedeutung. Seine Gestalt würde insgesamt<br />
eine nicht nur literarische Würdigung verdienen, sondern sollte auch seine<br />
Verdienste für die Entwicklung des staatlichen Ges<strong>und</strong>heitswesens in dem Land<br />
berücksichtigen. Seine Reisebeschreibungen sind stilistisch ansprechend gestaltet<br />
<strong>und</strong> erweitern unser Bild der Epoche durch genaue Beobachtungen eines naturwissenschaftlich<br />
geschulten Autors, der nicht nur bei der sozialen Situation der<br />
deutschen Einwanderer Exzesse zu Recht kritisch angeklagt hat, sondern sich<br />
auch persönlich für die Veränderung dieser Verhältnisse eingesetzt hat. In den<br />
Jahren nach der Reichsgründung galt der nach Lübeck zurückgekehrte Avé-<br />
Lallemant als Autorität in allen Fragen, die Brasilien <strong>und</strong> die deutsche Auswanderung<br />
dorthin betrafen <strong>und</strong> hat sich auch publizistisch <strong>und</strong> im öffentlichen Leben<br />
bewusst nach seinen Überzeugungen für <strong>das</strong> ihm durch langjährige Aufenthalte<br />
<strong>und</strong> Reisen genau bekannte Land <strong>und</strong> <strong>das</strong> bessere Leben der Kolonisten dort<br />
eingesetzt. Nicht zuletzt war er ein begabter Reiseschriftsteller, der nicht nur aus<br />
Brasilien, sondern auch aus Paris <strong>und</strong> Rom, Ägypten <strong>und</strong> Nubien berichtet hat,<br />
<strong>und</strong> sich an dramatischen Werken, einem Epos <strong>und</strong> einer Biographie von dem<br />
Universalgelehrten Joachim Jungius versucht hat.<br />
Literatur<br />
Zusammenstellung der Werke <strong>und</strong> Schriften von Robert Avé-Lallemant<br />
[Bei selteneren Werken wurden die Belegexemplare in Klammern angegeben]<br />
– De lithotritia. Dissertatio Inauguralis Chirurgica, Kiliae [Kiel]: Mohr, Univ., Med. Diss., 1837.<br />
– De Ioanne Actuario ultimo medico Byzantino dissertationem medico-historicam, viro Summe verando<br />
J.F.H Sigaud offert RCB Lallemant, Sebastianopoli [Rio de Janeiro]: Laemmert 1846, 26 Seiten.<br />
[wohl eine kleine Festschrift als Privatdruck, Joseph François Sigaud (1796-1857) wirkte als Arzt<br />
in Brasilien, er hat folgendes Werk verfasst: Du climat et des maladies du Brésil ou statistique<br />
médicale de cet empire, Paris 1844]; [bibliographische Angabe zu Avé-Lallemants Werk aus den<br />
Berliner Titeldrucken, kein Beleg].<br />
– Beiträge zur Kenntnis des gelben Fiebers zu Rio de Janeiro, gesammelt während der Jahre 1850-54,<br />
Abtheilung 1. Rio: Lenzinger 1855 [Berliner Titeldrucke, kein Beleg].<br />
– Observações acerca da epidemia de febre amarella do anno de 1850 no Rio de Janeiro, colhi<strong>das</strong> nos<br />
hospitaes e na Policlínica. Rio de Janeiro: Villeneuve 1851. [Biblioteca nacional, Rio, Staatsbibliothek<br />
Bamberg].<br />
– Das gelbe Fieber, nach dessen geographischer Verbreitung, Ursachen, Verschleppbarkeit, Haupterscheinungen,<br />
Behandlung <strong>und</strong> anderen wissenschaftlichen Beziehungen, aus eigenen Beobachtungen<br />
<strong>und</strong> Erfahrungen dargestellt, nebst einem Anhange: Behandlung des gelben Fiebers auf<br />
Schiffen, wenn kein Arzt zugegen ist. Breslau: Hirt 1857.<br />
235
236<br />
– Am Mucuri. Eine Waldgeschichte aus Brasilien zur Erläuterung, Warnung <strong>und</strong> Strafe für Alle, die es<br />
angeht. Hamburg: Perthes-Besser & Mauke 1859 [UB Kiel]. [Online: ]<br />
– Reise durch Südbrasilien im Jahre 1858. Leipzig: Brockhaus 1859.<br />
– Reise durch Nordbrasilien im Jahre 1859. Leipzig: Brockhaus 1860.<br />
– Rathschläge bei dem Besuch der Gelbfieberhäfen zur Zeit des herrschenden Fiebers für Seeleute nach<br />
vieljährigen Beobachtungen <strong>und</strong> Erfahrungen zusammengestellt. Berlin: Kgl. Geh. Hofdruckerei<br />
1860, 47 S. [Berliner Titeldrucke, Berlin SPKB].<br />
– Die Benutzung der Palmen am Amazonenstrom in der Oekonomie der Indianer, nach einem im<br />
Athenäum am 19. November 1860 zu Hamburg gehaltenen Vortrag. Hamburg: Boyes Geisler<br />
1861 [SUB Göttingen].<br />
– Des Dr. Joachim Jungius aus Lübeck Briefwechsel mit seinen Schülern <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>en, ein Beitrag zur<br />
Kenntniss des großen Jungius <strong>und</strong> der wissenschaftlichen wie socialen Zustände des dreißigjährigen<br />
Krieges, hrsg. von Robert C. B. Avé-Lallemant. Lübeck: Asschenfeldt 1863.<br />
– Tabatinga am Amazonasstrom: ein Vortrag gehalten am 7. März 1863 im wissenschaftlichen Verein<br />
zu Berlin. Hamburg 1863 [UB Kiel].<br />
– Ein hanseatischer Admiral, von Dr. med. Robert Avé-Lallemant. Lübeck: Rahtgens 1866 [UB Kiel].<br />
[Auszug aus dem folgenden Titel Anson].<br />
– Anson, [Epos]. Altona: Mentzel 1868 [Kiel: Landesbibliothek, Stadtbibliothek Mainz].<br />
– Hans Staden von Homberg bei den brasilianischen Wilden oder die Macht des Glaubens <strong>und</strong> Betens,<br />
hrsg. von Robert Avé-Lallemant. Hamburg: Agentur des Rauhen Hauses 1871. [Online: ].<br />
– Bedenken über eine Depesche des kais[erlichen] deutschen Minister-Residenten am Brasilianischen Hofe<br />
vom 20. April 1872, Lübeck: Rahtgens 1872. Ein offenes Wort über eine anonyme Einsendung,<br />
Nachschrift zu dem J. J. Sturz’schen Buche: Die deutsche Auswanderung u.s.w. (vom Jahre 1868).<br />
Hamburg: Mentzel 1872. Die deutsche Kolonisation in Brasilien <strong>und</strong> der Deutsche Reichstag am 10.<br />
Mai 1872. Lübeck: Rahtgens 1872. [Diese drei Schriften sind im Exemplar der UB Kiel zusammengeb<strong>und</strong>en<br />
(Signatur M 9666). Von dem letzten Werk Die deutsche Kolonisation gibt es einen<br />
2. Abdruck (UB Frankfurt, Belegexemplar im Katalog der Bibliothek der Deutschen Kolonialgesellschaft<br />
unter der URL: http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/volltexte/2005/507/pdf/band1.pdf<br />
Abrufdatum 13.04.2006)].<br />
– Carranza Erzbischof von Toledo, ein dramatisiertes Zeitbild in 5 Acten. Hamburg: Mentzel 1872.<br />
– Fata Morgana, Reiseeindrücke aus Ägypten <strong>und</strong> Unteritalien. 2 Bde., Altona: Mentzel 1872.<br />
– Die Kirche der Heiligen Prudentiana <strong>und</strong> ihre Umgebung, ein Morgenspaziergang in Rom. Lübeck:<br />
Ferdinand Grautoff 1877 [Beleg UB Kiel, Exemplar mit eingeb<strong>und</strong>enem Dankesbrief von Lindenberg<br />
vom 09.07.1877, <strong>das</strong> Exemplar aus dem Nachlass von Roberts Tochter Martha 1928, Geschenk<br />
von Frau Range an die Universitätsbibliothek Kiel 1959].<br />
– Wanderungen durch Paris aus alter <strong>und</strong> neuer Zeit. Gotha: Perthes 1877 [SUB Göttingen].<br />
– Luiz de Camoens, Portugals größter Dichter, Eine Festschrift zur Gedächtnissfeier der 300sten Wiederkehr<br />
seines Todesjahres. Leipzig: Foltz 1879 [SUB Göttingen].<br />
– Wanderungen durch die Pflanzenwelt der Tropen, allen Liebhabern der Natur [...] gewidmet. Breslau:<br />
Hirt 1881 [SUB Hamburg].<br />
– Yn Gudes Namen: Das Leben des Dr. med. Joachim Jungius aus Lübeck: (1587 - 1657). Breslau: Hirt 1882.<br />
Beiträger:<br />
– an der Humboldtbiographie, veröffentlicht zum 100. Geburtstag Humboldts:<br />
Carl Christian Bruhns (1830-1891), Alexander von Humboldt, eine wissenschaftliche Biographie, 3<br />
Bde., Leipzig 1872. Er schrieb den Teil über Humboldts Parisaufenthalt.<br />
Herausgeber [mit weiteren Autoren]:<br />
– Gaea. Natur <strong>und</strong> Leben. Zeitschrift zur Verbreitung naturwissenschaftlicher <strong>und</strong> geographischer<br />
Kenntnisse sowie der Fortschritte auf dem Gebiete der gesammten Naturwissenschaften. Stuttgart:<br />
Lehmann [u.a.] (1) 1865-(45) 1909. [In Bd. 1, 1865, findet sich ein Aufsatz von Avé-Lallemant<br />
über „Die Früchte Brasiliens“.]<br />
Aufsätze:<br />
– einige Aufsätze von Robert Avé-Lallemant finden sich in der Wochenschrift für die gesammte Heilkun-
de, Berlin, in den Jahrgängen 1844 <strong>und</strong> 1848-1851, darunter mehrere Aufsätze zu den Gelbfieberfällen<br />
in seinem Hospital, die dann in sein Buch Das Gelbe Fieber 1857 eingegangen sind. Exemplarisch<br />
sei zitiert:<br />
Ethnographischer Blick auf Brasilien. In: Wochenschrift für die gesammte Heilk<strong>und</strong>e. Berlin 14. September<br />
1844, Nr. 37, S.590-600 <strong>und</strong> Nr. 38, 21.09.1844, S.613-617.<br />
Von dem Bruder Friedrich:<br />
– [Heinrich Georg] Friedrich Avé-Lallemant: Erinnerungen an Brasilien, 3 Teile: 1: Banane (von der<br />
Norddeutschen Jugendzeitung gekrönte Preisschrift); 2: Die Bai von Rio de Janeiro <strong>und</strong> Fischerei auf<br />
derselben; 3: Meine erste Reise nach der deutschen Kolonie. Petropolis, Lübeck: in Commission der von<br />
Rohdenschen Buchhandlung 1854 [Brasilienbibliothek der Bosch Gmbh, unpubl. Ergänzungen].<br />
Sammlung von Rezensionen:<br />
– von Avé-Lallemants Anson <strong>und</strong> Fata Morgana mit Ankündigung des Carranza unter dem Titel Über<br />
Robert Avé-Lallemant <strong>und</strong> dessen literarische Thätigkeit: namentlich in Bezug auf sein neuestes<br />
dramat. Zeitbild „Papst oder König?“ Carranza, Erzbischof von Toledo. Hamburg: Mentzel 1872<br />
[10] Blatt. [Universitäts- <strong>und</strong> Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha, <strong>das</strong> Exemplar ist Geschenk von<br />
Justus Perthes 1887 laut handschriftlichem Besitzeintrag. Perthes hatte Avé-Lallemants Wanderungen<br />
durch Paris aus alter <strong>und</strong> neuer Zeit 1877 in Gotha gedruckt].<br />
Nachrufe:<br />
– wohl von dem Redakteur Rahtgens in: Lübeckische Blätter, 1884, S.500-502.<br />
– August Sartori in: Deutsche R<strong>und</strong>schau für Geographie <strong>und</strong> Statistik 7, 1885, S.187-189 mit Abbildung<br />
S.187.<br />
Übersetzungen der Brasilienreiseberichte ins Portugiesische:<br />
– Viagem pelo sul do Brasil no anno de 1858, (Coleção de obras raras, 4), tradução do Instituto<br />
Nacional do Livro da edição de Leipzig 1859, 2 Bde. Rio 1953.<br />
– Viagem pelo norte do Brasil no ano de 1859, (Coleção de obras raras, 7), tradução de Eduardo de<br />
Lima Castro. Rio 1961.<br />
– Neuauflagen: Robert Avé-Lallemant, Viagens pelas províncias da Bahia, Pernambuco, Alagoas e<br />
Sergipe, 1859, Belo Horizonte/São Paulo (Coleção Reconquista do Brasil, nova série, 19) 1980.<br />
– No Rio Amazonas 1859 (Coleção Reconquista do Brasil; nova série, 20). Belo Horizonte/São<br />
Paulo 1980.<br />
Posthume Veröffentlichungen:<br />
– Jugenderinnerungen von Dr. Robert Avé-Lallemant, hrsg. von P[aul] Range. In: Lübeckische Blätter<br />
1928, S.956-962.<br />
– Ein Besuch bei Alexander von Humboldt, mitgeteilt von P[aul] Range. In: Deutsche R<strong>und</strong>schau 222,<br />
1930, S.233-236. [vgl. oben die Humboldtbiographie].<br />
Bibliographie der Sek<strong>und</strong>ärliteratur<br />
AHLERS, Olof: (1953) Robert Avé-Lallemant. in: Neue Deutsche Biographie. Bd.1, S.465-466.<br />
APPEL, Bernhard R. (2001): Musikhandschriften <strong>und</strong> Briefe aus dem Familienarchiv Avé-Lallemant.<br />
(Patrimonia 197). Lübeck.<br />
ARNDT, Karl John Richard (1989): The first century of German language printing in the United States of<br />
America: a bibliography based on the studies of Oswald Seidensticker and Wilbur H. Oda. (Publications<br />
of the Pennsylvania German Society; 21/22). 2 Bde. Göttingen.<br />
AVÉ-LALLEMANT, Friedrich Christian Benedikt (1858-1862): Das deutsche Gaunertum in seiner socialpolitischen,<br />
literarischen <strong>und</strong> linguistischen Ausbildung zu seinem heutigen Bestande. Leipzig. [Nachdruck<br />
Hildesheim 1980].<br />
AVÉ-LALLEMANT, Germán (1892-1893) (Hrsg.): El Obrero [Zeitschrift]. Buenos Aires.<br />
AVÉ-LALLEMANT, Germán (1974): La clase obrera y el nacimiento del marxismo en la Argentina,<br />
selección de artículos de Germán Avé Lallemant, introd. de Leonardo Paso. Buenos Aires.<br />
BADE, Klaus J. (1975): Friedrich Fabri <strong>und</strong> der Imperialismus in der Bismarckzeit. Revolution – Depression<br />
– Expansion. Freiburg i.Br. online <br />
[10.10.2006].<br />
237
238<br />
BRASILIEN ALTE BÜCHER NEUE WELT (2006). Ausstellungskatalog der Brasilienbibliothek der Robert<br />
Bosch GmbH in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. (Jahresgabe der Württembergischen<br />
Bibliotheksgesellschaft). Stuttgart.<br />
BRÜGGEMANN, Theodor (1982ff): Handbuch zur Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur, bisher 5 Bde. Bd. 4,<br />
Stuttgart.<br />
BRUHNS, Christian (1872): Alexander von Humboldt, eine wissenschaftliche Biographie. 3 Bde.<br />
Leipzig.<br />
BRUNS, Alken (1991): Robert Avé-Lallemant. In: Schleswig-holsteinisches biographisches Lexikon, Bd.<br />
9. Neumünster, S. 38-40.<br />
CARRANZA, Bartolomé de (1558): Comentarios sobre el catechismo christiano. Antwerpen.<br />
DENIS, Ferdinand (1824): Scènes de la nature sous les tropiques, Paris.<br />
FLIEGENDE BLÄTTER aus dem Rauhen Hause zu Horn bei Hamburg, 1844/45-1941. Mikrofiche-<br />
Edition. Erlangen 2004.<br />
FOUQUET, Karl (1941): A origem da familia Avé-Lallemant e sua expansão no Brasil. São Paulo. [Im<br />
Martius-Staden-Institut in São Paulo befindet sich Fouquets Typoskript des Buchs mit handschriftlichen<br />
Ergänzungen].<br />
GERMÁN AVÉ LALLEMANT (2001) homenaje de la Institución en el 90 o aniversario de su muerte 1910<br />
– 2000. (Junta de Historia de San Luis). San Luis, Argentinen.<br />
GERSTÄCKER, Friedrich (1864): Die Colonie, Brasilianisches Lebensbild. 3 Bde. Leipzig.<br />
GÜNKEL, Ulrike (1985): Robert Avé-Lallemants Reise durch Südbrasilien im Jahre 1858. In: Wiener<br />
ethnohistorische Blätter, Heft 28, S. 59-86.<br />
HANTZSCH, Viktor (1902): Robert Avé-Lallemant. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 46, S. 144-146.<br />
HINDEN, Heinrich (1921): Deutsche <strong>und</strong> deutscher Handel in Rio de Janeiro, 1821-1921. Rio.<br />
LÉRY, Jean de (1578): Histoire d’un voyage faict en la terre du Brésil. [Genf].<br />
LÉRY, Jean de (1926): Historia de uma viagem feita á terra do Brasil, texto ordenado literariamente por<br />
Monteiro Lobato. Rio / São Paulo.<br />
LOBATO, Monteiro (1926): Historia de uma viagem feita á terra do Brasil, texto ordenado literariamente<br />
por Monteiro Lobato. Rio / São Paulo. [2. Aufl. 1926 <strong>und</strong> 3. Aufl. 1927; Neuauflage unter dem Titel<br />
Meu cativeiro entre os selvagens do Brasil, texto ordenado literariamente por Monteiro Lobato,<br />
Curitiba 1995].<br />
LOBATO, Monteiro (1927): Aventuras de Hans Staden. São Paulo. [32. Aufl. bis heute bei verschiedenen<br />
Verlagen].<br />
LÜHRSEN, C.-N. (1963): Die Familie Avé-Lallemant <strong>und</strong> ihre Töchternachkommen. In: Deutsches<br />
Familienarchiv. Neustadt an der Aisch, S. 205-243.<br />
N. N. (1860): Rezension der Reise durch Südbrasilien. In: Zeitschrift für allgemeine Erdk<strong>und</strong>e N.F., Bd.<br />
9, S. 490-493. [Als Avé-Lallemant, Robert: Reise durch Süd-Brasilien im Jahre 1858 online unter<br />
]<br />
NEUMANN, Gerson Roberto (2003): Amalia Schoppe <strong>und</strong> Friedrich Gerstäcker. In: Tópicos, Heft 03, S. 41-<br />
43. [Online unter ].<br />
NEUMANN, Gerson Roberto (2005): Brasilien ist nicht weit von hier! Die Thematik der deutschen<br />
Auswanderung nach Brasilien in der deutschen Literatur im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert (1800-1871). Frankfurt<br />
am Main.<br />
PRESSEL, Wilhelm (1875): Priscilla an Sabina. Briefe einer Römerin an ihre Fre<strong>und</strong>in aus den Jahren<br />
29-33 n. Chr. Hamburg: Agentur des Rauhen Hauses.<br />
ROUSSEAU, Jean-Jacques (1782): Rêveries d’un promeneur solitaire. (Collection complète des œuvres<br />
de J. J. Rousseau 20). Genf.<br />
SANDER, Rolf (1960): Die Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit zu Lübeck als Stätte des<br />
Helfens <strong>und</strong> der menschlichen Begegnung. In: Der Wagen, ein lübeckisches Jahrbuch, S.101-111.<br />
SARTORI, siehe Nachrufe oben.<br />
SCHOPPE, Amalia (1828): Die Auswanderer nach Brasilien oder die Hütte am Gigitonhonha. Berlin<br />
1828. [2. Aufl. 1852; Volltext unter ].<br />
SCHOPPE, Amalia (1839): Les émigrants au Brésil, imité de Mme Amélie Schoppe, par Louis<br />
Friedel. Tours.<br />
SCHOPPE, Amalia (1866): Le colon du Brésil, traduit de l’allemand d’Amélie Schoppe par F. C.<br />
Gérard. Rouen.
SEIPEL, Wilfried (2001) (Hrsg.): Die Entdeckung der Welt – Die Welt der Entdeckungen: österreichische<br />
Forscher, Sammler, Abenteurer. Ausstellung Künstlerhaus Wien 2001/2002. Wien / Mailand.<br />
STADEN, Hans (1859): N. Federmanns <strong>und</strong> H[ans] Stades [vielm. Stadens] Reisen in Südamerica 1529 bis<br />
1555, neu hrsg. von Karl Klüpfel. (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 47). Stuttgart.<br />
STADEN, Hans (1900/1930) Hans Staden, suas viagens e captiveiro entre os selvagens do Brasil, hrsg.<br />
<strong>und</strong> übers. von Alberto Löfgren. Erstmals São Paulo 1900; zweite Aufl. als Hans Staden, Viagem ao<br />
Brasil, Rio 1930.<br />
Stenographische[n] Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, Berlin 1871-1939, hier 19. Sitzung<br />
vom 10.05.1872, Bd.28, S. 320-325. [Digital unter ].<br />
STURZ, Johann Jacob [1847]: Ideen zu einem Vereine zum Schutze <strong>und</strong> zur Unterstützung deutscher<br />
Einwanderer in Südbrasilien. [Als Manuscript gedruckt]. Berlin. [Nachweis Berlin, Staatsbibliothek].<br />
STURZ, Johann Jacob (1848) [unter dem Pseudonym Germano-Brasilicus]: Kann <strong>und</strong> soll Deutschland<br />
eine Dampfflotte haben <strong>und</strong> wie? Mit Hinblick auf Deutschlands Schifffahrt, Handel, Industrie<br />
<strong>und</strong> Auswanderung besprochen. Berlin.<br />
STURZ, Johann Jacob (1862): Kann <strong>und</strong> soll ein Neu-Deutschland geschaffen werden <strong>und</strong> auf welche<br />
Weise? Ein Vorschlag zur Verwertung der deutschen Auswanderung im nationalen Sinne. Berlin.<br />
[STURZ, Johann Jacob] (1862): Brasilianische Zustände <strong>und</strong> Aussichten im Jahre 1861. Berlin.<br />
STURZ, Johann Jacob (1862): Schafzucht am Uruguay als Gr<strong>und</strong>lage deutscher Kolonisation. Berlin.<br />
STURZ, Johann Jacob (1865): Neue Beiträge über Brasilien <strong>und</strong> die La Plata-Staaten. Berlin.<br />
STURZ, Johann Jacob (1868): Die deutsche Auswanderung <strong>und</strong> die Verschleppung deutscher Auswanderer,<br />
mit speciellen Dokumenten über die Auswanderung nach Brasilien zur Widerlegung falscher<br />
Angaben. Berlin.<br />
SUDHAUS, Fritz (1940): Deutschland <strong>und</strong> die Auswanderung nach Brasilien im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert. (Übersee-Geschichte<br />
11). Hamburg.<br />
WEHNER, Karl (1925): Johann Jakob Sturz <strong>und</strong> die deutsche Auswanderung. [Maschinenschriftliche<br />
Dissertation]. Frankfurt.<br />
WICHERN, Johann Hinrich (1958-1988): Werke, 10 Bde., 1958-1988, bes. Bd. 2. Hamburg 1965.<br />
WIED-NEUWIED, Maximilian von (1820/21): Reise nach Brasilien in den Jahren 1815 bis 1817, hrsg.<br />
von Hermann Josef Roth. [Repr. der Ausg. Frankfurt a. M.: Brönner 1820/1821, 2 Bde. <strong>und</strong> ein<br />
Tafelband, Nachdruck der 2 Textbände, Sankt Augustin: Gardez 2001].<br />
WÜLLERSTORF-URBAIR, Bernhard von (1861-1875): Reise der österreichischen Fregatte Novara um<br />
die Erde in den Jahren 1857, 1858, 1859, 9 Bde. Wien.<br />
Dr. Franz Obermeier, geboren 1967 in Kelheim (Bayern), Studium der Romanistik <strong>und</strong><br />
Slavistik in Regensburg. Promotion über französische Brasilienberichte im 17. Jahrh<strong>und</strong>ert;<br />
tätig an der Universitätsbibliothek Kiel. Verschiedene Veröffentlichungen zu Geschichte, Menschen,<br />
Sprachen in Südamerika, insbesondere Brasilien, im 16. <strong>und</strong> 17. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />
239
Koch-Grünberg <strong>und</strong> sein Meisterwerk<br />
Vom Roroima zum Orinoco<br />
Cristina Alberts-Franco<br />
São Paulo<br />
Resumo: Theodor Koch-Grünberg (1872-1924) é considerado um<br />
dos mais importantes etnólogos alemães que, no início do<br />
século XX, realizaram grandes expedições científicas a regiões<br />
parcialmente inexplora<strong>das</strong> do território brasileiro.<br />
Sua obra mais significativa, Vom Roroima zum Orinoco, aqui<br />
comentada, sempre despertou admiração e, ainda hoje, é<br />
considerada de valor inestimável para o estudo dos povos<br />
indígenas de língua Karib.<br />
Abstract: Theodor Koch-Grünberg (1872-1924) was one of the most<br />
distinguished German ethnologists who in the early 20 th<br />
century <strong>und</strong>ertook great ethnographic expeditions to Brazilian<br />
regions which at that time were partially unknown.<br />
His most significant work, Vom Roroima zum Orinoco, commented<br />
in this article, has always been admired and is<br />
nowadays still considered to be of great importance for<br />
the study of Karib Indian groups.<br />
1. Von Grünberg nach Amazonien<br />
Als Karl von den Steinen 1884 seine erste Xingu-Expedition durchführte, begann<br />
die Phase der großen deutschen Forschungsreisen in Brasilien, die von<br />
1884 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs dauerte <strong>und</strong> die für die Erforschung<br />
indianischer Ethnien <strong>und</strong> die Erschließung geographischer Gebiete Brasiliens von<br />
großer Bedeutung war. Diese Expeditionen hinterließen sowohl zahlreiche wissenschaftliche<br />
Ergebnisse, als auch umfangreiche Werke, die die materiellen Resultate<br />
der durchgeführten Reisen in Wort <strong>und</strong> Bild wiedergaben.<br />
Neben Karl von den Steinen gehören zu dieser Periode der deutschen Ethnologie<br />
Namen wie Paul Ehrenreich, Fritz Krause, Max Schmidt <strong>und</strong> Kurt ‚Nimuendaju‘<br />
Unkel. Einer der fleißigsten <strong>und</strong> erfolgreichsten Forscher unter ihnen war Theodor<br />
Koch-Grünberg, der vier Forschungsreisen nach Brasilien unternahm <strong>und</strong><br />
dessen Werke über <strong>das</strong> Gebiet Nordwest-Brasilien/Südost-Kolumbien bis heute<br />
hoch geschätzt werden.<br />
Christian Theodor Koch wurde am 9. April 1872 in Grünberg, Oberhessen,<br />
geboren. Schon in seiner Kindheit hat er sich für fremde Länder <strong>und</strong> Völker interessiert<br />
<strong>und</strong> las mit Interesse <strong>und</strong> Begeisterung die Reiseberichte, die im Globus<br />
veröffentlicht wurden, einer länder- <strong>und</strong> völkerk<strong>und</strong>lichen Zeitschrift, die seine<br />
Eltern abonnierten.<br />
241
242<br />
Nachdem er <strong>das</strong> Gymnasium im benachbarten Laubach besucht hatte, studierte<br />
er klassische Philologie, zuerst in Gießen, dann in Tübingen. 1896 legte er<br />
sein Staatsexamen in Darmstadt ab. Danach war er zwei Jahre lang Gymnasiallehrer<br />
an verschiedenen hessischen Lehranstalten. Aber sein Interesse für die südamerikanischen<br />
Ureinwohner ließ nicht nach, <strong>und</strong> er widmete sich immer mehr<br />
dem Studium dieser Völker.<br />
1899 gelang es ihm, an der zweiten Xingu-Expedition unter Dr. Hermann Meyer,<br />
aus Leipzig, teilzunehmen. Die Expedition sollte die Ausdehnung des Xingu-<br />
Quellgebietes nach Westen hin festlegen <strong>und</strong> dabei den Ronuro-Fluss erforschen.<br />
Doch infolge der örtlichen Verhältnisse wurde die Reise zu „einem fortgesetzten<br />
Leidensweg“ (KOCH-GRÜNBERG 1902, S. 333), so <strong>das</strong>s sich die Expeditionsteilnehmer<br />
gezwungen sahen, zum schon bekannten Culuene-Culiseu aufwärts<br />
zurückzukehren <strong>und</strong> dort die Dörfer verschiedener Indianergruppen zu besuchen,<br />
wo sie umfangreiche ethnographische Sammlungen erwarben.<br />
Nach Deutschland zurückgekehrt, arbeitete Theodor Koch noch ein Jahr als<br />
Gymnasiallehrer in Offenbach. 1902 promovierte er in Würzburg zum Dr. phil. mit<br />
der Arbeit Zum Animismus der südamerikanischen Indianer <strong>und</strong> wurde bald von<br />
Adolf Bastian an <strong>das</strong> Berliner Museum für Völkerk<strong>und</strong>e berufen. 1903 trat er seine<br />
zweite Forschungsreise nach Brasilien an, diesmal unter eigener Leitung. Fast<br />
zwei Jahre lang bereiste er die Region des Alto Rio Negro <strong>und</strong> seiner Nebenflüsse<br />
Içana, Caiari-Uaupés <strong>und</strong> Curicuriari im Grenzgebiet Nordwest-Brasilien/Südost-<br />
Kolumbien, wo er verschiedene Indianerstämme der Tukano- <strong>und</strong> Aruak-Stämme<br />
linguistisch <strong>und</strong> ethnographisch erforschte.<br />
Im Sommer 1905 kehrte Theodor Koch nach Deutschland zurück <strong>und</strong> widmete<br />
sich der wissenschaftlichen Auswertung seiner Forschungsergebnisse, die er<br />
dann in den folgenden Jahren in Form von einigen Büchern <strong>und</strong> mehreren Artikeln<br />
in Fachzeitschriften veröffentlichte. Ab diesen Schriften fügte er seinem Familiennamen<br />
den Namen seiner Geburtsstadt, Grünberg, hinzu.<br />
1909 habilitierte er sich in Freiburg i. Br. für <strong>das</strong> völkerk<strong>und</strong>liche Fach, doch<br />
bald schon beschäftigte ihn erneut die Vorbereitung einer neuen Forschungsreise,<br />
diesmal in <strong>das</strong> Grenzgebiet Nordbrasilien/Südvenezuela. Im Auftrag <strong>und</strong> mit<br />
Unterstützung des Baessler-Instituts in Berlin weilte er von 1911 bis 1913 in dem<br />
damals zum Teil unbekannten Gebiet zwischen dem Roraima-Gebirge <strong>und</strong> dem<br />
mittleren Orinoco.<br />
Im ersten Teil seiner Expedition lebte Koch-Grünberg einige Wochen unter<br />
Makuschí-Taulipáng- <strong>und</strong> Wapischána-Indianern im heutigen brasilianischen<br />
B<strong>und</strong>esstaat Roraima. Im zweiten Teil seiner Reise, nachdem er den Uraricuera<br />
aufwärts gefahren war <strong>und</strong> die Grenze zu Venezuela überschritten hatte, lebte<br />
er monatelang unter Yekuaná- <strong>und</strong> Guinaú-Indianern. Zum Schluss fuhr er<br />
den Ventuari bis zum mittleren Orinoco hinab, dem Ziel seiner fast zweijährigen<br />
Forschungsreise. Von dort aus kehrte er nach Manaus <strong>und</strong> schließlich<br />
nach Deutschland zurück.<br />
Nach seiner Rückkehr nach Deutschland wurde Koch-Grünberg viel Anerkennung<br />
zuteil, <strong>und</strong> er stand jetzt auf dem Höhepunkt seiner Karriere. 1913<br />
wurde er zum außerordentlichen Professor für Ethnologie an der Universität<br />
Freiburg ernannt. 1915 übertrug man ihm die Leitung des Linden-Museums in
Stuttgart. Zugleich behielt er eine Dozentur an der Universität Heidelberg bei. Er<br />
wurde auch zum Ehrenmitglied der Geographischen Gesellschaft in München<br />
<strong>und</strong> des Vereins für Völkerk<strong>und</strong>e in Leipzig ernannt sowie zum korrespondierenden<br />
oder Ehrenmitglied wissenschaftlicher Gesellschaften des In- <strong>und</strong> Auslandes.<br />
Nach verschiedenen Unterbrechungen während des Ersten Weltkrieges –<br />
Landsturmdienst, Aufenthalt im Malarialazarett, photogrammmetrische Auswertung<br />
von Fliegeraufnahmen – setzte er bis 1924 seine Tätigkeit am Linden-Museum<br />
fort. Damals ordnete er die Sammlungen des Museums <strong>und</strong> baute die südamerikanische<br />
Abteilung aus.<br />
1924 schloss sich Koch-Grünberg der Expedition des amerikanischen Forschers<br />
<strong>und</strong> Millionärs Dr. Alexander Hamilton Rice an, der sich mit dem Plan trug, <strong>das</strong><br />
Quellgebiet des Orinoco mit den damaligen modernsten Mitteln zu erk<strong>und</strong>en. Am<br />
20. August 1924 begann die Expedition <strong>und</strong> führte die Flüsse Rio Negro <strong>und</strong> Rio<br />
Branco aufwärts. An einem kleinen Ort namens Vista Alegre am Rio Branco sollten<br />
die Teilnehmer der Expedition für ein paar Tage haltmachen. Doch Hamilton<br />
Rice beschloss, seine Frau <strong>und</strong> einige Tropenärzte nach Manaus zu begleiten <strong>und</strong><br />
sie an Bord eines Dampfers zu bringen, der nach New York fuhr. Während der<br />
langen Wartezeit auf Rices Rückehr erkrankten einige Expeditionsteilnehmer an<br />
Malaria, unter ihnen Koch-Grünberg. Sein Zustand verschlimmerte sich allmählich<br />
so, <strong>das</strong>s er am 8. Oktober 1924 starb.<br />
Koch-Grünberg wird bis heute als einer der bedeutendsten deutschen<br />
Südamerikaforscher angesehen. Seine Werke behandeln Themen wie Geographie,<br />
vergleichende Sprachenk<strong>und</strong>e, Anthropologie, Geschichte, Soziologie <strong>und</strong><br />
Kunstgeschichte. Sein Beitrag zur vergleichenden Sprachenk<strong>und</strong>e, zur indianischen<br />
Mythologie <strong>und</strong> zur materiellen Kultur der von ihm erforschten Indianerstämme<br />
nehmen einen Ehrenplatz in der südamerikanischen Ethnologie ein, <strong>und</strong><br />
seine Texte über die von ihm bereisten Gegenden auf den Forschungsreisen von<br />
1903-1905 <strong>und</strong> 1911-1913 gelten als gr<strong>und</strong>legend.<br />
Das gesamte Werk Koch-Grünbergs besteht aus einigen Büchern, in denen er<br />
hauptsächlich die Ergebnisse der zwei von ihm geleiteten Expeditionen veröffentlichte,<br />
<strong>und</strong> aus 58 Artikeln für Fachzeitschriften. Unter seinen Werken sei zu erwähnen<br />
Zwei Jahre unter den Indianern, Reisen in Nordwest-Brasilien (1909 <strong>und</strong><br />
1910), ein zweibändiges Werk, <strong>das</strong> die Ergebnisse seiner Forschungsreise 1903-<br />
1905 im Grenzgebiet Nordwest-Brasilien/Südost-Kolumbien bringt. Es gilt als <strong>das</strong><br />
„große klassische Werk der Ethnographie des Nordostens Amazoniens“ (HART-<br />
MANN 1977, S. 233) 1 <strong>und</strong> ist bis heute „unersetzlich für <strong>das</strong> Studium der Ethnologie<br />
der Flüsse Negro <strong>und</strong> Japurá“ (SCHADEN 1981, S. 13). Laut Günther Hartmann<br />
(1972, S. 5) sind Koch-Grünbergs Arbeiten insgesamt betrachtet die umfassendsten<br />
geblieben, die es über <strong>das</strong> Gebiet Nordwest-Brasilien/Südost-Kolumbien<br />
bisher gegeben hat. Inzwischen ist dieses Werk ins Portugiesische übersetzt <strong>und</strong><br />
herausgegeben worden.<br />
Doch als Koch-Grünbergs Meisterwerk gilt Vom Roroima zum Orinoco, ein<br />
fünfbändiges Werk, in dem er die Ergebnisse seiner Reise 1911-1913 im Grenzgebiet<br />
Nordbrasilien/Südvenezuela aufgearbeitet hat. Hauptziel dieser Expedition<br />
1. „O grande clássico da etnografia do noroeste da Amazônia [...]“.<br />
243
244<br />
war die ethnographische <strong>und</strong> linguistische Erforschung der bereisten Gegend,<br />
sowie die Sammlung einer großen Anzahl ethnographischer Gegenstände.<br />
Wie erwähnt, verbrachte Koch-Grünberg in der ersten Etappe seiner Reise<br />
einige Wochen in Koimélemong, einem Makuschí-Taulipáng-Wapischána-Dorf im<br />
heutigen brasilianischen B<strong>und</strong>esstaat Roraima, wo er die Kultur seiner Bewohner<br />
intensiv erforschte, ethnographische Gegenstände erwarb, die Indianer filmte <strong>und</strong><br />
fotografierte <strong>und</strong> ihre Tänze <strong>und</strong> Gesänge auf Phonogramme aufnahm. Von<br />
Koimélemong aus unternahm er in Begleitung von indianischen Trägern einen<br />
Marsch bis zu Dénong, einem Taulipáng-Dorf am Fuße des Roraima. Es gelang<br />
ihm, am 7. Oktober 1911 <strong>das</strong> 2640 Meter hohe Sandstein-Tafelgebirge Roraima mit<br />
indianischen Trägern zu ersteigen. Nach insgesamt zwei Wochen in Dénong kehrte<br />
er mit seinen Begleitern nach Koimélemong zurück, <strong>und</strong> ein paar Tage später ging<br />
er von hier aus nach São Marcos, einer Viehzucht-Farm, wo die erste Etappe<br />
seiner Reise endet.<br />
Von São Marcos aus ging Koch-Grünberg dann nach Westen <strong>und</strong> fuhr mit<br />
größten Anstrengungen den Uraricuera aufwärts. Nach Überschreitung der brasilianisch-venezolanischen<br />
Grenze kam er zum Caura-Fluss <strong>und</strong> dann zur Region<br />
des Canaracuni-Flusses, wo er sechs Wochen lang unter den Yekuaná- <strong>und</strong><br />
Guinaú-Indianern lebte <strong>und</strong> sie ethnographisch erforschte. Als er dann in Richtung<br />
Südwesten weiterreiste, sah er sich gezwungen, die Regenzeit in einem<br />
Yekuaná-Ihuruána-Dorf zu verbringen. Danach konnte er den Ventuari flussabwärts<br />
bis zum mittleren Orinoco fahren, dem eigentlichen Ziel der Expedition. Von da<br />
aus reiste er über den Casiquiare <strong>und</strong> den Rio Negro nach Manaus, von wo aus er<br />
einige Wochen später nach Deutschland zurückkehrte.<br />
Diese Expedition zählt zu den großen Leistungen der wissenschaftlichen Erforschung<br />
Südamerikas, da Koch-Grünberg ein bis dahin zum großen Teil unbekanntes,<br />
weiträumiges Gebiet zwischen dem Roraima-Gebirge <strong>und</strong> dem Orinoco-Fluss<br />
zu Fuß <strong>und</strong> mit dem Boot durchqueren musste. Bew<strong>und</strong>ernswert ist seine Beharrlichkeit<br />
während der fast zweijährigen Forschungsreise, da er allerlei Entbehrungen<br />
<strong>und</strong> Schwierigkeiten in Kauf nehmen musste: unzureichende Nahrung, körperliche<br />
Schwäche, lästige Stechmücken <strong>und</strong> Sandflöhe, oft unangenehm feuchtheißes<br />
Wetter, unzählige schwierige Flussstrecken, den Unmut einiger Indianer<br />
<strong>und</strong> monatelange Abgeschiedenheit von der zivilisierten Welt.<br />
Die wissenschaftlichen Resultate dieser Forschungsreise leisteten einen bedeutenden<br />
Beitrag zur Anthropologie, zur Ethnologie, zur Geographie, zur vergleichenden<br />
Sprachenk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> zum Studium der Religionen. Koch-Grünberg<br />
hat auch den Wert der damaligen modernsten Mittel zur Dokumentation der<br />
indianischen Kulturen erkannt, denn neben der Plattenkamera hat er auf dieser<br />
Expedition den Kinematographen <strong>und</strong> den Phonographen eingesetzt. Nach Angaben<br />
von Dore Andrée (1968, S. 143) sind seine Aufnahmen<br />
über die Taulipáng die frühesten völkerk<strong>und</strong>lichen Filmdokumente, die<br />
uns aus Südamerika zur Verfügung stehen.<br />
Laut Koch-Grünberg selbst (1913, S. 256) gehören zu den wissenschaftlichen<br />
Ergebnissen seiner Expedition<br />
eine vollständige Aufnahme des Reiseweges […] nebst Barometer- <strong>und</strong>
Thermometerbeobachtungen; etwa 1000 Photographien; 85 Phonogramme<br />
einheimischer Gesänge <strong>und</strong> Musikstücke; kinematographisches<br />
Material; eingehende Arbeiten über 21 zum Teil bisher unbekannte<br />
Indianersprachen, darunter zahlreiche Texte von Mythen, Legenden<br />
<strong>und</strong> Zaubersprüchen; genaue Aufzeichnungen über Sitten, Gebräuche<br />
<strong>und</strong> Anschauungen einzelner Stämme; ethnographische <strong>und</strong> botanische<br />
Sammlungen; Schmetterlingssammlungen, sowie Gesteinsproben<br />
aus dem gesamten Reisegebiete.<br />
Nach Deutschland zurückgekehrt widmete sich Koch-Grünberg der wissenschaftlichen<br />
Auswertung seiner Forschungsergebnisse, die er dann, wie erwähnt, in fünf<br />
umfangreichen Bänden unter dem Titel Vom Roroima zum Orinoco veröffentlicht<br />
hat. Der erste Band von 1917 enthält die vollständige Schilderung der Reise,<br />
meistens Tagebuchblätter in zwangloser Form, die aus dem unmittelbaren<br />
Empfinden heraus an Ort <strong>und</strong> Stelle niedergeschrieben sind.<br />
(KOCH-GRÜNBERG 1917, Vorwort)<br />
In diesem Band erzählt Koch-Grünberg nicht nur den Verlauf seiner Reise,<br />
sondern beschreibt auch die topographischen, geologischen <strong>und</strong> klimatischen<br />
Verhältnisse der bereisten Gegend <strong>und</strong> fügt Informationen zu ihrer Toponymik<br />
<strong>und</strong> ihrer Pflanzen- <strong>und</strong> Tierwelt hinzu. Der Band enthält auch Angaben zu indianischen<br />
Sitten <strong>und</strong> Bräuchen, zu Geschichte <strong>und</strong> Missionsarbeit, zu damaligen<br />
politischen Ereignissen, zu den oft schlechten Beziehungen zwischen der indianischen<br />
<strong>und</strong> der weißen Bevölkerung der Region.<br />
Dabei zeigt sich Koch-Grünberg nicht immer als zurückhaltender, rein wissenschaftlicher<br />
Beobachter, sondern äußert oft seine Begeisterung über die Landschaft,<br />
seine kritische Meinung über lokale Politik <strong>und</strong> Misshandlungen der Indianer<br />
vonseiten der Weißen, seine Anerkennung positiver Charakterzüge der Letzteren,<br />
ob Erwachsene oder Kinder, aber auch Enttäuschungen, die ihm einige<br />
von ihnen bereitet haben.<br />
Auch seine Zuneigung zu den „braunen Leuten“ bringt er oft zum Ausdruck<br />
<strong>und</strong> vergleicht nicht selten ihr Benehmen mit dem des zivilisierten Europäers,<br />
wobei dieser nicht immer sein Lob verdient. Nicht zuletzt zu erwähnen seien Koch-<br />
Grünbergs humorvolle Äußerungen zu Situationen, die er erlebt oder beobachtet<br />
hat. Auch die 109 Abbildungen <strong>und</strong> sechs Tafeln, die über die 23 Kapitel verstreut<br />
sind, bieten Abwechslung <strong>und</strong> Veranschaulichung des von ihm Geschilderten.<br />
Alle diese Merkmale seines Reiseberichts verschaffen eine zugleich angenehme<br />
<strong>und</strong> lehrreiche Lektüre.<br />
Der zweite Band, 1916 erschienen, ist eine Sammlung von Mythen <strong>und</strong> Legenden<br />
der Taulipáng- <strong>und</strong> Arekuná-Indianer, die Koch-Grünberg „in müßigen St<strong>und</strong>en“<br />
seiner Reise aufgezeichnet hat,<br />
am Lagerfeuer, während der Fahrt im schwankenden Kahn, wenn wir auf<br />
ruhigen Flußstrecken die Zelttücher als Segel benutzten, auf den von brausenden<br />
Wogen umspülten Felsen der Katarakte, unter den rauschenden<br />
Wipfeln der Urwaldbäume. (KOCH-GRÜNBERG 1916, Vorwort)<br />
Dieser Band gilt als „einer der wichtigsten Beiträge zur südamerikanischen<br />
245
246<br />
Mythologie“ (BALDUS 1954, S. 350) 2 <strong>und</strong> enthält in seinem zweiten Kapitel die<br />
Niederschrift von fünfzig Mythen <strong>und</strong> Legenden der Taulipáng- <strong>und</strong> Arekuná-<br />
Indianer: „Naturmythen <strong>und</strong> Heroensagen, Märchen, Tierfabeln <strong>und</strong> humoristische<br />
Erzählungen“ (KOCH-GRÜNBERG 1916, S. 3). Das Märchenmaterial dieses<br />
Bandes diente Koch-Grünberg als<br />
Gr<strong>und</strong>stock zu einer Sammlung von Märchen <strong>und</strong> Mythen aus allen Teilen<br />
Südamerikas, die er aus fremden Veröffentlichungen zusammentrug <strong>und</strong><br />
zu einem der schönsten Märchenbände des Diederichs-Verlages vereinigte<br />
(Indianermärchen aus Südamerika, 1921). (FABER 1956, S. 264)<br />
Der dritte Band, von 1923, ist die Niederschrift der ethnographischen Beobachtungen<br />
Koch-Grünbergs <strong>und</strong> enthält zahlreiche Bilder <strong>und</strong> Fußnoten. Er behandelt<br />
die materielle <strong>und</strong> geistige Kultur der Stämme der Taulipáng, Makuschí<br />
<strong>und</strong> Wapischána (Nordbrasilien), Schirianá <strong>und</strong> Waíka (Grenzgebiet Nordbrasilien/<br />
Südvenezuela) <strong>und</strong> Yekuaná <strong>und</strong> Guinaú (Südostvenezuela). Darin befinden sich<br />
auch die Zaubersprüche der Taulipáng-Indianer in indianischer Sprache <strong>und</strong><br />
Interlinearübersetzung. Im Anhang dieses Bandes, unter dem Titel „Musik der<br />
Makushí, Taulipáng <strong>und</strong> Yekuaná“, beschreibt Erich M. von Hornbostel vierzehn<br />
indianische Musikinstrumente <strong>und</strong> analysiert die indianischen Gesänge, die Koch-<br />
Grünberg auf Phonogrammen aufgenommen hatte.<br />
Der vierte Band, erst 1928 erschienen, enthält die sprachlichen Ergebnisse<br />
seiner Expedition,<br />
Texte mit Interlinearübersetzung <strong>und</strong> Wörterlisten von 23 Sprachen<br />
<strong>und</strong> Dialekten, von denen sechs bis dahin ganz unbekannt waren.<br />
(KOCH-GRÜNBERG 1917, Vorwort)<br />
Zwei Drittel dieses Bandes befassen sich mit dem Sprachmaterial der Taulipáng-<br />
Wörterlisten, einer Skizze der Grammatik, Sätze <strong>und</strong> Phrasen <strong>und</strong> einer „Schilderung<br />
der Reise von Koimélemong bis Paciência-Lager“ mit Interlinearübersetzung<br />
ins Deutsche.<br />
Der fünfte Band von 1923 ist ein Typenatlas mit 180 Tafeln von Repräsentanten<br />
der Stämme Makuschí, Taulipáng, Arekuná, Ingarikó, Auaké, Kaliána <strong>und</strong> Marakaná,<br />
denen Koch-Grünberg auf seiner Expedition begegnet ist.<br />
Die positive Rezeption dieses Werkes im In- <strong>und</strong> Ausland ließ nicht auf sich<br />
warten, eine fortdauernde Anerkennung der Leistungen Koch-Grünbergs, an der<br />
sich im Laufe der Jahrzehnte nichts geändert hat. Zwar hatte er die Bearbeitung<br />
der wissenschaftlichen Resultate bereits in verschiedenen Fachzeitschriften teilweise<br />
herausgebracht: verkürzte Versionen des Reiseberichts, Themen wie die<br />
„Völkergruppierungen der bereisten Region“, die „Mythen <strong>und</strong> Legenden“,<br />
„Indianerkinder“ oder „indianischer Handel“. Selbst während seiner Reise schrieb<br />
er Berichte über den Verlauf der Expedition an verschiedene Zeitschriften, die sie<br />
dann veröffentlichten.<br />
Doch in den fünf Bänden des Werkes Vom Roroima zum Orinoco sind die Resultate<br />
seiner Expedition in Einzelheiten besprochen worden, begleitet von zahlrei-<br />
2. „É este tomo uma <strong>das</strong> mais importantes contribuições à mitologia sul-americana.”
chen Abbildungen <strong>und</strong> Zeichnungen, unzähligen Fußnoten <strong>und</strong> Erklärungen,<br />
insbesondere im zweiten <strong>und</strong> dritten Band. In den Nachrufen auf Koch-Grünberg<br />
<strong>und</strong> in späteren Texten über sein Leben <strong>und</strong> Werk gilt die Anerkennung immer<br />
wieder vor allem diesem Werk, <strong>das</strong> wiederholt als sein Meisterwerk (BALDUS 1954,<br />
S. 350; MELO 1974, S. 74; FARAGE/SANTILLI 2006, S. 11) <strong>und</strong> als „maßgeblicher<br />
Beitrag zur südamerikanischen Ethnologie“ (FABER 1956, S. 259; auch BALDUS<br />
1954, S. 351) bezeichnet wird.<br />
Das meiste Lob fällt auf die akkurate Aufzeichnung der Mythen <strong>und</strong> Legenden<br />
<strong>und</strong> der Zaubersprüche mit Interlinearübersetzung (Bd. II <strong>und</strong> III) <strong>und</strong> auf die<br />
Charakterisierung der Geister <strong>und</strong> Dämonen, der Totengebräuche, des Seelenbegriffs,<br />
der Jenseitsvorstellung <strong>und</strong> des Zauberwesens (Bd. I <strong>und</strong> II):<br />
Namentlich <strong>das</strong> rege Geistesleben der karibischen Taulipáng konnte Koch-<br />
Grünberg in einer solchen Vollständigkeit aufzeichnen, <strong>das</strong>s seine Ausführungen<br />
über diesen Stamm heute noch zu den besten Monographien<br />
gehören, die wir aus dem naturvölkischen Südamerika besitzen.<br />
(ZERRIES 1972, S. 8; siehe auch FARAGE/SANTILLI 2006, S. 18 <strong>und</strong> 19)<br />
Nicht zu vergessen sei die Bedeutung dieses Werkes für die südamerikanische<br />
<strong>und</strong> die deutsche Literatur, denn neben Mário de Andrade (Macunaíma, 1928)<br />
haben auch Alejo Carpentier (Los pasos perdidos, 1953; s. CORTEZ 1976) <strong>und</strong><br />
Alfred Döblin (Amazonastrilogie, 1937-1948; s. SPERBER 1975) die Mythen <strong>und</strong><br />
Legenden des zweiten Bandes als Ausgangspunkt zumindest von Teilen der drei<br />
erwähnten Werke verwendet. Außerdem kannten Mário de Andrade <strong>und</strong> Alejo<br />
Carpentier den Anhang des dritten Bandes, „Musik der Makuschí, Taulipáng <strong>und</strong><br />
Yekuaná“, sehr gut. Mário de Andrade hat sogar den Text von Erich M. von<br />
Hornbostel für private Zwecke ins Portugiesische übersetzt 3 . Carpentier seinerseits<br />
hat die Beschreibung einiger indianischer Musikinstrumente <strong>und</strong> Elemente<br />
indianischer Musikalität <strong>und</strong> Religiosität in Los pasos perdidos an denselben Text<br />
von Hornbostel angelehnt (CORTEZ 1976, S. 364). So gelangte Vom Roroima zum<br />
Orinoco über den Weg der Literatur <strong>und</strong> der Literaturwissenschaft indirekt <strong>und</strong><br />
oft wohl auch unbemerkt an einen weiteren Kreis von Lesern <strong>und</strong> Forschern.<br />
Doch im Gegensatz zu den drei oben erwähnten literarischen Werken, die zum<br />
Teil von Koch-Grünbergs Hauptwerk angeregt <strong>und</strong> über die viel geschrieben wurde,<br />
gibt es kaum Beiträge, die sich mit Vom Roroima zum Orinoco intensiv beschäftigen.<br />
Zwar wurden die positiven Seiten dieses Werkes im Laufe der Jahrzehnte<br />
immer wieder hervorgehoben, doch wenn man die Geschichte seiner Rezeption<br />
verfolgt, fällt einem auf, wie wenig man sich mit ihm als Ganzem auseinandergesetzt<br />
hat. Es würde zu weit führen, die Motive dieses Mangels hier eingehend zu<br />
besprechen, doch kann man in groben Zügen zumindest die Hauptmotive ansprechen.<br />
Für weitergehende Erklärungen verweise ich auf FRANK (2006), KRAUS<br />
(2001) <strong>und</strong> FARAGE/SANTILLI (2006).<br />
Erstens war Koch-Grünberg ein musterhafter Repräsentant der zu seiner Zeit<br />
3. Mário de Andrade interessierte sich für Folklore <strong>und</strong> Musik im allgemeinen, <strong>und</strong> in diesem<br />
Zusammenhang hat er den Text von Erich M. von Hornbostel übersetzt. Das Instituto de<br />
Estudos Brasileiros der Universidade de São Paulo (IEB-USP) besitzt die handschriftliche<br />
Fassung dieser Übersetzung.<br />
247
248<br />
in Deutschland praktizierten Ethnologie <strong>und</strong> versuchte, auf seinen Forschungsreisen<br />
ethnographische Daten aller Art zu sammeln:<br />
Die Schwerpunkte seiner Expeditionen lagen neben einer allgemeinen<br />
ethnographischen Dokumentation der besuchten Ethnien vor allem auf<br />
Sprachaufnahmen, Fotografien <strong>und</strong> dem Sammeln materieller Kultur.<br />
(KRAUS 2006, S. 24, meine Hervorh.)<br />
Da er in seinen Werken bestrebt ist, eine umfangreiche Ethnographie zu präsentieren,<br />
kommt er nie zu einer systematischen Analyse; er beschränkt sich nicht<br />
auf bestimmte Themen, um sich dann intensiv mit ihnen auseinanderzusetzen,<br />
sondern versucht, alles zu beobachten <strong>und</strong> zu dokumentieren, denn für ihn ist<br />
alles in der von ihm erforschten fremden Kultur gleich wichtig. Das Werk Vom<br />
Roroima zum Orinoco ist hierfür musterhaft.<br />
Zweitens basierte sein theoretisches Denken auf evolutionistischen <strong>und</strong><br />
difusionistischen Gr<strong>und</strong>lagen, die zu seiner Zeit außerhalb Deutschlands allmählich<br />
von den Ansätzen der funktionalistischen Theorie <strong>und</strong> Praxis überholt wurden.<br />
So entsprachen seine Werke nicht mehr den Forderungen moderner Ethnologie<br />
<strong>und</strong> boten keinen Anlass zu gründlicheren Diskussionen.<br />
Drittens sind Koch-Grünbergs Werke sehr deskriptiv <strong>und</strong> beschränken sich auf<br />
die Beschreibung der ethnographischen Ergebnisse seiner Reisen:<br />
Kritische Stellungnahmen zu theoretischen Fragen des Faches […] finden<br />
sich, zumindest in den Publikationen, selten – derartige, die reine<br />
Ethnographie übergreifende Fragestellungen werden im allgemeinen<br />
ausgeklammert oder, wie im Falle evolutionistischer Denkschemata <strong>und</strong><br />
der Vorstellung einer Abfolge verschiedener, untereinander vergleichbarer<br />
<strong>und</strong> hierarchisierbarer Kulturstufen unkommentiert übernommen.<br />
(KRAUS 2001, S. 301)<br />
Als Folge der erwähnten Gründe beschränken sich die Beiträge anderer Wissenschaftler<br />
zum Werk Vom Roroima zum Orinoco auf Kommentare zu isolierten Aspekten<br />
der veröffentlichten Daten, wie im Fall der Mythen <strong>und</strong> Legenden, <strong>und</strong> auf die Bedeutung<br />
dieser Daten zum Studium der von Koch-Grünberg erforschten Ethnien.<br />
2. Die brasilianische Ausgabe des ethnographischen Klassikers<br />
Diese Mängel mindern aber nicht die Bedeutung dieses Werkes für die ethnographische<br />
Erforschung der bereisten Gegend, <strong>und</strong> es gilt weiterhin als „Eröffnungswerk<br />
ethnologischer Literatur über West-Guayana“ (FARAGE/SANTILLI 2006, S.<br />
16) 4 . Schon 1927 veröffentlichte die Revista do Museu Paulista eine 1920 verfasste<br />
Rezension von F. C. Hoehne, dem späteren Leiter des Botanischen Gartens in São<br />
Paulo, über den ersten Band dieses Werkes, den er als „wissenschaftliche Arbeit von<br />
unschätzbarem Wert“ qualifizierte (HOEHNE 1927, S. 219) 5 ; schon damals betonte<br />
Hoehne die Notwendigkeit, diesen Band ins Portugiesische zu übersetzen:<br />
4. „Do Roraima ao Orinoco é a obra inaugural da literatura etnológica para a Guiana Ocidental; [...].“<br />
5. „[...] como trabalho scientifico, de valor incalculavel, [...].“
Unserer Meinung nach gehört die Arbeit Koch-Grünbergs zu denjenigen,<br />
die es am meisten wert sind, unter die Werke gereiht zu werden,<br />
die unsere Geschichte <strong>und</strong> Entwicklung dokumentieren. Deshalb verdient<br />
sie, ins Portugiesische übersetzt <strong>und</strong> von allen gelesen zu werden,<br />
die sich für unser Land interessieren, sowie von den Naturwissenschaftlern,<br />
die es studieren. (HOEHNE 1927, 223-224) 6<br />
Diese Forderung, von anderen brasilianischen Wissenschaftlern geteilt (MELO<br />
1974; GUERRA 1982), wurde erst viele Jahrzehnte später erfüllt. 2003 beschloss<br />
der wissenschaftliche Beirat der EDUNESP (Editora da Universidade Estadual<br />
Paulista) in Zusammenarbeit mit dem Martius-Staden-Institut, die Übersetzung der<br />
drei ersten Bände des Werkes Vom Roroima zum Orinoco ins Portugiesische herauszugeben.<br />
Da ich aus akademischen Gründen den I. Band des Werkes bereits<br />
übersetzt, aber noch nicht publiziert hatte 7 , boten mir der Verlag EDUNESP <strong>und</strong><br />
<strong>das</strong> Martius-Staden-Institut die Gelegenheit an, den II. <strong>und</strong> den III. Band zu übersetzen,<br />
um sie zusammen mit dem I. Band zu veröffentlichen.<br />
Bei der Übersetzung der drei Bände hatte ich stets zwei Ziele vor Augen:<br />
sachlich <strong>und</strong> wissenschaftlich korrekte Texte zu präsentieren, aber auch den<br />
Stil der Ausgangstexte zu bewahren. Dabei gehört jeder Band „einer anderen<br />
wissenschaftlich-literarischen Gattung an“ (FRANK 2005, 575) 8 . Der erste Band<br />
ist der klassische Reisebericht <strong>und</strong> besteht hauptsächlich aus kurzen Sätzen im<br />
Präsens; er ist sehr deskriptiv <strong>und</strong> enthält Angaben aus verschiedenen Wissensgebieten,<br />
die oben erwähnt wurden. Hinzu kommen hier <strong>und</strong> da umgangsprachliche<br />
Redewendungen <strong>und</strong> humorvolle Bemerkungen zu einzelnen Personen<br />
<strong>und</strong> Situationen. Außerdem spiegelt der Text oft <strong>das</strong> Gemüt seines Verfassers<br />
wider: Begeisterung, Enttäuschungen, Erleichterung, Ärger, Hoffnung u. a.<br />
Es handelt sich also um einen Text mit abwechslungsreichem Stil <strong>und</strong> zugleich<br />
wissenschaftlicher Genauigkeit. Man vergleiche, zum Beispiel, folgenden humorvollen<br />
Textabschnitt –<br />
24. April. Bei den Yekuaná vom Auarí ist ein junger Kerl, der durch<br />
seine Häßlichkeit sogar unter seinen Stammesgenossen hervorsticht,<br />
<strong>und</strong> <strong>das</strong> will viel sagen. Krummbeinig, plattnasig, mit weit auseinanderstehenden<br />
Augen. Wir nennen ihn <strong>das</strong> „Schweinsgesicht“. […] 30.<br />
April. „Kein Topf so schief, es paßt ein Deckel drauf.“ – Das „Schweinsgesicht“<br />
hat hier eine Frau gef<strong>und</strong>en, eine weit ältere Dame mit üppigen<br />
Körperformen, die „gefährliche Witwe“. Sie hat zuerst Schmidt 9<br />
mit ihren unzweideutigen Anträgen verfolgt <strong>und</strong> sich nun mit diesem<br />
6. „Em nossa opinião, o trabalho de Koch-Grünberg é um dos mais dignos de figurarem entre<br />
as obras que documentam a nossa história e evolução. Merece, por isso, ser vertido para o<br />
portuguez e lido por todos quantos se interessam pelas cousas da nossa terra, como pelos<br />
naturalistas que a estudam.“ (S. Paulo, 31-12-1920).<br />
7. Die Übersetzung des I. Bandes diente als Gr<strong>und</strong>lage meiner Dissertation Aspectos lingüísticoculturais<br />
na tradução dos objetos etnográficos no vol. I de Vom Roroima zum Orinoco, de<br />
Theodor Koch-Grünberg.<br />
8. „[...] cada um dos cinco volumes pertence a um diferente gênero literário-científico.“<br />
9. Es handelt sich um Hermann Schmidt, den deutschen Begleiter Koch-Grünbergs auf der<br />
Forschungsreise 1911-1913. Siehe KOCH-GRÜNBERG 2006, S. 28, 89.<br />
249
250<br />
Yekuaná-Adonis getröstet. Von der Hochzeit wurden wir nichts gewahr.<br />
Sie haben einfach ihre Hängematten übereinander geb<strong>und</strong>en.<br />
(KOCH-GRÜNBERG 1917, S. 258, 259)<br />
– mit einem in zurückhaltendem Ton verfassten Absatz ein paar Seiten später,<br />
der typisch für unzählige Stellen des I. Bandes ist:<br />
Die Ventuarí-Leute nehmen einen Teil der Ladung, <strong>und</strong> rasch geht es<br />
in fünf Kanús weiter. Bald lenken wir in den Ehecuní ein, einen ansehnlichen<br />
linken Zufluß. Der Tuducamá wird nun anscheinend sehr<br />
schmal <strong>und</strong> verliert sich in Stromschnellen. Auch der Ehecuní sprudelt<br />
<strong>und</strong> tost zwischen Felsen dahin <strong>und</strong> bildet kurz oberhalb seiner Mündung<br />
einen Katarakt, den die Yekuaná Konóho-sode (Regenfall) nennen.<br />
(KOCH-GRÜNBERG 1917, S. 264)<br />
Der II. Band befasst sich ausschließlich mit indianischer Mythologie <strong>und</strong> enthält<br />
vier Kapitel mit zahlreichen Fußnoten, doch in unterschiedlichem Stil. Zwei<br />
Kapitel weisen akademischen Stil auf: <strong>das</strong> erste (eine Einführung über Inhalt <strong>und</strong><br />
Charakter der aufgezeichneten Indianermythen) <strong>und</strong> <strong>das</strong> letzte (die Beziehungen<br />
dieser Legenden zu mythologischen Elementen anderer Kulturen). Die zwei anderen<br />
Kapitel versuchen, den umgangsprachlichen Charakter der indianischen<br />
Erzählungen wiederzugeben: <strong>das</strong> zweite (die Niederschrift von fünfzig Mythen<br />
<strong>und</strong> Legenden) <strong>und</strong> <strong>das</strong> dritte (die Niederschrift in indianischer Sprache von elf<br />
Mythen mit Interlinearübersetzung ins Deutsche).<br />
Als Beispiel sollen hier zwei kurze Stellen wiedergegeben werden, die sich auf<br />
dieselbe Mythe beziehen. Der erste Abschnitt gehört zum ersten Kapitel („Einführung“),<br />
der zweite ist die eigentliche Mythe:<br />
Einen explanatorischen Charakter hat ferner die kleine Erzählung 45,<br />
in der begründet wird, warum der Blitz mit Vorliebe in die Paricá-<br />
Bäume einschlägt. Auch hier treten die Blitze redend auf, ebenso ihre<br />
Feinde, die Carapanás (Moskiten), die auf jene mit Giftpfeilen schießen.<br />
(KOCH-GRÜNBERG 1916, S. 14)<br />
45. DIE BLITZE UND DIE CARAPANAS.<br />
(Erzählt vom Taulipáng Mayuluaípu)<br />
Die Carapanás schossen mit Giftpfeilen auf die Blitze. Da fragten die<br />
Blitze: „Mit welchem Gift schießt ihr uns?“ Da sagten die Carapanás:<br />
„Mit dem Gift des Paricá-Baumes! Mit diesem Gift schießen wir euch!“<br />
– Deshalb lieben die Blitze die Paricá-Bäume nicht <strong>und</strong> zerbrechen sie,<br />
wo sie sie finden. (KOCH-GRÜNBERG 1916, S. 131)<br />
Der III. <strong>und</strong> längste Band wurde ausschließlich im akademischen Stil geschrieben<br />
<strong>und</strong> behandelt die Ethnographie einiger Indianerstämme sowie ihre Umgebung.<br />
Als Beispiel soll folgender Abschnitt über die Tänze der Taulipáng-Indianer<br />
wiedergegeben werden:<br />
Tänze <strong>und</strong> Tanzgesänge haben die Menschen häufig von Zauberärzten<br />
oder von Tieren gelernt. Daher sind manche Tänze nach Tieren benannt.<br />
So haben die Taulipáng einen Tanz des araïuág, eines Vierfüßlers
mit weichem, schwarzem Fell, der auf den Bäumen dem Honig nachgeht,<br />
<strong>und</strong> der kaloíd-pakog trägt seinen Namen von dem kaloíd, einem aalähnlichen<br />
Fisch, der kukúyikog von dem kukúi, einem kleinen Habicht.<br />
Der sapála-lému, ursprünglich, wie der Name sagt, ein „Tanzgesang der<br />
Sapará“, stammt von einem H<strong>und</strong>e. (KOCH-GRÜNBERG 1923, S.161)<br />
Um die unterschiedlichen Stile angemessen zu übersetzen, habe ich immer die<br />
Sprachebene des jeweiligen Ausgangstextes berücksichtigt <strong>und</strong> dann versucht,<br />
sie im Zieltext wiederzugeben.<br />
Doch die größte Herausforderung bei der Übersetzung der drei Bände, insbesondere<br />
des I. <strong>und</strong> des III. Bandes, war ihr multidisziplinärer <strong>und</strong> interdisziplinärer<br />
Charakter. Wie erwähnt, bringt dieses Werk Angaben zu verschiedenen Wissensgebieten<br />
insbesondere der Naturwissenschaften, ein charakteristisches Merkmal<br />
für die Werke deutscher Ethnologen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />
Da es sich hier um umfangreiche Bände handelt – der I. Band umfasst<br />
406 Seiten, der II. Band 309 Seiten, der III. Band 423 Seiten, von den Abbildungen,<br />
Zeichnungen, Inhaltsverzeichnissen <strong>und</strong> Vorworten abgesehen –, vermehrte sich<br />
die Zahl der Informationen zu den verschiedenen Wissensbereichen, <strong>und</strong> manchmal<br />
kostete es Zeit <strong>und</strong> Geduld, jeden neuen Begriff passend zu übersetzen.<br />
Ein Beispiel: „Hornstein“ ist ein Gestein, dessen Splitter die Zähnchen für die<br />
Reibebretter lieferten, die von den Yekuaná-Indianern hergestellt <strong>und</strong> an andere<br />
Indianerstämme verkauft wurden. Nach langer Forschung in Wörterbüchern <strong>und</strong><br />
Nachschlagewerken fand ich im Dicionário do Artesanato Indígena von Berta G.<br />
Ribeiro die Erklärung, <strong>das</strong>s es sich bei den Steinchen der Reibebretter der Indianer<br />
Guayanas um „Gneis, Granit, Quartzit“ (RIBEIRO 1988, 280) 10 handelt. Da die<br />
Indianer Guayanas ihre Reibebretter von den Yekuaná kauften (KOCH-GRÜN-<br />
BERG 1917, S. 33, S. 240-241), <strong>und</strong> Koch-Grünberg weder Gneis noch Granit nennt,<br />
habe ich „Hornstein“ als „quartzito“ übersetzt.<br />
Am schwierigsten war es, Daten zur geistigen <strong>und</strong> zur materiellen Kultur<br />
der erforschten Ethnien zu übersetzen, da die ‚konventionellen‘ zweisprachigen<br />
<strong>und</strong> einsprachigen Wörterbücher viele Begriffe nicht enthalten, die typisch<br />
für verschiedene indianische Kulturen Brasiliens sind, wie zum Beispiel<br />
„Strohreif“ (aro trançado), „Hüftschnur“ (cinto de cordões) oder „Topfschale“<br />
(tigela), um nur einige Bespiele der materiellen Kultur zu nennen. Auch kommt<br />
es vor, <strong>das</strong>s Koch-Grünberg manchmal verschiedene deutsche Wörter benutzt,<br />
um eine einzige Gegebenheit der indianischen Kultur oder ihrer Umwelt zu<br />
benennen. Ein Beispiel hierfür ist die „Krankenkur“, von den Taulipáng-Indianern<br />
piasán pulúma-yo (der Zauberarzt bläst = heilt einen Kranken) genannt,<br />
für die Koch-Grünberg sieben weitere Benennungen benutzt: Beschwörung,<br />
Krankenbehandlung, Krankenbeschwörung, Kur, Zauberkur, Zauberarztkur<br />
<strong>und</strong> Zauberbehandlung. Ich entschloss mich, die verschiedenen deutschen<br />
Benennungen für „Krankenkur“ bald als „cura“, bald als „conjuro“, bald als<br />
„rito de cura“ zu übersetzen.<br />
10. „Dos autores consultados, Roth é o único a especificar, com referência aos índios <strong>das</strong> Guianas,<br />
os minérios de que são feitos os dentes dos raladores: gnaisse, granito, quartzito (ROTH<br />
1970: 277-278).“<br />
251
252<br />
Bei der Übersetzung der zahlreichen ethnographischen Gegenstände kam es<br />
vor, <strong>das</strong>s ich manchmal verschiedene portugiesische Namen für ein einziges Objekt<br />
fand, wie bei „Keule“, die je nach Form als „clava“, „maça“, „borduna“, oder<br />
„porrete“ übersetzt werden kann, so <strong>das</strong>s ich mich dann für eine Benennung<br />
entscheiden musste; in diesem Fall entschied ich mich für „clava“. Auch kam es<br />
vor, <strong>das</strong>s ich eine einzige Übersetzung für verschiedene Objekte fand, wie im Fall<br />
von „Korb“, „Tragkorb“ <strong>und</strong> „Kiepe“, die im Wörterbuch Deutsch/Portugiesisch<br />
den Sammelbegriff „cesto“ bekommen. In der Tat handelt es sich aber um drei<br />
verschiedene Körbe mit unterschiedlichen Formen, Größen <strong>und</strong> Gebräuchen,<br />
wie der Text <strong>und</strong> die Abbildungen des III. Bandes bestätigen. Ich übersetzte dann<br />
„Korb“ als „cesto“, „Tragkorb“ als „aturá“ <strong>und</strong> „Kiepe“ als „jamaxim“.<br />
Die Hilfe, um die bei der Übersetzung entstandenen Schwierigkeiten zu meistern,<br />
suchte ich in Wörterbüchern verschiedener Wissensgebiete, in früheren<br />
Übersetzungen von Werken anderer deutscher Ethnologen, in Nachschlagewerken.<br />
Zum Schluss wurde die Übersetzung von Fachleuten revidiert, nämlich<br />
von einem Botaniker, Geraldo A. D. C. Franco, von einem Zoologen, Prof.<br />
Carlos C. Alberts, sowie von zwei Ethnologen, Prof. Nádia Farage <strong>und</strong> Prof.<br />
Paulo Santilli. Dem Wunsch des wissenschaftlichen Beirats der EDUNESP zufolge,<br />
den historisch-dokumentarischen Charakter des Ausgangstextes zu bewahren,<br />
wurden die ursprüngliche deutsche Schreibweise der indianischen<br />
Stämme, Personennamen <strong>und</strong> Wörter, sowie die damaligen Namen der im<br />
Ausgangstext erwähnten Flüsse, Gebirge, Wasserfälle <strong>und</strong> Ortschaften bei der<br />
Revision des gesamten Textes beibehalten.<br />
Im März 2006 erschien die Übersetzung des I. Bandes. Mit Genehmigung des<br />
Instituts für Ethnologie der Philipps-Universität Marburg, dem der wissenschaftliche<br />
Nachlass Koch-Grünbergs 1999 von seinen Nachkommen übergeben wurde,<br />
konnten verschiedene Originalabbildungen des I. Bandes von Vom Roroima zum<br />
Orinoco reproduziert werden, die die brasilianische Ausgabe um so mehr bereicherten.<br />
So erfüllte sich schließlich der Wunsch von F. C. Hoehne <strong>und</strong> anderen<br />
brasilianischen Wissenschaftlern, die im Laufe der letzten achtzig Jahre die Bedeutung<br />
dieses Werkes wiederholt betont haben.<br />
Literatur<br />
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KOCH-GRÜNBERG, Theodor (1913): Bericht über eine Reise durch Brasilisch-Guayana zum Orinoko.<br />
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SPERBER, Georg Bernard (1975): Wegweiser im „Amazonas“. Studien zur Rezeption, zu den Quellen<br />
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ZERRIES, Otto (1972): In memoriam Theodor Koch-Grünberg. In: Tribus. Veröffentlichungen des<br />
Linden-Museums Nr. 21, S. 7-10.<br />
Dr. Cristina Alberts-Franco, geboren 1961 in São Paulo, studierte Germanistik an der<br />
Universidade de São Paulo, wo sie 2000 mit einer Dissertation zu ihrer Übersetzung des<br />
I. Bandes von Koch-Grünbergs Werk Vom Roroíma zum Orinoco promovierte. Nach der<br />
Promotion fünfjährige Lehrtätigkeit an einer privaten Hochschule in São Paulo. Zur Zeit arbeitet<br />
sie als Deutschlehrerin <strong>und</strong> freie Übersetzerin für Deutsch/Portugiesisch.<br />
253
Zwei Jahrh<strong>und</strong>erte<br />
Amphibienforschung in Südbrasilien:<br />
Auf den Spuren deutscher Forscher in<br />
Rio Grande do Sul <strong>und</strong> Santa Catarina<br />
Resumo: A Mata Atlântica subtropical no sul do Brasil é um foco de<br />
diversidade em espécies de anfíbios. Desde 1995 estamos<br />
estudando a fauna anura (rãs e sapos) no nordeste do Rio<br />
Grande do Sul e na região adjacente de Santa Catarina.<br />
Diferentes tipos de vegetação encontram-se nesse espaço,<br />
como p. ex. florestas de araucárias e campos no planalto<br />
vulcânico, Mata Atlântica nas vertentes leste do planalto,<br />
florestas de folhas caducas na sua margem sul e<br />
restinga na zona costeira. Numa área de apenas 300 km 2 ,<br />
que se estende do nível do mar até uma altitude de 1000m,<br />
observamos uma diversidade extremamente grande de<br />
anuros contando por volta de 80 espécies de anfíbios. Algumas<br />
dessas espécies são endêmicas, e algumas poucas<br />
ainda não são descritas. A descoberta dessa notável fauna<br />
anfíbia começou apenas há 200 anos, e a maioria dos cientistas<br />
envolvidos nessa pesquisa têm sido alemães ou<br />
descendentes de alemães. Nesta sinopse histórica, os naturalistas<br />
que contribuíram para o conhecimento dos anfíbios<br />
no Rio Grande do Sul e em Santa Catarina são apresentados<br />
dentro do contexto da nossa presente pesquisa.<br />
O panorama começa no século XIX (com Friedrich Sellow,<br />
Reinhold Hensel, Fritz Müller, Wilhelm Peters), passa pelo<br />
século XX (com Wilhelm Ehrhardt, Fritz Plaumann, Robert<br />
Mertens, Pedro Canisio Braun) e chega aos atuais estudos<br />
com Marcos Di Bernardo e seus colegas.<br />
Abstract: The subtropical Atlantic rain forest of southern Brazil is<br />
considered a hot spot for amphibian species diversity. Since<br />
1995, we study the anuran fauna (frogs and toads) in<br />
northeastern Rio Grande do Sul and adjacent Santa<br />
Catarina. Different vegetation types meet in this region,<br />
i.e., Araucaria forest and grassland (campos) on the<br />
volcanic plateau (planalto), Atlantic rain forest in the<br />
eastern slopes of the planalto, deciduous forest at the<br />
Axel Kwet<br />
Stuttgart<br />
255
256<br />
southern margin of the plateau, and dune vegetation<br />
(restinga) in the coastal zone. In an area of only 300 km 2<br />
extending from sea level to 1000 m altitude, we observed<br />
an extremely high anuran species diversity of about 80<br />
amphibian species. Some of these species are endemic,<br />
and a few species are not yet described. The discovery of<br />
this remarkable amphibian fauna started only 200 years<br />
ago, and most of the scientists involved are from Germany<br />
or of German descent. In this historical overview, the<br />
naturalists which contributed to the knowledge of<br />
amphibians in Rio Grande do Sul and Santa Catarina are<br />
presented within the scope of our present research. The<br />
survey covers the 19 th century (with Friedrich Sellow,<br />
Reinhold Hensel, Fritz Müller, Wilhelm Peters) through the<br />
20 th century (Wilhelm Ehrhardt, Fritz Plaumann, Robert<br />
Mertens, Pedro Canisio Braun) up to present studies with<br />
Marcos Di-Bernardo and colleagues.<br />
Biologischer Hotspot Mata Atlântica<br />
Zu den wenig bekannten Lebensräumen der Erde zählt der Atlantische Küstenregenwald<br />
Brasiliens. Die so genannte Mata Atlântica ist eine der weltweit bedeutendsten<br />
Hotspot-Regionen, also ein Gebiet, <strong>das</strong> eine sehr hohe<br />
Artendiversität aufweist <strong>und</strong> zugleich besonders stark von menschlichen Eingriffen<br />
bedroht ist. Vor allem für Froschlurche bildet <strong>das</strong> Ökosystem der Mata<br />
Atlântica einen wertvollen, unersetzbaren Lebensraum. In einem ‚Ranking‘ der<br />
amphibienreichsten Regionen der Erde (MITTERMEIER et al. 2000) lag der Atlantische<br />
Regenwald mit insgesamt 280 Amphibienarten auf dem vierten Platz,<br />
nach den Tropischen Anden <strong>und</strong> den Regenwäldern Mittelamerikas <strong>und</strong> des<br />
Chocó-Darién-Gebiets in Kolumbien <strong>und</strong> Ecuador. Durch Neuentdeckungen<br />
<strong>und</strong> wissenschaftliche Beschreibungen bislang unbekannter Froschlurche stieg<br />
diese Zahl in den letzten Jahren aber weiter an <strong>und</strong> dürfte sich bald verdoppelt<br />
haben. Im Jahr 2005 waren für Brasilien, dem amphibienreichsten Land der<br />
Welt, insgesamt schon 765 Arten nachgewiesen (SILVANO / SEGALLA 2005),<br />
<strong>und</strong> davon besiedelt der größte Teil eben den Atlantischen Regenwald – dagegen<br />
leben in ganz Europa nicht einmal 50 Froscharten <strong>und</strong> in Deutschland nur<br />
14. Mehr als 90% der Froschlurche der Mata-Atlântica sind endemisch, kommen<br />
also ausschließlich dort vor, <strong>und</strong> auch 40% der 20.000 Pflanzenarten dieses einzigartigen<br />
Lebensraums sind Endemiten.<br />
Seit 1995 untersuche ich zusammen mit brasilianischen <strong>und</strong> deutschen Kollegen<br />
die Herpetofauna (Amphibien <strong>und</strong> Reptilien) der südlichen Ausläufer dieses<br />
Küstengebirges, der Serra Geral (z. B. KWET / DI BERNARDO 1998, KWET<br />
2001a). Im Mittelpunkt unserer Forschungen, die im Rahmen von Kooperationsabkommen<br />
zwischen der Universität Tübingen (Prof. Wolf Engels <strong>und</strong> Dr. Anne<br />
Zillikens), dem Staatlichen Museum für Naturk<strong>und</strong>e in Stuttgart (Dr. Andreas<br />
Schlüter) sowie der PUC-Universität in Porto Alegre, der UNISC-Universität in
Santa Cruz do Sul <strong>und</strong> der UFSC-Universität in Florianópolis stattfinden, steht<br />
vor allem jene Region der beiden südlichsten Staaten, Rio Grande do Sul <strong>und</strong><br />
Santa Catarina, die von steilen Abhängen <strong>und</strong> gewaltigen, viele h<strong>und</strong>ert Meter<br />
tief in die Hochfläche des mächtigen Vulkanplateaus schneidenden Canyons<br />
<strong>und</strong> Schluchten geprägt ist. In diesem ökologisch äußerst vielfältigen Lebensraum,<br />
der mit seinen senkrechten Felswänden <strong>und</strong> imposanten Wasserfällen ein<br />
eindrucksvolles Schauspiel der Natur bietet, findet sich eine Vielzahl von Froschlurchen<br />
mit bemerkenswerten Anpassungen.<br />
Gr<strong>und</strong>lage des Froschreichtums bilden die vielen reich strukturierten Habitate<br />
<strong>und</strong> zahlreiche, als Laichplatz nutzbare Gewässer sowie hohe, ausgeglichene<br />
Jahresniederschläge. Atlantische Passatwinde treiben <strong>das</strong> ganze Jahr über mit<br />
Feuchtigkeit beladene Luftmassen heran, die sich an den Berghängen des Küstengebirges<br />
stauen, dabei aufsteigen <strong>und</strong> abregnen. Daraus resultieren feuchtwarme,<br />
für Amphibien günstige Lebensbedingungen. Viele Froscharten wandern zur<br />
Paarungszeit in großen Zahlen von vielen h<strong>und</strong>ert Individuen an die Laichgewässer.<br />
Einige der dort lebenden Arten konnten wir als wissenschaftlich neu<br />
beschreiben (z. B. KWET / DI BERNARDO 1998, KWET 2000, KWET / FAIVOVICH<br />
2001, KWET / ANGULO 2002), andere harren noch ihrer Beschreibung (z. B. KWET<br />
2007, KWET / SOLÉ, in Vorbereitung). Bei der Entdeckung dieser einzigartigen<br />
Amphibienfauna, die geschichtlich bedingt erst vor zwei Jahrh<strong>und</strong>erten begann,<br />
spielten bisher fast ausschließlich deutsche oder deutschstämmige Naturforscher<br />
eine Rolle. Auf den Spuren dieser teilweise in Vergessenheit geratenen Pioniere<br />
wie Friedrich Sellow, Reinhold Hensel, Wilhelm Ehrhardt oder Pedro Canisio<br />
Braun, mit deren Studien unsere Untersuchungen in vielfältiger Weise verwoben<br />
sind, siedelt sich die aktuelle Forschung der letzten 10-15 Jahre an.<br />
Vielfalt der Froschlurche im subtropischen Südbrasilien<br />
Obwohl die Artenzahlen von Amphibien generell geringer werden, je weiter<br />
man sich vom Äquator entfernt, zeichnen sich gerade die südlichen, außerhalb<br />
der Tropen liegenden Ausläufer des Atlantischen Küstengebirges im Nordosten<br />
von Rio Grande do Sul <strong>und</strong> im angrenzenden Santa Catarina durch eine außergewöhnlich<br />
hohe Diversität aus: Fast 80 Arten konnten wir auf einer Fläche von<br />
nur 300 km 2 bisher nachweisen (KWET 2001a, 2004, unpubl. Daten). Hier, am<br />
südlichen Ende des sich von Rio Grande do Sul über 4.000 km nach Norden<br />
erstreckenden Gebirgszugs, überzieht die Mata Atlântica die zum Atlantik abfallenden<br />
Berghänge mit großen Laubbäumen, Epiphyten wie Orchideen, Blattkakteen<br />
oder Bromelien sowie einem dichten Unterholz aus Baumfarnen, Bambus <strong>und</strong><br />
Büschen. Zusätzlich treffen dort weitere Großlebensräume aufeinander, von denen<br />
auf der 1.000 m hohen Hochfläche des Vulkanplateaus die erdgeschichtlich<br />
sehr alten Araukarienwälder dominieren. Araukarien oder Brasilkiefern, Araucaria<br />
angustifolia, sind ‚lebende Fossilien‘, mächtige Nadelbäume mit einer Höhe von<br />
über 40 m <strong>und</strong> ausgeprägten Schirmkronen, die vor 200 Millionen Jahren weite<br />
Teile der Erde bedeckten. Heute sind sie nur noch reliktartig in 20 Arten auf der<br />
südlichen Halbkugel verbreitet, u. a. eben in Südbrasilien.<br />
Auch die so genannten Campos, ausgedehnte offene Grasflächen, sind cha-<br />
257
258<br />
rakteristisch für <strong>das</strong> Araukarienplateau. Heutzutage dient dieses Grasland vor<br />
allem der Rinderzucht, <strong>und</strong> menschliche Einflüsse, insbesondere großflächige<br />
Abholzungen im letzten Jahrh<strong>und</strong>ert, haben die Relation der beiden Großlebensräume<br />
zugunsten der Campos verschoben. Über die ursprüngliche Ausbreitung<br />
des Araukarienwalds sind sich Wissenschaftler bis heute nicht ganz<br />
einig, doch ist anzunehmen, <strong>das</strong>s über 90% der ehemaligen Waldfläche bereits<br />
vernichtet sind. Heute trifft man stattdessen auf Monokulturen <strong>und</strong> Aufforstungen<br />
mit eingeführten schnellwüchsigen <strong>und</strong> ökonomisch interessanteren<br />
Baumarten wie Eukalyptus oder die Mittelamerikanische Kiefer, Pinus elliottii.<br />
Dennoch bilden auch die Campos seit vielen Jahrtausenden eine natürliche<br />
Vegetationsform der Hochfläche, was allein die Tatsache beweist, <strong>das</strong>s mehrere<br />
an diesen offenen Landschaftstyp angepasste Froscharten ausschließlich<br />
dort vorkommen (Endemiten).<br />
Am südlichen Ende des Araukarienplateaus erreichen schließlich die subtropischen<br />
wechselgrünen Wälder <strong>und</strong> die offenen Graslandschaften der tiefer gelegenen<br />
Pampagebiete ihre nördliche Verbreitungsgrenze, während sich in der<br />
schmalen, dem Atlantischen Regenwald vorgelagerten Küstenregion noch eine<br />
eigenständige, sandliebende Restinga-Vegetation findet. Eine solche Vielfalt an<br />
unterschiedlichen Vegetationsgroßräumen auf engem Raum ist selbst in Südamerika<br />
nur selten, <strong>und</strong> so bildet der Nordosten von Rio Grande do Sul zusammen mit<br />
dem angrenzenden Santa Catarina die Kernzone einer äußerst vielfältigen, subtropisch<br />
geprägten Fauna <strong>und</strong> Flora.<br />
Einige eher für <strong>das</strong> tropische Brasilien charakteristische Froschlurche haben<br />
hier ihre südlichsten Vorkommen, beispielsweise mehrere Arten aus der Familie<br />
Leptodactylidae, also Pfeiffrösche der Gattungen Adenomera, Cycloramphus,<br />
Eleutherodactylus, Hylodes, Proceratophrys <strong>und</strong> Thoropa (Anmerkung: da der neue<br />
Amphibienstammbaum von FROST et al. (2006) noch sehr umstritten ist, kommt<br />
an dieser Stelle die bisherige Systematik zur Anwendung). Auch viele Laubfrösche<br />
(Familie Hylidae) wie Scinax catharinae (s. Farbtafel Foto Nr. 2), Hypsiboas bischoffi,<br />
H. prasinus (s. Farbtafel Foto Nr. 10) <strong>und</strong> Dendropsophus microps oder die Makifrösche<br />
Phyllomedusa distincta <strong>und</strong> P. tetraploidea (s. Farbtafel Foto Nr. 5) haben<br />
hier ihre südliche Verbreitungsgrenze. Umgekehrt erreichen einige Arten der kühleren<br />
Pamparegion ihre nördliche Verbreitung, zum Beispiel Scinax uruguayus oder<br />
Pseudis minutus, <strong>und</strong> nicht zuletzt gibt es eine Reihe endemischer Arten, die entweder<br />
nur auf dem Hochplateau (z. B. der neu beschriebene Harlekinfrosch Pseudis<br />
cardosoi; KWET 2000; s. Farbtafel Foto Nr. 3) oder nur in der Küstenregion (z. B.<br />
die Rückenstreifenschwarzkröte Melanophryniscus dorsalis; KWET et al. 2005; s.<br />
Farbtafel Foto Nr. 4) vorkommen. Beide Lebensräume sind nur wenige Kilometer<br />
Luftlinie, aber durch einen Höhenunterschied von 1.000 m <strong>und</strong> kaum zugängliche<br />
Berghänge voneinander getrennt, was für wenig ausbreitungsfähige Tiere<br />
wie Amphibien eine unüberwindliche ökologische Barriere darstellt. Insbesondere<br />
bodenlebende Offenlandarten können die meist dicht bewachsenen Steilwände<br />
kaum überwinden. Die klimatischen Unterschiede – auf dem Araukarienplateau,<br />
mit jährlich bis zu 30 Frosttagen <strong>und</strong> manchmal sogar Schneefällen die kälteste<br />
Region Brasiliens, herrschen im Jahresdurchschnitt um fast 10°C geringere Temperaturen<br />
als im Tiefland – sind im Zusammenspiel mit der zoogeographischen
Isolierung die Ursache für Evolutionsprozesse, die zu einer sehr eigenständigen,<br />
zum Teil eben endemischen Froschfauna führten.<br />
Die Besiedlung <strong>und</strong> Erforschung Südbrasiliens<br />
Die Erforschung der Fauna Südbrasiliens steht in einem sehr engen Zusammenhang<br />
mit der deutschen Besiedlungsgeschichte dieser Region. Die historischen<br />
Rahmenbedingungen dieses Prozesses seien hier deshalb kurz rekapituliert.<br />
Das südliche Brasilien, also die heutigen Staaten Rio Grande do Sul, Santa<br />
Catarina <strong>und</strong> Paraná, war bis weit in <strong>das</strong> 18. Jahrh<strong>und</strong>ert hinein bis auf wenige<br />
Indianerstämme unbesiedelt <strong>und</strong> völlig unerforscht; vor allem Rio Grande do Sul,<br />
<strong>das</strong> damals von den beiden Kolonialmächten Spanien <strong>und</strong> Portugal beanspruchte<br />
Gebiet, war weitgehend ‚terra incognita‘. Zudem musste Portugal mit einer<br />
ständigen Bedrohung der südlichen Landesgrenzen Brasiliens von Argentinien<br />
aus rechnen, auch nachdem Spanien seine Ansprüche 1778 offiziell aufgab, um<br />
im Gegenzug an anderer Stelle Gebiete zu erhalten.<br />
Die Flucht des portugiesischen Königs João VI. mitsamt seinem Hofstaat nach<br />
Brasilien im Jahr 1807 (aufgr<strong>und</strong> der Besetzung Portugals durch die Franzosen<br />
– João kehrte erst 1821 wieder in seine Heimat zurück), bewirkte 1808 u. a. die<br />
Öffnung des bis dahin auch für ausländische Naturforscher verschlossenen Landes<br />
– noch Humboldt war ja die Einreise nach Brasilien verweigert worden<br />
(s. z. B. KOHLHEPP 2006) –, so<strong>das</strong>s kurz darauf die große Zeit der wissenschaftlichen<br />
Entdeckung Brasiliens begann. 1813 ließ sich der deutsche Mediziner <strong>und</strong><br />
Naturk<strong>und</strong>ler Georg Heinrich von Langsdorff (1774-1852) als russischer Konsul<br />
in Rio de Janeiro nieder, <strong>und</strong> seine Fazenda wurde zur Anlaufstation für so<br />
bekannte Forscher wie den Frankfurter Ornithologen Georg Wilhelm Freyreiß<br />
(1789-1825), den Potsdamer Botaniker Friedrich Sellow (1789-1831), den französischen<br />
Zoologen Etienne Geoffroy Saint-Hilaire (1772-1844) oder Maximilian<br />
Prinz zu Wied (1782-1867), neben Humboldt wohl der bedeutendste deutsche<br />
Naturreisende jener Jahre (STRESEMANN 1948, ROTH 1995, KWET 2006a).<br />
1817 erfolgte dann die auch wissenschaftlich folgenreiche Vermählung der naturbegeisterten<br />
Tochter des österreichischen Kaisers Franz I., der Erzherzogin<br />
Leopoldina, mit dem portugiesischen Thronfolger Dom Pedro. In ihrem Gefolge<br />
reiste der große Stab vor allem österreichischer Gelehrter <strong>und</strong> Wissenschaftler<br />
nach Brasilien, die dort eine unglaubliche Menge an Daten <strong>und</strong> Sammlungsmaterial<br />
zusammentrugen, darunter Zoologen wie Johann Natterer (1787-1843)<br />
oder bekannte Botaniker wie Johann Christian Mikan (1769-1844), Johann Baptist<br />
Emanuel Pohl (1782-1834) <strong>und</strong> Giuseppe Raddi (1770-1829), neben den beiden<br />
Deutschen Carl Friedrich Philipp von Martius (1794-1868) <strong>und</strong> Johann Baptist<br />
von Spix (1781-1826) (HELBIG 1994, KOHLHEPP 2006, KWET 2006a). Die meisten<br />
dieser Forscher bereisten die nördlichen Gebiete Brasiliens, Amazonien<br />
oder den Nordosten des Landes, mit Ausnahme von Sellow <strong>und</strong> Saint-Hilaire,<br />
die als Erste auch den wenig bekannten Süden (Rio Grande do Sul, Santa Catarina<br />
sowie <strong>das</strong> heutige Uruguay) erk<strong>und</strong>eten.<br />
Um den Schutz der südlichen Landesgrenzen zu verbessern, suchte nach der<br />
Unabhängigkeit Brasiliens am 7. September 1822 der zum Kaiser gekrönte Dom<br />
259
260<br />
Pedro neue Arbeitskräfte, die <strong>das</strong> noch weithin unerschlossene <strong>und</strong> teilweise von<br />
dichtem Urwald bedeckte Land erschließen <strong>und</strong> besiedeln sollten – <strong>und</strong> im Bedarfsfall<br />
eben auch verteidigen. Die Kolonisierung der Region durch Bauern <strong>und</strong><br />
Handwerker sollte einhergehen mit einer ‚Europäisierung‘ der dortigen Bevölkerungsstruktur,<br />
<strong>und</strong> Kaiserin Leopoldina von Habsburg setzte sich besonders für<br />
die Ansiedelung deutscher oder deutschsprachiger Siedler ein, die als besonders<br />
fleißig <strong>und</strong> arbeitsam galten. Durch die zu jener Zeit in den deutschen Kleinstaaten<br />
herrschende Armut fielen die Anwerbungsversuche aus Brasilien auf fruchtbaren<br />
Boden, <strong>und</strong> so kam es seit 25. Juli 1824, dem historischen Datum der Gründung<br />
São Leopoldos, der ersten südbrasilianischen Kolonie deutscher Immigranten,<br />
zu den verschiedenen Wellen massiverer Einwanderung vor allem deutscher<br />
Bauern <strong>und</strong> Handwerker in den Süden Brasiliens 1 . Dieses demographische Geschehen<br />
hatte Folgen auch für die wissenschaftliche Erschließung der Region,<br />
<strong>und</strong> so erklärt sich schließlich, <strong>das</strong>s ein Großteil der dort lebenden Amphibienarten<br />
von deutschen Kolonisten bzw. deren Nachfahren wissenschaftlich entdeckt<br />
<strong>und</strong> beschrieben wurde.<br />
Den Anfang machte allerdings noch ein Naturforscher aus den Reihen der<br />
Expeditionisten. 1823 gelangte der bereits erwähnte Friedrich Sellow nach<br />
Porto Alegre, der Hauptstadt, die 1742 von portugiesischen Einwanderern der<br />
Azoren gegründet worden war, <strong>und</strong> damals eine der wenigen Siedlungen der<br />
Region. Sellow unternahm ausgedehnte Exkursionen ins Inland von Rio<br />
Grande do Sul (aber auch nach Santa Catarina <strong>und</strong> Uruguay), wobei er u. a.<br />
423 Amphibien <strong>und</strong> Fische sammelte, neben mehr als 50.000 getrockneten<br />
Pflanzen, 5.000 Vogelbälgen <strong>und</strong> 80.000 Insekten (STRESEMANN 1948,<br />
HACKETHAL 1995).<br />
Reinhold Hensel <strong>und</strong> der Beginn der<br />
Amphibienforschung in Südbrasilien<br />
Nach dem hauptsächlich botanisch ausgerichteten Sellow, der sein<br />
Sammlungsmaterial nicht selbst auswerten konnte <strong>und</strong> 1831 bei einem Badeunfall<br />
in Brasilien ertrank, kam als erster ‚echter‘ Herpetologe der schlesische<br />
Humboldt-Stipendiat Reinhold Friedrich Hensel (1826-1881) nach Porto Alegre<br />
(MARTENS 1882). Hensel lebte im Auftrag der Berliner Akademie der Wissenschaften<br />
von 1863-1866 in Porto Alegre <strong>und</strong> brachte, neben zahlreichen Säugetieren,<br />
Fischen <strong>und</strong> Reptilien (HENSEL 1868), auch eine größere Sammlung<br />
von Amphibien an <strong>das</strong> Berliner Naturk<strong>und</strong>emuseum (HENSEL 1867a). Seine<br />
erste Checkliste der in Rio Grande do Sul vorkommenden Amphibien umfasste<br />
bereits 22 Arten, immerhin etwa ein Viertel der heute von dort bekannten Spezies<br />
(KWET 2001a, 2004). Hensel (1867b, c) porträtierte die damalige Provinz<br />
São Pedro do Rio Grande do Sul <strong>und</strong> konnte auch mehrere Froscharten neu<br />
1. Nach offiziellen Passagierlisten, die freilich nur unvollständig sind, waren es in der Zeit von<br />
1824 bis 1914 insgesamt 93.000 Deutsche, die <strong>das</strong> Land über den Hamburger Hafen in<br />
Richtung Brasilien verließen. Nach brasilianischen Angaben sind im Zeitraum bis 1947 insgesamt<br />
4,9 Millionen Personen in <strong>das</strong> Land gekommen, darunter etwa 235.000 Deutsche, die<br />
vor allem in den Süden einwanderten.
eschreiben (HENSEL 1867a), z. B. die Sandkröte Bufo arenarum, den 6 cm langen<br />
Laubfrosch Trachycephalus mesophaeus oder <strong>das</strong> winzige Pfeiffröschchen<br />
Pseudopaludicola falcipes. Mit einer Länge von 15-17 mm galt Letzteres bislang als<br />
kleinster Froschlurch von Rio Grande do Sul – nun allerdings muss es diese Auszeichnung<br />
mit einem ebenso winzigen, bisher offenbar schlicht übersehenen Pfeiffrosch<br />
teilen, den wir vor einiger Zeit als Adenomera araucaria (s. Farbtafel Foto Nr. 1)<br />
neu beschrieben haben (KWET / ANGULO 2002). Wie der Name verrät, kommt<br />
diese Art vor allem in der Region des Araukarienwalds vor, konnte kürzlich aber<br />
auch im Tiefland von Santa Catarina nachgewiesen werden (KWET 2007).<br />
Die Sammlung Hensels befindet sich noch heute fast vollständig im Berliner<br />
Museum, so<strong>das</strong>s wir anhand des Originalmaterials die Artbeschreibungen überprüfen<br />
<strong>und</strong> mit den Beschreibungen ähnlicher, verwandter Spezies vergleichen<br />
können. Auf diese Weise bestätigte sich z. B. eine ältere Vermutung, <strong>das</strong>s Hensels<br />
Beschreibung des Laubfrosches Hyla bracteator ungültig ist <strong>und</strong> eingezogen<br />
(synonymisiert) werden muss, da dieselbe Art unter dem Namen Hyla pulchella<br />
bereits einige Jahre zuvor aus Uruguay beschrieben worden war (KWET 2001b).<br />
Nach den internationalen Nomenklaturregeln hat in solch einem Fall immer der<br />
ältere Name Vorrang (INTERNATIONAL COMMISION FOR ZOOLOGICAL<br />
NOMENCLATURE 1999).<br />
Eine Überprüfung der von Hensel beschriebenen Sandkröte Bufo arenarum wiederum<br />
ergab, <strong>das</strong>s von den ursprünglich sieben gesammelten Exemplaren (der so<br />
genannten Typusserie) heute nur noch drei Individuen unterschiedlicher Größe<br />
vorhanden sind, die übrigen Tiere sind offenbar den Wirren der Zeit zum Opfer<br />
gefallen. Hensels Beschreibung dieser Art ist jedoch korrekt, <strong>und</strong> wir konnten <strong>das</strong><br />
am besten erhaltene Exemplar als so genannten Lectotypus festlegen (KWET et al.<br />
2006). Nach Nomenklaturregeln muss bei einer Neubeschreibung immer ein bestimmtes,<br />
gut konserviertes Belegexemplar (der so genannte Holotypus) in einem<br />
öffentlich zugänglichen Museum hinterlegt werden, sozusagen <strong>das</strong> ‚Eichstück‘ für<br />
diese Art, <strong>das</strong> jederzeit für spätere Vergleiche herangezogen werden kann. Sofern<br />
der Erstbeschreiber einer Art (was bei älteren Beschreibungen häufiger vorkam)<br />
jedoch keinen Holotypus festgelegt, sondern nur eine ganze Typusserie hinterlassen<br />
hat, kann ein nachfolgender Wissenschaftler daraus ein bestimmtes Exemplar<br />
auswählen <strong>und</strong> – sozusagen als Ersatz für den Holotypus – als Lectotypus festlegen.<br />
Hensels ‚Erbe‘ in Rio Grande do Sul<br />
Auch einige von Reinhold Hensel selbst nicht näher identifizierte Froschlurche,<br />
sein ‚Sammlungsnachlass‘ am Berliner Museum, bot für nachfolgende Wissenschaftler<br />
noch ein reiches Betätigungsfeld, einschließlich unserer eigenen Arbeitsgruppe.<br />
Einen von Hensel (1867a) tot aufgef<strong>und</strong>enen, etwas ramponierten Frosch<br />
beschrieb z. B. der damalige Direktor des Zoologischen Museums Berlin, der bekannte<br />
Herpetologe Wilhelm C. H. Peters (1815-1883), seinem Kollegen zu Ehren<br />
als Hylodes henselii (PETERS 1870). Die Beschreibung dieses Pfeiffrosches geriet<br />
allerdings bald in Vergessenheit <strong>und</strong> die Art wurde schließlich als Synonym des<br />
ähnlichen, weit verbreiteten Eleutherodactylus guentheri betrachtet. Erst vor kurzem<br />
konnten wir, vor allem mittels bioakustischer Vergleiche, den gültigen Art-<br />
261
262<br />
status von henselii nachweisen <strong>und</strong> damit den Namen Eleutherodactylus henselii (s.<br />
Farbtafel Foto Nr. 7) revalidieren (KWET / SOLÉ 2005). Es handelt sich um zwei so<br />
genannte kryptische Arten, die aufgr<strong>und</strong> äußerer Merkmale nicht voneinander zu<br />
unterscheiden sind, aber eben völlig unterschiedliche Paarungsrufe besitzen. Beide<br />
Pfeiffrösche sind offenbar eng miteinander verwandt <strong>und</strong> zählen zu der bis vor<br />
kurzem mit über 400 Arten größten aller Wirbeltiergattungen, Eleutherodactylus –<br />
dies hat sich durch die Aufsplittung in mehrere kleinere Gattungen im Rahmen<br />
des schon erwähnten, umstrittenen Amphibienstammbaums von Frost et al. (2006)<br />
nun allerdings geändert.<br />
Die Fortpflanzung der Eleutherodactylus-Arten läuft ganz anders ab als bei<br />
dem in den gemäßigten Zonen Europas <strong>und</strong> Südamerikas häufigsten<br />
Reproduktionsschema, d. h. Ablage der Eier <strong>und</strong> Entwicklung der Larven im<br />
Gewässer. Stattdessen verläuft bei diesen Pfeiffröschen die gesamte Entwicklung,<br />
von der befruchteten Eizelle bis zum fertigen Jungfrosch, einem winzigen Abbild<br />
der Eltern, innerhalb der Eihülle. Gerade diese Strategie einer so genannten<br />
direkten Entwicklung ist in den Tropen sehr häufig <strong>und</strong> stellt einen äußerst effektiven<br />
Fortpflanzungsmodus dar, denn die Frösche sind somit unabhängig von<br />
offenen Gewässern. Der Nachwuchs entgeht damit auch den vielfältigen, im<br />
Wasser lauernden Gefahren durch Fische, Libellenlarven, Wasserkäfer oder<br />
Wasserwanzen, <strong>und</strong> gerade die Larvenphase ist ja der am stärksten durch Feinde<br />
gefährdete Abschnitt im Lebenszyklus eines Froschlurches. Und auch die<br />
Gefahren, die für ausgewachsene Frösche durch <strong>das</strong> Ablaichen im Wasser auftreten,<br />
sind nicht zu unterschätzen. Speziell in Südbrasilien legen die häufigen<br />
F<strong>und</strong>e der von riesigen Wasserwanzen (Familie Belostomatidae) ausgesaugten<br />
Überreste von Fröschen – blasse, an der Wasseroberfläche treibende Hauthüllen<br />
– ein makabres Zeugnis ab (s. Farbtafel Foto Nr. 8).<br />
Das eigenartige Exemplar eines Hornfrosches, den Hensel (1867a) in seiner<br />
Publikation noch als Ceratophrys boiei? bezeichnet hatte – also mit Fragezeichen,<br />
da er sich der Unterschiede zu jener Art durchaus bewusst war –, wurde<br />
später ebenfalls als eigenständig erkannt <strong>und</strong> von Peters (1872) mit dem Namen<br />
Proceratophrys bigibbosa (s. Farbtafel Foto Nr. 6) belegt. Ein Jahrh<strong>und</strong>ert später<br />
entdeckte der Herpetologe Pedro Canisio Braun (1973a) noch eine zweite, eng<br />
verwandte Art aus dieser Gattung der Urhornfrösche, die er als Proceratophrys<br />
cristinae beschrieb. Wie unsere Untersuchungen bestätigten, leben in der Region<br />
der Bergwälder von Rio Grande do Sul tatsächlich zwei Arten Urhornfrösche<br />
(KWET 2001a). Ein direkter Vergleich des von Hensel gesammelten <strong>und</strong> lange<br />
als verschollen geltenden Holotyps von P. bigibbosa mit den neu entdeckten<br />
Exemplaren ergab allerdings, <strong>das</strong>s Braun (1973a) die beiden Spezies verwechselt<br />
<strong>und</strong> unglücklicherweise die neu entdeckte Art für den schon bekannten<br />
P. bigibbosa gehalten hatte. Jene Art, die seit über 100 Jahren bekannt war, hatte<br />
er dagegen unter dem Namen P. cristinae nochmals beschrieben. Wir mussten<br />
den ungültigen Namen daher einziehen (synonymisieren) <strong>und</strong> beschrieben stattdessen<br />
– Pedro Braun zu Ehren – Proceratophrys brauni neu (KWET / FAIVOVICH<br />
2001; s. Farbtafel Foto Nr. 9). Die Entdeckung des ersten Exemplars dieser Art,<br />
<strong>das</strong> ich zu Gesicht bekam, zeigt, <strong>das</strong>s in der Wissenschaft manchmal auch Zufälle<br />
eine Rolle spielen: Dieses Individuum wurde nämlich, leicht ‚angedaut‘, von
einer ‚nebenbei‘ gefangenen Natter ausgewürgt, zusammen mit fünf noch lebenden<br />
Jungkröten (KWET / SCHLÜTER 2002).<br />
Reinhold Hensel ist zweifellos der Nestor der südbrasilianischen Amphibienforschung.<br />
Seine erste Checkliste der Lurche von Rio Grande do Sul (HENSEL<br />
1867a) wurde in den folgenden Jahren <strong>und</strong> Jahrzehnten schrittweise durch neu<br />
entdeckte Arten erweitert, zunächst auf 28 durch den am Londoner Museum<br />
arbeitenden Belgier George A. Boulenger (1886) – der sich fast ausschließlich auf<br />
Material bezog, <strong>das</strong> der Kieler Zoologe <strong>und</strong> Auswanderer Hermann von Ihering<br />
(1850-1930) nach London schickte – <strong>und</strong> dann auf 33 Arten durch den Schweizer<br />
Franz Baumann (1912). Boulenger (1888) verfasste im Übrigen auch die erste<br />
Checkliste der Amphibien im Nachbarstaat Santa Catarina.<br />
Danach blieb es relativ lange ‚ruhig‘, bis auf einige allgemein verfasste Aufsätze<br />
durch herpetologisch interessierte Auswanderer, vor allem Karl Emrich (z. B.<br />
1927, 1929) <strong>und</strong> Alfred Adloff (z. B. 1922, 1927, 1929). Beide Autoren lebten in<br />
Porto Alegre <strong>und</strong> publizierten in den Blättern zur Aquarien- <strong>und</strong> Terrarienk<strong>und</strong>e<br />
eine Reihe von „Briefen aus Süd-Brasilien“, durch die u. a. auch der berühmte<br />
deutsche Herpetologe Robert Mertens (1894-1975), der selbst nie in Südbrasilien<br />
sammelte, auf diese Region aufmerksam wurde (MERTENS 1925a, b, 1926). Der<br />
am Senckenbergmuseum in Frankfurt arbeitende Zoologe konnte aufgr<strong>und</strong> des<br />
von den deutschen Emigranten gesammelten Materials einige Froscharten neu<br />
beschreiben, z. B. den durch eigenartige Signalbewegungen mit den Hinterbeinen<br />
(‚foot flagging‘) auffallenden Winkerfrosch Hylodes meridionalis (MERTENS<br />
1927) oder die rot-schwarze Rückenstreifenschwarzkröte, Melanophryniscus<br />
dorsalis (MERTENS 1933, s. Farbtafel Foto Nr. 4), die v. a. durch den so genannten<br />
‚Unkenreflex‘ bekannt ist. Dieses spezielle Abwehrverhalten, durch <strong>das</strong> die<br />
leuchtende Unterseite sichtbar wird, wurde erstmals bei europäischen Unken<br />
beobachtet. Die Rückenstreifenschwarzkröte lebt nur in einem schmalen, wenige<br />
Kilometer breiten Küstenstreifen im Nordosten von Rio Grande do Sul <strong>und</strong> im<br />
südlichen Santa Catarina <strong>und</strong> gilt durch die rege Bautätigkeit in den Strandgebieten<br />
als stark gefährdet (GARCIA / VINCIPROVA 2003; KWET et al. 2005).<br />
Wie die meisten Melanophryniscus-Arten tauchen auch diese nur 25 mm langen<br />
Krötchen lediglich nach starken Regenfällen an den Laichgewässern auf, dann<br />
allerdings in kleinen Pfützen <strong>und</strong> Straßengräben explosionsartig <strong>und</strong> zu H<strong>und</strong>erten,<br />
um nach wenigen Tagen wieder spurlos im Erdboden zu verschwinden, wo<br />
sie den Großteil ihres Lebens verbringen.<br />
Die Ära Pedro Braun<br />
In den sechziger <strong>und</strong> siebziger Jahren des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts war es zunächst<br />
wiederum ein Deutscher, der sich näher mit der Herpetofauna von Südbrasilien<br />
befasste <strong>und</strong> im Rahmen von Forschungen an der Universität Saarbrücken auch<br />
Rio Grande do Sul <strong>und</strong> Santa Catarina bereiste, nämlich der Biogeograph Paul<br />
Müller (z. B. 1968, 1969a, b). Unter Müllers Betreuung verfasste auch der deutschstämmige<br />
Brasilianer Erno A. Böhler (1976) seine Dissertation. Nur wenige andere<br />
Herpetologen haben sich ab Mitte des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts mit den Amphibien <strong>und</strong><br />
Reptilien im Süden Brasiliens beschäftigt, unter ihnen v. a. die Amerikanerin Doris<br />
263
264<br />
M. Cochran (z. B. 1955) <strong>und</strong> Berta Lutz, eine Brasilianerin mit Schweizer Vorfahren,<br />
die neben ihrer bedeutenden Monografie der Laubfrösche Brasiliens (LUTZ<br />
1973), z. B. Aplastodiscus perviridis beschrieb, einen auf dem Araukarienplateau<br />
sehr häufigen Laubfrosch (LUTZ 1950).<br />
Etwa zur selben Zeit begann an der F<strong>und</strong>ação Zoobotánica in Porto Alegre, die<br />
damals die größte wissenschaftliche Sammlung beherbergte, die leider viel zu kurze<br />
Schaffensperiode von Pedro Canisio Braun. Der ebenfalls deutschstämmige<br />
Herpetologe beschäftigte sich intensiv mit den Amphibien von Rio Grande do Sul<br />
<strong>und</strong> veröffentlichte innerhalb von 10 Jahren knapp 30 wissenschaftliche Manuskripte.<br />
Teilweise geschah dies zusammen mit seiner Ehefrau Cristina Assunção<br />
Sirangelo Braun, nach der Pedro Braun (1973a) wie bereits erwähnt eine (heute<br />
nicht mehr gültige) Art der Urhornfrösche beschrieb, Proceratophrys cristinae. Im<br />
selben Jahr publizierte Braun (1973b) auch die Neubeschreibung der Schwarzkröte<br />
Melanophryniscus macrogranulosus, einer extrem seltenen Art, von der Braun<br />
lediglich ein älteres Alkoholgefäß mit insgesamt neun konservierten Exemplaren<br />
in der Sammlung fand, die man in der Nähe einer Höhle bei Torres, an der Grenze<br />
zu Santa Catarina, gesammelt hatte. Bis zum 30. April 2004, als zwei Biologiestudenten<br />
ein kleines unbekanntes Krötchen fingen, wurden keine weiteren Exemplare<br />
entdeckt, <strong>und</strong> so galt die Art in der Roten Liste von Rio Grande do Sul<br />
(GARCIA / VINCIPROVA 2003) als „möglicherweise ausgestorben“. Auch mit dem<br />
ersten <strong>und</strong> bislang einzigen Wiederf<strong>und</strong> (ESCOBAR et al. 2004) sind von dieser<br />
Art noch immer nicht mehr als zehn Exemplare bekannt, <strong>und</strong> auch deren Biologie<br />
<strong>und</strong> Lebensweise ist völlig unerforscht.<br />
Weitere Neubeschreibungen, z. B. der ebenfalls extrem seltenen Cambará-<br />
Schwarzkröte, Melanophryniscus cambaraensis (BRAUN 1979; s. Farbtafel Foto Nr.<br />
11 u. 12), die bisher nur von zwei F<strong>und</strong>orten in der Nähe von Cambará do Sul<br />
bekannt wurde, des Pfeiffrosches Physalaemus lisei (BRAUN / BRAUN 1977a) oder<br />
des Laubfrosches Hypsiboas leptolineatus (BRAUN / BRAUN 1977b), aber auch<br />
Erstnachweise von bisher für Rio Grande do Sul unbekannten Arten (z. B. BRAUN<br />
1974, BRAUN / BRAUN 1975) führten zu einem stetigen Anwachsen der Artenzahlen.<br />
Die allermeisten neuen Froscharten stammen vom Araukarienplateau im<br />
Nordosten des Staates, genau aus jener Region, in der auch wir seit 1995 tätig sind<br />
<strong>und</strong> viele Freilanddaten sammeln konnten (z. B. KWET / DI BERNARDO 1998;<br />
KWET 2001a; KWET 2004).<br />
Die Checkliste von Pedro <strong>und</strong> Cristina Braun (1980) umfasste insgesamt zwar<br />
schon 65 Amphibienarten <strong>und</strong> -unterarten in 24 Gattungen, doch <strong>das</strong>s dem wenige<br />
Jahre später verstorbenen Herpetologen noch immer einige Arten ‚durch die<br />
Lappen‘ gegangen waren, zeigen weitere Neunachweise (z. B. KWET 1997; KWET /<br />
MIRANDA 2001; s. Farbtafel Foto Nr. 10) <strong>und</strong> auch Neubeschreibungen, neben<br />
den beiden bereits erwähnten Proceratophrys brauni (KWET / FAIVOVICH 2001;<br />
s. Farbtafel Foto Nr. 9) <strong>und</strong> Adenomera araucaria (KWET / ANGULO 2002; s. Farbtafel<br />
Foto Nr. 1) vor allem zwei Arten aus eng verwandte ‚Artenpaaren‘, die im Hoch<strong>und</strong><br />
Tiefland von Rio Grande do Sul ‚getrennte Wege‘ gegangen sind: Während<br />
der aquatisch lebende, schon von Charles Darwin entdeckte Harlekinfrosch Pseudis<br />
minutus nämlich nur im Tiefland der Pamparegion vorkommt, ist die zweite damals<br />
noch unbeschriebene Spezies lediglich auf dem Araukarienplateau verbrei-
tet. Letztere trägt nun zu Ehren meines verstorbenen brasilianischen Kollegen<br />
Adão Cardoso den Namen Pseudis cardosoi (KWET 2000; s. Farbtafel Foto Nr. 3).<br />
Ähnlich verhält es sich bei zwei eigenartigen Engmaulfröschen aus der Familie<br />
Microhylidae, die wir als Ameisen- <strong>und</strong> Termitenfresser außerhalb der Paarungszeit<br />
nur unterirdisch antreffen (SOLÉ et al. 2002): im Flachland der gelbbäuchige,<br />
weit verbreitete Elachistocleis bicolor (s. Farbtafel Foto Nr. 13) <strong>und</strong> im Hochland<br />
eine bläulich <strong>und</strong> orange gefärbte Art mit rotem Bauch. Diesen auf dem<br />
Araukarienplateau endemischen Frosch beschrieben wir (KWET / DI BERNARDO<br />
1998) nach seinem kennzeichnenden Merkmal, eben dem roten Bauch, als<br />
Elachistocleis erythrogaster neu (griechisch: erythros = rot, gaster = Bauch).<br />
Deutsche Siedler <strong>und</strong> Forscher in Santa Catarina: Die Anfänge<br />
Nachdem im Herbst 1828 zwei Schiffe mit insgesamt 635 Immigranten (insbesondere<br />
Bauern, Handwerker <strong>und</strong> Soldaten aus der Moselregion von Hunsrück<br />
<strong>und</strong> Eifel) in Desterro, der heutigen Hauptstadt Florianópolis, angelandet waren,<br />
wurde am 1. März 1829 im Vale do Rio Imaruim mit São Pedro de Alcântara dann<br />
auch im Nachbarstaat Santa Catarina die erste deutsche Kolonie gegründet. Die<br />
weitere Besiedelung Santa Catarinas verlief bekanntlich zunächst schleppend, bis<br />
der Apotheker Dr. Hermann Blumenau (1819-1899) aus Hasselfelde im Harz, motiviert<br />
durch Alexander von Humboldt, 1846 für zwei Jahre nach Südbrasilien<br />
reiste 2 <strong>und</strong> vier Jahre später, gefördert durch den Hamburger Kolonisationsverein,<br />
mit 17 weiteren Kolonisten die nach ihm benannte Stadt gründete, die heute<br />
unter den erfolgreichsten Industriestädten Brasiliens rangiert. Ebenfalls gefördert<br />
vor allem durch den Hamburger Kolonisationsverein schlossen sich dann in kurzer<br />
Folge Gründungen weiterer deutscher Siedlungen an: Am 9. März 1851 z. B.<br />
die Colônia Dona Francisca, <strong>das</strong> heutige Joinville <strong>und</strong> mit einer halben Million<br />
Einwohner mittlerweile die größte Stadt in Santa Catarina, oder dann São Bento<br />
do Sul, Brusque, Pommerode; heute sind etwa 35 % der Bewohner Santa Catarinas<br />
deutschen Ursprungs.<br />
Nach Blumenau kam 1852 auch einer der bedeutendsten deutschen Biologen,<br />
Johann Friedrich Theodor Müller, genannt Fritz Müller (1821-1897), der<br />
begabte <strong>und</strong> vielseitig interessierte Biologe (nach dem z. B. die Müllersche Mimikry<br />
benannt ist), der ja mit Charles Darwin in regem Briefkontakt stand (welcher<br />
ihn als „den Fürsten der Beobachter“ bezeichnete) <strong>und</strong> der später längere Zeit<br />
auch als Lehrer in Desterro (Florianópolis) lebte. In einem seiner Briefe an Darwin<br />
vom 21. Januar 1879 findet sich die erste Erwähnung <strong>und</strong> bildliche Darstellung<br />
der faszinierenden Brutpflege innerhalb der Gattung Flectonotus (ZILLIG<br />
1997, S. 214; s. Farbtafel Foto Nr. 14), also noch vor der ersten offiziellen Erwähnung<br />
dieser hochspezialisierten Fortpflanzungsstrategie durch Boulenger (1895).<br />
Bei diesen in Südostbrasilien lebenden, so genannten Rückenbrüterfröschen,<br />
die Fritz Müller noch als Hylodes? bezeichnete <strong>und</strong> die von vielen heutigen<br />
Herpetologen auch in die eigene Gattung Fritziana gestellt werden, entwickelt<br />
sich der Nachwuchs nämlich in der verdickten, zu einer ringförmigen Falte auf-<br />
2. Für nähere Informationen zu den Umständen <strong>und</strong> Ergebnissen dieser Reise s. z. B. RICHTER 2006.<br />
265
266<br />
gewölbten Rückenhaut des Weibchens. Bei der Paarung verteilt <strong>das</strong> Männchen<br />
mit seinen Hinterbeinen zunächst die wenigen großen Eier mit einem klebrigen<br />
Eileitersekret auf dem Rücken des Weibchens. Die mit reichlich Dottervorrat<br />
versehenen Larven werden nach dem Schlupf noch eine Zeit lang mitgetragen<br />
<strong>und</strong> schließlich in mit Regenwasser gefüllte Bromelientrichter gesetzt, wo sie ihre<br />
Metamorphose vollenden.<br />
Die auf einem Foto beruhende Zeichnung Fritz Müllers, dem für seine großartigen<br />
Leistungen von der Universität Tübingen 1874 die Ehrendoktorwürde verliehen<br />
wurde, zeigt <strong>das</strong> eiertragende Weibchen einer noch unbeschriebenen Art<br />
dieser Gattung, <strong>das</strong> er in einer großen Bromelie in der Nähe von Blumenau gef<strong>und</strong>en<br />
hatte <strong>und</strong> dessen geschlüpfte Larven er noch eine zeitlang lebend erhalten<br />
konnte. Bei unseren Untersuchungen an der Bromelienfauna Santa Catarinas,<br />
130 Jahre später <strong>und</strong> ebenfalls von der Universität Tübingen gefördert (in Kooperation<br />
mit der UFSC in Florianópolis), konnten wir diese seltene Art erstmals auch<br />
auf der Ilha de Santa Catarina beobachten (KWET / ZILLIKENS, unpubl.), neben<br />
den ebenfalls neu nachgewiesenen Laubfröschen Hypsiboas albomarginatus<br />
(KWET et al. 2004) <strong>und</strong> Scinax argyreornatus (KWET / ZILLIKENS 2005). Fritz Müller<br />
(ZILLIG 1997, S. 214) erwähnt im selben Brief übrigens noch eine besondere<br />
Kaulquappe („sapinho“, also Krötchen) mit ungewöhnlich langem Schwanz, die<br />
er an Wasserfällen auf nassen Felsen beobachten konnte. Diese Beobachtung<br />
bezieht sich wohl auf die speziell angepassten, nicht direkt im Wasser, sondern im<br />
feuchten Luftraum der Spritzwasserzone lebenden Larven der Pfeiffroschgattung<br />
Cycloramphus, von der mehrere Arten in Santa Catarina vorkommen.<br />
700 km entfernt von Florianópolis, im Westen von Santa Catarina, war die<br />
Wirkungsstätte von Fritz Plaumann. Die preußische Auswandererfamilie Plaumann<br />
war nach beschwerlicher Anreise – die letzten 80 km mit kleinem Gepäck auf dem<br />
Rücken eines Esels – erst 1924 in Nova Teutônia im heutigen Munizip Seara angekommen.<br />
Der naturbegeisterte, damals 22-jährige Sohn Fritz machte sich alsbald<br />
einen guten Namen als Entomologe <strong>und</strong> wurde mit 80.000 Exemplaren in 17.000<br />
Arten zu einem der bedeutendsten Insektensammler in ganz Lateinamerika. Nebenbei<br />
sammelte Plaumann auch andere Naturalien, u. a. Amphibien, die er an Kollegen<br />
weitergab. Einen von Fritz Plaumann gesammelten Pfeiffrosch beschrieb Ernst<br />
Ahl (1936) dem Entomologen zu Ehren als Leptodactylus plaumanni. Diese Art wurde<br />
später mit dem äußerlich kaum unterscheidbaren L. gracilis synonymisiert, doch<br />
unsere bioakustischen Untersuchungen (KWET et al. 2003) ergaben, <strong>das</strong>s dies zu<br />
Unrecht geschehen war. Tatsächlich besitzen beide Arten extrem unterschiedliche<br />
Paarungsrufe: Jener von L. plaumanni gleicht dem Zirpen einer Grille, jener von L.<br />
gracilis dem Gluckern einer unter Wasser gehaltenen Flasche, aus der die Luft entweicht.<br />
Heute erinnert in Nova Teutônia ein kleines Museum an den am 22. September<br />
1994 in hohem Alter verstorbenen Naturforscher.<br />
Wilhelm Ehrhardt<br />
Das vielleicht wichtigste Datum für die Entdeckung der Amphibien von Santa<br />
Catarina ist aber <strong>das</strong> Jahr 1897, als die Hanseatische Kolonisationsgesellschaft,<br />
neben der Kolonie Hansa-Hammonia (heute Ibirama), auch die Kolonie Hansa-
Humboldt (heute Corupá) gründete. Am 7. Juli 1897 wurde diese neue Siedlung<br />
im Nordosten Santa Catarinas von dem deutschen Emigranten Otto Hillbrecht<br />
zusammen mit Familienangehörigen <strong>und</strong> einem gewissen Wilhelm Ehrhardt „ins<br />
Leben gerufen“ (KORMANN 1985). Jener Wilhelm Ehrhardt, der am 17.11.1860 in<br />
Berbice (heute New Amsterdam in Britisch-Guyana) vermutlich als Sohn eines<br />
professionellen Tiersammlers (A. Ehrhardt, Vorname unbekannt) geboren wurde<br />
<strong>und</strong> danach v. a. in Hamburg <strong>und</strong> Corupá lebte, war eine ungewöhnliche Persönlichkeit<br />
(GUTSCHE et al. 2007). Er versuchte sich u. a. als Schlosser, Kolonialwarenhändler<br />
<strong>und</strong> – parallel dazu – als Präparator <strong>und</strong> Tiersammler.<br />
Für die Erforschung der Amphibien Südbrasiliens erwies sich Wilhelm<br />
Ehrhardt als Glücksfall. Obwohl er selbst wissenschaftlich nicht aktiv war, belieferte<br />
er Naturk<strong>und</strong>emuseen in ganz Europa mit biologischen Objekten, vor<br />
allem Berlin, Hamburg, Frankfurt, München <strong>und</strong> Tübingen, aber auch London<br />
oder Rio de Janeiro. Von 1907-1930 gelangten allein ans Berliner Museum<br />
mehr als 2.400 präparierte Amphibien <strong>und</strong> Reptilien, <strong>und</strong> eine vergleichbare<br />
Anzahl findet sich heute in der Hamburger Sammlung; ja, selbst in nordamerikanischen<br />
Museen tauchen seine Präparate auf. Zum weitaus größten Teil entstammt<br />
<strong>das</strong> Material dem Umfeld seines Wohnsitzes im heutigen Corupá (im<br />
Flussgebiet des Rio Novo, Rio Humboldt <strong>und</strong> Rio Itapocú), zum Teil kommt es<br />
aber auch aus dem Amazonasgebiet, von wo es vermutlich über den von ihm<br />
beauftragten, aus Ungarn stammenden Sammler Carl Lako zu ihm gelangte<br />
(GUTSCHE et al. 2007).<br />
Am 17. Februar 1933 brach Wilhelm Ehrhardt zu seiner letzten Reise von Hamburg<br />
nach Brasilien auf. Die letzte Sendung mit Sammlungsmaterial datiert von<br />
1935, danach verliert sich seine Spur. Auch unsere Nachforschungen im Januar<br />
2006, als wir z. B. in Stadtämtern <strong>und</strong> Archiven von Corupá nachforschten, erbrachten<br />
keine weiteren Anhaltspunkte. Vermutlich starb Ehrhardt verarmt im<br />
Jahr 1936, denn bereits die Kosten für seine vorletzte Schiffsreise (also von Brasilien<br />
nach Deutschland) im Jahr 1932 in Höhe von 420 Reichsmark konnte er<br />
nicht mehr selbst bezahlen <strong>und</strong> unterzeichnete der Hamburg-Südamerikanischen<br />
Dampfschifffahrts-Gesellschaft stattdessen einen Verpflichtungsschein, den <strong>das</strong><br />
Berliner Museum einlösen musste.<br />
Interessant ist ein ‚Gutachten‘ des Berliner Naturk<strong>und</strong>emuseums auf eine<br />
informelle Anfrage des damaligen Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung<br />
<strong>und</strong> Volksbildung vom 9. Juli 1936 (also posthum?), <strong>das</strong> die Tätigkeit Wilhelm<br />
Ehrhardts folgendermaßen zusammenfasst: „Ehrhardt war zwar nicht als<br />
Forscher tätig, stand aber als Sammler im Dienste der Wissenschaft. Seine Dienste<br />
waren wertvoll, sie brachten der Wissenschaft gut konserviertes <strong>und</strong> etikettiertes<br />
Forschungsmaterial, <strong>das</strong> viel neue Ergebnisse zeitigte.“ Und weiter: „Da<br />
er sehr zuverlässig war, ausgezeichnet präparierte <strong>und</strong> dazu noch ganz erstaunlich<br />
billige Preise hatte, so hatte er stets gute K<strong>und</strong>schaft unter den Museen, die<br />
gern sein Material abnahmen.“ In der Tat zeichnen sich die exzellent in Alkohol<br />
fixierten Amphibien <strong>und</strong> Reptilien durch eine für jene Zeit ungewöhnliche lebensnahe,<br />
fast schon ästhetisch zu nennende Darstellung aus, wie Ehrhardt<br />
selbst mitteilte: „Die Reptilien sind nach dem Leben gespannt, ebenso die Amphibien<br />
[...]“ (GUTSCHE et al. 2007).<br />
267
268<br />
Mehrere Neubeschreibungen<br />
gehen auf <strong>das</strong> von Ehrhardt<br />
gesammelte Material zurück,<br />
z. B. der Winkerfrosch<br />
Hylodes perplicatus (MIRANDA-<br />
RIBEIRO 1926), der Glasfrosch<br />
Hyalinobatrachium uranoscopum<br />
(MÜLLER 1924, s.<br />
Farbtafel Foto Nr. 15) oder auch<br />
der erst kürzlich von mir (KWET<br />
2007) revalidierte Zwerg-Pfeiffrosch<br />
(MÜLLER 1922).<br />
Dem eifrigen Sammler zu<br />
Ehren beschrieb der an der<br />
Münchner Staatssammlung<br />
tätige Müller (1924) schließlich<br />
auch Hyla ehrhardti. Den<br />
Der von Wilhelm Ehrhardt gesammelte Holotypus des<br />
Glasfrosches Hyalinobatrachium uranoscopum befindet<br />
sich in der Münchner Staatssammlung <strong>und</strong> wurde<br />
ursprünglich als Laubfrosch, Hyla uranoscopa, beschrieben.<br />
Paarungsruf dieses prächtig grünen, heute als Aplastodiscus ehrhardti bekannten<br />
Laubfrosches (s. Farbtafel Foto Nr. 16) konnten wir vor kurzem erstmals beschreiben<br />
(CONTE et al. 2005). Eine ähnliche Art mit völlig unterschiedlichem Ruf, die<br />
im gleichen Lebensraum wie A. ehrhardti vorkommt, durch ihr Leben hoch in den<br />
Baumkronen offenbar aber nicht von Ehrhardt gef<strong>und</strong>en wurde, ist der nicht<br />
weniger herrlich gezeichnete A. albosignatus (s. Farbtafel Foto Nr. 17).<br />
Viele der von Ehrhardt an die diversen Museen geschickten Frösche wurden<br />
von den dort arbeitenden Wissenschaftlern nicht richtig identifiziert (z. B. im Hamburger<br />
Museum ein falsch als Hyla pardalis ettiketiertes Exemplar des Knochenkopflaubfrosches<br />
Itapotihyla langsdorffii), manche wurden nicht einmal als wissenschaftlich<br />
neu erkannt, z. B. im Fall einiger Pfeiffroscharten wie Cycloramphus<br />
diringshofeni, C. izecksohni (s. Farbtafel Foto Nr. 18), Proceratophrys subguttata oder<br />
Leptodactylus notoaktites, die dann allesamt erst Ende des vergangenen Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
anhand frisch gesammelten Materials beschrieben wurden.<br />
Cycloramphus izecksohni, eine mehrerer Arten, von<br />
denen Wilhelm Ehrhardt Exemplare gesammelt<br />
<strong>und</strong> an diverse Museen geschickt hatte, die damals<br />
aber nicht als wissenschaftlich neu erkannt wurden<br />
(hier ein Exemplar im Berliner Museum).<br />
Ehrhardt-Präparat des extrem seltenen<br />
Laubfroschs Itapotihyla langsdorffii. Dieses<br />
Exemplar im Hamburger Naturk<strong>und</strong>emuseum<br />
wurde fälschlich als Hyla pardalis<br />
bestimmt.
Dies gilt z. B. auch für den Makifrosch Phyllomedusa distincta, den Berta Lutz<br />
erst 1950 beschrieb <strong>und</strong> der, wie bei dieser Gattung üblich, spezielle Blattnester<br />
für seine Eigelege anfertigt. Bei der Paarung werden nämlich Pflanzenblätter mit<br />
den klebrigen Eiern <strong>und</strong> dem Eileitersekret der Weibchen zu einer Art Tüte verklebt,<br />
<strong>und</strong> eine gallertartige Substanz schützt <strong>das</strong> Gelege zusätzlich vor Austrocknung<br />
<strong>und</strong> kleinen Eiräubern wie Wespen. Nach einigen Tagen zerfällt <strong>das</strong> Nest<br />
durch den Schlupf der Larven <strong>und</strong> die zappelnden Kaulquappen springen in <strong>das</strong><br />
darunter liegende Gewässer, wo sie ihre Entwicklung vollenden (z. B. KWET /<br />
SCHLÜTER 2002).<br />
Auch der bereits erwähnte, noch immer namenlose Rückenbrüterfrosch von<br />
Fritz Müller findet sich unerkannt in Ehrhardts Sammlungen. Zwei der auffälligsten<br />
Froschlurche freilich, der knapp 10 cm lange Schmied-Laubfrosch (Hypsiboas<br />
faber, s. Farbtafel Foto Nr. 19) <strong>und</strong> der mächtige, noch einmal fast doppelt so<br />
große Hornfrosch Ceratophrys aurita waren bereits 100 Jahre vor Ehrhardts<br />
Tätigkeiten beschrieben worden. Die Männchen des Schmied-Laubfroschs konstruieren<br />
zur Paarungszeit kraterartige Vertiefungen am Gewässerrand, die sie<br />
für einige Tage vehement gegen Eindringlinge verteidigen (z. B. KWET 2001a).<br />
Dabei fechten die Männchen zum Teil heftige territoriale Kämpfe aus, bei denen<br />
sich die Kontrahenten durch Dornen am Ansatz des Daumens böse verletzen<br />
können. Der in den Kraternestern deponierte Laich ist sehr empfindlich, denn<br />
die an der Wasseroberfläche des Nestes schwimmenden, sauerstoffbedürftigen<br />
Eier sterben ab, sobald sie durch äußere Einflüsse auf den Boden sinken. Die<br />
Miniaturaquarien, in denen vor Fischen <strong>und</strong> anderen Wasserräubern geschützt<br />
die Ei- <strong>und</strong> frühe Larvenentwicklung verläuft, werden in der Regel nach ausgiebigen<br />
Regenfällen überflutet, so <strong>das</strong>s die Kaulquappen mit einer größeren Länge<br />
schließlich ins offene Wasser gelangen. Diese Art einfacher Brutfürsorge vergrößert<br />
deren Überlebenschancen – bei Ausbleiben des Regens allerdings geht die<br />
gesamte Brut zugr<strong>und</strong>e.<br />
Auch der Hornfrosch Ceratophrys aurita ist in den Sammlungen Ehrhardts durch<br />
spektakuläre Präparate belegt – u. a. befindet sich in Hamburg ein ausgewachsenes,<br />
fast 18 cm langes Exemplar, in dessen riesigem Maul ein ebenfalls adulter Laubfrosch<br />
der Art Trachycephalus mesophaeus steckt. Hornfrösche sind gefräßige Räuber, die<br />
auch vor Mäusen, jungen Vögeln <strong>und</strong> Artgenossen keinen Halt machen, <strong>und</strong> sie<br />
konnten im Norden Santa Catarinas seit langer Zeit nicht mehr beobachtet werden.<br />
Auch unser Nachfragen bei älteren<br />
Bewohnern Corupás, die nach<br />
eigenen Angaben in ihrer Jugend<br />
noch mit den aggressiven <strong>und</strong><br />
beißlustigen Tieren ‚gespielt‘ hatten,<br />
ergab nur, <strong>das</strong>s diese Art dort<br />
heute nicht mehr anzutreffen ist.<br />
Dies hängt vermutlich mit der Vernichtung<br />
der Laichgewässer im ursprünglichen<br />
Regenwald <strong>und</strong> der<br />
Anlage zahlloser Bananenmonokulturen<br />
in Verbindung mit ent-<br />
269
270<br />
sprechendem Pestizideinsatz zusammen – in Santa Catarina gilt Corupá als „Hauptstadt<br />
der Bananen“. Auch heute noch bildet Ehrhardts Material also einen wichtigen<br />
wissenschaftlichen F<strong>und</strong>us in naturhistorischen Sammlungen, <strong>und</strong> sei es nur,<br />
um damit <strong>das</strong> lokale Aussterben einer Art dokumentieren zu können.<br />
Die Forschungen der letzten Jahre<br />
Seit den Zeiten Wilhelm Ehrhardts in Santa Catarina <strong>und</strong> Pedro Brauns in Rio<br />
Grande do Sul lag die Erforschung der Amphibienfauna in den beiden südbrasilianischen<br />
Staaten mehr oder weniger brach. Erst Mitte der 1990er Jahre<br />
begannen wieder Freilandstudien, die zu neuen Erkenntnissen führten, welche<br />
wiederum die Gr<strong>und</strong>lage zum Schutz der bedrohten Lurchfauna darstellen. Meine<br />
eigenen Studien, die 1995 im Waldschutzgebiet Pró-Mata begannen (KWET<br />
2001a), konzentrierten sich zunächst auf die Amphibienfauna im Nordosten von<br />
Rio Grande do Sul, die ich teilweise zusammen mit Kollegen wie Marcos Di<br />
Bernardo <strong>und</strong> Mirco Solé untersuchte (z. B. KWET / DI-BERNARDO 1998; DI-<br />
BERNARDO et al. 2004). Seit 2000 dehnte sich mein Untersuchungsfeld dann aus<br />
auf den Nachbarstaat Santa Catarina (z. B. mit Anne Zillikens <strong>und</strong> Rodrigo Lingnau)<br />
sowie nach Uruguay (mit Raúl Manyero).<br />
Thema meiner Dissertation an der Universität Tübingen war die ökologische<br />
Rolle der Amphibien in dem stark gefährdeten Lebensraum des Pró-Mata-Schutzgebiets<br />
am südöstlichen Rand des Araukarienplateaus (KWET 2001a). So untersuchte<br />
ich u. a. die ökologische Einnischung der Laubfrösche in den unterschiedlichen<br />
Mikro- <strong>und</strong> Makrohabitaten sowie die Unterschiede im saisonalen<br />
<strong>und</strong> tageszeitlichen Auftreten der Tiere. Auch Räuber-Beute-Beziehungen <strong>und</strong><br />
die Nahrungsökologie der Frösche anhand von Magenuntersuchungen wurden<br />
näher beleuchtet; hierbei konnten wir die Technik der Magenspülung weiterentwickeln,<br />
durch die mit Hilfe eines Infusionsschlauchs <strong>und</strong> einer Spritze auf<br />
einfache Weise wertvolle Daten zur Ernährung gewonnen werden können, ohne<br />
den Frosch dabei zu schädigen (SOLÉ et al. 2005). Ansonsten standen im Vordergr<strong>und</strong><br />
meiner Arbeit auch die Bioakustik, z. B. die bei der Artentstehung <strong>und</strong><br />
Artunterscheidung eine wichtige Rolle spielenden Rufe der Arten, sowie gr<strong>und</strong>legende<br />
biologische Daten zu derer Lebensgeschichte, insbesondere zur<br />
Fortpflanzungsweise.<br />
Einige Besonderheiten der Fortpflanzung wurden bereits erwähnt; ein weiterer<br />
Reproduktionsmodus, den insbesondere Pfeiffrösche für sich ‚entdeckt‘ haben<br />
<strong>und</strong> der für Mitteleuropäer exotisch anmuten mag, ist die Anlage eines speziellen<br />
Schaumnestes. Beim Bau desselben sitzt <strong>das</strong> Männchen im Amplexus (Paarungsumklammerung)<br />
auf dem Weibchen <strong>und</strong> schlägt eiweißhaltiges Eileitersekret durch<br />
schnelle Hinterbeinbewegungen zu Schaum. Bei jeder der kurz aufeinander folgenden<br />
Schlagphasen wird <strong>das</strong> austretende Sekret zusammen mit den Eiern <strong>und</strong><br />
dem Sperma jeweils einige Sek<strong>und</strong>en lang kräftig durchgequirlt. Nach zahlreichen<br />
Durchgängen entsteht schließlich ein stabiles Schaumnest, in dem sich die<br />
pigmentlosen Eier gut geschützt vor Austrocknung, Sonneneinstrahlung <strong>und</strong> Feinden<br />
entwickeln können. Vermutlich entfalten chemische Wirkstoffe im Schaum<br />
zusätzlich eine pilz- <strong>und</strong> bakterientötende Funktion.
Gerade bei diesen Schaumnestbauern zeigt sich eine zunehmende Abwendung<br />
der Amphibien vom Wasser als Fortpflanzungsmedium. Während die meisten<br />
Arten, z. B. der mächtige Augenfleckpfeiffrosch Leptodactylus ocellatus oder<br />
der hübsche Physalaemus olfersii (s. Farbtafel Foto Nr. 20), ihr Schaumnest noch<br />
direkt an der Gewässeroberfläche anlegen, bauen es manche auch an Land in der<br />
feuchten Uferzone (z. B. Physalaemus nanus, s. Farbtafel Foto Nr. 21) oder – einen<br />
Schritt weiter – in eine selbst gegrabene Erdhöhle in der Nähe einer Pfütze (z. B.<br />
Leptodactylus plaumanni). Aus diesem gut geschützten Versteck werden die Kaulquappen<br />
durch Überflutung frei oder tropfen nach dem Schlupf mit dem flüssiger<br />
werdenden Schaum über einen Verbindungsgang ins Gewässer, wo sie sich weiter<br />
entwickeln. Und noch spezialisierter ist die in Santa Catarina mit mehreren z. T.<br />
noch unbeschriebenen Arten (KWET /<br />
ANGULO 2002; KWET 2007) verbreitete<br />
Gattung Adenomera, bei der <strong>das</strong><br />
Schaumnest weitab von Gewässern im<br />
Waldboden angelegt wird. Innerhalb<br />
des zähflüssigen Schaums vollzieht sich<br />
im Erdloch die gesamte Entwicklung<br />
der Larven bis hin zur Metamorphose.<br />
Die Kaulquappen leben in dieser Zeit<br />
ausschließlich von ihrem Dottersackvorrat,<br />
<strong>und</strong> was <strong>das</strong> Nest später verlässt,<br />
sind die winzigen, bereits fertig entwikkelten<br />
Jungfröschchen.<br />
Doch nicht nur ökologisch, auch<br />
taxonomisch wird in Südbrasilien wie-<br />
Die Männchen des Augenfleckpfeiffroschs,<br />
Leptodactylus ocellatus, besitzen extrem verdickte<br />
Oberarme (Exemplar im Hamburger Museum)<br />
der geforscht. So beschrieb der brasilianische Herpetologe Paulo C. A. Garcia<br />
(1996) mit Eleutherodactylus manezinho einen neuen Pfeiffrosch von der Ilha de<br />
Santa Catarina, <strong>und</strong> Garcia / Vinciprova (1998) konnten mehrere Froscharten<br />
erstmals für Rio Grande do Sul bzw. Santa Catarina belegen. Eine aus evolutionsbiologischer<br />
Sicht besonders interessante, aber zugleich auch sehr unübersichtliche<br />
Gruppe von Laubfröschen ist insbesondere der Artenkomplex um Hypsiboas<br />
semiguttatus. Hierbei handelt es sich um eine Verwandtschaftsgruppe aus mehreren<br />
sehr ähnlichen <strong>und</strong> eng miteinander verwandten Arten, die auf dem südbrasilianischen<br />
Araukarienplateau <strong>und</strong> in Bergbächen der Mata Atlântica vorkommen.<br />
Ein charakteristisches Merkmal dieser Gruppe sind u. a. die muskulös<br />
verdickten (hypertrophierten) Unterarme <strong>und</strong> die scharfen Dorne an der Daumenbasis<br />
der Männchen, ähnlich wie bei dem bereits erwähnten Schmied-Laubfrosch.<br />
Diese Daumendorne werden bei innerartlichen Auseinandersetzungen eingesetzt,<br />
<strong>und</strong> v. a. ältere Männchen besitzen daher oft zahlreiche Narben auf dem<br />
Rücken, die von schweren Kämpfen zeugen.<br />
Hypsiboas semiguttatus selbst galt bis vor kurzem noch als eine einzige, sehr<br />
variable Spezies (KWET / DI-BERNARDO 1998), doch repräsentieren mehrere der<br />
teilweise stark voneinander abweichenden Populationen offenbar eigenständige<br />
Arten, die zurzeit wissenschaftlich bearbeitet werden. Als Extremfälle finden sich<br />
an größeren Bächen stattliche 5 cm lange Tiere mit satten, teilweise metallisch<br />
271
272<br />
glänzenden Grün-, Braun- oder Gelbtönen sowie dunklen, parallel verlaufenden<br />
Streifen oder Längsreihen unregelmäßiger Flecken, während an kleineren Bächen<br />
unscheinbar bräunliche, nur etwa 3 cm lange Exemplare mit <strong>und</strong>eutlichem Rückenmuster<br />
vorkommen. Während die erstgenannte Form kürzlich als Hypsiboas joaquini<br />
revalidiert wurde (GARCIA et al. 2003; s. Farbtafel Foto Nr. 22), besitzt die zweite,<br />
kleinere Variante noch keinen gültigen Namen. Neben diesen beiden Offenlandbewohnern<br />
kommen noch mindestens vier weitere Verwandte in den unzugänglichen<br />
<strong>und</strong> dicht bewaldeten Berghängen am Rand des Araukarienplateaus<br />
vor. Eine davon ist der im Norden von Rio Grande do Sul lebende, einfarbig grüne<br />
Hypsiboas marginatus, der von Garcia et al. (2001) revalidiert wurde, nachdem<br />
meine bioakustischen Daten (KWET 2001a) den Artstatus ebenfalls belegt hatten.<br />
Die zweite Art ist der ‚echte‘ Hypsiboas semiguttatus, der offenbar nur im Norden von<br />
Santa Catarina vorkommt, während die dazwischen liegende Bergregion von zwei<br />
wissenschaftlich noch unbeschriebenen Arten besiedelt wird.<br />
Der gesamte semiguttatus-Komplex ist – ähnlich wie die beiden Gattungen<br />
Adenomera <strong>und</strong> Cycloramphus – ein hervorragendes Beispiel für die in Südbrasilien<br />
<strong>und</strong> speziell in den Hangwäldern der südlichen Mata Atlântica stattfindenden<br />
Artbildungsprozesse, denn alle drei Froschgruppen befindet sich offenbar in einer<br />
evolutiven Aufspaltung, die in ferner Zukunft zu unterschiedlichen Arten führen<br />
wird. Die Entdeckung einer weiteren unbeschriebenen Hypsiboas-Art in der Nähe<br />
von Santa Cruz do Sul im Zentrum von Rio Grande do Sul schließlich (KWET, in<br />
Vorbereitung) zeigt, <strong>das</strong>s hier <strong>das</strong> letzte Wort noch längst nicht gesprochen ist.<br />
Durch den tragischen Tod meines engen herpetologischen Kollegen <strong>und</strong> persönlichen<br />
Fre<strong>und</strong>es Marcos Di- Bernardo (1963-2006), der am 16. Juni einem Krebsleiden<br />
erlag (KWET 2006b), haben meine Forschungsaktivitäten allerdings einen<br />
großen Dämpfer erhalten. So wird auch die Beschreibung eines prachtvollen, fast<br />
8 cm langen Krötenlaubfroschs aus der Gattung Trachycephalus, die wir zusammen<br />
publizieren wollten, nur noch posthum erscheinen (KWET / SOLÉ, in Vorbereitung;<br />
s. Farbtafel Foto Nr. 23). Den vielleicht spektakulärsten Froschlurch<br />
von ganz Rio Grande do Sul aber, die Prachtkröte Melanophryniscus admirabilis<br />
(s. Farbtafel Foto Nr. 24) mit ihrer leuchtend gelbgrünen, ‚genoppten‘ Oberseite<br />
<strong>und</strong> der herrlich gefärbten, schwarz, rot, grün <strong>und</strong> gelb gezeichneten Bauchseite,<br />
konnte mein verstorbener Kollege noch selbst entdecken <strong>und</strong> beschreiben<br />
(DI-BERNARDO et al. 2006).<br />
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3. Pseudis cardosoi 4. Melanophryniscus dorsalis<br />
5. Phyllomedusa tetraploidea 6. Proceratophrys bigibbosa
7. Eleutherodactylus henselii 8. Belostomatidae (Wasserwanzen - hier mit<br />
Beute)<br />
9. Proceratophrys brauni 10. Hypsiboas prasinus<br />
11. Melanophryniscus cambaraensis 12. Melanophryniscus cambaraensis
13. Elachistocleis bicolor 14. Flectonotus spec.<br />
15. Hyalinobatrachium uranoscopum 16. Aplastodiscus ehrhardti<br />
17. Aplastodiscus albosignatus 18. Cycloramphus izecksohni
19. Hypsiboas faber 20. Physalaemus olfersii<br />
21. Physalaemus nanus 22. Hypsiboas joaquini<br />
23. Trachycephalus spec. 24. Melanophryniscus admirabilis
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Dr. Axel Kwet, Diplombiologe, geboren 1965 in Esslingen am Neckar. Studium der Biologie<br />
an der Universität Tübingen. Seit 1995 zahlreiche Forschungsaufenthalte in Südbrasilien, 2000<br />
Promotion über die Biologie der Amphibien im Araukarienwald von Rio Grande do Sul. Seit<br />
2000 am Staatlichen Museum für Naturk<strong>und</strong>e Stuttgart, Abteilung Zoologie. Seit 2006 selbständige<br />
Tätigkeit als Redakteur <strong>und</strong> Lektor im NT-Verlag, Münster. 2. Vorsitzender der Deutschen<br />
Gesellschaft für Herpetologie <strong>und</strong> Terrarienk<strong>und</strong>e (DGHT). Forschungsschwerpunkt:<br />
Amphibien <strong>und</strong> Reptilien in Rio Grande do Sul, Santa Catarina <strong>und</strong> Uruguay sowie europäische<br />
Herpetofauna. Homepage mit zahlreichen Infos, Froschrufen <strong>und</strong> Fotos unter: http://<br />
www.kwet.de.
Der fünfte Stern im Kreuz des Südens –<br />
Die brasilianische Fahne <strong>und</strong><br />
ihre „interstellare“ Geschichte<br />
Ingrid Schwamborn<br />
Bonn / Fortaleza<br />
Resumo: Este artigo descreve a evolução da bandeira brasileira para<br />
sua forma atual e m<strong>und</strong>ialmente conhecida. Aponta-se<br />
para os elementos simbólicos trazidos de Portugal e para<br />
os aspectos que foram modificados ao longo dos séculos<br />
XIX e XX. Explica-se esta simbologia e abordam-se os problemas<br />
ligados à sua história, a forma como a bandeira foi<br />
introduzida em 19 de novembro de 1889, o conjunto de<br />
estrelas na esfera azul, com a quinta estrela no Cruzeiro do<br />
Sul, ali reproduzido, além do fato de a constelação aparecer<br />
‚invertida‘. É discutida ainda a afirmação de que esta<br />
imagem representaria o céu estrelado em 15 de novembro<br />
de 1889 – embora no hemisfério sul o Cruzeiro do Sul<br />
só seja visível de janeiro a junho. Comenta-se a origem do<br />
lema „ORDEM e PROGRESSO“ na faixa branca sobre a esfera<br />
azul, bem como o significado, para o Brasil e sua bandeira,<br />
do „positivismo“ criado por Auguste Comte, que<br />
deixou como legado o primeiro Templo Positivista inaugurado<br />
em 1881 no Rio de Janeiro, em funcionamento ainda<br />
hoje. Por último, mencionam-se os eventos programados<br />
para 2008 no Rio de Janeiro em comemoração do<br />
bicentenário da chegada da Corte Portuguesa ao Brasil,<br />
quando sempre se verão juntas as atuais bandeiras desses<br />
dois países – dando oportunidade de se perceber o estreito<br />
parentesco entre elas.<br />
Abstract: This article describes the evolution of the actual Brazilian<br />
flag, known in the whole world, and it is shown which<br />
symbolic elements have been brought from Portugal and<br />
which aspects have been modified in the course of the 19 th<br />
and 20 th centuries. The discussion revolves aro<strong>und</strong> this<br />
symbology and the problems associated with its history,<br />
the way how the flag was introduced on November 19 th ,<br />
1889, the set of stars in the blue circle and the fifth star in<br />
the Southern Cross there represented, besides the fact that<br />
this constellation appears ‚inverted‘; and furthermore the<br />
assertion will be discussed that the figure would represent<br />
277
278<br />
the starry sky of November 15th, 1889 – though in the southern<br />
hemisphere the Southern Cross can only be seen between<br />
January and June. The origin of the motto „ORDEM<br />
e PROGRESSO“ on the white belt over the blue circle will be<br />
explained, as well as the significance, for Brazil and its flag, of<br />
the „positivism“ created by Auguste Comte, which also led<br />
to the inauguration of the first Positivist Temple in Rio de<br />
Janeiro in 1881, still operating today. At last the events programmed<br />
for 2008 in Rio de Janeiro to commemorate the<br />
bicentenary of the arrival of the Portuguese Court in Brazil<br />
will be mentioned, when the actual flags of both countries<br />
will be always seen together – giving the opportunity to the<br />
reader to perceive the close relationship between them.<br />
Das „Kreuz des Südens“<br />
Wenn man in Deutschland einen<br />
Laien bittet, <strong>das</strong> Kreuz des Südens<br />
zu zeichnen, wird man meist<br />
ein Kreuz mit vier Sternen erhalten,<br />
die die Eckpunkte des christlichen<br />
Kreuz-Symbols darstellen.<br />
Wenige scheinen in Deutschland<br />
zu wissen, <strong>das</strong>s dieses Sternbild<br />
fünf Sterne umfasst <strong>und</strong> auf<br />
der Südhalbkugel nur in der ersten<br />
Hälfte des Jahres am Nachthimmel<br />
sichtbar ist. In der zweiten<br />
Jahreshälfte wird Das Kreuz des Südens von Orion („Himmelsjäger“) als bekanntestem<br />
zentralen Sternbild abgelöst. In der Nähe des ‚Kreuzes‘, an seiner linken<br />
Seite, sieht man am Himmel ein anderes,<br />
leicht zu erkennendes Sternbild, den<br />
seit der Antike so genannten Skorpion:<br />
drei Sterne sind fächerartig angeordnet,<br />
mit einem großen Schweif, der wie der<br />
untere Bogen eines Notenschlüssels erscheint.<br />
(Die drei in einer Linie angeordneten<br />
Sterne, die die Mitte des Orions<br />
markieren <strong>und</strong> durch die der ‚Himmelsäquator‘<br />
geht, werden in Brasilien populär<br />
„As três Marias“ genannt – sie kommen<br />
jedoch auf der brasilianischen Fahne<br />
nicht vor).<br />
Wer den Himmel von Rio de Janeiro<br />
im Januar oder im Juni betrachtet <strong>und</strong><br />
Karte des Sternbilds Skorpion<br />
anschließend auf die brasilianische Fah-
ne blickt, wird sich verw<strong>und</strong>ert die Augen reiben.<br />
Auf den ersten Blick erkennt man, <strong>das</strong>s es sich im<br />
Zentrum der Fahne um <strong>das</strong> Sternbild des ‚Kreuzes‘<br />
handelt, jedoch seitenverkehrt – der Skorpion<br />
befindet sich hier rechts neben dem Kreuz des<br />
Südens <strong>und</strong> der fünfte Stern liegt links, statt rechts<br />
unter der Querachse des Kreuzes.<br />
Auf meine entsprechende Frage hin, antwortete<br />
mir vor einigen Jahren der bekannte<br />
brasilianische Astronom Ronaldo Rogério de<br />
Freitas Mourão, Rio de Janeiro, mit einem Lächeln,<br />
es handele sich in diesem Fall um <strong>das</strong><br />
Sternbild, so wie es sich einem Betrachter weit, sehr weit draußen im Weltraum<br />
bieten würde. Das erschien mir seltsam, <strong>das</strong> wollte ich bei Gelegenheit<br />
genauer untersuchen.<br />
Thomas Reiter, der deutsche Astronaut, der sich von Juli bis Dezember 2006<br />
in der Internationalen Raumstation (ISS) aufhielt <strong>und</strong> dabei sogar im Weltraum<br />
spazieren ging oder vielmehr arbeitete, könnte Auskunft darüber geben, was er<br />
von dort oben gesehen hatte, aber die 400 km Entfernung von der Erde sind bei<br />
Weitem nicht ausreichend für eine externe Sicht des Weltraumes. Nicht einmal<br />
ein Blick vom Mars auf unseren Planeten wäre dafür ausreichend. Ein Mensch<br />
oder ein Roboter müsste über den Weltraum hinaus gelangen, um <strong>das</strong> seitenverkehrte<br />
Sternbild des Kreuzes ‚in natura‘ zu sehen. Somit wäre die brasilianische<br />
Fahne tatsächlich die Fahne einer sehr fernen Zukunft (cf. Schlagwort<br />
„Brasilien – Land der Zukunft“).<br />
Ein verwirrendes Sternenbild<br />
Eine mögliche Erklärung für die seitenverkehrte Abbildung dieses Ausschnitts<br />
aus dem Sternenhimmel auf der brasilianischen Fahne könnte man darin finden,<br />
<strong>das</strong>s in der Eile, eine neue Fahne innerhalb einer Woche (15.- 19.11.1889) zu schaffen,<br />
die Frauen aus Benjamin Constant Botelho de Magalhães’ Familie, die die erste<br />
Fahne stickten, als Vorlage ein<br />
transparentes Blatt hatten, <strong>das</strong> sie<br />
ungewollt umgedreht zum Abpausen<br />
mit Stecknadeln auf den blauen<br />
Kreis in der grün-gelben Fahne<br />
geheftet haben könnten (cf.<br />
Das Gemälde A Pátria, 1919, von<br />
Pedro Bruno im Palácio da República,<br />
Rio de Janeiro).<br />
Dies erklärt allerdings nicht,<br />
warum der „Skorpion“ auf der<br />
brasilianischen Fahne nicht nur<br />
seitenverkehrt, sondern im oberen<br />
Teil – heute – nur zwei, im Pedro Bruno: A Pátria (Ölgemälde, 1919)<br />
279
280<br />
unteren dagegen drei Sterne aufweist <strong>und</strong> dadurch zusätzlich von oben nach<br />
unten gedreht, doppelt ‚invertiert‘ erscheint.<br />
Diese verwirrende Sternbildgalerie soll den Sternenhimmel über Rio de Janeiro<br />
am Morgen des 15. November 1889, um 8 Uhr 30, darstellen, dem Augenblick der<br />
Verkündung der Abschaffung der Monarchie <strong>und</strong> der Einführung der Republik!<br />
So liest man es im Internet, wenn man „Bandeira do Brasil“ eingibt, wobei die<br />
anonymen Autoren von Wikipedia sich zweifellos auf offizielle Informationen der<br />
brasilianischen Regierung berufen.<br />
Dort steht auch Erstaunliches geschrieben: Die nicht ordnungsgemäße Wiedergabe<br />
dieser Anordnung der Sterne sei strafbar! Viele brasilianische Hobbykünstler<br />
müssten sich demnach in Acht vor dem Gesetz nehmen, denn auf vielen kunsthandwerklichen<br />
Objekten oder T-Shirts werden die Sterne auf der gemeinten<br />
Landesfahne haufenweise <strong>und</strong> nach Gutdünken der Künstler angeordnet (die Verfasserin<br />
dieser Zeilen hat eine Sammlung „Falscher brasilianischer Fahnen“ angelegt).<br />
Viele Leute in Brasilien <strong>und</strong> anderswo scheinen nicht bemerkt zu haben, <strong>das</strong>s<br />
die Sterne in der brasilianischen Flagge <strong>das</strong> Sternbild des Kreuz des Südens, den<br />
Skorpion, dazu noch <strong>das</strong> Südliche Dreieck, den Großen H<strong>und</strong> <strong>und</strong> weitere einzelne<br />
Sterne aus dem Bild der Wasserschlange <strong>und</strong> der Jungfrau darstellen sollen.<br />
Diese Fahne wurde von dem Philosophen, Mathematiker <strong>und</strong> Anhänger des<br />
Positivismus, Raim<strong>und</strong>o Teixeira Mendes (1855-1927) geplant. Zusammen mit Miguel<br />
Lemos (1854-1917), dem Gründer der Positivistischen Religion in Brasilien, <strong>und</strong><br />
Benjamin Constant Botelho de Magalhães (1836-1891), dem Ingenieur, General<br />
<strong>und</strong> Professor an der Polytechnischen Schule <strong>und</strong> später an der Escola Militar von<br />
Rio de Janeiro, wurde diese Fahne entworfen. Die Anordnung der Sterne in unterschiedlicher<br />
Größe (1 bis 5) lieferte der Ingenieur Manuel Pereira Reis (1837-1922),<br />
seit 1881 Professor für Astronomie, ebenfalls an der Polytechnischen Schule (Technische<br />
Hochschule) von Rio de Janeiro. Die künstlerische Ausführung wurde dem<br />
‚positivistischen‘ Maler Décio Vilares (1851-1931; nach ihm ist auch eine Straße in<br />
Copacabana benannt) aus Rio de Janeiro übertragen (MOURÃO 1998, S. 86).<br />
Sterne <strong>und</strong> Streifen<br />
Am Morgen des 15. November 1889 brach in Rio de Janeiro eher zufällig –<br />
vergleichbar dem „Mauerfall“ in Berlin, am 9. November 1989! – die Brasilianische<br />
Republik aus, unter Führung der Militärs, die darauf nicht wirklich vorbereitet waren.<br />
Noch Jahre danach stritt man sich darüber, wer der Urheber der Ausrufung<br />
der Republik <strong>und</strong> somit des Endes der Monarchie gewesen sei. In einem Gedicht<br />
von Arthur de Azevedo wurde dies 1895 in der Zeitung, O Paiz (Das Land), in einem<br />
Gedicht zusammengefasst, in dem es heißt, in einem Gemälde werde Benjamin als<br />
„f<strong>und</strong>ador“, als Begründer, Deodoro als „proclamador“, Verkünder, Floriano (Peixoto)<br />
als „consolidador“, Stabilisator, <strong>und</strong> Prudente (de Morais) als „pacificador“, eine Art<br />
„Streitschlichter“ der Republik dargestellt (CARVALHO 2006, S. 37).<br />
Marschall Deodoro da Fonseca (1827-1892) stellte sich an die Spitze der neuen<br />
Bewegung. Er schwenkte zuerst seinen Hut, wie man auf einem Gemälde von<br />
Henrique Bernadelli sehen kann (ibd., S. 97), manche meinten, er grüße noch<br />
Kaiser Pedro II., dessen persönlicher Fre<strong>und</strong> er war. Die bisherige Fahne der bra-
silianischen Monarchie konnte er nicht mehr hochhalten <strong>und</strong> eine neue Fahne<br />
stand ihm zu diesem Zeitpunkt, am frühen Vormittag des 15. November 1889,<br />
nicht zur Verfügung.<br />
Die Anhänger der ersten brasilianischen Republik holten eher aus Verlegenheit<br />
die Fahne hervor, die eigentlich als Fahne des „Clubs der Republikaner“, der<br />
„Liberalen“ unter Führung des Arztes, Diplomaten <strong>und</strong> späteren Senators Lopes<br />
Trovão, gedacht war: ein längliches Rechteck mit breiten grün-gelben Streifen im<br />
Querformat <strong>und</strong> oben links in einem schwarzen Quadrat 20 weiße Sterne, entworfen<br />
nach dem Vorbild der Fahne der USA, „stars and stripes“. Mit dieser ersten<br />
Fahne marschierten sie durch die Straßen von Rio de Janeiro, bis José do<br />
Patrocinio, einer der Kämpfer für die Abschaffung der Sklaverei, sie in der Câmara<br />
Municipal, im Rathaus der brasilianischen Hauptstadt Rio de Janeiro, aufstellte.<br />
Ein anderes Exemplar der neuen Fahne, jedoch mit blauem Quadrat für die<br />
weißen, aufgereihten Sterne, wehte auf dem Marine-Schiff Alagoas, mit dem der<br />
entthronte Kaiser Pedro II. <strong>und</strong> seine Familie am Morgen des 17. November 1889<br />
ins Exil nach ‚Europa‘ (Lissabon, Paris) gebracht wurden. Die erste Fahne befindet<br />
sich heute im Historischen Stadt-Museum, die zweite wurde von dem Schiff entfernt,<br />
als es auf der Höhe von São Vicente Brasilien verließ. Sie wurde zunächst im<br />
Marine-Museum aufbewahrt, bevor sie ins Museu da República in Rio de Janeiro<br />
gelangte (CARVALHO 2006, S. 110-111, 105).<br />
Die zwanzig Sterne auf dieser Fahne sollten den damaligen zwanzig Provinzen<br />
der neuen Republik entsprechen, wie beim Vorbild der nordamerikanischen Fahne.<br />
Diese Flagge galt jedoch nur vom 15. bis 19. November 1889. (Nach dem<br />
Verlust der Provinz Uruguay im Jahre 1828 unter Pedro I. hätte die Fahne von<br />
1822 mit den 19 Sternen einen Stern verlieren sollen, aber statt dessen erhöhte<br />
1870 sein Sohn Pedro II. die Zahl der Sterne auf 20, indem er die beiden durch<br />
Teilung der Provinz Grão-Pará neu geschaffenen Provinzen Amazonas <strong>und</strong> Pará<br />
als zwei weitere Sterne in den blauen Ring um <strong>das</strong> Kreuz des Christusordens in<br />
seinem monarchischen Emblem aufnahm; cf. Bandeira do Brasil, Wikipedia,<br />
„Curiosidades“, Stand: 19.06.2007; siehe Farbtafel 2 nach S. 320).<br />
Zeitweise hatte man auch daran gedacht, die französische Fahne zu übernehmen,<br />
es wurde anfangs auch die Marseillaise gesungen, <strong>das</strong> Lied der französischen<br />
Revolutionäre von 1789, <strong>das</strong> Rouget de Lisle im April als Kampflied für die Rheinarmee<br />
komponiert hatte <strong>und</strong> <strong>das</strong> am 10. August 1792 bei der Ausrufung der Republik<br />
gesungen <strong>und</strong> 1794 offiziell anerkannt wurde (CARVALHO 2006, S. 122-123).<br />
Dieses Lied ist heute immer noch die französische Nationalhymne (gesungen auch<br />
am 6. Mai 2007 von Anhängern des neu gewählten französischen Präsidenten,<br />
Nicolas Sarkozy, der seine erste Rede am Wahlabend mit „Vive la République!“ beendete.<br />
Die unterlegene Sozialistin, Madame Royal, hätte dies ebenso getan).<br />
Auch „A República“ wurde nach französischem Vorbild als hübsche junge Frau mit<br />
rosa Wangen <strong>und</strong> „phrygischer Mütze“ (cf. die kuriose weiße Mütze der blauen Comic-Zwerge,<br />
der „Schlümpfe“) wie eine griechische Göttin von Décio Vilares gemalt<br />
(Museu da República, Rio de Janeiro), fand jedoch beim brasilianischen Volk keinen<br />
Anklang (ibd., S. 100). Ebensowenig fand eine neue positivistische Zeitrechnung oder<br />
die Anrede „cidadão“ nach dem Vorbild des „citoyen“ Anklang.<br />
Vor allem vermochten die neuen Republikaner auch nicht eine eigene brasilia-<br />
281
282<br />
nische Nationalhymne durchzusetzen, die durch einen Wettbewerb ermittelt<br />
wurde. Es handelte sich um ein Arrangement des Leiters der Musikhochschule<br />
von Rio de Janeiro, Leopoldo Miguez, <strong>und</strong> einen an die Marseillaise angelehnten<br />
Text des Schriftstellers Medeiros e Albuquerque. Diese Hymne erhielt daher als<br />
Trost die Bezeichnung „Hymne der Ausrufung der Republik“ (ibd., S. 127).<br />
Das Volk verlangte nach der altbewährten Hymne der Unabhängigkeit von 1822<br />
<strong>und</strong> der Monarchie mit der Musik von Francisco Manuel da Silva (1795-1865), der<br />
ein modernisierter Text von Joaquim Osório Duque Estrada (1870-1927) unterlegt<br />
wurde. Gemäß Dekret Nr. 171 vom 20. Januar 1890 wurde dieses recht komplizierte<br />
Lied zur „Hymne der Republik der Vereinigten Staaten von Brasilien“ erklärt, was<br />
1922 <strong>und</strong> 1971 erneut bestätigt wurde (cf. MOURÃO 1998, S. 115). Und diese Hymne<br />
wird heute noch z. B. vor jedem internationalen Fußballspiel von den brasilianischen<br />
Berufsspielern gesungen: „ ... Ó Pátria amada... Pátria amada Brasil!“<br />
Neue Konstellationen<br />
Wie mit dem neuen, fremden Lied, so waren viele Brasilianer auch mit der<br />
neuen Fahne mit den Sternen <strong>und</strong> Streifen nicht einverstanden. Der Legende<br />
nach gehörte auch der Präsident der Provisorischen Regierung, Marschall Deodoro<br />
da Fonseca, zu dieser Gruppe. Er soll wütend seine Ablehnung der „nordamerikanischen“<br />
Fahne mit folgenden Worten begründet haben: „Senhores, mudamos o<br />
regime, não a patria!“ (Meine Herren, wir haben eine neue Regierung, aber kein<br />
neues Vaterland! – Cf. Deodoro da Fonseca, Wikipedia, Stand: 20.6.2007, S. 5).<br />
Am 19. November 1889 wurde die Nachahmung des amerikanischen Sternenbanners,<br />
die „Provisorische Fahne“, von einer – auf den ersten Blick – völlig<br />
neuen Fahne abgelöst.<br />
Doch diese neue Fahne knüpfte so intelligent an die Fahne der Tradition an <strong>und</strong><br />
wies so deutlich in die Zukunft, <strong>das</strong>s sie trotz des anfänglichen Widerstands einiger<br />
Anhänger der Monarchie oder des nordamerikanischen Vorbilds noch heute Gültigkeit<br />
hat <strong>und</strong> als untrennbar zur brasilianischen Nation gehörig empf<strong>und</strong>en wird.<br />
Im Zentrum dieser neuen, revolutionären Fahne steht <strong>das</strong> Sternbild des Kreuz<br />
des Südens mit fünf Sternen, rechts daneben erkennt man als erstes <strong>das</strong> Sternbild<br />
des Skorpions. Die blaue Kugel, der Sternenhimmel, verläuft in einer gelben Raute,<br />
umgeben von einem grünen, länglichen Rechteck. Quer über der blauen Kugel<br />
mit den weißen Sternen verläuft ein weißes Band, <strong>das</strong> in einem Bogen von der<br />
Mitte links oben leicht nach rechts unten verläuft <strong>und</strong> die Ekliptik (Umlaufbahn)<br />
oder den Tierkreis (Zodiak) darstellen soll (alles seitenverkehrt). Es trägt ein erstaunliches<br />
Motto, <strong>das</strong> stets mit grünen Großbuchstaben geschrieben sein muss:<br />
ORDEM E PROGRESSO (CARVALHO 2006, S. 105; siehe Farbtafel).<br />
Mit dem Dekret Nr. 4 wurden am 19. November 1889 diese Fahne <strong>und</strong> ein<br />
neues Staatswappen (Brasão do Estado; siehe Farbtafel), <strong>das</strong> ebenfalls <strong>das</strong> Kreuz des<br />
Südens im Zentrum hat, von der Provisorischen Regierung, d. h. von Marschall<br />
Deodoro da Fonseca, als neue Staatssymbole institutionalisiert. Sie gelten mit kleinen<br />
Änderungen bis heute, <strong>und</strong> der 19. November wird als Dia da Bandeira jedes Jahr, vor<br />
allem in den Schulen, gefeiert. In Portugal ist der 1. Dezember der Dia da Bandeira, zur<br />
Erinnerung an die Einführung der Fahne der neuen Republik am 1. Dezember 1911.
Zu den anfänglichen 20 Sternen in der Fahne, entsprechend den 20 brasilianischen<br />
Provinzen in den letzten Jahren der Monarchie, kam für die Stadt Rio de<br />
Janeiro als Distrito Federal ein weiterer Stern hinzu. Das Staatswappen wies in dem<br />
Ring um <strong>das</strong> Kreuz des Südens (nicht seitenverkehrt!) ebenfalls 21 Sterne auf.<br />
Später mussten bei Änderung der Zahl der B<strong>und</strong>esstaaten in der Fahne <strong>und</strong> im<br />
Staatswappen die neuen Sterne hinzugefügt werden.<br />
So kamen zu den ab 1968 bereits 23 Sternen am 11. Mai 1992 während der<br />
Regierung von Präsident Fernando Collor (von Präsident José Sarney vorbereitet)<br />
bisher vier neue Sterne hinzu, die die neu gegründeten B<strong>und</strong>esstaaten Rondônia,<br />
Roraima, Amapá <strong>und</strong> Tocantins repräsentieren. Insgesamt findet man heute im blauen<br />
Kreis des brasilianischen Staatswappens <strong>und</strong> auf der Fahne in der blauen Kugel<br />
26 Sterne, die die verschiedenen B<strong>und</strong>esstaaten repräsentieren. Der Distrito Federal<br />
mit Brasilia, seit 1960 neue Hauptstadt der B<strong>und</strong>esrepublik Brasilien, wird durch den<br />
untersten Stern in diesem Bild, den südlichen Polarstern (Polaris Australis, Sigma<br />
Octantis), vertreten. Insgesamt heute also 27 Sterne (MOURÃO 1998, S. 92-93). (Zufällig<br />
hat die blaue EU-Fahne nun ebenfalls 27 Sterne).<br />
Auf jeder brasilianischen Schullandkarte findet man die einzelnen Entsprechungen,<br />
z. B. ist dem fünften <strong>und</strong> kleinsten Stern im Kreuz des Südens, dem Epsilon, der<br />
B<strong>und</strong>esstaat Espirito Santo zugeordnet. Die B<strong>und</strong>esstaaten Minas Gerais <strong>und</strong> Bahia<br />
sowie Rio de Janeiro <strong>und</strong> São Paulo wurden, entsprechend ihrer geographischen<br />
Verteilung <strong>und</strong> zentralen Bedeutung in der neuen Republik Brasilien, durch die<br />
weiteren vier Sterne des Kreuz des Südens im Zentrum der Fahne repräsentiert.<br />
Die traditionelle Nummerierung der Sterne einer Konstellation wird nach<br />
Helligkeitsgrad mit den Buchstaben des griechischen Alphabets vorgenommen.<br />
Wer eine Sternenkarte aufschlägt (z. B. Die Sterne, Hallwag-Verlag), wird sofort<br />
erkennen, <strong>das</strong>s zum Sternbild Crux fünf Sterne (im Uhrzeigersinn) gehören: Alpha,<br />
Beta, Gamma, Delta <strong>und</strong> Epsilon. Dieser letztere <strong>und</strong> schwächste wird kurioserweise<br />
auf brasilianisch „a intrometida“, der „Eindringling, Eingeschobene“ genannt.<br />
Der fünfte Stern wird in der Flagge von Australien (gültig seit 1909) wiederge-<br />
283
284<br />
geben, dagegen hat die Flagge von Neuseeland (seit 1869, gültig seit 1902) nur<br />
vier Sterne (siehe Farbtafel). Offensichtlich ein Problem der Wahrnehmung.<br />
Wer ist der „Autor“ des „Kreuz des Südens“?<br />
Dies führt zur Frage, wer dieses Sternbild, <strong>das</strong> „Kreuz des Südens“, zum ersten<br />
Mal gesehen, beschrieben <strong>und</strong> benannt hat.<br />
War es der deutsche Astronom <strong>und</strong> Jurist Johannes Bayer (1572-1625) in seinem<br />
Himmelsatlas Uranometria<br />
(Augsburg 1603), wo er innerhalb<br />
des Sternbildes des Zentaurs<br />
<strong>das</strong> ‚Kreuz‘ mit nur vier Sternen<br />
identifizierte? Bayer hat auch als<br />
erster in den Sternbildern die<br />
Nummerierung der Sterne mit<br />
dem griechischen Alphabet im<br />
Uhrzeigersinn eingeführt, beginnend<br />
mit dem hellsten Stern.<br />
Oder war es der bekannte dänische<br />
Astronom Tycho Brahe<br />
(1546-1601), der in Rostock stu-<br />
Johannes Bayer: Centaurus<br />
dierte <strong>und</strong> ab 1599 in Prag für Kaiser<br />
Rudolf II. als Astronom tätig war? Sein Assistent wurde Johannes Kepler. In<br />
Wandsbeck bei Hamburg veröffentlichte Tycho Brahe seine Himmelsmechanik,<br />
Astronomiae Instauratae Mechanica, 1598 („Die Neuere Astronomische Instrumentenlehre“,<br />
Reprint 1996, Prag).<br />
Oder war es der deutsche Astronom Jakob Bartsch? Laut Internettext von W.<br />
Tost, 01/99, herausgegeben von der Wilhelm-Foerster-Sternwarte (Berlin), habe<br />
Bartsch 1624 dem Sternbild den Namen Kreuz des Südens gegeben <strong>und</strong> es aus<br />
dem Sternbild Zentaur, dem es bis dahin zugeordnet gewesen sei, herausgelöst.<br />
Dies die deutsche Sicht der Sachlage.<br />
Mestre João<br />
Unter den Lusitanisten besteht jedoch kein Zweifel, wer <strong>das</strong> ‚Kreuz‘ zum ersten<br />
Mal beschrieben <strong>und</strong> gezeichnet hat: Der als „Mestre João“ bekannte Verfasser<br />
des Briefes an Dom Manuel II. war der Arzt („físico“), auch Physiker, <strong>und</strong> Chirurg<br />
(„cirurgião“) des portugiesischen Königs. Er hat erstmals die Sternenkonstellation<br />
beschrieben, die ein Kreuz darstellt, <strong>und</strong> geschildert, wie man die Entfernung zum<br />
Südpol messen könne. Er nannte dieses Sternenbild Crux, „<strong>das</strong> Kreuz“ <strong>und</strong> stellte<br />
einen Vergleich mit dem „carro“, dem Großen Wagen bzw. Großen Bär als Leitbild<br />
her, dem bekannten Sternbild in der Nähe des Nordpols, <strong>das</strong> man von überall auf<br />
der Nordhalbkugel sehen kann. Die Sterne des Kreuzes seien fast so groß wie die<br />
des Großen Wagens, aber die genaue Position der Sterne könne er mit den „indischen<br />
Tafeln“ („las tablas de la India“, Sonnenstandstabellen) nicht angeben, da<br />
<strong>das</strong> Schiff voll beladen <strong>und</strong> sehr klein sei <strong>und</strong> ständig schwanke. Um die Position<br />
Tartu Observatory Virtual Museum
des Schiffes <strong>und</strong> damit die gewünschte Fahrtrichtung zu bestimmen, sei es besser,<br />
mit dem Astrolabium die Höhe der Sonne im Zenit zu messen.<br />
Mit diesem Instrument hatten Mestre João, der Lotse des Flottenkapitäns Pedro<br />
Álvares Cabral <strong>und</strong> der Lotse von Sancho de Tovar die Position des ersten Landeplatzes<br />
der Portugiesen in Brasilien gemessen: Am Montag, dem 27. April 1500, um<br />
zwölf Uhr mittags stellten sie mit dem Astrolabium 56 Grad zur Höhe der Sonne<br />
fest, dies bedeute, <strong>das</strong>s sie sich auf dem 17. Breitengrad befänden (PÖGL 1986,<br />
S. 91; GARCIA 2000, S. 35-36). Heute wird der Breitengrad von Porto Seguro mit<br />
16° 26’ bzw. 16° 43’ angegeben (GARCIA 2000,<br />
S. 36, Anm. 204: „a ponta da Coroa Vermelha<br />
na baía de Cabrália, 16° 20´“).<br />
Wer dieser „Mestre João“ war, ist umstritten.<br />
Carl Oberacker gibt eine offenbar in São Paulo<br />
aufgetauchte Meinung wieder, es handele sich<br />
bei „Mestre João“, der seinen Brief tatsächlich<br />
mit „Johns“, d. h. Johannes, signierte, um den<br />
deutschen Gelehrten Johann Emenelaus oder<br />
Emmerich (OBERACKER 1968, S. 52-53).<br />
Mourão spricht von „Mestre João Faras“, ohne<br />
dies genauer zu erklären (MOURÃO 2000, S.<br />
130, 133, 144, 146, 377). Garcia berichtet von<br />
„João Farras“, der die Übersetzung des Werkes<br />
De situ Orbis von Pompónio Mela ins Spanische<br />
ausgeführt <strong>und</strong> sich dort vorgestellt habe als<br />
„Mestre Joan Faras, bachirel em artes y mediçina,<br />
fisico y sororgiano dell muj alto Rey de Purtugall<br />
Dom Manuell“. Die Unterschrift des Briefes aus<br />
Brief des Mestre João<br />
Brasilien deutete Garcia, etwas mutig, als<br />
„Joahnes artium et medicine bachalarius“. Gut lesbar ist die von Garcia wiedergegebene<br />
Einleitung der verschlüsselten Unterschrift, links im Bild: „Do criado de vossa<br />
alteza e vosso leal servidor“. (GARCIA 2000, S. 35). Offensichtlich eine Höflichkeitsformel<br />
in portugiesischer Sprache. „Mestre João“, diese historische Persönlichkeit<br />
verdiente es, weiter erforscht zu werden.<br />
Seine Angaben zur Ortsbestimmung machte Mestre João in dem vorwiegend<br />
auf Spanisch geschriebenen Brief, den er dem von Gaspar de Lemos kommandierten<br />
Proviant-Schiff mitgab, <strong>das</strong> Pedro Álvares Cabral mit der Nachricht von der<br />
‚Entdeckung‘ Brasiliens nach Lissabon zu seinem König am 2. Mai 1500 zurückschickte,<br />
während die Flotte am nächsten Tag weiter in Richtung Indien fuhr.<br />
Zusammen mit dem Brief des Pero Vaz de Caminha <strong>und</strong> eines namenlos gebliebenen<br />
Lotsen ist dies <strong>das</strong> einzige erhaltene Dokument, <strong>das</strong> diese erste offizielle Entdeckungsreise<br />
der Portugiesen nach Brasilien dokumentiert.<br />
Dieser Brief enthält einen Satz, der Historikern viel Kopfzerbrechen bereitet<br />
hat: Um zu wissen, wo <strong>und</strong> in welchem Land sich die Flotte an diesem Tag befinde,<br />
solle sich seine Königliche Hoheit nur die Weltkarte bringen lassen, die Pero Vaaz<br />
Bisagudo besitze (Pögl 1986, S. 91).<br />
In seinem 2002 veröffentlichten Sachbuch, 1421 - Als China die Welt entdeckte,<br />
285
286<br />
vertritt der pensionierte britische U-Boot-Kapitän Gavin Menzies die Meinung, es<br />
könne sich hierbei nur um die Weltkarte handeln, die die Chinesen nach ihrer<br />
Weltumseglung im Jahre 1421 erstellt hatten <strong>und</strong> von der der portugiesische<br />
König eine geheime Kopie von 1428 besessen habe, die ihm von Heinrich dem<br />
Seefahrer (1394-1460) vererbt worden sei. Dieser hatte sie vermutlich von seinem<br />
weniger bekannten, aber weit gereisten Bruder Dom Pedro erhalten, der sie 1428<br />
in Venedig erworben habe. Dorthin habe sie vermutlich der Venezianer Niccolò<br />
da Conti (ca. 1395-1469), ein bedeutender Kaufmann aus dem Orient, gebracht.<br />
Kolumbus habe „sicherlich“ eine Kopie dieser Karte besessen (MENZIES 2003,<br />
S. 104, 122, 126; zu Dom Pedro S. 128f.).<br />
Menzies behauptet ebenfalls, die Chinesen hätten „<strong>das</strong> Kreuz des Südens“ gekannt<br />
<strong>und</strong> sich bei ihrer Seefahrt auf der Südhalbkugel an diesem Sternbild orientiert<br />
(Menzies 2003, S. 108, 151f, 166f, 172). Einen Beweis für diese Behauptung<br />
bleibt Menzies schuldig.<br />
Der Flottenkapitän Pedro Álvares Cabral kannte selbstverständlich die Möglichkeit,<br />
sich nach diesem Sternbild auf der Südhalbkugel zu orientieren <strong>und</strong> mit Hilfe der<br />
Position des südlichsten Sterns den Abstand zum Südpol zu berechnen. Die Schiffslotsen<br />
richteten sich jahrh<strong>und</strong>ertelang nach den Sternen, deren ‚Mechanismus‘ sie<br />
kennen mussten. Auch heute noch sind diese Kenntnisse für den Notfall hilfreich.<br />
Cabrals Eile<br />
Historische Tatsache ist, <strong>das</strong>s nach der Rückkehr der Überlebenden der ersten<br />
Flotte von Vasco da Gama aus Indien nach Lissabon am 9. September 1499 der<br />
portugiesische König große Eile hatte, eine neue Flotte zusammenzustellen. Am 15.<br />
Februar 1500 wurde Pedro Álvares Cabral von König Manuel II. zum Flottenkapitän<br />
ernannt (cf. MOURÃO 2000, S. 248). Überraschend ist auch heute noch die Tatsache,<br />
<strong>das</strong>s – soweit bekannt – der Adlige Cabral nie zuvor zur See gefahren war!<br />
Er musste sich also ganz auf die Fachleute des Schiffbaus <strong>und</strong> der Navigation,<br />
wie zum Beispiel den erfahrenen bürgerlichen Kapitän Bartolomeu Dias verlassen,<br />
der die gesamte Küste um Afrika herum <strong>und</strong> sicher noch weitere Gebiete <strong>und</strong><br />
Meeresströmungen experimentell erforscht hatte. Weiterhin gehörte Nicolau<br />
Coelho zu den Kapitänen der neuen Flotte, er war mit Vasco da Gama nach vielen<br />
Kämpfen <strong>und</strong> Entbehrungen nach Portugal zurückgekehrt.<br />
Nur ein halbes Jahr nach der Rückkehr Vasco da Gamas verließ am Montag,<br />
dem 9. März 1500, die bis dahin größte Flotte der Welt die Anlegestelle in Restelo,<br />
im heutigen Lissabonner Vorort Belém („Torre de Belém“): 13 Schiffe mit 1200<br />
Mann Besatzung, wie der Geschäftsmann <strong>und</strong> Gelehrte João de Barros 1552 berichtet<br />
(Ausg. BAIÃO 1932, S. 171).<br />
Am 22. April 1500 sahen sie Land <strong>und</strong> einen Berg, einen Meilenstein an der<br />
Küste, den man von weitem erkennen konnte, vielleicht sogar die erste sichtbare<br />
Erhöhung, wenn man von Norden kam. Segler richten sich nach solchen geographischen<br />
Markierungen: Dieser Berg erstaunte weder Pero Vaz de Caminha noch<br />
Mestre João – er war offensichtlich in Portugal bekannt! Und Cabral hatte sofort<br />
einen – bis heute gültigen – Namen für ihn: Monte Pascoal, Osterberg.<br />
Ebenso hatte er sofort einen Namen für <strong>das</strong> neue Land, von dem sie noch
nicht wussten, ob es Festland oder eine große Insel war: Ilha da Vera Cruz, Insel des<br />
Wahren Kreuzes (Caminha, Carta, Ausg. ARROYO 1976, S. 45, 64). Von Dom Manuel<br />
wurde es dann in einem Brief an die spanischen Könige am 29. Juli 1501 offiziell<br />
„Terra de Santa Cruz“, Land des Heiligen Kreuzes, genannt (Ausg. GARCIA 2000, S.<br />
41-42): Die Expedition war vom Ordem de Cristo, der portugiesischen Nachfolgeorganisation<br />
des 1312 von Papst Clemens V. verbotenen Templerordens, gesponsert<br />
worden! João de Barros berichtet, <strong>das</strong>s bei der Messe zur Verabschiedung der Flotte<br />
in Belém am Sonntag, dem 8. März 1500, „uma bandeira da cruz da ordem da<br />
cavalaria de Christo“ vom Bischof Diogo Ortiz gesegnet <strong>und</strong> anschließend dem<br />
capitão-mor Pedro Álvares Cabral übergeben worden sei (BAIÃO 1932, S. 171).<br />
Diese Fahne, „a nossa bandeira“, mit dem roten Kreuz auf weißem Gr<strong>und</strong> (s. Farbtafel),<br />
nicht die Fahne des portugiesischen Königs, wurde am ersten Sonntag in Brasilien,<br />
am 26. April 1500, während der kleinen ersten Messe neben dem improvisierten<br />
Altar aufgestellt: „Ali estava com o Capitão a bandeira de Christo, com que saíra de<br />
Belém“, <strong>und</strong> am Freitag, dem 1. Mai 1500, bei der ersten großen Messe mit indianischem<br />
Publikum wurde sie vermutlich neben einem großen Holzkreuz in den brasilianischen<br />
Boden eingepflanzt (ARROYO 1976, S. 51, 61). Aber, wie bekannt, konnte<br />
sich der christliche, offizielle Name von Beginn an nicht gegen „Brasil“, <strong>das</strong> „rote<br />
Holz“, durchsetzen, worin Barros <strong>das</strong> „Werk des Teufels“ sah (BAIÃO 1932, S. 175).<br />
Am 2. Mai 1500 (es galt noch der „julianische“ Kalender, 1582 wurde der heute<br />
gültige „gregorianische“ Kalender in Portugal eingeführt) fuhr die Flotte bereits<br />
weiter, der erst nord-südlichen, dann west-östlichen Meeresströmung folgend,<br />
zielsicher in Richtung „Kap der Guten Hoffnung“ <strong>und</strong> Indien, dem eigentlichen<br />
Reiseziel der Flotte.<br />
Cabral wußte allem Anschein nach, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Sternbild des „Kreuzes“ nur in der<br />
ersten Jahreshälfte – von Januar bis Juni – auf der Südhalbkugel nachts sichtbar<br />
ist. Der südlichste <strong>und</strong> hellste Stern dieser Konstellation, Alphacrux, in Brasilien<br />
auch „estrela de Magalhães“ genannt (MOURÃO 1998, S. 94) zeigt meist in Richtung<br />
Südpol. Daher Cabrals Eile, aus Brasilien fortzukommen.<br />
Jedoch in der Nähe des Kaps der Guten Hoffnung wurde die Flotte am 24. Mai<br />
1500 (GARCIA 2000, S. 11, Anm. 16) von einer Monsterwelle überrollt, fünf Schiffe<br />
versanken plötzlich <strong>und</strong> spurlos, darunter <strong>das</strong> Schiff mit dem Entdecker der afrikanischen<br />
Küste für Portugal, Bartolomeu Dias!<br />
Ob Mestre João ebenfalls zu den Verunglückten zählte, ist nicht bekannt, aber<br />
wahrscheinlich, da man später nichts mehr von ihm hörte. Auch der Schreiber<br />
des heute berühmten Briefes, Pero Vaz de Caminha, kehrte nicht nach Lissabon<br />
zurück, er wurde in Indien, wo er Stadtkämmerer der Portugiesen in Calicut war,<br />
bei einem Aufstand der Einheimischen am 16. Dezember 1500 ermordet (ibd., S.<br />
17). Cabral kehrte mit nur vier Schiffen, wie Kolumbus, über die Azoren, mit Hilfe<br />
der „volta do largo“ (ALBUQUERQUE 1983, S. 31), dem Umweg oder Rückweg<br />
über <strong>das</strong> Weite Meer, dem Golfstrom folgend, nach Lissabon zurück.<br />
Auf seiner ersten Fahrt, die am 8. Juli 1497 ebenfalls in Restelo an der Mündung<br />
des Tejo-Flusses bei Lissabon begann (GIERTZ 1990, S. 35) folgte auch Vasco da<br />
Gama auf dem Weg nach Indien den Meeresströmungen im Südatlantik, so<strong>das</strong>s er<br />
höchstwahrscheinlich an der brasilianischen Küste entlangfuhr, <strong>und</strong> zusammen mit<br />
der Rückkehr eine Art ‚Achterbahnschleife‘ vollzog, entsprechend den Meeresströ-<br />
287
288<br />
mungen <strong>und</strong> Winden im Nord- <strong>und</strong> Südatlantik (s. Karte der Meeresströmungen bei<br />
MENZIES 2003, S. 115). Gama hatte tatsächlich Cabral empfohlen, nach den<br />
Capverdischen Inseln „a volta do mar“ in Richtung Süden zu nehmen, also den „weiten<br />
Bogen im Meer“ – d. h. an der brasilianischen Küste entlang (GARCIA 2000, S. 11).<br />
Mestre João <strong>und</strong> die fünf Sterne<br />
Alle Dokumente, die die Schifffahrt betrafen, wurden von der portugiesischen<br />
Krone zur Geheimsache erklärt: Die Konkurrenz, vor allem die spanische, sollte<br />
nicht davon profitieren. Der Brief des Pero Vaz de Caminha wurde erst 1817 entdeckt<br />
<strong>und</strong> von dem Pater Aires de Casal in seiner Corografia Brasilica in Rio de<br />
Janeiro – mit Kürzungen – veröffentlicht. In der ersten Auflage von Robert Southeys<br />
History of Brazil (London 1810), hatte noch der Spanier Vincente Pinzon als „Entdecker<br />
Brasiliens“ gegolten (SOUTHEY 1976, S. 23). Nach der Rekonstruktion dieser<br />
Reise 1975 durch den brasilianischen Admiral <strong>und</strong> Historiker Max Justo Guedes<br />
soll der Spanier Vincente Pinzón im Januar 1500 den heutigen Hafen der Stadt<br />
Fortaleza, Mucuripe, erreicht haben (MOURÃO 2000, S. 418). Dies hatte jedoch<br />
keine politische Bedeutung, denn dieses Land war – sicher nicht zufällig – bereits<br />
seit dem Vertrag von Tordesillas 1494 von Papst Alexander VI. der portugiesischen<br />
Krone zugeteilt worden, da dies der portugiesische König João II. durch eine Revidierung<br />
des Vertrags von 1493 gefordert hatte!<br />
Der Brief des Mestre João wurde von Francisco Adolfo<br />
Varnhagen entdeckt <strong>und</strong> erstmals 1843 in der kurz zuvor<br />
gegründeten Revista do Instituto Histórico e Geográfico<br />
Brasileiro veröffentlicht (VARNHAGEN 1943). Das Original<br />
befindet sich, wie auch Caminhas Brief, im portugiesischen<br />
Nationalarchiv, Torre do Tombo, in Lissabon.<br />
Dieser wertvolle <strong>und</strong> zugleich geheimnisvolle Brief<br />
des Meister Johannes bringt eine Zeichnung des Sternbildes<br />
des „Kreuzes“ (PÖGL 1986, S. 95; GUEDES /<br />
LOMBARDI 1990, S. 164) <strong>und</strong> seine Beziehung zum<br />
Südpol. Ohne Zweifel: Das Kreuz des Mestre João besteht<br />
aus fünf Sternen! Der fünfte Stern ist allerdings<br />
etwas zu weit nach links (oder rechts) platziert, so<strong>das</strong>s<br />
<strong>das</strong> Bild eines ‚echten‘ Kreuzes entsteht.<br />
Etwa zur gleichen Zeit soll Amerigo Vespucci nur<br />
vier Sterne in diesem Kreuz gesehen haben, wie<br />
Eduardo Prado (1860-1901, Sohn eines wohlhabenden<br />
brasilianischen „Kaffeebarons“, Sammler, Reisen-<br />
Zeichnung des Mestre João<br />
(Ausschnitt aus Abb. S. 285)<br />
der, Journalist, Autor <strong>und</strong> Mitbegründer der Brasilianischen Literaturakademie)<br />
in seiner posthum veröffentlichten Streitschrift A Bandeira Nacional (1903) berichtet:<br />
Auf einer Graphik von Philippe Gallé (1557-1612) aus seinem Besitz könne man<br />
Amerigo Vespucci sehen, wie er – mit einem Astrolabium in der Hand – <strong>das</strong> Kreuz<br />
des Südens betrachte, mit folgender Unterschrift:<br />
Americus Vespuccius cum quattuor stellis, crucem silente nocte reperit. 1<br />
(PRADO 1903, S. 24-25).
Vermutlich wurden Vespucci <strong>und</strong> seine Berichterstatter von Ptolomäus<br />
beeinflusst, der ca. 150 Jahre nach Christi Geburt in seinem erst im Mittelalter<br />
wieder entdeckten Lehrbuch Almagest auch nur vier Sterne eines Kreuzes innerhalb<br />
des Sternbildes Zentaur beschrieben haben soll.<br />
Dass Ptolomäus, ein Grieche, 1400 Jahre vor Mestre João in Alexandria ein<br />
Sternbild mit dem griechischen Namen Zentaur sehen <strong>und</strong> benennen konnte,<br />
lag an der für Laien erstaunlichen Tatsache, <strong>das</strong>s die Konstellation Zentaur <strong>und</strong><br />
der Skorpion zu dieser Zeit noch über dem Äquator sichtbar waren. Sie haben<br />
sich im Laufe der Jahrh<strong>und</strong>erte aufgr<strong>und</strong> der Verschiebung der Erdachse, der<br />
Präzession, scheinbar nach Süden verschoben, wie Mourão im ausführlichen<br />
Anhang zu seiner umfangreichen Studie A astronomia na época dos descobrimentos<br />
im „Dicionário dos Descobrimentos“, beim Stichwort Cruzeiro do Sul bestens<br />
erklärt (MOURÃO 2000, S. 336-337).<br />
Warum aber bezog Mestre João im Gegensatz zu der bis dahin unbestrittenen<br />
Autorität des Claudius Ptolomäus den fünften Stern mit in <strong>das</strong> Bild des Kreuzes ein?<br />
Offensichtlich ein Problem der Wahrnehmung: Man sieht, was man sehen will<br />
oder gewohnt ist, zu sehen.<br />
As Quinas, die fünf Schilde<br />
Mestre João war vermutlich Spanier, ohne Zweifel aber im Dienste des portugiesischen<br />
Königs Manuel II., dem nach dem Vertrag von Tordesillas die eine Hälfte der<br />
Weltkugel ‚gehörte‘ (mit dem echten Indien <strong>und</strong> den später so genannten Philippinen,<br />
wo bereits der Islam Fuß gefasst hatte). Die Schiffe der zweiten Indien-Flotte<br />
waren alle mit der Fahne des Ordem de Cristo geschmückt: schlankes rotes Kreuz auf<br />
weißem Gr<strong>und</strong>. Wie oben erwähnt, wurde eine solche Fahne am 26. April in der<br />
„Neuen Welt“ aufgestellt, für die kleine Messe am Sonntag nach Ostern, dem „Weißen<br />
Sonntag“ („Domingo de Pascoela“), <strong>und</strong> danach für die erste große katholische Messe<br />
am 1. Mai 1500 zusammen mit dem großen Holzkreuz, zum Abschied vor der Weiterreise<br />
am nächsten Tag <strong>und</strong> als Zeichen der offiziellen Besitznahme dieses Landes für<br />
Portugal. Damit ersetzte dieses Holzkreuz den bis dahin entlang der afrikanischen<br />
Küste üblichen, kreuzförmigen „Padrão“, den portugiesischen Markierungsstein. Es ist<br />
zu vermuten, <strong>das</strong>s die christliche Fahne die Flotte weiter bis nach Indien begleitete<br />
(ARROYO 1976, S. 50-51, 61; cf. <strong>das</strong> Gemälde A Primeira Missa, von Victor Meirelles,<br />
1861, wo jedoch ein Pater eine Fahne mit <strong>und</strong>eutlichem Emblem hält; hierzu<br />
SCHWAMBORN 2000 <strong>und</strong> Victor Meirelles, Wikepedia, Stand: 23.06.2007).<br />
Aber hinter dieser Fahne des Christusordens stand seit h<strong>und</strong>erten von Jahren,<br />
seit ca. 1200, die Fahne der portugiesischen Könige: Die Fahne mit den Quinas,<br />
den von Anfang an blauen fünf Schilden in Kreuzform, umgeben von allmählich<br />
auf sieben reduzierten gelben Türmen, auf zunächst weißem, zuletzt dann auf<br />
grünrotem Hintergr<strong>und</strong> (s. Farbtafel). Eine volkstümliche Erklärung für dieses „uralte“<br />
Emblem: Die sieben Türme symbolisierten die Burgen, die D. Afonso III von<br />
den Mauren 1249 zurückerobert habe, die fünf Schilde sollen für die fünf W<strong>und</strong>en<br />
Christi stehen (cf. MEDINA 2006, S. 86f) (s. Farbtafel). Dieses im Gr<strong>und</strong>e<br />
1. Etwa: „Amerigo Vespucci, wie er in stiller Nacht <strong>das</strong> Kreuz mit vier Sternen betrachtet.“<br />
289
290<br />
achth<strong>und</strong>ertjährige Wappen auf der portugiesischen Fahne gilt, mit dem neuen<br />
grün-roten Hintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> der goldenen Armillarsphäre (s. Farbstafel) heute noch,<br />
seit 1910 unverändert! Keine andere europäische Fahne hat eine solch lange Geschichte<br />
wie die portugiesische <strong>und</strong> somit auch als deren bedeutendster ‚Ableger‘<br />
die heute in der ganzen Fernsehwelt bekannte brasilianische Fahne.<br />
Als Mestre João die Quinas in der Kreuzform am Süd-Himmel entdeckte, musste<br />
er an die Bestimmung Portugals als „Herrscherin der Südmeere“ <strong>und</strong> an die Verbreitung<br />
des christlichen Glaubens im Kampf gegen die ebenfalls aufkommende<br />
Weltherrschaft des Islam geglaubt haben. Das Kreuz am Himmel spiegelte sich auf<br />
der Erde in den Köpfen der „Entdecker“ <strong>und</strong> Eroberer wider. Was bisher kaum<br />
beachtet wurde: Das Kreuz des Südens mit dem fünften Stern war zur Zeit<br />
des Mestre João <strong>das</strong> christliche <strong>und</strong> speziell portugiesische Sternbild.<br />
Bezeichnenderweise wählte keine Regierung eines Spanisch sprechenden Landes<br />
Lateinamerikas <strong>das</strong> Kreuz des Südens als Symbol für die jeweilige Fahne, obwohl<br />
man auch in Argentinien, Peru, Chile, usw. <strong>das</strong> Kreuz des Südens in der ersten<br />
Jahreshälfte am Abendhimmel mit bloßem Auge erblicken kann. Und ebenso wenig<br />
hatten allem Anschein nach die Holländer mit Johann Moritz von Nassau ein<br />
‚Kreuz‘ am Südhimmel erkannt, jedenfalls berichtet Gaspar Barleus 1647 nichts<br />
darüber, er beschreibt jedoch basierend auf den Beobachtungen<br />
<strong>und</strong> Berechnungen von Nassaus „Astronom“,<br />
Georg Markgraf, die erste Sonnenfinsternis in<br />
diesen Breiten, am 13. November 1640 (BARLÉU 1974,<br />
S. 205). Sie fanden sich jedoch, wie es scheint, auch<br />
ohne ‚Kreuz‘ auf den Südmeeren zurecht.<br />
Das Logo des Mercosul oder Mercosur hat übrigens<br />
nur vier in Kreuzform angeordnete Sterne!<br />
Die portugiesische <strong>und</strong> die brasilianische Fahne – 1808-1889/1910<br />
Ein Vergleich der Geschichte der portugiesischen <strong>und</strong> der brasilianischen Fahne<br />
zeigt, wie eng beide miteinander verb<strong>und</strong>en sind.<br />
Als der Kronprinz João als ‚Flüchtling‘ vor Napoleons Heerscharen mit dem<br />
gesamten Hofstaat Portugals 1808 in Rio de Janeiro ankam, begann er <strong>das</strong> dortige<br />
Staatswesen neu zu ordnen, u. a. gründete er die noch heute bedeutendste brasilianische<br />
Bank, die auch in jeder Kleinstadt vertretene Banco do Brasil. Er brachte<br />
auch die bis dahin gültige portugiesische Flagge mit.<br />
Nachdem seine Mutter, Maria I., 1815 gestorben war, wurde er als João VI. per<br />
Akklamation zum König von Portugal erkoren, danach ernannte er sich selbst zum<br />
König von Portugal, Algarve <strong>und</strong> Brasilien, wodurch Brasilien als einziges Land in<br />
Südamerika plötzlich von einer Kolonie in den Stand eines „Königreichs“ erhoben<br />
wurde. Dadurch wurden zugleich auch alle Bestrebungen im Lande, nach nordamerikanischem<br />
Vorbild eine Republik zu gründen, unterdrückt, der Fähnrich „Tiradentes“<br />
war bereits 1791 den Märtyrertod für ein unabhängiges Brasilien gestorben.<br />
Für den neuen Verb<strong>und</strong> an Königreichen schuf João VI. per Dekret am 13. Mai<br />
1816 eine neue Fahne, die die Symbole beider Länder vereinte: Über die bis dahin<br />
gültige schlichte Fahne der Kolonie Brasilien – blauer Hintergr<strong>und</strong> mit goldener
Armillarsphäre, inspiriert von dem persönlichen Wappen Dom Manuel II. mit der<br />
damals neuen Armillarsphäre – wurde <strong>das</strong> Wappen der portugiesischen Könige<br />
gelegt: die fünf Schilde, umgeben von sieben Türmen in einem roten Quadrat,<br />
darüber die Königskrone (cf. Mourão 1998, S. 105; s. Farbtafel). Diese Fahne galt in<br />
Brasilien <strong>und</strong> in Portugal, in Portugal bis 1830, in Brasilien nur bis 1822, bis zur<br />
Unabhängigkeitserklärung des Königreichs Brasilien von Portugal.<br />
Am 18. September 1822 wurde von Pedro I. in Brasilien die erste eigene, brasilianische<br />
Fahne geschaffen, die sich jedoch eng an die vorherige anlehnte: auf einer<br />
goldenen Armillarsphäre in blauer Kugel nicht mehr die fünf Schilde in Kreuzform,<br />
sondern ein Kreuz des Ordem de Cristo, umgeben von einem blauen Sternenkranz mit<br />
19 weißen Sternen (s. Farbtafel). Diese Symbole werden eingerahmt von einem Kaffeepflanzenzweig<br />
auf der linken <strong>und</strong> einem Tabakzweig auf der rechten Seite. Über dem<br />
Wappen schwebt eine Krone. Die auffälligste Änderung sind die Farben <strong>und</strong> Formen<br />
des Hintergr<strong>und</strong>es: grün <strong>und</strong> gelb, die Farben der Familien Braganza <strong>und</strong> Habsburg,<br />
eine gelbe Raute in einem grünen Rechteck (Mourão 1989, S. 105). Diese Fahne<br />
wurde von dem Ratsherren <strong>und</strong> Minister (Conselheiro) José Bonifácio de Andrada<br />
<strong>und</strong> dem bekannten französischen Maler Jean-Baptiste Debret entworfen.<br />
Ab Januar 1823 trug <strong>das</strong> nun brasilianische Wappen eine veränderte Krone,<br />
mit kuppelartig angeordneter ‚Haube‘. Das separate Staatswappen <strong>und</strong> <strong>das</strong> Wappen<br />
auf der grün-gelben Fahne waren identisch, nach der Änderung der Anzahl<br />
der Sterne von 19 auf 20 im Jahr 1870 galten sie bis zum 15. November 1889.<br />
Zur Zeit des brasilianischen (1822-1889) <strong>und</strong> des portugiesischen „Imperiums“<br />
(1830-1910) galten die beiden jeweiligen Fahnen, die deutlich einen engen Zusammenhang<br />
zeigten (s. Farbtafel).<br />
Revolution mit fünf Sternen<br />
Als sich die Brasilianer 1889 von den Portugiesen <strong>und</strong> der Monarchie endgültig<br />
loslösten <strong>und</strong> genau h<strong>und</strong>ert Jahre nach der Französischen Revolution ebenfalls<br />
endlich eine Republik gründen wollten, brauchten sie auch neue Symbole <strong>und</strong> eine<br />
neue Fahne. Da die französische Revolution von 1789 <strong>das</strong> große Vorbild der ‚Umstürzler‘<br />
war, sangen einige Anhänger des französischen Vorbildes sogar die Marseillaise<br />
<strong>und</strong> wollten die Tricolore (Blau-weiß-rot-gestreifte Fahne) übernehmen.<br />
Dagegen setzte sich die positivistische Gruppe um Benjamin Constant Botelho<br />
de Magalhães, Miguel Lemos <strong>und</strong> Teixeira Mendes mit ihren Ideen durch: Die<br />
neuen Republikaner kehrten wieder zu dem uralten portugiesischen Symbol zurück,<br />
dem Kreuz, nun mit fünf Sternen, innerhalb eines Kreises, der Weltkugel,<br />
ohne Armillarsphäre. Insgesamt ein Abbild des Sternenhimmels vom Äquator bis<br />
zum Südpol, was allerdings wenig realistisch geraten war.<br />
Beachtlich ist, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> ebenfalls 1889 geschaffene Staatswappen („Brasão de<br />
armas do Brasil“), <strong>das</strong> z. B. Präsident Lula beim Besuch des amerikanischen Präsidenten<br />
George W. Bush im März 2007 deutlich sichtbar auf seiner hellgrauen Sportjacke<br />
trug – eine Art Sheriffstern, in dem <strong>das</strong> Kreuz des Südens reliefartig abgebildet<br />
ist – heute mit derselben seitenverkehrten Anordnung der Sterne wie auf der Fahne<br />
eingesetzt wird. Bis vor kurzem jedoch zeigte dieses Staatswappen, <strong>das</strong> in allen öffentlichen<br />
Regierungsgebäuden angebracht werden muss, die seit 1889 übliche rea-<br />
291
292<br />
listische Anordnung der Sterne des Kreuz des Südens, so wie man <strong>das</strong> Sternbild von<br />
Brasilia oder Rio de Janeiro aus von Januar bis Juni tatsächlich am wolkenfreien<br />
Himmel erkennen kann. Mit fünf Sternen, der fünfte, schwach helle Stern, „Epsilon“,<br />
rechts unten zwischen den hell leuchtenden Gamma- <strong>und</strong> Alpha-Sternen.<br />
Anscheinend ist jemandem in Brasilia der Widerspruch zwischen dem Kreuz<br />
des Südens auf der Fahne <strong>und</strong> dem des Staatswappens aufgefallen, die angeglichen<br />
wurden – nun beide auf gleiche Weise ‚seitenverkehrt‘, sofort erkennbar an<br />
der ‚falschen‘ Position des fünften Sterns, links statt rechts (siehe Farbtafel).<br />
Sogar <strong>das</strong> Logo der Panamerikanischen Spiele, die vom 13.-29. Juli 2007 in Rio de<br />
Janeiro stattfanden, zeigt fünf stilisierte Vögel, die eine Raute darstellen,<br />
ein verrutschtes Kreuz mit fünf Vögeln (eigentlich gedacht<br />
als Anspielung auf die fünf olympischen Ringe, es handelt sich um<br />
die gesamtamerikanische Variante der Olympischen Spiele, die jeweils<br />
ein Jahr vor den globalen Olympischen Spielen stattfinden).<br />
Nicht unerwähnt bleiben soll, <strong>das</strong>s auch <strong>das</strong> Logo der<br />
Deutsch-Brasilianischen Gesellschaft, mit Sitz in Bonn <strong>und</strong> Berlin<br />
(Motto: „Zwei Länder, eine Gesellschaft“), <strong>das</strong> seit der Schaffung<br />
der Schriftenreihe „Deutsch-Brasilianische Hefte“ 1960 <strong>das</strong><br />
Kreuz des Südens mit fünf Sternen in der ‚realistischen‘ Anordnung<br />
hatte, nun seit 2000 einen kreisr<strong>und</strong>en schwarzen B<strong>und</strong>esadler zeigt, auf<br />
dessen rechter Seite sich <strong>das</strong> Kreuz des Südens ausbreitet, mit fünf goldenen Sternen.<br />
Dieses Logo wurde glücklicherweise von einem Kenner des südlichen Himmels<br />
<strong>und</strong> der Heraldik entworfen.<br />
Ordnung <strong>und</strong> Fortschritt<br />
Viele Fahnen der Länder <strong>und</strong> Vereine der Welt tragen ein Kreuz in vielen<br />
Varianten: keltisches Kreuz, koptisches Kreuz, Sankt-Georgs-Kreuz, Andreaskreuz,<br />
Johanniterkreuz, etc. Aber keine Fahne ist so ansprechend <strong>und</strong> originell, sogar<br />
heiter <strong>und</strong> optimistisch wie die brasilianische.<br />
Denn zu den vielen Sternen in der blauen Kugel gehört noch ein weißes Band, ein<br />
Überbleibsel der Armillarsphäre von König Manuels Wappen, der Weltkugel mit den<br />
vielen Ringen, die die Bahnen der Satelliten der Erde darstellten, wie sie die Astronomen<br />
im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert anfertigten, als unbestreitbar war, <strong>das</strong>s die Erde keine Scheibe<br />
war, aber immer noch im „Zentrum“ des Weltbildes stand. Auf dem weißen Band<br />
liest man ORDEM g PROGRESSO (mit griechischem g= epsilon), ein Teil des Mottos<br />
der ‚Positivistischen Religion‘, wie es über den Säulen des Tempels im Portal der Positivistischen<br />
Kirche in Rio de Janeiro (Rua Benjamin Constant 74), des weltweit ersten<br />
Tempels dieser Art, geschrieben steht:<br />
O amor por principio, e a ordem por base, o progresso por fim 2 .<br />
Auguste Comte (1798-1857) stammte aus Montpellier, lebte <strong>und</strong> schrieb aber<br />
jahrzehntelang in seinem Haus in Paris, heute Maison de Auguste Comte, <strong>das</strong> 1930<br />
2. „Die Liebe als Prinzip, <strong>und</strong> die Ordnung als Basis, der Fortschritt als Ziel.“ Originalfassung:<br />
„L´amour pour principe et l’ordre pour base: le progrès pour but.“
von dem Brasilianer <strong>und</strong> Anhänger Comtes, Paulo E. de Berredo Carneiro (1901-<br />
1982), vor dem Abriss gerettet wurde (cf. Carneiros Werk Vers un nouvel humanisme).<br />
Auguste Comte, dem eine feste Stelle im französischen Bildungssystem verwehrt<br />
geblieben war, beeinflusste jedoch mit seinen Ideen einige junge Brasilianer der<br />
nächsten Generation (auch Argentinier, Nordamerikaner, Engländer <strong>und</strong> Deutsche)<br />
derart, <strong>das</strong>s sie sich mit ihren Wünschen nach einer neuen Gesellschaft auf<br />
ihn beriefen (cf. LEPENIES 2006).<br />
Benjamin Constant Botelho de Magalhães, Miguel Lemos <strong>und</strong> vor allem Teixeira<br />
Mendes wollten neue Institutionen, die Trennung von Kirche <strong>und</strong> Staat, zivile<br />
Ehe, staatliche, religionsunabhängige Friedhöfe, die Einbeziehung der unterprivilegierten<br />
Klasse, einen ideologiefreien Sozialstaat für die neue Nation der Brasilianer,<br />
alles geordnet in einer „republikanischen Diktatur“ (so wie sie tatsächlich<br />
nach französischem Beispiel in Brasilien eingeführt wurde; heute noch sei der<br />
französische Präsident ein „Wahlmonarch mit absoluter Entscheidung“, schrieb Michael<br />
Stürmer, Die Welt, 5.5.2007).<br />
Für Auguste Comte waren die Fachgebiete, die er auf der Polytechnischen<br />
Schule in Paris studiert hatte, die Astronomie, gefolgt von der Biologie, danach<br />
Chemie <strong>und</strong> Physik, die Basis der Wissenschaft von der Erforschung der unabänderlichen<br />
Naturgesetze, zu denen an erster Stelle die Evolution gehörte. Was ihn<br />
nicht hinderte, gegen Ende seines Lebens – ausgelöst durch seine unerfüllte Liebe<br />
zu Clothilde de Vaux (cf. LEPENIES 2006, S. 27-35) – eine neue Religion, die „Positivistische<br />
Religion der Menschheit“ mit Priestern, einem neuen Kalender, einem<br />
Katechismus <strong>und</strong> dem Dienst an der „Menschheit“ zu gründen. Er gilt auch als<br />
Schöpfer des Wortes Soziologie <strong>und</strong> Altruismus. Die altruistische, selbstlose Haltung<br />
schloss einen Verzicht der Positivisten auf eine Stelle als Staatsdiener ein, was<br />
nicht funktionieren konnte, sobald sich ihre Ideologie durchgesetzt hatte. Benjamin<br />
Constant nahm <strong>das</strong> Amt des Kriegsministers an, wurde jedoch wenig später<br />
als Postminister kalt gestellt (CARVALHO 1990, S. 40, 114).<br />
Bereits 1881 war von den Anhängern dieser neuen Religion der erste positivistische<br />
Tempel, ähnlich einem griechischen Tempel, in Rio de Janeiro erbaut worden<br />
– mit einer Ausrichtung des Hauptschiffes nach Paris, dem Zentrum der<br />
zivilisierten neuen Welt („o centro do Ocidente“), wie die Positivisten (meist Nachkommen<br />
von Portugiesen aus der neuen brasilianischen ‚Mittelschicht‘!) predigten<br />
(Mourão 1998, S. 108; cf. Tyr 2006 3 ).<br />
Mit diesen Ideen von einer neuen Gesellschaft <strong>und</strong> einer neuen, von der Bibel,<br />
dem Koran oder ähnlichen Ursprüngen unabhängigen „Religion der Menschheit“<br />
(„Religion de l´Humanité“) hat Auguste Comte geholfen, den Umsturz, eine<br />
Revolution in Brasilien, vorzubereiten. In der Verfassung der ersten brasilianischen<br />
Republik, der so genannten „Alten Republik“, wurden tatsächlich zum größten Teil<br />
positivistische Forderungen, vor allem die nach der Trennung von Kirche <strong>und</strong><br />
Staat, durchgesetzt (SANTOS et al. 2002, S. 227).<br />
Diese Revolution, die Abschaffung der Monarchie in Brasilien, verlief unblutig,<br />
3. Der Film von Alain Tyr: Le drapeau brésilien et Auguste Comte zeigt den Autor auf den Spuren<br />
von Auguste Comte in Brasilien. Exzellenter Dokumentarfilm zum 150. Todestag von Auguste<br />
Comte (5.7.2007).<br />
293
294<br />
auch, weil sie zunächst nur in der intellektuellen <strong>und</strong> militärischen Elite stattfand. Das<br />
Volk, <strong>das</strong> heißt die wenig gebildete oder schlecht informierte Bevölkerung, nahm<br />
staunend davon Kenntnis. Erst später gab es Tote, bei einer Art Konter-Revolution,<br />
der „Revolta da Armada“, dem Aufstand einiger Marinesoldaten, 1893-1895, als sogar<br />
die Stadt Rio de Janeiro mit großen Kanonen bombardiert wurde (ibd., S. 238-240).<br />
Obwohl die neue Fahne dem neuen brasilianischen Staat <strong>und</strong> seinen Bürgern<br />
per Dekret ‚aufs Auge gedrückt‘ wurde, sollte sie doch keinen Bruch darstellen,<br />
sondern den Anschluss an die Tradition bringen <strong>und</strong> gleichzeitig in die Zukunft<br />
weisen, sogar mit der Zeit patriotische Gefühle erzeugen, wie Teixeira Mendes in<br />
seiner „Philosophischen Bewertung“ („Apreciação Filosófica“) der Fahne am<br />
24.11.1889 im Diário Oficial (cf. Anhang II, Mourão 1998, S. 104-108) schreibt, um<br />
die anscheinend lauten Proteste gegen diese neue Kreation der Positivisten abzuwiegeln.<br />
Die Zukunft sollte ihm Recht geben.<br />
In der Positivistischen Kirche in Rio de Janeiro ist der Prototyp dieser Fahne ausgestellt,<br />
auf Papier <strong>und</strong> in den Farben, Formen <strong>und</strong> der Größe, wie sie von dem Maler<br />
Decio Vilares ausgeführt wurde. Mit dem „seitenverkehrten“ Sternensystem. Angeblich<br />
der Originalentwurf, eine heute wenig bekannte Reliquie.<br />
Wann diese Fahne gezeichnet wurde, ist aus den Quellen nicht eindeutig ersichtlich.<br />
Zum ersten Mal wird sie auf einer Karikatur vom 16.11.1889 gezeigt, mit<br />
weißem Band, aber noch ohne <strong>das</strong> Motto ORDEM g PROGRESSO (CARVALHO<br />
1990, S. 117). Vermutlich war diese Fahne aber schon einige Monate oder Wochen<br />
vorher geplant oder skizziert worden.<br />
Das offenbar in letzter Minute aufgedruckte Motto ORDEM g PROGRESSO auf<br />
der ‚Banderole‘ ist Auguste Comtes Schriften entnommen, Die positivistische Versöhnung<br />
von Ordnung <strong>und</strong> Fortschritt (COMTE 1994, S. 60-67). Es gibt die<br />
Fortschrittsgläubigkeit der Intellektuellen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
formelhaft wieder: Man meinte, die Überwindung früherer Stadien der<br />
Menschheit, nach Comte des so genannten „theologischen“, dann „metaphysischen“,<br />
sei nun <strong>das</strong> „positive“, <strong>das</strong> heißt fortschrittlich-wissenschaftliche Stadium<br />
(„l´état positif “) erreicht oder in Kürze erreichbar (COMTE 1974, S. 8-14). Es sollte<br />
auch <strong>das</strong> Motto für die künftige Entwicklung des neuen Staates sein, was viele<br />
Gegner des Neuen, auch die katholische Kirche, als Affront empfanden.<br />
Der Sternen-Himmel über Rio de Janeiro<br />
Heutzutage ist die Meinung weit verbreitet – auch in dem neuen Fahnen-<br />
Büchlein von Merian wird sie wiederholt –, <strong>das</strong>s es sich bei der Sternenkonstellation<br />
auf der brasilianischen Fahne um eine Darstellung des Sternenhimmels über Rio<br />
de Janeiro am 15. November 1889 handele.<br />
Prado bringt in seiner Streitschrift A Bandeira Nacional (1903), erstmals einen<br />
Nachdruck des Textes von Teixeiras Mendes’ „Rechtfertigung“ (cf. MOURÃO 1998,<br />
S. 104-108). Daraus wird ersichtlich, <strong>das</strong>s Teixeira Mendes sagte, der auf der brasilianischen<br />
Fahne wiedergegebene Ausschnitt solle den Sternenhimmel wiedergeben,<br />
wenn sich <strong>das</strong> Kreuz des Südens im Meridian über der Hauptstadt der Vereinigten<br />
Staaten von Brasilien befinde, also wenn die Sonne über Rio de Janeiro am<br />
höchsten steht. Von einem bestimmten Datum spricht er nicht (ibd., S. 106).
Auf diesen Zusammenhang zwischen den Sternen auf der brasilianischen Fahne<br />
<strong>und</strong> dem Himmel am Morgen des 15. November 1889 hatte Jens Soentgen am<br />
22.4.2000 in einem brillanten Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als Beitrag<br />
zur 500-Jahrfeier der „Entdeckung“ Brasiliens für deutsche Leser erstmals<br />
hingewiesen. Er gab damit die offizielle Version der brasilianischen Regierung wieder<br />
(erweiterte Fassung in Tópicos, SOENTGEN 2000). Er bringt sogar ein Foto<br />
des Kreuz des Südens mit der Überschrift: „Der Sternenhimmel ist ein<br />
Schnappschuss, die Momentaufnahme der Nacht über Rio de Janeiro am Morgen<br />
des 15. November 1889, <strong>und</strong> zwar zwischen sechs <strong>und</strong> sieben Uhr morgens.“<br />
Es handelt sich offensichtlich um eine Fotomontage: Zuckerhut bei Nacht, riesiges<br />
Kreuz des Südens <strong>und</strong> eine brasilianische Fahne mit dem seitenverkehrten<br />
Kreuz des Südens (s. Titelbild von Tópicos 3/2000).<br />
Meines Wissens taucht die „romantische Idee“ (Mourão 1998, S. 102), <strong>das</strong>s es<br />
sich um den Himmel über Rio am 15. November, um 8 Uhr 30 (Sternzeit 12 Uhr)<br />
handeln solle, erstmals in dem Dekret Nr. 5.443 vom 28. Mai 1968, zur Brasilianischen<br />
Fahne auf. Dies wurde mit dem Dekret Nr. 5.700 vom 1. September 1971<br />
wiederholt (cf. Abdruck in ibd., S. 90).<br />
Es muss aber später jemandem aufgefallen sein, <strong>das</strong>s man am Morgen des 15.<br />
November keinerlei Sterne über Rio de Janeiro beobachten kann, der Zeitpunkt<br />
wurde daher in dem neuen Dekret 8.421 vom 11. Mai 1992 auf den Abend desselben<br />
Tages verlegt, statt 8 Uhr 30 nun auf 20 Uhr 30.<br />
Auch die Verfasser des Textes im Internet bei Wikipedia w<strong>und</strong>ern sich über<br />
diesen Widerspruch, den man erfährt, wenn man „Bandeira do Brasil“ eingibt. Es<br />
werden beide Erklärungen des Gesetzes hintereinander zitiert, man erhält jedoch<br />
keine Erläuterung für dieses unnatürliche Phänomen. In der offiziellen Deutung<br />
wird jedoch erläutert, warum dieser auf der brasilianischen Fahne abgebildete<br />
Sternenhimmel für einen Menschen von der Erde aus so nicht sichtbar ist:<br />
Dekret von 1968, Artigo 3, § 1: As constelações que figuram na Bandeira Nacional<br />
correspondem ao aspecto do céu, na cidade do Rio de Janeiro, às 8 horas e 30<br />
minutos do dia 15 de novembro de 1889 (doze horas siderais) e devem ser<br />
considera<strong>das</strong> como vistas por um observador situado fora da esfera celeste.<br />
[Die Sternbilder, die auf der brasilianischen Fahne zu sehen sind, entsprechen<br />
dem Himmelsbild über der Stadt Rio de Janeiro, um 8 Uhr 30,<br />
am 15. November 1889 (12 Uhr Sternzeit) <strong>und</strong> entsprechen dem Bild, <strong>das</strong><br />
ein Beobachter außerhalb der Himmelsphäre von ihnen hätte.]<br />
Dekret von 1992, Artigo 3, § 1°: „[...] um 20 Uhr 30 […]“. (Bandeira do<br />
Brasil, Wikipedia, Stand: 19.6 2007, S. 2; Hervorh. d. Verf.).<br />
Fakt: Am 15. November ist weder morgens noch abends <strong>das</strong> Kreuz des Südens in Rio<br />
de Janeiro sichtbar, es taucht (scheinbar) erst im Januar abends wieder auf, wie jeder<br />
in Rio de Janeiro beobachten kann. Mourão führt die Daten von Januar bis Juni an,<br />
wenn <strong>das</strong> Kreuz des Südens jeweils am 15. des Monats nachts über dem Himmel von<br />
Rio de Janeiro in der Konstellation zu sehen ist, wie sie – seitenverkehrt <strong>und</strong> phantasievoll<br />
abgewandelt – auf der brasilianischen Fahne zu sehen sei (MOURÃO 1998, S. 93).<br />
Meines Erachtens handelt es sich bei dem Ausschnitt der Sternbilder in der<br />
brasilianischen Flagge um die Abbildung der Sterne am Südhimmel am 20. Septem-<br />
295
296<br />
ber, um 12 Uhr mittags, nur dann entspricht dieses Bild auch der angegebenen<br />
Sternzeit (12 Uhr). Nur dann steht <strong>das</strong> Kreuz des Südens in etwa in der Mitte des<br />
Himmelsausschnitts. Dieser Ausschnitt passt tatsächlich auch zum 15. November,<br />
um 8 Uhr 30 morgens, aber dann zur Sternzeit 15 Uhr 45, <strong>und</strong> nach ‚links‘ verschoben.<br />
Zu diesen Angaben von Datum <strong>und</strong> Zeit müsste noch der Standort des Betrachters<br />
kommen, was (mir) z. Zt. nicht möglich ist:<br />
Drehbare Welt-Sternkarte (cf. KARKOSCHKA 2004)<br />
Mourão legt im Einzelnen dar, was alles an dieser Sternenzeichnung „unrealistisch“<br />
oder falsch sei, so vor allem die übermäßige Größe des Kreuz des Südens im<br />
Verhältnis zu den anderen Sternbildern, sowie die Verlagerung des sehr hellen<br />
Spiga-Sterns der Jungfrau über den „Äquator“, da er doch nur innerhalb der Ekliptik<br />
oder verdeckt vom Tierzeichenband vorhanden sei (Mourão 1998, S. 91).<br />
Teixeira Mendes hatte dies damit begründet, <strong>das</strong>s er <strong>und</strong> seine Fre<strong>und</strong>e sich die<br />
künstlerische Freiheit genommen hätten, auch einen Stern über dem weißen Band<br />
zu platzieren. Auf diese Art werde symbolisiert, <strong>das</strong>s Brasilien auch Land über dem<br />
Äquator besitze (ibd., S. 108); heute wird mit diesem Stern der B<strong>und</strong>esstaat Pará<br />
repräsentiert. Der gröbste Fehler sei jedoch, <strong>das</strong>s der gesamte Ausschnitt aus dem<br />
Sternenhimmel auf der brasilianischen Fahne seitenverkehrt, „invertido“, sei.
Der seitenverkehrte <strong>und</strong> der ‚richtige‘ Himmel – Tradition <strong>und</strong> Neues<br />
Mourão bringt eine für den heutigen Laien verblüffende Erklärung für den<br />
„seitenverkehrten Himmel“ in dieser blauen Kugel: Der Astronom Pereira Reis<br />
benutzte ein anderes System der Wiedergabe des Sternenhimmels als es heute<br />
üblich ist: Er benutzte einen „Himmelsglobus“. Darauf hatte bereits 1890 (veröffentlicht<br />
1903) Eduardo Prado in seinem Protest-Essay A Bandeira Nacional hingewiesen<br />
(S. 39). Bei dieser Methode wird der Sternenhimmel auf einen Globus<br />
projeziert, wodurch folgendes geschieht:<br />
Himmelsglobus, die karthographische Darstellung des Sternhimmels<br />
<strong>und</strong> seines Koordinatensystems auf einer Kugeloberfläche. Ein Himmelsglobus<br />
zeigt eine unverzerrte, aber spiegelbildliche Lage der Sterne, da<br />
der Beobachter in der Natur auf die „Innenseite“ der Himmelskugel,<br />
bei einem Himmelsglobus aber auf dessen Außenseite schaut. (Brockhaus<br />
2006, S. 170)<br />
Dies ist wohl die einzige Erklärung <strong>und</strong> zugleich Rechtfertigung für den „seitenverkehrten<br />
Sternenhimmel“ auf der brasilianischen Fahne. (Der zusätzlich von<br />
oben nach unten verdrehte Skorpion entstand offensichtlich erst 1992 durch<br />
Hinzufügen eines weiteren Sterns am unteren, rechten Ende des Sternbildes).<br />
Pereira Reis <strong>und</strong> Luis Cruls hatten 1887 bzw. 1896 derartige, unzeitgemäße Sternkarten<br />
<strong>und</strong> Globen hergestellt, wie Mourão berichtet (Mourão 1998, S. 92). Er<br />
führt auch weiter aus, <strong>das</strong>s diese Himmelsgloben sogar lange vor den Erdgloben<br />
von den Astronomen angefertigt worden seien (MOURÃO 2000, S. 164). Der erste<br />
Erdglobus, auf den man auch ‚von außen‘ blickt, was man heute als Selbstverständlichkeit<br />
akzeptiert, wurde von Martin Behaim aus Nürnberg 1492 in Lissabon<br />
geschaffen (cf. GUEDES / LOMBARDI 1990, S. 68).<br />
Auch war es teilweise üblich, die Karten von Norden nach Süden anzulegen, so<br />
<strong>das</strong>s Süden oben <strong>und</strong> Norden unten auf den Blättern zu sehen war. Auch Hans<br />
Stadens Landkarte von Brasilien ist auf diese Art angelegt, so wie die Seeleute <strong>das</strong><br />
Land antrafen, wenn sie von Norden kamen. (Wer mit der TAP von Frankfurt nach<br />
Lissabon fliegt, wird auf den Bildschirmen auch schon diese ‚realistische‘ Flugroute<br />
gesehen haben, mit Lissabon oben in der geographischen Computeranimation).<br />
Pereira Reis behielt die nordeuropäische Version der „genordeten“ Karten bei, wie<br />
er in einem <strong>und</strong>atierten Schreiben darlegt (MOURÃO 1998, S. 109-110).<br />
Den ersten modernen Sternen-Atlas in <strong>und</strong> für Brasilien hat offenbar erst<br />
Rogerio Ronaldo Rogerio de Freitas Mourão selbst 1995 <strong>und</strong> 1997 veröffentlicht<br />
(cf. ibd., Bibliographie).<br />
Auf den Fahnen einiger südlicher Länder erscheint <strong>das</strong> Kreuz des Südens, so wie<br />
man es von der Erde aus sehen kann, z. B. Australien, Neuseeland <strong>und</strong> Papua-Neuguinea,<br />
nur Australien hat noch einen weiteren Stern auf seiner Fahne, den großen<br />
„Toliman“ oder „Rigel Kentauri“ aus dem Zentaurbild (ibd., S. 97; s. Farbtafel).<br />
Carvalho <strong>und</strong> Mourão schildern, wie groß der Widerstand gegen die neue<br />
Fahne war, die Marschall Deodoro Fonseca als Chef der Provisorischen Regierung<br />
mit dem Dekret Nr. 4 vom 19. November 1889 in Brasilien einführte; u. a.<br />
weigerte sich auch der Flugpionier Alberto Santos Dumont, diese Fahne „einer<br />
297
298<br />
Sekte“ zu akzeptieren. Wenn es nötig war, habe er daher eine neutrale, grün-gelbe<br />
Fahne geschwenkt (ibd., S. 88).<br />
In seiner Verteidigung oder Rechtfertigung der neuen Fahne vom 24. <strong>und</strong> 26.<br />
November 1889 legt Teixeira Mendes dar, <strong>das</strong>s es sich um einen „idealisierten<br />
Himmel“ („céu idealisado“) handele, der <strong>das</strong> „Gefühl“ wiedergebe, <strong>das</strong> man empfinde,<br />
wenn man den w<strong>und</strong>erschönen Himmel über Rio de Janeiro betrachte. Das Sternenkreuz<br />
des Südens sei eine moderne Art, <strong>das</strong> alte christliche Symbol darzustellen; <strong>das</strong><br />
sei für alle akzeptabel, unabhängig von jeglicher Religion, <strong>und</strong> werde daher mit der<br />
Zeit patriotische Gefühle bei allen wecken. Er sollte Recht behalten (ibd., 107).<br />
Jeder Fernsehzuschauer kennt heute die unverwechselbare brasilianische<br />
Fahne, denn die jungen Leute tragen oder schwenken sie voller Stolz, z. B. bei<br />
Sportveranstaltungen, wickeln sich sogar darin ein. Auch Papst Benedikt XVI.<br />
wurde im Mai 2007 mit einem brasilianischen Fähnchenmeer in São Paulo empfangen.<br />
Dagegen ist auf Bikinis, T-Shirts, Taschen oder Grillschürzen die – richtige<br />
oder falsche – Darstellung der brasilianischen Fahne nicht erlaubt, aber niemand<br />
schert sich um dieses Gesetz der ‚unbotmäßigen‘ <strong>und</strong> unkorrekten Verwendung<br />
des nationalen Symbols.<br />
In seiner Rechtfertigung hatte Teixeira Mendes weiterhin erläutert, die Kaffee- <strong>und</strong><br />
die Tabakpflanze, die <strong>das</strong> Kreuz in der monarchischen Fahne umrankten, seien nicht<br />
mehr zeitgemäß, nun gebe es auch andere Agrarprodukte <strong>und</strong> Bodenschätze, <strong>und</strong><br />
beide seien auf der neuen Fahne durch die grüne <strong>und</strong> gelbe Farbe ausreichend<br />
charakterisiert („produções da natureza viva e da natureza morta“; cf. ibd., S. 106).<br />
Aber in dem neuen Staatswappen, <strong>das</strong> unabhängig von der Fahne in allen<br />
offiziellen Dokumenten eingesetzt wird, wurden diese Zweige aus dem vorherigen,<br />
monarchischen Staatswappen beibehalten. Sie sind gewissermaßen <strong>das</strong><br />
Verbindungsband zwischen Tradition <strong>und</strong> dem Neuen, sie umranken heute noch<br />
den blauen Ring mit damals 21, heute 27 Sternen, der damals <strong>das</strong> ‚richtige‘, heute<br />
<strong>das</strong> ‚falsche‘ Kreuz des Südens einfasst. 1889 trug <strong>das</strong> Wappen den Schriftzug,<br />
República dos Estados Unidos do Brasil, „Republik der Vereinigte Staaten von Brasilien“,<br />
seit 1968 República Federativa do Brasil, „Föderative Republik Brasilien“.<br />
Fausto Cunha, ein bekannter brasilianischer Autor, beschwerte sich 1990 über<br />
all diese Komplikationen, die es jedem Ausländer schwer machten, die brasilianischen<br />
Staatssymbole zu verstehen oder richtig wiederzugeben, wie z. B. die fehlerhafte<br />
Reproduktion im Petit Larousse zeige. Man laufe Gefahr, sich im Ausland<br />
damit lächerlich zu machen (ibd., 102-103).<br />
Besonders über <strong>das</strong> Motto ORDEM g PROGRESSO wird oft von Brasilianern<br />
selbst gewitzelt, auch dies hat Tradition, schon auf einer Karikatur von 1889<br />
sieht man „Frau Republik“ rückwärts auf einem Esel reiten, <strong>und</strong> auf dem wehenden<br />
Banner liest man Desordem e Retrocesso („Unordnung <strong>und</strong> Rückschritt“;<br />
CARVALHO 2006, S. 121).<br />
Langes Leben der Symbole<br />
Im ganzen Jahr 2008 wird in Rio de Janeiro von offizieller Seite daran erinnert<br />
werden, <strong>das</strong>s vor zweih<strong>und</strong>ert Jahren der portugiesische Hof auf der Flucht vor<br />
Napoleons Heer mit seiner Kultur <strong>und</strong> seinen Ritualen sich in Rio de Janeiro
niederließ, wodurch die ‚Bande‘ zwischen Portugal <strong>und</strong> Brasilien erneut gefestigt<br />
wurden. Dies kann man demnächst jeden Tag an den stets nebeneinander wehenden<br />
Fahnen der beiden Länder sehen. Dann wird auch die Geschichte <strong>und</strong><br />
die erstaunliche Langlebigkeit dieser Symbole deutlich, vielleicht <strong>das</strong> Produkt einer<br />
von weither gekommenen positivistischen Sternenalchemie.<br />
Literatur<br />
ARROYO, Leonardo (Hrsg.) ( 2 1976): A carta de Pero Vaz de Caminha. São Paulo.<br />
ALBUQUERQUE, Luis de (1983): Ciência e experiência nos Descobrimentos portugueses. Lisboa.<br />
ALBUQUERQUE, Luis de (1985): Os descobrimentos portugueses. Lisboa.<br />
BAIÃO, António (Hrsg.) (1932): Ásia de Joam de Barros. Dos feitos que os portugueses fizeram no<br />
descobrimento e [na] conquista dos mares e [<strong>das</strong>] terras do oriente. Primeira Década. Quarta edição<br />
revista e prefaciada por Antonio Baião conforme a edição princeps. Coimbra. [Erste Ausgabe 1552].<br />
BARLÉU, Gaspar (1974). História dos feitos recentemente praticados durante oito anos no Brasil. São<br />
Paulo / Belo Horizonte. [Übersetzung aus dem Lateinischen ins Portugiesische von Claudio Brandão].<br />
BARROS, siehe BAIÃO<br />
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BROCKHAUS, Der (2006): Astronomie. Planeten, Sterne, Galaxien. Mannheim / Leipzig.<br />
CABRAL, siehe PÖGL, dt., <strong>und</strong> ARROYO oder GARCIA, port.<br />
CAMINHA, siehe PÖGL, dt. <strong>und</strong> ARROYO oder GARCIA, port.<br />
CARNEIRO, Paulo Estevão de Berredo (1970): Vers un nouvel humanisme. Paris.<br />
CARVALHO, José Murilo de (2006 [ 1 1990]): A formação <strong>das</strong> almas. O imaginário da República no<br />
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COMTE, Auguste (1970): Ecrits de jeunesse (1816-1828). Textes établis et présentés par Paulo E. de<br />
Berredo Carneiro et Pierre Arnaud. Paris.<br />
COMTE, Auguste (1974): Philosophie des sciences. (Textes choisis. Hrsg. von Jean Laubier). Paris.<br />
COMTE, Auguste (1994): Rede über den Geist des Positivismus. (Hrsg. von Irving Fetscher). Hamburg.<br />
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[Enthält: Instruções de Vasco da Gama para Pedro Álvares Cabral; Relação da viagem da frota<br />
comandada por Pedro Álvares Cabral; Carta de Pêro Vaz de Caminha para D. Manuel; Carta de<br />
mestre João para D. Manuel; Cartas de italianos; Carta de D. Manuel para os Reis Católicos etc.].<br />
GIERTZ, Gernot (Hrsg.) (1990): Vasco da Gama. Ein Augenzeugenbericht, 1497-1499. Stuttgart.<br />
GUEDES, Max Justo/ Lombardi, Gerald (Hrsg.) (1990): Portugal-Brazil: The Age of Atlantic Discoveries.<br />
[Katalog zur Ausstellung in The New York Library; enthält Essays von Luis de Albuquerque, Charles R.<br />
Boxer, Francisco Leite de Faria, Max Justo Guedes, Francis M. Rogers, Wilcomb E. Washburn, etc.].<br />
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LEPENIES, Wolf ( 2 2006): Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur <strong>und</strong> Wissenschaft. Frankfurt<br />
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MEDINA, João (2006): Portuguesismo(s). Acerca da Identidade Nacional. Lisboa.<br />
MENDES, Raim<strong>und</strong>o Teixeira ( 2 1920): A bandeira nacional. Rio de Janeiro. [Nachdruck in PRADO<br />
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MENZIES, Gavin (2003): 1421 - Als China die Welt entdeckte. München. [Engl. Originalausgabe<br />
London 2002, brasilianische Ausgabe Rio de Janeiro 2005]<br />
“Mestre João”, siehe PÖGL, dt., <strong>und</strong> GARCIA, port.<br />
MOURÃO, Ronaldo Rogério de Freitas (1995): Carta Celeste do Brasil. Rio de Janeiro.<br />
MOURÃO, Ronaldo Rogério de Freitas ( 2 1996): Dicionário Enciclopédico de Astronomia e Astronáutica.<br />
Rio de Janeiro.<br />
MOURÃO, Ronaldo Rogério de Freitas ( 8 1997): Atlas Celeste. Petrópolis.<br />
299
300<br />
MOURÃO, Ronaldo Rogério de Freitas (1998): A história da bandeira da República, sob o ponto de<br />
vista da astronomia. In: Revista do Instituto Histórico e Geográfico Brasileiro (RIHGB), (85) 398, Rio<br />
de Janeiro, S. 85-126.<br />
MOURÃO, Ronaldo Rogério de Freitas (2000): A astronomia na época dos descobrimentos. A<br />
importância dos árabes e dos judeus nas descobertas. Rio de Janeiro.<br />
OBERACKER, Carlos H. (1968): A contribuição teuta à formação da nação brasileira. Rio de Janeiro.<br />
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PÖGL, Johannes (Hrsg.) (1986): Die reiche Fahrt des Pedro Álvares Cabral. Seine Indische Fahrt <strong>und</strong> die<br />
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Mestre João/Meister Johannes].<br />
PRADO, Eduardo (1903): A bandeira nacional. Paris.<br />
REIS, siehe PEREIRA REIS<br />
SANTOS, Ana Maria dos et al. (2002): História do Brasil – De terra ignota ao Brasil atual. Rio de<br />
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SCHWAMBORN, Ingrid (2000): Die Wiederentdeckung Brasiliens. Erläuterungen zu dem Film<br />
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SCHWAMBORN, Ingrid (2004): ‘Brasiliano’, ‘tupinambá’, ‘tupi’, ‘tapuia’, ‘tarairiu’: a questão dos<br />
títulos dos retratos de Albert Eckhout e de Zacharias Wagener (1641/1643). In: TOSTES, Vera et<br />
al.: (Hrsg.): A Presença Holandesa no Brasil: memória e imaginário. Rio de Janeiro, S. 89-144.<br />
SCHWAMBORN, Ingrid / SOARES, Maria Elias (Hrsg.) (2006): José de Alencar: Iracema. Edição<br />
bilingüe português-alemã. Fortaleza.<br />
SOENTGEN, Jens (2000): Die Bandeira Brasileira. In: Tópicos, 3/2000: 19-21. [cf. Frankfurter Allgemeine<br />
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Sterne, Die / Les étoiles. Universumskarte. Information. Verzeichnis der Sternbilder (o. J.). Bern.<br />
STÜRMER, Michael (2007): Meister der Fassade. [Über Jacques Chirac, den scheidenden französischen<br />
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TEIXEIRA MENDES – siehe MENDES<br />
VARNHAGEN, Francisco Adolfo de (1843): A carta do Mestre João. In: Revista do Instituto Histórico<br />
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Filmmaterial<br />
TYR, Alain (2006): Le drapeau brésilien et Auguste Comte. Film documentaire. 52 min. Montpellier:<br />
Evasion/TVM/R-Prod. .<br />
Internetquellen<br />
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“Jogos Panamericanos”, “Kreuz des Südens”, “Skorpion”.<br />
<br />
<br />
<br />
Dr. Ingrid Schwamborn, geboren in Berlin, studierte in Tübingen <strong>und</strong> Bonn; 1986 Promotion<br />
(Universität Bonn) über José de Alencars Indianerromane. Sie lebte mehrere Jahre in<br />
Brasilien (Fortaleza <strong>und</strong> Rio de Janeiro, DAAD), unterrichtete Deutsche Sprache, Landesk<strong>und</strong>e<br />
<strong>und</strong> Literatur an der UFC-Ceará <strong>und</strong> PUC-Rio; von 1984-1989 wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />
für französische, portugiesische <strong>und</strong> brasilianische Literatur am Romanischen Seminar<br />
der Universität Köln, später dort Lehrauftrag für brasilianische Literatur <strong>und</strong> Film (1995-2000).<br />
Seit 2004 wohnt sie in Bonn <strong>und</strong> Fortaleza. Zahlreiche Veröffentlichungen zur brasilianischen<br />
Literatur, sowie über Stefan Zweig <strong>und</strong> Brasilien (²2003), über die Holländer in Brasilien<br />
(2004), zuletzt zweisprachige portugiesisch-deutsche Ausgabe von Alencars Iracema (2006).
Wandsprüche – Lehrwort oder Leerwort?<br />
Ingrid Margareta Tornquist<br />
São Leopoldo<br />
Resumo: Ponto de partida desta pesquisa é uma coleção de ‚bordados<br />
de parede‘ encontrados em lares teuto-brasileiros no<br />
Rio Grande do Sul, baseada na qual se trata da questão da<br />
conexão entre a língua, o pensamento e a ação. Os valores<br />
afirmados tanto nesses bordados, quanto em depoimentos<br />
colhidos em entrevistas, são analisados enquanto expressão<br />
da mentalidade do grupo. Os provérbios são interpretados<br />
como a voz da mulher, em seu papel como mediadora<br />
da língua e transmissora da cultura dentro de uma minoria<br />
étnica. Uma análise comparativa com uma coleção de<br />
provérbios bordados provenientes da região de colonização<br />
italiana evidencia as semelhanças e as diferenças entre<br />
os valores realçados pelas diferentes culturas. Para a análise<br />
fez-se uso do modelo proposto pelo projeto de pesquisa<br />
internacional Conceitos Éticos e Culturas Mentais.<br />
Abstract: The article deals with the relationship between language,<br />
thought and action on the basis of a collection of embroidered<br />
wall hangings from German-Brazilian households in<br />
the state of Rio Grande do Sul. The values affirmed in the<br />
wall hangings, as well as those expressed in a series of interviews,<br />
are analyzed as an expression of group mentality. The<br />
sayings are interpreted as the voice of women, and their<br />
role as language mediators and bearers of culture within<br />
minority ethnic groups is highlighted. A comparative study<br />
with a collection of wall hangings originating from the Italian<br />
immigrant community in the same state shows both common<br />
gro<strong>und</strong> and differences in emphasis. The model proposed<br />
by the international research project Ethical concepts<br />
and mental cultures was used for the analysis.<br />
Alle brauchen Lehrwörter<br />
Im Schaufenster der Buchläden ebenso wie in den Verlagskatalogen mit Neuerscheinungen<br />
findet sich seit einigen Jahren eine steigende Anzahl von so genannten<br />
kleinen Wegweisern. Diese oft schön illustrierten Geschenkbüchlein erfreuen<br />
sich großer Beliebtheit. Sie enthalten Worte zum Trost <strong>und</strong> zur Ermunterung<br />
<strong>und</strong> bieten Lebensregeln für verschiedene Situationen an. Oft sind die<br />
Weisheitsworte thematisch geordnet unter Rubriken wie Fre<strong>und</strong>schaft, Liebe, Leid<br />
oder glücklich/gelassen/achtsam sein. Solche Büchlein können als ein Erbe der<br />
301
302<br />
Wandsprüche von gestern gesehen werden, deren Verse früheren Generationen<br />
Geleitworte auf dem Lebensweg bedeuteten.<br />
Vor nicht allzu langer Zeit hat man gestickte Wandsprüche mit herablassender<br />
Ironie betrachtet <strong>und</strong> die mit bunten Stickereien geschmückten Texte als Floskeln<br />
oder Leerwörter abgetan. Ihr Inhalt wurde als völlig unzeitgemäß angesehen,<br />
wenn nicht sogar als verdächtiger Zeuge eines längst vergangenen Gesellschaftssystems.<br />
Diese Situation hat sich aber in den letzten Jahren mancherorts geändert.<br />
Alte Wandschoner werden wieder hervorgesucht <strong>und</strong> dienen oftmals als<br />
Vorlagen zu neuen 1 . Ausstellungen <strong>und</strong> Wettbewerbe werden veranstaltet <strong>und</strong><br />
Sammlungen herausgegeben, was sicher mit dem neu erweckten Interesse für<br />
Lehrwörter überhaupt zusammenhängt. Als eine Reaktion auf die Auflockerung<br />
bestehender Normen im Namen der uneingeschränkten Freiheit sucht der Mensch<br />
neuerdings wieder ethische Maßstäbe <strong>und</strong> feste Regeln.<br />
Ethische Konzepte in Wandsprüchen<br />
Welche war die Botschaft der Wandsprüche <strong>und</strong> haben sie uns heute noch<br />
etwas zu sagen? Um feststellen zu können, welche Wertvorstellungen durch solche<br />
Sprüche in einer ethnischen Minoritätsgruppe verbreitet wurden, habe ich<br />
eine Sammlung von gestickten Wandsprüchen aus dem Gebiet der deutschen<br />
Einwanderung in Rio Grande do Sul untersucht. In diesem südlichsten Teilstaat<br />
von Brasilien siedelten sich seit 1824 deutsche Einwanderer an, deren Nachkommen<br />
auf ungefähr zwei Millionen geschätzt werden, von denen vielleicht noch die<br />
Hälfte Deutsch als erstgelernte Sprache hat. Bei meiner Untersuchung zu Sprache<br />
<strong>und</strong> Mentalität der Deutschstämmigen (TORNQUIST 1997) ging es darum, <strong>das</strong><br />
von Generation zu Generation durch die Sprache übergeführte Weltbild zu beschreiben.<br />
Eine ergiebige Quelle waren dabei die Wandsprüche, die vor wenigen<br />
Jahren in vielen deutschbrasilianischen Häusern zu finden waren <strong>und</strong> neuerdings<br />
also in einigen Gegenden wieder zu Ehren gelangt sind.<br />
Neben diesen <strong>und</strong> anderen schriftlichen Zeugnissen aus Lesebüchern <strong>und</strong><br />
Kalendern habe ich auch Interviews in verschiedenen Gegenden der deutschen<br />
Einwanderung aufgenommen, in denen nach den Wertvorstellungen gefragt<br />
wurde, welche die Informanten meinten, durch die elterliche Erziehung — besonders<br />
durch den Einfluss der Mutter — mitbekommen zu haben, später verstärkt<br />
<strong>und</strong> bestätigt durch Schule <strong>und</strong> Kirche. Die Informanten im Alter von 20 bis<br />
95 Jahren waren überwiegend Frauen. Im Laufe der Arbeit verlagerte sich mein<br />
Forschungsinteresse nämlich immer stärker auf die Rolle der Frau als Sprachvermittlerin<br />
<strong>und</strong> Kulturträgerin in einer solchen ethnischen Minderheit.<br />
Im vorliegenden Artikel wird eine Analyse der in der Sprachgruppe vorherrschenden<br />
Wertvorstellungen vorgenommen, die in den Wandsprüchen <strong>und</strong> in<br />
den Interviews zum Vorschein kamen. Außerdem werden die Forschungsergebnisse<br />
mit einer ähnlichen Untersuchung aus dem Gebiet der italienischen Einwanderung<br />
in Rio Grande do Sul verglichen. Diese wurde als ein sozialgeschichtliches<br />
Projekt an der Universität Unisinos in São Leopoldo durchgeführt<br />
1. Vgl. z. B. <strong>das</strong> Projekt Memórias Histórico-Afetivas. 40 Anos Bordando sua História, Ivoti, RS, 2004.
mit dem Ziel, den Prozess der Weiterführung <strong>und</strong> Bewahrung kultureller Werte im<br />
Gebiet der italienischen Einwanderung in Rio Grande do Sul aufzuzeigen. Das<br />
Ergebnis liegt in Form einer CD (FAVARO 2001) vor, mit deren Hilfe ich Gelegenheit<br />
hatte, einen interkulturellen Vergleich anzustellen. Die Einwanderung aus<br />
Italien nach Rio Grande do Sul begann 50 Jahre nach der deutschen <strong>und</strong> hatte<br />
ungefähr denselben Umfang. Die beiden Ethnien wurden in getrennten Gebieten<br />
angesiedelt <strong>und</strong> hatten durch diese geographische aber auch sprachliche Barriere<br />
wenig Kontakt miteinander. Bei einem Vergleich der in den beiden Einwanderergruppen<br />
verbreiteten Wandsprüche wurden aber gemeinsame Wertvorstellungen<br />
deutlich, wenn auch einige unterschiedliche Schwerpunkte erscheinen.<br />
Wandsprüche – Die Stimme der Frau<br />
Die alte Sitte, <strong>das</strong> Haus durch Wandbehänge zu verzieren, sei es aus nützlichen<br />
oder ästhetischen Gründen, hatten die deutschen Einwanderer nach Brasilien<br />
mitgebracht. Im Laufe der Jahre wurden die Sprüche von späteren Generationen<br />
abgestickt oder durch andere ersetzt, an denen man Gefallen gef<strong>und</strong>en hatte. Die<br />
Quellen waren vor allem die auf der deutschbrasilianischen Kolonie weit verbreiteten<br />
Kalender <strong>und</strong> Jahresbücher sowie ältere deutsche Lesebücher. Aber auch<br />
die mündliche Überlieferung spielte dabei eine Rolle, wie eine meiner Informantinnen<br />
auf die Frage nach der Herkunft der Sprüche versichert: „Die habn sie im<br />
Kopf gehabt, habn sie vorrätig gehabt“. Oft zierten Blumen <strong>und</strong> Girlanden die sog.<br />
Wandschoner; manche enthalten auch Motive aus der brasilianischen Umwelt,<br />
was darauf deuten lässt, <strong>das</strong>s Rio Grande do Sul Heimat geworden ist.<br />
In meiner Untersuchung habe ich die Wandsprüche als Stimme der Frau gesehen,<br />
eine Möglichkeit für sie, der Familie ihre Ideale <strong>und</strong> ihre Wünsche täglich vor<br />
Augen zu führen. Hier konnte sie Mann <strong>und</strong> Kinder diskret <strong>und</strong> wiederholt an<br />
althergebrachte Lebensregeln erinnern, die ihr für den Zusammenhalt <strong>und</strong> <strong>das</strong><br />
Leben der Familie essenziell erschienen. Die Sprüche, von Frauen ausgewählt<br />
<strong>und</strong> gestickt, thematisieren oft Werte im zwischenmenschlichen Kontakt wie Liebe,<br />
Treue <strong>und</strong> Hoffnung. Es handelt sich also um eine bewusste Wahl der Frau mit<br />
der Absicht, einen wichtigen Leitsatz ohne Worte am Leben zu halten bzw. aktualisieren<br />
zu können. Ein solcher Spruch, der mit gewisser Mühe gestickt <strong>und</strong> verziert<br />
wurde, um dann an die Wand gehängt zu werden, hat uns etwas zu sagen,<br />
sowohl in Bezug auf die einzelne Frau als auch auf die Mentalität der Gruppe, hier<br />
einer ethnischen <strong>und</strong> sprachlichen Minorität.<br />
Die gestickte Botschaft ist gewissermaßen in der Idealwelt der Frau beheimatet.<br />
Einerseits sind es die Vorstellungen des jungen Mädchens, <strong>das</strong> vor der Hochzeit<br />
die Sprüche stickte, andererseits ist es die Hausfrau <strong>und</strong> Mutter, die durch den<br />
Wandspruch redet, die sich ermutigend oder ermahnend an ihre Familie oder<br />
ihre Gäste richtet. Nicht wenige Sprüche stellen aber auch eine Aufwertung ihrer<br />
Rolle als Ehegefährtin <strong>und</strong> Hausfrau dar. Der Spruch Das größte Glück für einen<br />
Mann, ist eine Frau, die kochen kann bekommt z. B. eine andere Bedeutung <strong>und</strong><br />
einen anderen Ton im M<strong>und</strong> einer Frau als von einem Mann gesprochen.<br />
Die Sprüche waren ein Mittel, die bewährten Wertvorstellungen an neue Generationen<br />
weiterzugeben. In der Küche, über dem Bett oder im Flur hängend,<br />
303
304<br />
waren die Sprüche im Alltagsleben der Familie immer gegenwärtig <strong>und</strong> alle wussten<br />
sie auswendig. Die meistens kurze, gereimte Form <strong>und</strong> die Bildhaftigkeit des Ausdrucks<br />
tragen dabei zur Einprägung bei. Oft war dies auch der erste geschriebene<br />
Text, an dem die Kinder herumbuchstabiert <strong>und</strong> lesen gelernt haben.<br />
Die Tatsache, <strong>das</strong>s sich viele meiner Informanten als Erwachsene an solche<br />
Wandsprüche aus dem Elternhaus erinnern konnten, hat meinen Eindruck bestärkt,<br />
<strong>das</strong>s es sich hier nicht um ‚Leerwörter‘ handelt, die eine ausschließlich dekorative<br />
Funktion haben <strong>und</strong> deren Botschaft wenig Spuren hinterlässt. Stattdessen<br />
sind es Texte, die Menschen ein ganzes Leben bewusst oder unbewusst mehr oder<br />
weniger begleitet <strong>und</strong> ihre Gedankenwelt mitgeformt haben. Sie lassen sich als Teil<br />
des Allgemeinwissens einer Person betrachten <strong>und</strong> gehören zu den sog. Maternalien 2 ,<br />
Spruchweisheiten <strong>und</strong> Redewendungen, die wir seit Kind auf von der Mutter hören,<br />
die sich dem kindlichen Gemüt durch ihre Form <strong>und</strong> Frequenz leicht einprägen<br />
<strong>und</strong> später im Leben in bestimmten Situationen abgerufen werden können.<br />
Das Sprichwort als Mikrotext<br />
Form <strong>und</strong> Inhalt<br />
Nach der Terminologie von einigen Sprichwortforschern (z. B. HOFMEISTER<br />
1995) kann man die Wandsprüche als sprichwortartige Mikrotexte bezeichnen.<br />
Der entsprechende Makrotext wäre dann der häusliche Kontext, der sowohl die<br />
Situation im Hause als auch die kulturelle Umwelt <strong>und</strong> <strong>das</strong> muttersprachliche<br />
Weltbild umfasst. Solche Sprichwörter werden als „hoch einzuschätzender Wissensspeicher“<br />
betrachtet, der Aufschlüsse über <strong>das</strong> kulturelle Selbstverständnis einer<br />
Gesellschaft gibt. Die in ihnen ausgedrückte Polarisierung zwischen dem Richtigen<br />
<strong>und</strong> dem Falschen, dem Erwünschten <strong>und</strong> dem Unerwünschten lässt die<br />
Weltsicht einer Kulturgemeinschaft deutlich werden. Ebenso hat laut Hofmeister<br />
die Auswahl <strong>und</strong> der Gebrauch in einer gewissen Situation etwas zu bedeuten,<br />
was auch auf die Wandsprüche zutrifft.<br />
Die Spruchsammlung die den Korpus meiner Untersuchung ergibt, umfasst<br />
133 verschiedene Wandsprüche aus deutschbrasilianischen Häusern in Rio<br />
Grande do Sul. Darunter sind ca. 20% echte Sprichwörter wie Ohne Fleiß kein Preis<br />
oder Ehrlichkeit währt am längsten; Zitate aus Gedichten, Liedstrophen, Bibelworten<br />
<strong>und</strong> Gebeten bilden den Rest. Auch an diesen Texten lassen sich einige Merkmale<br />
von Sprichwörtern nachweisen so wie die kurze <strong>und</strong> konzise, manchmal<br />
gereimte Form <strong>und</strong> die lehrhafte Tendenz.<br />
Sprichwort – Wahrwort?<br />
Die Frage, ob Sprichwörter auch „Wahrwörter“ sind, ist in der betreffenden<br />
Forschung wiederholt behandelt worden. Alle Forscher heben einerseits die<br />
Universalität der Sprichwörter hervor <strong>und</strong> sind sich einig, <strong>das</strong>s sie allgemein akzeptierte<br />
Weisheiten ausdrücken. Andererseits wird dem oft entgegengehalten,<br />
<strong>das</strong>s in ihnen unterschiedliche <strong>und</strong> manchmal widersprüchliche Verhaltensweisen<br />
empfohlen werden, wie z. B. Großzügigkeit <strong>und</strong> Sparsamkeit, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s da-<br />
2. Engl. Mommilies, vgl. WIENKER-PIPHO (1992), S. 43.
durch kontradiktorische Ratschläge gegeben werden, wie etwa in den beiden<br />
Sprüchen Eile mit Weile <strong>und</strong> Zeit ist Geld. Sie könnten also nicht Anspruch auf<br />
absolute Wahrheit erheben, sondern seien nur partiell gültige Lebensregeln, von<br />
Kontext <strong>und</strong> Situation abhängig.<br />
Dies ist jedoch eine Unterschätzung der Allgemeingültigkeit der Sprichwörter.<br />
In jeder Wahlsituation liegen nämlich zwei gr<strong>und</strong>legende Handlungsalternativen<br />
vor, wie etwa handeln oder sich zurückhalten, akzeptieren oder abweisen, bzw.<br />
geben oder behalten. Diese Alternativen entsprechen Auswegen, die einander<br />
gegenübergestellt <strong>und</strong> situationsgemäß abgewogen werden müssen, um <strong>das</strong> jeweils<br />
richtige Verhalten zu erkennen. Es muss also widersprüchliche Sprichwörter<br />
geben, damit sie den Normen der jeweiligen Kultur entsprechend in verschiedenen<br />
Situationen eingesetzt werden können.<br />
Kann man aber von solchen universellen Wahrheiten Schlüsse auf Nationaleigenschaften<br />
ziehen? Dieselbe Botschaft ist ja in vielen Ländern der Welt lexikalisiert<br />
worden. Trotzdem können meines Erachtens Gebrauchsfrequenz <strong>und</strong> Varianz<br />
Aufschlüsse über den Stellenwert eines Sprichworts in einer Sprachgemeinschaft<br />
geben <strong>und</strong> somit gewisse Schlüsse zur Prioritätensetzung der jeweiligen mentalen<br />
Kultur ermöglichen.<br />
Falsch <strong>und</strong> richtig in verschiedenen mentalen Kulture<br />
Ethische Konzepte <strong>und</strong> mentale Kulturen – ein Forschungsprojekt<br />
Um herauszufinden welche Eigenschaften <strong>und</strong> Verhaltensweisen in der untersuchten<br />
ethnischen Gruppe in Rio Grande do Sul durch die Wandsprüche<br />
priorisiert wurden, habe ich versucht, sämtliche 133 Sprüche zu analysieren<br />
<strong>und</strong> sie in Kategorien einzuteilen. Dabei habe ich <strong>das</strong> Beschreibungsmodell des<br />
internationalen Forschungsprojekts Ethische Konzepte <strong>und</strong> mentale Kulturen benutzt<br />
(s. STEDJE / STOEVA-HOLM 2004; TORNQUIST 2003). Hier wird versucht,<br />
<strong>das</strong> in der Sprache verborgene Wissen über Mentalitätsunterschiede methodisch<br />
aufzubereiten. Man geht davon aus, <strong>das</strong>s Sprache <strong>und</strong> Denken eng miteinander<br />
verknüpft sind <strong>und</strong> als gegenseitiger Spiegel fungieren können. Themen,<br />
Fragen, <strong>und</strong> Wertungen, die in einer Kultur aktuell sind, finden im Wortschatz<br />
der betreffenden Sprache ihren Ausdruck, während <strong>das</strong> weniger Bedeutsame<br />
sprachlich nicht repräsentiert wird. Eine Untersuchung der Sprache einer bestimmten<br />
Gruppe im ethischen Bereich müsste also vieles über die dort vorherrschende<br />
Mentalität aussagen.<br />
Durch vergleichende Wortschatzuntersuchungen zweier Sprachen in Bereichen,<br />
die menschliche Eigenschaften, Reaktionen <strong>und</strong> Verhaltensweisen beschreiben,<br />
wie Stolz, Fleiß, Wut, Großzügigkeit konnten in der Projektarbeit unterschiedliche<br />
Einstellungen in Bezug auf Selbstwert, Arbeit, Gefühlsdarbietung <strong>und</strong> Besitztum<br />
aufgezeigt werden. So findet man z. B. im Spanischen vergleichsweise mehr<br />
positiv wertende Ausdrücke für Stolz <strong>und</strong> dazugehörige Begriffe, im Deutschen<br />
wie im Schwedischen entsprechend mehr Wörter <strong>und</strong> Phraseme für Fleiß als für<br />
Erholung. Neuwörter machen hier Veränderungen <strong>und</strong> Modeerscheinungen der<br />
Zeit sichtbar, indem einerseits gewisses Verhalten empfohlen wird (Relax) <strong>und</strong><br />
andererseits vor Übertreibungen gewarnt wird (Workaholic, Kaufwut).<br />
305
306<br />
Auch historische Bedeutungsveränderungen lassen sich auf diese Weise belegen,<br />
indem Texte aus verschiedenen Epochen verglichen werden. So wurde z. B.<br />
im Projekt der Gebrauch <strong>und</strong> die Bedeutung des Wortes fromm im Laufe der Geschichte<br />
analysiert, ebenso wie die unterschiedliche Bewertung von Freigebigkeit<br />
<strong>und</strong> Sparsamkeit (vgl. KRULL 2004; MALMQVIST 2000).<br />
Für die Analyse wurde eine tentative Gliederung des ethischen Wissenssystems<br />
in 12 Bereiche gemacht (Abb. 1). In jedem Bereich stehen zwei komplementäre<br />
positive Eigenschaften (Tugenden) zwei negativen Untugenden kontrastiv gegenüber.<br />
Dabei wird deutlich, <strong>das</strong>s jede negative Eigenschaft, jedes Laster, immer<br />
auf ein Zuviel der einen Tugend <strong>und</strong> ein Zuwenig der anderen beruht. So werden<br />
z. B. im Bereich „Einstellung zu Besitz“ die zwei positiv angesehenen Eigenschaften<br />
Freigebigkeit <strong>und</strong> Sparsamkeit mit den negativen Geiz <strong>und</strong> Verschwendungssucht<br />
kontrastiert (Abb. 5). Es zeigt sich hierbei, <strong>das</strong>s Geiz sowohl die Übertreibung der<br />
Tugend Sparsamkeit als auch einen Mangel an Freigebigkeit beinhaltet. Verschwendungssucht<br />
wiederum ist eine Folge der allzu großen Freigebigkeit bzw. einer<br />
mangelnden Sparsamkeit. Jeder Wert muss sich also in Gleichgewicht zu einem<br />
Gegenwert befinden, um nicht in <strong>das</strong> Gegenteil, die Untugend, umzuschlagen.<br />
Dieses Analyseverfahren wird im Projekt <strong>das</strong> Vierfenstermodell genannt 3 . Es lassen<br />
sich weiterhin in allen Bereichen zwei unterschiedliche Verhaltensweisen<br />
aufzeigen, eine offene, zuwendende <strong>und</strong> eine andere die sich durch Abwendung<br />
<strong>und</strong> Geschlossenheit charakterisiert. Das Projektmodell stellt somit ein Gr<strong>und</strong>inventar<br />
menschlichen Verhaltens dar.<br />
Lassen sich Wandsprüche analysieren?<br />
Bei der Durchsicht des Gesamtkorpus zeigte es sich, <strong>das</strong>s einige der Wandsprüche<br />
mehr als eine Eigenschaft thematisieren wie z. B. Wer Arbeit liebt <strong>und</strong><br />
sparsam zehrt, der sich in aller Welt ernährt (Fleiß <strong>und</strong> Sparsamkeit). Solche Sprüche,<br />
die zwei oder mehr Eigenschaften beinhalten, sind auch mehrmals verzeichnet<br />
worden, so <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Korpus nun 146 Belege umfasst, davon 11 zweimal<br />
<strong>und</strong> 2 dreimal aufgeführt.<br />
Auch wenn ein Spruch ziemlich eindeutig in einen gewissen Bereich gehört,<br />
setzt er oft Eigenschaften bzw. Verhaltensweisen aus anderen Bereichen voraus,<br />
da <strong>das</strong> ethische System eine Ganzheit darstellt. In diesen Fällen wird der Terminus<br />
Polykonzept verwendet:<br />
Bewahret einander vor Herzeleid, kurz ist die Zeit, die ihr zusammen seid.<br />
Und wenn auch Jahre euch vereinen, einst werden wie Minuten sie<br />
erscheinen.<br />
Hier geht es um Selbstkontrolle (Bereich 4), die kaum ohne gegenseitige Achtung<br />
(Bereich 11) <strong>und</strong> Verantwortung (Bereich 8) möglich ist.<br />
Für die Interpretation der einzelnen Sprüche spielen natürlich Faktoren wie<br />
3. Ein ähnliches Analysemodell wird in Arbeiten des Psychologen F. Schulz von Thun (1999) zur<br />
Persönlichkeitsentwicklung verwendet. Dass es sowohl für eine sprachwissenschaftliche als<br />
auch für eine psychologische Analyse als Arbeitsmittel eingesetzt werden kann, ist ein<br />
Zeichen von der Allgemeingültigkeit des Modells.
der gedachte Sprecher oder die Gesamtsituation eine Rolle. Was schließlich aus<br />
dem Wandspruch ein Wahrwort <strong>und</strong> ein Lehrwort macht, ist die vom Rezipienten<br />
geleistete Verknüpfung zum Leben.<br />
Die 146 Sprüche ließen sich den zwölf Bereichen folgendermaßen zuordnen:<br />
Einstellung zu:<br />
1. Religion 28 7. Schicksal 13<br />
2. Arbeit 23 8. Verantwortung 03<br />
3. Gerechtigkeit 03 9. Selbstwert 04<br />
4. Gefühl 28 10. Gesetz 10<br />
5. Besitz 15 11. Achtung 10<br />
6. Handlungsfreiheit 07 12. Information 02<br />
Abb. 1: Wandsprüche – Anzahl pro Bereich<br />
Wenn die Belege gleichmäßig auf die zwölf Bereiche verteilt wären, würde dies<br />
eine Durchschnittszahl von 12 in jedem Bereich bedeuten. Wie aus der obigen<br />
Tabelle hervorgeht, weisen aber einige Bereiche überdurchschnittlich viele Belege<br />
auf, während andere kaum thematisiert werden. Schon hier zeigt sich also eine<br />
Prioritätensetzung, indem einige Tugenden in den Wandsprüchen stärker hervorgehoben<br />
werden als andere. Die Aufstellung zeigt, <strong>das</strong>s die Bereiche (Einstellung<br />
zu) Religion, Gefühle <strong>und</strong> Arbeit die meisten Belege sammeln, gefolgt von<br />
(der Einstellung zu) Besitz, Schicksal, Gesetz <strong>und</strong> Achtung/Respekt.<br />
Das Verhältnis zwischen Tugenden <strong>und</strong> Lastern<br />
Sieht man auf die einzelnen Eigenschaften, lässt sich erkennen, <strong>das</strong>s die<br />
Wandsprüche in erster Linie die Tugenden, vor allem Glaube, Fleiß, Emotionalität<br />
<strong>und</strong> Selbstbeherrschung thematisieren. Viele Belege gibt es auch zu Freigebigkeit,<br />
Geduld, Ehrlichkeit <strong>und</strong>, was man vielleicht nicht erwartet, auch zu<br />
Integritätswahrung.<br />
Bezeichnenderweise werden negative Eigenschaften, Unwerte oder Laster nur<br />
selten fokussiert: Im Ganzen gibt es dazu nur 14 Aussagen. Es ist verständlich, <strong>das</strong>s<br />
in den Wandsprüchen eher die guten Eigenschaften, die Geborgenheit <strong>und</strong> Glück<br />
im Hause fördern, hervortreten. Warnungen vor Lastern werden folglich lieber<br />
als positive Aufforderungen formuliert.<br />
Die Prioritätensetzungen lassen sich auch lexikalisch belegen. Bei einer Zählung<br />
der in den Wandsprüchen am häufigsten vorkommenden Wörter steht<br />
<strong>das</strong> Lexem Gott an erster Stelle mit 37 Belegen. Danach folgen Haus/Heim/Herd<br />
(27), Zusammensetzungen mit lieb- (25) <strong>und</strong> an vierter Stelle Glück (22). Andere<br />
sehr häufig vorkommende Lexeme sind mein, Leben, Fried-, Mensch, Herz,<br />
<strong>und</strong> Arbeit (je 17 bis 10 Belege).<br />
Ethische Konzepte in den deutschsprachigen Wandsprüchen<br />
Im Folgenden werden einige Beispiele aus der Wandspruchsammlung zu den<br />
am häufigsten thematisierten Eigenschaften aufgeführt. Wie zu erwarten, entspre-<br />
307
308<br />
chen diese den traditionellen Werten, die zum stereotypen Bild der ‚Deutschen‘<br />
gehören. Erstaunlich ist aber, <strong>das</strong>s sie 180 Jahre nach der Auswanderung noch<br />
erhalten sind. Bei der Analyse wird dem Projektmodell gefolgt <strong>und</strong> die Schlüsselwörter<br />
des Vierfenstermodells benutzt, in dem zwei positive Einstellungen (oben)<br />
zwei negativen (unten) entgegengestellt werden. Die Anzahl der Belege wird in<br />
jedem ‚Fenster‘ angegeben.<br />
Einstellung zur Religion (Bereich 1)<br />
Glaube, Vertrauen (28) Selbständiges Denken; Skepsis (0)<br />
Blinder Glaube, Fanatismus (0) Zweifel, Misstrauen (0)<br />
Abb. 2<br />
In der Welt der Wandsprüche nehmen die religiösen eine wichtige Stellung ein,<br />
entweder in der Form von Bitten um Gottes Schutz oder als Ermahnungen zu Gottvertrauen.<br />
Zur ersten Kategorie gehören einige der frequentesten Wandsprüche, z. B:<br />
Der Herr behüte dieses Haus<br />
<strong>und</strong> wer da gehet ein <strong>und</strong> aus.<br />
Gott halte treue Wacht<br />
in diesem Hause Tag <strong>und</strong> Nacht.<br />
Zur Kategorie der Ermahnungen zählen Sprüche wie:<br />
Wer Gott vertraut, hat wohl gebaut.<br />
Hoch über den Sternen steht geschrieben,<br />
der Mensch soll glauben, hoffen, lieben.<br />
Einstellung zur Arbeit (Bereich 2)<br />
Fleiß, Arbeitseifer (19) Erholungsbewusstheit (02)<br />
Arbeitssucht (0) Faulheit, Arbeitsscheu (02)<br />
Abb. 3<br />
Einen anderen Schwerpunkt stellen solche Sprüche dar, die zu Arbeitseifer <strong>und</strong><br />
Arbeitsfreude ermuntern. Neben Gläubigkeit ist Fleiß die Einzeleigenschaft, welche<br />
die meisten Belege aufweist (19), was nicht weiter verw<strong>und</strong>ert, da der hohe Stellenwert<br />
der Arbeit unter den deutschen Einwanderern <strong>und</strong> ihren Nachkommen als<br />
ein ethnisches Charakteristikum gilt. Zu dieser Gruppe zähle ich allgemein bekannte<br />
Sprichwörter wie Ohne Fleiß, kein Preis; Sich regen bringt Segen oder Jung gewohnt ist<br />
alt getan. Die Priorisierung von Fleiß wird auch in der entsprechenden Stigmatisierung<br />
seines Gegensatzes deutlich: Faulheit, Arbeitsscheu wird mit Armut <strong>und</strong> sogar<br />
mit Tod verknüpft: Faulheit lohnt mit Armut oder Ein unnütz Leben ist ein früher Tod.<br />
Ordnung <strong>und</strong> Reinlichkeit gehören auch zu den schon erwähnten Polykonzepten,<br />
die verschiedene Bereiche anschneiden. Die Mehrzahl der in meinem<br />
Material häufig vorkommenden Belege zu diesem Thema habe ich dem Bereich 2<br />
zugeführt als Ausdruck von Fleiß, obwohl sie auch Verantwortung (Bereich 8)<br />
<strong>und</strong> Sich-an-die-Regeln halten (Bereich 10) beinhalten.
Halte Ordnung, liebe sie,<br />
Ordnung spart dir viele Müh’.<br />
Ordnungssinn <strong>und</strong> Sauberkeit<br />
halte hoch für alle Zeit.<br />
Einstellung zu Gefühl/Emotionsdarbietung (Bereich 4)<br />
Sensibilität, Emotionalität (13) Selbstbeherrschung, -kontrolle (13)<br />
Unbeherrschtheit, Labilität (02) Gefühllosigkeit, Verklemmung (0)<br />
Abb. 4<br />
Dass so viele Wandsprüche <strong>das</strong> Thema ‚Gefühle haben <strong>und</strong> zeigen‘ fokussieren,<br />
ist weiterhin nicht erstaunlich. Wie schon gesagt, wird hier <strong>das</strong> Bild einer<br />
Idealwelt gezeichnet, in der die positiven, erstrebenswerten Gefühle überwiegen.<br />
Die Herstellerin der Wandsprüche wünscht sich folglich ein Zuhause, in dem alle<br />
guten Eigenschaften blühen können <strong>und</strong> wo man <strong>das</strong> Böse, <strong>das</strong> Verletzende <strong>und</strong><br />
Beleidigende fernhalten kann. Es geht hier um Liebe, Fre<strong>und</strong>lichkeit, Frieden,<br />
Einigkeit <strong>und</strong> Zusammenhalt. Wenn alle diese Elemente vorhanden sind, herrscht<br />
Glück. Vor Unbeherrschtheit wird ausdrücklich gewarnt. Ein gutes Gewissen garantiere<br />
jedoch Glück <strong>und</strong> Zufriedenheit:<br />
Lieben <strong>und</strong> geliebt zu werden<br />
ist <strong>das</strong> höchste Glück auf Erden.<br />
Geh nie im schnellen Zorn von deines Glückes Herd.<br />
Schau mancher ging, der nie zurückgekehrt.<br />
Zusammenhalten in Freud <strong>und</strong> Leid<br />
bringt Glück <strong>und</strong> Segen allezeit.<br />
Nichts ist umsonst, was mit dem Herzen getan wird.<br />
Lass draußen die Sorgen, bring Glück nur herein.<br />
Hier bist du geborgen, hier bist du daheim.<br />
Wenn du im Herzen Frieden hast, wird dir die Hütte zum Palast.<br />
Einstellung zu Besitz (Bereich 5)<br />
Freigebigkeit/Großzügigkeit (09) Sparsamkeit (02)<br />
Verschwendung(ssucht) (02) Geiz, Habgier (02)<br />
Abb. 5<br />
Im Bereich 5 „Einstellung zu Besitz“, gibt es in den Wandsprüchen Belege für<br />
alle vier Eigenschaften im Wertequadrat, allerdings mit deutlichem Übergewicht<br />
für Freigebigkeit, Gastfre<strong>und</strong>lichkeit, Großzügigkeit. Besonders viele Sprüche<br />
thematisieren die Gastfre<strong>und</strong>lichkeit, ein weiteres Merkmal des deutschbrasilianischen<br />
Hauses. Allerdings wird von dem Gast auch erwartet, <strong>das</strong>s er, wie<br />
die Beispiele zeigen, „froh“ oder „guten Glaubens“ ist <strong>und</strong> sich außerdem an die<br />
Spielregeln des Hauses hält:<br />
309
310<br />
Ein froher Gast ist niemandes Last.<br />
Wer guten Glaubens ist, herein,<br />
soll lieb hier <strong>und</strong> willkommen sein.<br />
Fünf sind geladen, zehn sind gekommen.<br />
Gieß Wasser zur Suppe, heiß alle willkommen.<br />
Besondere Aufmerksamkeit verdient meines Erachtens ein offensichtlich in<br />
Brasilien entstandener Spruch, in dem von Chimarrão gesprochen wird, <strong>das</strong> Trinken<br />
von Mate-Tee, eine ursprünglich indianische Sitte, die zuerst von den Gaúchos<br />
<strong>und</strong> dann von den Einwanderern übernommen wurde:<br />
Grüß Gott, du lieber Erdensohn<br />
Trink mit mir ein Chimarrão,<br />
erzähl mir Freud <strong>und</strong> Herzeleid<br />
<strong>und</strong> bleib mein Fre<strong>und</strong> in Ewigkeit.<br />
Neben der Gastfre<strong>und</strong>lichkeit werden hier treue Fre<strong>und</strong>schaft <strong>und</strong> vertrauensvolle<br />
Anteilnahme thematisiert. Stilistisch fällt <strong>das</strong> etwas hochtrabende Erdensohn<br />
auf. In der Minoritätssituation der Einwanderer in einer mehrkulturellen<br />
Gesellschaft könnte man <strong>das</strong> Lexem Erdensohn als eine allgemeinmenschliche,<br />
über Rassen <strong>und</strong> Nationalitäten stehende Bezeichnung deuten, die außerdem<br />
religiöse Assoziationen hervorruft.<br />
Einstellung zum „Schicksal“/Geschehen (Bereich 7)<br />
Tatkraft, Problemlösungsbereitschaft (02) Hinnahme, Geduld (08)<br />
Ungeduldiges Auflehnen, Hinterlist (01) Passivität, Resignation (02)<br />
Abb. 6<br />
In diesem Bereich werden in den Wandsprüchen vor allem die mehr nach<br />
innen gerichteten Eigenschaften Hinnahme, Geduld, Duldsamkeit <strong>und</strong> Langmut<br />
thematisiert. Es handelt sich dabei ausdrücklich um die Einstellung zum ‚Schicksal‘,<br />
zu einer übergeordneten Macht mit stark religiöser Prägung, was auch oft<br />
direkt ausgesagt wird, wie in Der Mensch denkt <strong>und</strong> Gott lenkt oder<br />
Alles auf Erden hat seine Zeit,<br />
Frühling <strong>und</strong> Winter, Freude <strong>und</strong> Leid.<br />
Im Glück nicht jubeln, im Leid nicht klagen,<br />
<strong>das</strong> Unvermeidliche mit Würde tragen.<br />
Glück <strong>und</strong> Glas – wie leicht bricht <strong>das</strong>!<br />
Einstellung zu Gesetz <strong>und</strong> Normen (Bereich 10)<br />
Redlichkeit, ‚Kontextabhängiges<br />
Ehrlichkeit (09) Befolgen von Gesetzen‘ (0)<br />
‚Starres Befolgen von Unehrlichkeit,<br />
Gesetzen‘ Prinzipienreiterei (0) Kriminalität (01)<br />
Abb. 7
Die Eigenschaft, die neben der Arbeitsamkeit den Einwanderer im allgemeinen<br />
Bewusstsein kennzeichnet <strong>und</strong> ihn auch von der Umwelt abhebt, ist zweifelsohne<br />
die Ehrlichkeit. Dies kommt in meinem Material deutlich zum Ausdruck. Im<br />
Bereich 10 „Einstellung zu Gesetz <strong>und</strong> Spielregeln der Gesellschaft“ ist die Diagonale<br />
Ehrlichkeit/Unehrlichkeit mit 10 Belegen vertreten, während die andere Diagonale<br />
keinen aufweist:<br />
Des Hauses bester Fre<strong>und</strong> ist Tugend,<br />
Sie ziert <strong>das</strong> Alter <strong>und</strong> die Jugend.<br />
Und willst den größten Reichtum wissen,<br />
bewahr ein ruhiges Gewissen.<br />
Neben Sprichwörtern wie Ehrlichkeit währt am längsten oder Ehrliche Hand<br />
geht durchs ganze Land fallen die beliebten dreizeiligen Ratschläge auf, die es in<br />
verschiedenen Variationen gibt (für diesen Bereich trifft die letzte Zeile zu):<br />
Trink was rein ist<br />
Denk was fein ist<br />
Nimm was dein ist.<br />
Wie ernst man es mit der Unehrlichkeit nahm, bezeugt folgender Spruch (einer<br />
der wenigen zu einem Laster), der wohl manchem Kind als Warnung diente:<br />
Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht,<br />
wenn er auch tausendmal die Wahrheit spricht.<br />
Einstellung zu Achtung/Respekt gegenüber anderen (Bereich 11)<br />
Respekt, Höflichkeit (01) Wahrung eigener Integrität (08)<br />
Unterwürfigkeit, Servilität (0) Missachtung, Verachtung (01)<br />
Abb. 8<br />
Ähnlich wie im schon erwähnten Bereich 7 sind hier unter den Wandsprüchen<br />
eher die mehr nach innen gerichteten Eigenschaften vertreten, nämlich Integritätswahrung<br />
<strong>und</strong> Selbstbehauptung. Anders als bei der religiös gefärbten Duldsamkeit<br />
im Bereich 7 bezieht man sich hier auf <strong>das</strong> zwischenmenschliche Verhalten.<br />
Auch der Gastgeber muss manchmal die eigenen Rechte <strong>und</strong> <strong>das</strong> eigene Haus<br />
verteidigen. Gleichzeitig sind diese Sprüche eine vorbeugende, sichtbare Mahnung<br />
an den Gast, sich an die Spielregeln des Hauses zu halten (Bereich 10):<br />
Wer hier an meinem Tische sitzt<br />
der nimmt an, wie bei mir die Sitte ist.<br />
Dient aber besser dir die deine<br />
dann streck unter deinem Tische die Beine.<br />
Ist dir dieses Haus nicht recht,<br />
Bau dir ein andres, <strong>das</strong> nicht so schlecht!<br />
Die vielen Wandsprüche, die Stolz über <strong>das</strong> eigene Haus ausdrücken, wurden<br />
auch zu diesem Bereich geführt. Es handelt sich hier wohl um ein universell-<br />
311
312<br />
menschliches Gefühl, <strong>das</strong> in vielen Sprachen belegt wird (eng. My home is my<br />
castle, schw. Egen härd är guld värd) aber in der Situation der Einwanderer einen<br />
besonders hohen Stellenwert hat. Das durch viel Mühe erarbeitete eigene Haus<br />
(<strong>und</strong> eigene Land) bekommt eine tiefere Bedeutung für denjenigen, der bestrebt<br />
ist, in einem neuen Land Wurzeln zu schlagen:<br />
Der Mensch braucht ein Plätzchen, <strong>und</strong> sei es noch so klein,<br />
von dem er kann sagen: Sieh hier, <strong>das</strong> ist mein!<br />
Spontane Aussagen zu ethischem Verhalten<br />
Meine Untersuchung von Sprache <strong>und</strong> Mentalität der Deutschstämmigen in<br />
Südbrasilien umfasste, wie schon gesagt, auch Interviews in verschiedenen Gegenden<br />
der deutschen Kolonie, die hier als Vergleich herangezogen werden 4 . In<br />
den Gesprächen ging es nämlich auch um ethische Wertvorstellungen. Diese<br />
spontanen Antworten der Informanten (309 Belege) wurden ebenso mit Hilfe des<br />
Beschreibungsmodells analysiert. Dabei werden schon bei einer Rangordnung<br />
der Bereiche die Divergenzen zwischen dem mündlichen <strong>und</strong> dem schriftlichen<br />
Material klar (vgl. Abb.1):<br />
Einstellung zu:<br />
1. Religion 22 7. Schicksal 14<br />
2. Arbeit 40 8. Verantwortung 21<br />
3. Gerechtigkeit 12 9. Selbstwert 21<br />
4. Gefühl 24 10. Gesetz 37<br />
5. Besitz 19 11. Achtung 35<br />
6. Handlungsfreiheit 22 12. Information 42<br />
Abb.9: Mündliches Material – Anzahl pro Bereich<br />
In den Interviews steht an erster Stelle Bereich 2 „Einstellung zu Arbeit“. Die Aussagen<br />
zu Fleiß zeigen auch im mündlichen Material die hierzu gehörige hohe Wertschätzung<br />
5 . So wurde z. B. gesagt: „In der elterlichen Erziehung wurde klar, <strong>das</strong>s die Arbeit<br />
ein Wert ist <strong>und</strong> nicht nur eine Verdammung, ein positiver Wert“, <strong>und</strong> weiter: „Die<br />
Arbeit war der Gr<strong>und</strong>satz, nach der meine Mutter praktisch alles beurteilte.“ Im Vergleich<br />
zu den Lusobrasilianern gilt der Fleiß, wie schon erwähnt, als ethnisches Merkmal:<br />
„Am Schaffen kennt man die“, wie eine Informantin erklärte.<br />
Anders als bei den Wandsprüchen wird auch die dem Fleiß entgegengesetzte<br />
Untugend, die Faulheit, in vielen Aussagen deutlich stigmatisiert, so z. B.: „Bei uns<br />
hat sich nie einer auf die faule Haut gelegt“. Aber auch vor dem komplementären<br />
4. Die Sprache der Interviewten ist unterschiedlich stark dialektal geprägt. Bei der Transkription<br />
der Aussagen habe ich die sog. literarische Umschrift benutzt, die <strong>das</strong> Alphabet der<br />
Schriftsprache ohne Sonderzeichen verwendet.<br />
5. Die Einwanderung nach Brasilien wurde im vorigen Jahrh<strong>und</strong>ert mit der Begründung gefördert,<br />
<strong>das</strong>s <strong>das</strong> Land arbeitswillige „Arme“ [„braços“] brauche. Es handelt sich aber bei den<br />
deutschbrasilianischen Kolonisten nicht um die Arbeit des unfreien Mannes, sondern um die<br />
des Eigentümers, man arbeitet für sich <strong>und</strong> für seine Familie auf eigenem Boden.
Laster Arbeitssucht wird in den Interviews gewarnt. Die allzu große Gewichtigkeit<br />
der Arbeit habe dazu geführt, <strong>das</strong>s andere positive Tätigkeiten vernachlässigt<br />
wurden, wie Spielen, Märchen erzählen oder sogar <strong>das</strong> Lernen. Die Eltern hätten<br />
keine Zeit dafür gehabt, wie folgende Äußerungen belegen:<br />
Märchen erzählen? Da hatten sie gar keine Zeit dafür.<br />
Abendgebet? Tischgebet? Selten mal, <strong>das</strong> mußte immer so hastig, so<br />
schnell alles gehen.<br />
Da musste man <strong>das</strong> Spielen vergessen, musste man an die Arbeit.<br />
Die Frau iss mol schroh uff die Arbeit, lasst nix langs gehe, tut die<br />
Kinner alle an die Arbeit stelle, durfte die Kinner net lerne.<br />
Interessanterweise sind Glaube <strong>und</strong> Gefühle Themen, die nicht so häufig im<br />
Gespräch angeschnitten werden, obgleich sie in den Wandsprüchen öfter<br />
thematisiert werden. Daraus ist aber nicht ohne weiteres auf ein geringes Interesse<br />
für diese Gebiete zu schließen. Eher kann man hier eine gewisse natürliche<br />
Scheu vor heiklen Themen annehmen, wie sie im folgenden Interviewzitat<br />
deutlich wird:<br />
Die Mutter war eine fromme Frau, so wie man es den Kolonisten beigebracht<br />
hatte, fromm zu sein. Es wurde zu Hause aber nicht über<br />
Religion gesprochen, es war kein häufiges Thema.<br />
Im Vergleich zu den Wandsprüchen kann im mündlichen Material im Bereich<br />
4 „Gefühl/Emotionsdarbietung“ eine unterschiedliche Gewichtung der<br />
beiden Tugenden Emotionalität <strong>und</strong> Selbstbeherrschung beobachtet werden.<br />
In den Interviews weist die eher reservierte, kontrollierte Einstellung mehr als<br />
dreimal so viele Belege auf als die emotionelle. Einige Äußerungen<br />
thematisieren <strong>das</strong> Fehlen von Emotionsdarbietung im Elternhaus, wie: „Unser<br />
Haus war sehr karg, sehr trocken“. Im familiären <strong>und</strong> nachbarlichen Umgang<br />
galt es vor allem, Streit <strong>und</strong> Auseinandersetzungen zu vermeiden, wie folgende<br />
Aussage bezeugt:<br />
Da ist man rechter ruhig, dreht sich um <strong>und</strong> geht fort, rechter tut man<br />
gar nichts antworten.<br />
Im Bereich 5 „Einstellung zum Besitz“ werden auch in den Interviews Gastfre<strong>und</strong>lichkeit<br />
<strong>und</strong> Generosität hervorgehoben, z. B.: „Wir hatten immer eine offene<br />
Tür“ oder „Bei uns sinn viele Leut zu Mittag gekommen, sie haben gewusst, <strong>das</strong>s<br />
der Papa tät essen geben“. Besonders die Generosität der Mutter gegenüber Leuten<br />
in der Nachbarschaft, die gerade Hilfe nötig hatten, wird von vielen betont:<br />
Die Mama hot immer im Gorde gearbeit, io, do wor von allem drin, do<br />
konnt man noch fir die ganz Nachborschlait [...] alle hon se Knoblauch<br />
unn Kraut unn Griins unn Rotriewe unn Gellriewe <strong>das</strong> sinn se all bei<br />
uns hole komm, unn nie keen Mill kobriert [nie hat sie was dafür verlangt],<br />
all so geschenkt fir die Nachborschlait, io, wann die in Not wore,<br />
sinn se bei uns komm, hon sich geholt, do wor immer, immer geweest.<br />
Aber auch die komplementäre Tugend Sparsamkeit ist im mündlichen Material<br />
313
314<br />
belegt. Man erinnert sich an Sprichwörter aus der Kindheit wie Wer spart in Zeit,<br />
hat in der Not. Ein Informant sagt:<br />
Was ganz groß geschrieben war bei uns zu Hause war <strong>das</strong> sparsame<br />
Leben. So bin ich erzogen. Etwas Abgebrauchtes <strong>das</strong> wurde bei uns<br />
immer aufgehoben, „wer weiß, <strong>das</strong> kann man noch gebrauchen“. Es ist<br />
uns ins Blut übergegangen.<br />
Vor den Untugenden Geiz <strong>und</strong> Verschwendungssucht wird allerdings ebenso<br />
gewarnt:<br />
Da hat nichts gefehlt bei der Mama, es ist am Essen nicht gespart<br />
worden, was übrigblieb, bekam <strong>das</strong> Vieh, nichts wurde weggeworfen:<br />
„Versauen net“, hat sie gesagt.<br />
Im Bereich 11 „Einstellung zu Achtung/Respekt gegenüber anderen“ überwiegt<br />
bei den Wandsprüchen eindeutig die Anzahl Belege für Integritätswahrung <strong>und</strong><br />
Selbstbehauptung. In den Interviews dagegen kommen diese Eigenschaften kaum<br />
zu Wort. Stattdessen wird von den komplementären Einstellungen Respekt, Höflichkeit<br />
gesprochen. Respekt vor den Älteren, Höflichkeit <strong>und</strong> Dankbarkeit waren<br />
demnach priorisierte Anliegen in der Erziehung:<br />
Wir haben nie über alte Leute gespottet, <strong>das</strong> hat es bei uns nicht gegeben.<br />
Man musste den Alten immer die Zeit bieten.<br />
Wenn ich was geschenkt bekomme, muss ich was abgeben, meine Mama<br />
hat immer gesagt „Eine Hand wäscht die andere“.<br />
Die entgegengesetzte Untugend Verachtung, Überheblichkeit wird wiederholt<br />
durch dialektale Ausdrücke exemplifiziert: So bedeutet stumbieren ‚schlecht behandeln,<br />
jemanden nicht zu seinem Recht kommen lassen‘ wie z.B.: „Die Brasilioner<br />
Männer tun die deitsche Mäd stumbiere“. Das oft benutzte Adjektiv schroh kann<br />
einen überheblichen, groben <strong>und</strong> unhöflichen Menschen bezeichnen.<br />
Identität <strong>und</strong> Solidarität sind Polykonzepte, die in den Wandsprüchen nicht<br />
direkt vorkommen, aber in den Interviews stark hervorgehoben wurden <strong>und</strong> zu<br />
mehreren Bereichen hingeführt werden können. Dazu gehören Eigenschaften<br />
wie Verantwortungsbewusstsein (8), Hilfsbereitschaft (6) <strong>und</strong> berechtigter Stolz (9).<br />
Der Bedarf an Solidarität <strong>und</strong> Zusammenhalten innerhalb der Gruppe motiviert<br />
dieses Verhalten:<br />
Deitsche Leit’ die halle’ fest.<br />
In der Arbeit waren sie sehr pünktlich, in der Besorgung der Felder,<br />
die Pflanzung reinhalten, nichts vor Unkraut umkommen lassen.<br />
Die gegenseitige Hilfe in der Kolonie war früher sehr stark. Es passierte eigentlich<br />
überhaupt nicht, <strong>das</strong>s einer mal den anderen im Stich gelassen hat.<br />
Die Rolle der Laster<br />
Der größte Unterschied zwischen dem mündlichen Material <strong>und</strong> den Wandsprüchen<br />
liegt in der Anzahl Belege zu negativen Eigenschaften (43% der Äußerungen),<br />
d. h. <strong>das</strong>s Tugenden <strong>und</strong> Untugenden im mündlichen Korpus beinahe
gleichmäßig belegt sind. Im Bereich 10 „Ehrlichkeit/Unehrlichkeit“ übertrifft die<br />
Anzahl der negativen Aussagen sogar die der positiven, ein einmaliges Ergebnis,<br />
<strong>das</strong> im restlichen Material nicht vorkommt. Wie schon gezeigt, werden Laster nur<br />
sehr spärlich in den Wandsprüchen fokussiert. Untugenden, die ausschließlich in<br />
den Interviews berührt werden, sind z. B. im Bereich 1 Aberglaube <strong>und</strong> Misstrauen,<br />
im Bereich 8 die beiden komplementären Laster Verantwortungslosigkeit bzw. übertriebenes<br />
Verantwortungsgefühl, im Bereich 9 Minderwertigkeitshaltung bzw. Hochmut<br />
<strong>und</strong> im Bereich 11 Unterwürfigkeit.<br />
Sehr oft beziehen sich die negativen Aussagen auf ‚die anderen‘, von denen<br />
man sich abgrenzen möchte, sei es „die Brasilianer“, „die Katholiken“, „die Städter“<br />
oder „die Blauen“. Vertreter anderer Ethnien werden mit gewisser Skepsis<br />
betrachtet: „Die Blaue’ kann man net traue’. So’ne Mistura“ oder „Sinn net so<br />
confiáveis“. Diese Tendenz der Ausschließung in den negativen Äußerungen<br />
erklärt auch ihr Fehlen bei den Wandsprüchen, die ja in ihrer Botschaft<br />
Allgemeingültigkeitsanspruch erheben. Gerade durch sprichworthafte, stilistische<br />
Elemente wie „Wer..., der...“ umfassen sie sowohl den direkt Angesprochenen<br />
als ‚die anderen‘.<br />
Die ‚italienischen‘ Wandsprüche in Rio Grande do Sul<br />
Selbstbild der italienischen Einwanderer<br />
Wie im Anfang des Artikels berichtet, gibt es in Rio Grande do Sul neben der<br />
deutschen eine ebenso große Einwanderergruppe italienischer Herkunft. In<br />
einem 1999 erschienenen Buch über ethnische Identität Nós, os Italo-Gaúchos<br />
(MAESTRI 1998) mit Beiträgen von r<strong>und</strong> 20 Personen italienischer Abstammung<br />
sieht sich der Italo-Riograndenser vor allem als arbeitsam, sparsam <strong>und</strong><br />
geschäftstüchtig, aber auch als emotiv, religiös <strong>und</strong> sehr mit seiner Familie<br />
verb<strong>und</strong>en. Diese Eigenschaften habe ich auch in Stichprobeninterviews feststellen<br />
können anhand des gleichen Fragebogens, der bei den deutschen Interviews<br />
gebraucht wurde.<br />
Das Forschungsprojekt von Unisinos<br />
Das in der Einleitung erwähnte sozialgeschichtliche Projekt Imagens e Palavras<br />
der Universität Unisinos in São Leopoldo hat sich zum Ziel gesetzt, die im italienischen<br />
Einwanderungsgebiet vorherrschenden Wertvorstellungen näher zu untersuchen<br />
<strong>und</strong> systematisch darzulegen.<br />
Bei der Durchführung des Projekts wurden in Feldarbeit diverse Textilien als<br />
Artefakte der materialen Kultur eingesammelt, u. a. 74 gestickte Wandsprüche.<br />
Manche Sprüche liegen mehrfach vor, zwei- oder dreimal, ab <strong>und</strong> zu mit kleinen<br />
orthographischen Abweichungen, <strong>und</strong> insgesamt sind es nur 55 verschiedene<br />
Texte. Bei dieser italienischen Wandspruchsammlung handelt es sich um ein<br />
begrenzteres Material, aus dem keine allzu bedeutsamen Folgerungen gezogen<br />
werden können <strong>und</strong> <strong>das</strong> natürlich nicht ausreicht, um ein ethisches Konzeptprofil<br />
dieser Kulturgemeinschaft aufzustellen. Es fällt aber auf, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> oben erwähnte<br />
Selbstbild der Italo-Riograndenser durch die Prioritätensetzung der Wandsprüche<br />
bestätigt wird: emotiv, religiös, arbeitsam <strong>und</strong> sparsam.<br />
315
316<br />
Vergleichende Analyse der ‚italienischen‘ Wandsprüche<br />
Im Vergleich zum deutschen Material liegt der größte Unterschied aber in der<br />
Sprache, indem die ‚italienischen‘ Sprüche durchweg auf portugiesisch geschrieben<br />
sind <strong>und</strong> nicht in der Muttersprache. Dies lässt sich zum Teil dadurch erklären,<br />
<strong>das</strong>s es keine Förderung der italienischen Schriftsprache in Brasilien gab, weder<br />
durch italienischsprachige Gemeindeschulen noch durch eine Kalenderliteratur<br />
wie unter den Deutschbrasilianern. Dies wiederum bestätigt indirekt den hohen<br />
Stellenwert der Muttersprache unter den deutschen Einwanderern. Die Texte<br />
sind meistens kürzer als die deutschen <strong>und</strong> nicht immer gereimt, was auf eine<br />
Übersetzung deuten könnte. Manchmal bestehen sie aus einfachen Höflichkeitsformeln<br />
wie Bom Dia ‚Guten Morgen‘ oder Bom Apetite ‚Guten Appetit‘. In zwei<br />
Fällen scheinen Übersetzungen aus dem Deutschen vorzuliegen:<br />
Um hóspede alegre jamais será um peso.<br />
‚Ein froher Gast ist niemandes Last.‘<br />
Amar e ser amado é a maior fortuna do m<strong>und</strong>o.<br />
‚Lieben <strong>und</strong> geliebt zu werden ist <strong>das</strong> höchste Glück auf Erden.‘<br />
Was die Herkunft der Sprüche betrifft, scheinen sie also entweder Übersetzungen<br />
von Texten aus der Heimat zu sein oder der multikulturellen brasilianischen<br />
Umwelt entnommen. Trotzdem können sie als für die Ethnie aussagekräftig betrachtet<br />
werden, da sie ja von Mitgliedern der Gruppe ausgewählt <strong>und</strong> innerhalb<br />
der Gruppe verbreitet wurden.<br />
Schon bei einem ersten Vergleich der beiden Korpora fällt beim italienischen<br />
Material die große Zahl der Nullfelder im Vierfenstermodell auf: von den 48 alternativen<br />
Verhaltensweisen des Projektmodells werden überhaupt nur 15 Eigenschaften<br />
thematisiert, <strong>und</strong> zwar alle positiv. In der Rangordnung der Bereiche<br />
steht an erster Stelle „Religion“, an zweiter „Arbeit“, <strong>und</strong> an die dritte kommt „Emotionen“<br />
(Bereich 4). Den vierten <strong>und</strong> den fünften Platz teilen sich die Bereiche 5<br />
„Besitz“ <strong>und</strong> 11 „Respekt/Achtung“.<br />
Wenn man zu den einzelnen Eigenschaften geht, wird deutlich, <strong>das</strong>s die Tugenden<br />
Glauben, Fleiß, Emotionalität prozentual stärker belegt sind als im deutschen<br />
Material. Weiterhin enthält <strong>das</strong> italienische Material proportional mehr Belege<br />
für Sparsamkeit 6 , Stolz <strong>und</strong> Respekt als die deutschen Wandsprüche.<br />
Anders als bei den deutschen habe ich unter den italienischen Wandsprüchen<br />
auch eine Aussage zum positiven Wert der Ruhe gef<strong>und</strong>en, Após o labor, o repouso<br />
renova o vigor, wörtlich übersetzt: ‚Nach der Arbeit erneuert <strong>das</strong> Ausruhen die<br />
Kräfte‘. Im Unterschied zum deutschen Material ist im Bereich 4 die Tugend Emotionalität<br />
viel stärker belegt als die Tugend Selbstbeherrschung (13,5% bzw. 2,7%).<br />
Auffallend wenige Belege gibt es aber im Bereich Ehrlichkeit – diese Eigenschaft<br />
scheint in der italienischen Erziehung nicht dieselbe Priorität gehabt zu haben wie<br />
in der deutschen, ein Bef<strong>und</strong>, der sich auch im Stichprobeninterview bestätigt<br />
6. Die große Gewichtung der Sparsamkeit unter den italienischen Einwanderern kommt auch<br />
im Interview zum Ausdruck, indem die Informantin folgende Redewendung zitiert: „O italiano<br />
não come ovos para não jogar fora a casca“ (‚Der Italiener isst keine Eier, um nicht die Schale<br />
wegzuwerfen‘).
hat. Auch werden im Gegensatz zu den deutschen Wandsprüchen die Tugenden<br />
Hilfsbereitschaft <strong>und</strong> Verantwortungsbewusstsein gar nicht thematisiert.<br />
Wenn man den Wandsprüchen glauben darf, scheint die Stellung der Frau in<br />
der italienischen Kolonie durch einen gewissen pragmatischen Materialismus gekennzeichnet<br />
zu sein. Nicht weniger als fünf Sprüche thematisieren <strong>das</strong> gute Essen<br />
als die hauptsächliche Anziehungskraft für den Ehemann, wie z. B:<br />
Um bom manjar prende o marido ao lar.<br />
‚Eine gute Mahlzeit bindet den Mann ans Haus‘. 7<br />
In einigen Fällen bietet <strong>das</strong> den Text begleitende Bild eine wertvolle Interpretationshilfe:<br />
Assim como os pássaros voltam ao ninho, assim volta o esposo ao lar<br />
que tem carinho.<br />
‚Wie die Vöglein ins Nest zurückkehren, so kehrt der Mann ins Haus<br />
zurück, wo Liebe herrscht‘.<br />
In diesem Wandspruch wird <strong>das</strong> Wort carinho ‚Liebe‘ eher als materielle Fürsorge<br />
verstanden (die Vöglein werden auf dem gestickten Bild gefüttert). Ein anderes<br />
Beispiel für die Aufwertung der Esskultur bei den Italienern ist folgender Spruch:<br />
O fogão é o altar da mulher.<br />
‚Der Ofen ist der Altar der Hausfrau‘.<br />
Eine Zählung der am häufigsten vorkommenden, leitmotivischen Wörter ergibt<br />
ein ähnliches Resultat wie bei den deutschen Wandsprüchen. Die meisten<br />
Belege zeigt <strong>das</strong> Wort Deus ‚Gott‘ (11) wozu auch 6 Belege von Senhor ‚Herr‘,<br />
Cristo <strong>und</strong> Maria gezählt werden können. Casa <strong>und</strong> lar, Lexeme, die dem deutschen<br />
Haus <strong>und</strong> Heim entsprechen, werden 7 bzw. 10 mal genannt. Danach folgen<br />
Zusammensetzungen mit am- (amar, amor, amado) ‚lieb(e, en)‘ (10). Von ‚Arbeit‘<br />
trabalho, labor wird neunmal gesprochen <strong>und</strong> von paz ‚Friede‘ sechs. Verglichen<br />
mit dem deutschen Material enthält <strong>das</strong> italienische mehr Wörter für Reichtum<br />
(rica, riqueza, fortuna, fartura, sorte) <strong>und</strong> die damit zusammenhängende Eigenschaft<br />
economia ‚Sparsamkeit‘.<br />
Interpretationen der beiden mentalen Kulturen<br />
Die <strong>das</strong> Projekt Imagens e Palavras begleitende Analyse gibt eine interessante,<br />
jedoch nicht ganz überzeugende Deutung von der Rolle der italienischen<br />
Wandsprüche in ihrem damaligen Kontext. Demnach werden sie nicht als Spiegel<br />
der Wirklichkeit, sondern als Traumbild der ersehnten <strong>und</strong> gerade nicht<br />
vorhandenen Verhältnisse verstanden. Wenn von guten Mahlzeiten, sauberen<br />
Küchen, friedvollem Zusammenleben gesprochen wird, sei <strong>das</strong> ein Zeichen<br />
der Abwesenheit gerade dieser Sachen. Die Wandsprüche würden <strong>das</strong><br />
ausdrücken, was die Einwanderer ersehnen, nämlich den Aufstieg in eine kleinbürgerliche<br />
Gesellschaft. Die Tatsache, <strong>das</strong>s man seine Wände mit solchen<br />
7. Man vergleiche <strong>das</strong> deutsche Sprichwort Die Liebe geht durch den Magen, <strong>das</strong> aber kein<br />
Thema für einen Wandspruch <strong>und</strong> in meiner Sammlung nicht belegt ist.<br />
317
318<br />
moralischen Sprüchen dekoriert, wird als Versuch interpretiert, ‚den anderen‘ zu<br />
zeigen, welche ethischen Werte von der Gruppe priorisiert werden.<br />
Im Verhältnis zu den deutschen Einwanderern bestanden während der ersten<br />
Jahrzehnte sozio-ökonomische Unterschiede. In den Augen vieler Italiener waren<br />
die Deutschen, die 50 Jahre vorher ins Land gekommen waren, ‚die Erfolgreichen‘.<br />
Vielleicht waren gerade sie ‚die anderen‘, denen man zeigen wollte, <strong>das</strong>s<br />
man dieselben ethischen Wertvorstellungen hatte?<br />
In der Projektanalyse wird die geistige <strong>und</strong> materielle Notlage der italienischen<br />
Einwanderer hervorgehoben, die mit der eher idyllischen Botschaft der<br />
Wandsprüche wenig Übereinstimmung zeige. Die traditionellen Tugenden Fleiß,<br />
Sparsamkeit, Eintracht, Duldsamkeit <strong>und</strong> Frohsinn, die für <strong>das</strong> Weiterbestehen<br />
einer solchen Minoritätsgruppe unverzichtbar waren, hätten laut dieser Interpretation<br />
ein stereotypes Bild von dem italienischen Einwanderer <strong>und</strong> seinen<br />
Nachkommen als Resultat gehabt. Mit der Zeit habe der Einwanderer dieses Bild<br />
als positiven Auto-Stereotyp angenommen <strong>und</strong> es weitergepflegt. Das Idealbild<br />
sei somit als Wirklichkeit aufgefasst worden <strong>und</strong> die dunklen Seiten Armut, Streit<br />
<strong>und</strong> Unrecht verschwiegen. Es handele sich also nach dieser Hypothese um<br />
eine durch äußere Umstände erworbene Identität <strong>und</strong> nicht um eine ererbte<br />
oder mitgebrachte.<br />
Wenn dies auch eine bestechende Theorie ist, scheint sie mir jedoch eine<br />
gewisse Vereinfachung der komplizierten Wirklichkeit zu sein. Für <strong>das</strong> deutsche<br />
Material trifft sie jedenfalls kaum zu. In der bisherigen Forschung zur deutschen<br />
Einwanderergeschichte ist man allerdings manchmal allzu leicht von einer aus<br />
der Heimat mitgebrachten kulturellen Identität ausgegangen, die sich durch reges<br />
Interesse für Religion <strong>und</strong> Bildung auszeichne <strong>und</strong> eine Reihe von gemeinsamen<br />
Wertvorstellungen umfasse. Es darf aber nicht vergessen werden, <strong>das</strong>s <strong>das</strong><br />
kulturelle Selbstverständnis auch in der neuen Heimat durch Einfluss der deutschsprachigen<br />
Kirche, Schule <strong>und</strong> Zeitung im Einklang mit den damals in Deutschland<br />
vorherrschenden moralischen Idealen bewusst gefördert worden ist. Diese<br />
Tatsache verstärkte auch die Abgrenzung gegen ‚die anderen‘. Bekanntermaßen<br />
definiert sich die ethnische Identität einer Gruppe einerseits durch positive Elemente<br />
der Zusammengehörigkeit, andererseits durch negative Elemente der Abgrenzung<br />
gegenüber anderen Gruppen.<br />
Trotzdem kann man eindeutig nicht – wie in der italienischen Projektanalyse<br />
– behaupten, <strong>das</strong>s diese kulturelle Identität erst in Brasilien entstanden ist <strong>und</strong><br />
in einem allmählichen Prozess von den Eingewanderten angenommen wurde.<br />
Es war ja tatsächlich so, <strong>das</strong>s die Einwanderer nicht nur ihre Sprache,<br />
sondern auch Elemente der materiellen Kultur wie Bibel, Gesangbuch <strong>und</strong><br />
eben die Wandschoner in die neue Heimat mitbrachten. Viele Quellen bezeugen,<br />
<strong>das</strong>s die letzteren durch jahrelangen Gebrauch <strong>und</strong> vieles Waschen verschlissen<br />
<strong>und</strong> verblichen wurden. Man hat sie durch neue ersetzt, wobei die<br />
alten Sprüche, die einen hohen Stellenwert für die Identität der Gruppe besaßen,<br />
abgestickt wurden.<br />
Die deutschen Einwanderer haben ihre Muttersprache <strong>und</strong> damit ihre Denkweise<br />
<strong>und</strong> ihr Weltbild mitgebracht <strong>und</strong> beibehalten, sogar weiterentwickelt. Mit<br />
dieser Sprache wurden auch die ethischen Konzepte tradiert <strong>und</strong> u. a. in den
Wandsprüchen zum Ausdruck gebracht. Gerade darin liegt ein wichtiger Unterschied<br />
zwischen den deutschen <strong>und</strong> den in der Landessprache verfassten ‚italienischen‘<br />
Wandsprüchen.<br />
Schlussfolgerungen<br />
Das Medium Wandsprüche <strong>und</strong> unser Bedarf an Lehrwörtern<br />
Die linguistische Mentalitätsgeschichte erforscht <strong>das</strong> Verhältnis zwischen Denken,<br />
Sprache <strong>und</strong> Handeln bzw. Einstellungen in einer Sprachgruppe. Sie beschäftigt<br />
sich dabei gerade mit den habituell gewordenen Gedanken <strong>und</strong> nicht mit den<br />
außergewöhnlichen <strong>und</strong> einzigartigen. Eine Sammlung von Wandsprüchen wie<br />
die hier vorgelegte gibt uns Zugang zu der Gedankenwelt, der Mentalität einer<br />
bestimmten Gruppe zu einer bestimmten Zeit. Mit Hilfe des Beschreibungsmodells<br />
konnte ich in Bezug auf die Wandsprüche zeigen, <strong>das</strong>s sie im Bereich der ethischen<br />
Konzepte eine kleinere Anzahl von Eigenschaften thematisieren <strong>und</strong> <strong>das</strong>s<br />
es sich dabei vor allem um Tugenden handelt. Mit wenigen Ausnahmen fehlen<br />
Aussagen zu Lastern ganz. Der Themenkreis umfasst in erster Linie Emotionen,<br />
Religiosität <strong>und</strong> Fleiß, aber auch Eigenschaften wie Gastfre<strong>und</strong>lichkeit <strong>und</strong> Stolz<br />
auf <strong>das</strong> eigene Heim gehören zu den Prioritäten, ebenso wie Geduld <strong>und</strong> Ehrlichkeit.<br />
Eine Analyse der mündlichen Aussagen zeigt, <strong>das</strong>s an denselben traditionellen<br />
Wertvorstellungen festgehalten wird, indem als stereotyp deutsch angesehene<br />
Tugenden <strong>und</strong> Laster positiv bzw. negativ kommentiert werden.<br />
Beim Vergleich mit der Wandspruchsammlung aus der italienischen Kolonie<br />
wird die Tendenz zur Konzentration auf wenige, nur positive Eigenschaften bestätigt.<br />
Die angeschnittenen Themen sind ebenfalls dieselben, wenn auch einige<br />
Unterschiede festgestellt werden konnten. In beiden Korpora geht es darum, nur<br />
die guten Gefühle zu zeigen, den anderen zu helfen <strong>und</strong> alles zu vermeiden, was<br />
andere verletzen könnte. Durch ein solches Verhalten trage man auch zum eigenen<br />
Glück bei. Der deutsche Spruch Das Leben ist kurz – Seid gut zueinander drückt<br />
diese Quintessenz aus.<br />
Die Wandsprüche geben also ein aufschlussreiches Bild der anzustrebenden<br />
mentalen Kultur der Familie in den verschiedenen Ethnien. Sie wollen im alltäglichen<br />
Leben in erster Linie trösten, helfen <strong>und</strong> ermutigen <strong>und</strong> bedeuten somit eine<br />
Lebenshilfe. Da sie als die Stimme der Frau angesehen werden können, heben sie<br />
die Rolle der Frau als Kulturträgerin hervor. Dass die Sprüche jahrzehntelang im<br />
Gedächtnis vieler Menschen gespeichert bleiben <strong>und</strong> in bestimmten Situationen<br />
abgerufen werden, ist wohl der beste Beweis dafür, <strong>das</strong>s es sich hier nicht um leere<br />
Worte handelt, sondern um Lehren, die einen <strong>das</strong> ganze Leben begleiten können.<br />
Literatur<br />
FAVARO, Cleci E. (Hrsg.) (2001): Imagens e palavras. Iconografia e linguagens no processo de transmissão<br />
e preservação de valores culturais na Região Colonial Italiana do Rio Grande do Sul. (Forschungsprojekt<br />
Unisinos, CD Rom). Sao Leopoldo.<br />
HERMANNS, Fritz (1995): Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte. In: GARDT, A. / MATTHEIER, K. /<br />
REICHMANN, O. (Hrsg.): Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen. Gegenstände, Methoden, Theorien.<br />
Tübingen, S. 68-101.<br />
319
320<br />
HOFMEISTER, Wernfrid (1995): Sprichwortartige Mikrotexte als literarische Medien, dargestellt an der<br />
hochdeutschen politischen Lyrik des Mittelalters. Bochum.<br />
KRULL, Kirsten (2004): Lieber Gott mach mich fromm.... Zum Wort <strong>und</strong> Konzept „fromm“ im Wandel der<br />
Zeit. (Diss.). Umeå.<br />
MAESTRI, Mário (Hrsg.) ( 2 1998): Nós, os Ítalo-Gaúchos. Porto Alegre.<br />
MALMQVIST, Anita (2000): Sparsamkeit <strong>und</strong> Geiz, Großzügigkeit <strong>und</strong> Verschwendung. Ethische Konzepte<br />
im Spiegel der Sprache. (Diss.). Umeå.<br />
SCHULZ VON THUN, Friedemann (1999): Miteinander reden 2. Stile, Werte <strong>und</strong> Persönlichkeitsentwicklung.<br />
Differentielle Psychologie der Kommunikation. Hamburg.<br />
STEDJE, Astrid / STOEVA-HOLM, Dessislava (2004): Das Projekt „Ethische Konzepte <strong>und</strong> mentale<br />
Kulturen“. In: JENDIS, M. (Hrsg.): Norden <strong>und</strong> Süden. Festschrift für K.Å. Forsgren. Umeå, S.<br />
226-248.<br />
TORNQUIST, Ingrid M. (1997): „Das hon ich von meiner Mama“ – zu Sprache <strong>und</strong> ethischen Konzepten<br />
unter Deutschstämmigen in Rio Grande do Sul. (Diss.). Umeå.<br />
TORNQUIST, Ingrid M. (2003): Linguagem e mentalidade entre teuto-gaúchos. In: CUNHA, J.L /<br />
GÄRTNER, A (Hrsg.): Imigração alemã no Rio Grande do Sul: História, Linguagem, Educação.<br />
Santa Maria, S. 159-186.<br />
WIENKER-PIEPHO, Sabine (1992): Sprichwörter: Goldene Lebensregeln oder Nonsens? In: Konturen.<br />
Magazin für Sprache, Literatur <strong>und</strong> Landschaft 3, S. 43-45.<br />
Dr. Ingrid Margareta Tornquist, geb. 1930 in Schweden, seit 1953 in Brasilien. Mitarbeiterin<br />
an der Deutschlehrerausbildung der Universität Unisinos, São Leopoldo, Rio Grande<br />
do Sul. Promovierte in Germanistik 1997 an der Universität Umeå, Schweden. Verschiedene<br />
Publikationen <strong>und</strong> Vorträge im Rahmen des Projekts Ethische Konzepte <strong>und</strong> mentale Kulturen.<br />
In Brasilien u. a. Beteiligung an Imigração Alemã no Rio Grande do Sul: História, Linguagem,<br />
Educação (Ed. UFSM 2003).
4. Flagge des Vereinigten Königreichs<br />
von Portugal, Brasilien<br />
<strong>und</strong> der Algarve (1816-1821)<br />
1. Fahne des Christusordens<br />
2. Portugiesische Flaggen aus dem 12., 13. <strong>und</strong> 15. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
7. Flagge des Königreichs<br />
Brasilien ab 1823-1889<br />
Illustrationen zu Artikel S. 277 - 300<br />
3. Aktuelle Flagge Portugals (seit 1910)<br />
5. Flagge Brasiliens im<br />
Vereinigten Königreich<br />
6. Flagge des Königreichs<br />
Brasilien Sept. - Dez. 1822<br />
8. Flagge Portugals<br />
1830-1910
9. Erste republikanische Fahne<br />
(15. - 19. Nov. 1889)<br />
11. Staatswappen in seiner ursprünglichen Form<br />
10. Urmodell der am 19. Nov. 1889 eingeführten Fahne<br />
13. Flaggen mit Kreuz des Südens<br />
Australien Neuseeland<br />
12. Staatswappen in seiner heutigen Form<br />
Papua Neuguinea<br />
Samoa Weihnachtsinsel<br />
Kokosinseln
Foto 2:<br />
Luftbild<br />
Cia. Hering,<br />
Blumenau<br />
Foto 1:<br />
Luftbild<br />
Sulfabril S. A.,<br />
Blumenau<br />
Foto 3:<br />
Luftbild<br />
WEG S. A.,<br />
Jaraguá do Sul
Regionale Identität <strong>und</strong><br />
industrielle Entwicklung<br />
in Nordost-Santa Catarina<br />
in Zeiten der Globalisierung<br />
Gerd Kohlhepp / Maria Luiza Renaux<br />
Tübingen / Blumenau<br />
Resumo: O artigo trata do desenvolvimento, da estrutura atual e da<br />
ordem espacial da indústria do nordeste de Santa Catarina,<br />
povoado por imigrantes alemães e italianos e seus descendentes.<br />
Desenvolveu-se um perfil regional específico<br />
com base em pequenas e médias empresas, de propriedade<br />
familiar, e na produção de qualidade. Apesar de toda a<br />
diversificação, a indústria ainda se baseia fortemente nas<br />
áreas têxteis e de vestuário, principalmente no vale do médio<br />
Itajaí, nos arredores de Blumenau, porém surgiram<br />
empresas em outros ramos industriais que hoje ocupam<br />
posições destaca<strong>das</strong> no Brasil. Paralelamente aos centros<br />
industriais tradicionais como Joinville, Blumenau e Brusque,<br />
a dinâmica cidade de Jaraguá do Sul e o cluster moveleiro<br />
nas proximidades de São Bento do Sul também se<br />
apresentam como localizações industriais bem situa<strong>das</strong>.<br />
Apesar da grande influência da globalização e dos processos<br />
de adaptação a esta, a indústria do nordeste de Santa<br />
Catarina manteve, em grande parte, a sua identidade regional<br />
com características históricas, sociais, sócio-culturais<br />
e econômicas.<br />
Abstract: The article deals with the development, the actual structure<br />
and the spatial order of the industry in northeast Santa<br />
Catarina, a region populated by German and Italian immigrants<br />
and their descendants. There, a specific regional<br />
profile has been developed on basis of small and middlesized<br />
companies in family property and of quality production.<br />
In spite of all diversification, the industry is still strongly<br />
based on the textile and clothing sector, specially in the<br />
middle valley of the river Itajaí aro<strong>und</strong> Blumenau, but there<br />
have come up companies in other industrial branches<br />
which nowadays range in leader positions in Brazil. Besides<br />
the traditional industrial centers like Joinville, Blumenau<br />
and Brusque, the dynamical town of Jaraguá do Sul<br />
321
322<br />
and the furniture cluster aro<strong>und</strong> São Bento do Sul figure<br />
as well situated industry locations. In spite of the great influence<br />
of globalization and the processes of adaptation to<br />
it, the industry in northeast Santa Catarina has preserved<br />
in a large part its regional identity with historical, social,<br />
socio-cultural and economical characteristics.<br />
Einleitung<br />
Die Industrie in Santa Catarina nimmt in Brasilien eine Sonderstellung ein, da<br />
ihre Entstehung in der Region – mit Ausnahme der Holz verarbeitenden Industrie<br />
– weder auf großen Rohstoffvorkommen, noch auf Bevölkerungskonzentrationen<br />
mit für Industrieprodukte aufnahmefähigen Märkten in Großstädten <strong>und</strong> Metropolen<br />
basierte. Die Catarinenser Industrie ist traditionell aufgr<strong>und</strong> lokaler Eigeninitiative<br />
<strong>und</strong> Unternehmungsgeist von deutschen <strong>und</strong> italienischen Einwanderern<br />
<strong>und</strong> ihren Nachkommen sowie Eigenkapital der Gründer <strong>und</strong> einer zuverlässigen<br />
Arbeiterschaft entstanden <strong>und</strong> in dieser Form kontinuierlich gewachsen.<br />
Im Gegensatz dazu beruhte die Industrialisierung Brasiliens in der Hauptphase<br />
seit Mitte der 1950er Jahre in starkem Maße auf hohen Investitionen ausländischer<br />
<strong>und</strong> multinationaler Unternehmen, dem Import maschineller Ausrüstung<br />
<strong>und</strong> anfangs auf der temporären Verfügbarkeit hoch qualifizierter ausländischer<br />
Techniker <strong>und</strong> Betriebsleiter sowie der Errichtung einer Filialwerk-Struktur internationaler<br />
Mutterkonzerne.<br />
Noch zu Beginn der 1960er Jahre war in Santa Catarina aufgr<strong>und</strong> der geographischen<br />
Lage abseits der großen Zentren, der verkehrstechnisch schlechten<br />
Anbindung <strong>und</strong> Engpässen in der Energieversorgung ausländisches Kapital nur<br />
in einigen wenigen Ausnahmefällen an der industriellen Entwicklung beteiligt.<br />
Dies änderte sich – in einigen Branchen – erst seit den 1980er <strong>und</strong> 90er Jahren,<br />
aber die großen Kapitaltransfers oder Betriebsneugründungen ausländischer<br />
Konzerne fanden bis heute in Santa Catarina nicht statt. So hat die deutsche<br />
Industrie, die in Brasilien vor allem in São Paulo sehr bedeutende Unternehmen<br />
gründete, <strong>das</strong> im Nordosten des Staates sehr stark von deutschen Einwanderern<br />
<strong>und</strong> deren Nachkommen geprägte Santa Catarina noch kaum ‚entdeckt‘.<br />
Obwohl die Auswirkungen der Marktöffnung Anfang der 1990er Jahre <strong>und</strong><br />
der Globalisierung auch die Catarinenser Industrie erfassten, hat diese im Nordosten<br />
des Staates ihre regionale Identität großenteils bewahrt.<br />
Historische Gr<strong>und</strong>lagen der regionalen Identität<br />
im Nordosten Santa Catarinas<br />
Zur Erfassung des Konzepts der regionalen Identität soll zunächst auf die historische<br />
Siedlungsentwicklung im Untersuchungsgebiet eingegangen werden. Dabei<br />
werden Kriterien der Identität einer europäischen, zunächst deutschen Einwandererbevölkerung<br />
erfasst, die ab 1824 große Teile Südbrasiliens erschloss <strong>und</strong><br />
ab Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts den Nordosten Santa Catarinas im Hinterland des<br />
von Portugiesen <strong>und</strong> Azorianern kolonisierten Küstenstreifens besiedelte.
Die deutsche Einwanderung nach Südbrasilien wurde als modernes Projekt<br />
zur Unterstützung der politischen Unabhängigkeit Brasiliens konzipiert. Mit diesem<br />
Projekt wurde ein neues Entwicklungsmodell verwirklicht, <strong>das</strong> auf Kleinbesitz, der<br />
Arbeitskraft der Einwanderer, der auf die Versorgung des Binnenmarktes mit Nahrungsmitteln<br />
ausgerichteten landwirtschaftlichen Polykultur, der Förderung regionaler<br />
Kapitalakkumulation <strong>und</strong> auf dem Anreiz gemeinschaftlicher Entscheidungen<br />
basierte.<br />
Dabei wurde auch deshalb an die Einwanderer aus deutschen Landen gedacht,<br />
da deren Ansiedlung als freie Kleinbauern in den USA erfolgreich war <strong>und</strong><br />
die deutschen Siedler als für Südbrasilien geeignet angesehen wurden. Nach<br />
Schwierigkeiten in der Anfangsphase in der Auseinandersetzung zwischen Zentralregierung<br />
<strong>und</strong> ländlicher Oligarchie der Plantagenbesitzer um die Landzuteilung<br />
an Kleinbauern wurde im Landgesetz 1850 die Verantwortlichkeit für die<br />
Einwanderung an die Provinzebene delegiert <strong>und</strong> privaten Kolonisationsgesellschaften<br />
übertragen. Im Gegensatz zu den tropischen Plantagengebieten<br />
mit Export von Agrarprodukten wurde in Südbrasilien die Einwanderung deutscher<br />
<strong>und</strong> später italienischer Kolonisten propagiert, die nach Land <strong>und</strong> Freiheit<br />
suchten. Santa Catarina übernahm in dieser zweiten Kolonisationsphase deutscher<br />
Einwanderung die Führung.<br />
In der dritten Phase ab 1880 kamen Einwanderer aus Thüringen, Sachsen,<br />
Baden <strong>und</strong> deutsche Weber aus Lodz, die die ersten Textilbetriebe in Blumenau,<br />
Joinville <strong>und</strong> Brusque gründeten (KOHLHEPP 1969). Dies war der Beginn einer<br />
später immer stärkeren wirtschaftlichen Ausrichtung auf die Industrie. Pioniere<br />
waren die „Tricotwarenfabrik Gebrüder Hering“ (1880) <strong>und</strong> die Kleiderstoffe produzierende<br />
Firma Röder, Karsten & Hadlich (1882) in Blumenau, die Textilfabrik<br />
Döhler (1881) in Joinville <strong>und</strong> in Brusque der Textilbetrieb Renaux (1892).<br />
Aufgr<strong>und</strong> der schwierigen topographischen Verhältnisse in der Region<br />
waren die besten Flächen <strong>und</strong> Böden bald schon vergeben, so <strong>das</strong>s durch<br />
neue Einwanderer oder durch Misserfolg in der Landwirtschaft Arbeitskräfte<br />
in die Industrie abwanderten oder als Arbeiter-Bauern eine solide wirtschaftlicheGr<strong>und</strong>lage<br />
anstrebten.<br />
Blumenau, Joinville<br />
<strong>und</strong> Brusque<br />
wurden durch weitere<br />
Betriebe in der<br />
Textil- <strong>und</strong> Bekleidungsindustrie<br />
zu<br />
Zentren der industriellen<br />
Aktivitäten<br />
<strong>und</strong> konzentrierten<br />
2/3 aller Betriebe<br />
in Santa Catarina<br />
(CUNHA 1981). Die<br />
Firmen Renaux in<br />
Brusque <strong>und</strong> Hering<br />
Fábrica de Tecidos Renaux in Brusque (gegr. 1892) Anfang des<br />
20. Jhdts. (Firmenfoto im Familienbesitz M. L. Renaux)<br />
323
324<br />
in Blumenau waren vor dem 1.Weltkrieg die führenden Produzenten mit bereits<br />
jeweils mehr als 200 Beschäftigten.<br />
Die europäischen Einwanderer brachten soziokulturelle Gr<strong>und</strong>lagen mit sich,<br />
die in Europa traditionell ihre Wurzeln in der Arbeitsdisziplin der Zünfte hatten.<br />
Die Handwerker der Zünfte stellten in den deutschen Städten des ausgehenden<br />
Hoch-Mittelalters bis zur Aufhebung der Vorrechte der Zünfte durch die Gewerbefreiheit<br />
im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert die soziale Mittelschicht, die durch ihre Arbeitsauffassung<br />
einen wesentlichen Teil der städtischen Gesellschaft bildete. Die Zünfte<br />
zeichneten sich durch strenge Satzungen <strong>und</strong> Zunftbräuche aus, die auf der patriarchalisch-autoritären<br />
Familienstruktur basierten, die in allen Ebenen der Gesellschaft<br />
vorherrschte. Gute Organisation <strong>und</strong> solide Lehrlingsausbildung, Preis- <strong>und</strong><br />
Qualitätsvorschriften waren wichtige Kriterien der Zünfte. Des Weiteren waren<br />
untadeliger Lebenswandel, Rechtschaffenheit <strong>und</strong> die starke Kontrolle innerhalb<br />
der Gemeinschaft Regeln, die Identität schufen, gleichzeitig eine Qualitätsarbeit<br />
garantierten <strong>und</strong> Fremde aus den Zünften fernhielten. Als Maschinen die handwerkliche<br />
Arbeit ersetzten, verließen viele Handwerker, Meister <strong>und</strong> kleine Unternehmer<br />
Deutschland (RENAUX 1995).<br />
In den deutschstämmigen Siedlungsgebieten in Santa Catarina identifizierte sich<br />
der neue Unternehmungsgeist mit der politischen Richtung der Republikaner. Deren<br />
wirtschaftliche Prinzipien konzentrierten sich u. a. auf den Ausbau der Infrastruktur,<br />
die Vereinfachung der juristischen Vorgänge, auf maximale Autonomie der<br />
Munizipien, gerechtere Erhebung <strong>und</strong> Verteilung der Steuern. Als Brasilianer naturalisierte<br />
Einwanderer bildeten republikanische Komitees <strong>und</strong> wurden auch als<br />
Abgeordnete gewählt, so Carlos Renaux für die republikanische Partei im Itajaí-Tal.<br />
Zwischen den beiden Weltkriegen ermöglichte die Politik der Importsubstitution<br />
eine Blüte der brasilianischen Industrieproduktion, auch der Catarinenser Textilindustrie.<br />
Für die Vertikalisierung der Betriebe wurden neue Maschinen importiert, die<br />
aber von ausgebildeten Technikern, vor allem aus Deutschland, installiert <strong>und</strong> bedient<br />
werden mussten. Die in Deutschland wütende Inflation, die in den 1920er Jahren<br />
viele Existenzen vernichtete, führte zu einer starken Auswanderung. Da die Fachleute<br />
ihren Beruf in einer Region ausüben wollten, in der sie sich auch sprachlich<br />
verständigen konnten, bot sich Santa Catarina <strong>und</strong> Südbrasilien als erste Wahl an.<br />
Diese Einwanderer brachten nicht nur technische Kenntnisse mit, die der Industrie<br />
einen sehr starken Impuls <strong>und</strong> ein innovatives Profil verliehen, sondern<br />
hatten auch einen f<strong>und</strong>ierten kulturellen Hintergr<strong>und</strong>. Innovation <strong>und</strong> Qualitätsstandard<br />
der Produktion wurden Charakteristika dieser Phase in Santa Catarina.<br />
Dies zu einer Zeit, in der die Industrie in São Paulo durch <strong>das</strong> völlige Fehlen einer<br />
systematischen Nutzung technischer <strong>und</strong> organisatorischer Ressourcen (PEREIRA<br />
1967) auffiel <strong>und</strong> auch in der brasilianischen Textilindustrie kaum f<strong>und</strong>ierte Fachkenntnisse<br />
<strong>und</strong> ausgebildete Unternehmer vorhanden waren (STEIN 1979).<br />
Die Catarinenser Textilindustrie gehörte zu den führenden Exporteuren. Als<br />
Beispiel für den Aufschwung in Santa Catarina kann der Verbrauch von Baumwolle<br />
<strong>und</strong> Wolle der Firma Renaux genommen werden, der sich zwischen 1918 <strong>und</strong> 1946<br />
verzehnfachte (HERING 1987). Dabei muss betont werden, <strong>das</strong>s die Anstrengungen<br />
zur technischen Verbesserung mit einer strengen Arbeitsauffassung <strong>und</strong> Arbeitsmoral<br />
sowie einer Mentalität verb<strong>und</strong>en waren, die für Nordost-Santa Catarina
die Aussage zulässt, <strong>das</strong>s diese Techniker die regionale Identität mit einer traditionsorientierten<br />
‚Fabrikkultur‘ <strong>und</strong> einer davon abhängigen Lebensweise verbanden.<br />
Die uniformierenden Tendenzen der Globalisierung stehen im Gegensatz zu<br />
den regionalspezifischen Entwicklungen, bei denen die historischen Traditionen,<br />
die kulturellen <strong>und</strong> kulturlandschaftlichen Besonderheiten die Lebensweise, den<br />
Wirtschaftsstil <strong>und</strong> die wirtschaftlichen Strategien der Akteure in intraregional<br />
bzw. lokal sehr differenzierter Weise prägen. Die Beteiligten sehen sich in einem<br />
lokalen <strong>und</strong> regionalen Sinnzusammenhang, der durch gemeinsames alltägliches<br />
Erleben <strong>und</strong> Handeln alle Teile der Bevölkerung subjektiv <strong>und</strong> emotional verbindet<br />
<strong>und</strong> mit rationalen, unpersönlichen Kontakten anderer Lebenswelten auf globaler<br />
Ebene kontrastiert. Um ein Gefühl des Dazugehörens bei einer bestimmten<br />
Gruppe entstehen zu lassen, müssen ein Bewusstsein für gemeinsame Ziele, Herkunft,<br />
Tradition, Kultur, landschaftliches Ambiente oder auch gemeinsame Probleme<br />
vorhanden sein, die ein ‚Wir-Gefühl‘ entwickeln.<br />
Zu den Kriterien, nach denen sich Individuen in einem bestimmten Kontext<br />
sehen, gehört auch die Arbeitswelt, die sich in der Industrie durch eine bestimmte<br />
‚technische Kultur‘ identifiziert. Dies gilt insbesondere für die im Nordosten<br />
Santa Catarinas untersuchten Städte Joinville, Jaraguá do Sul, Pomerode,<br />
Blumenau, Brusque, Itajaí <strong>und</strong> São Bento do Sul, industriewirtschaftliche Zentren<br />
im deutsch- <strong>und</strong> italo-brasilianischen Siedlungsgebiet, die durch lokale <strong>und</strong><br />
regionale Kriterien definiert sind <strong>und</strong> eine Pionierrolle bei der wirtschaftlichen<br />
Entwicklung der Region spielten.<br />
Das alltägliche Verhalten der Personen, die Formen der Sozialisierung, der Erziehung<br />
<strong>und</strong> der Arbeit schaffen ein lokales oder regionales Milieu, <strong>das</strong> sich von<br />
anderen Regionen unterscheidet. Die Selbstbeschreibung der Zugehörigkeit der<br />
Akteure ist <strong>das</strong> entscheidende Kriterium für die Gruppenidentität. Auslösender Faktor<br />
für <strong>das</strong> Bewusstsein <strong>und</strong> die Perzeption einer spezifischen regionalen Identität<br />
war in gewissem Sinne die Krise der Industrie mit der Öffnung des brasilianischen<br />
Marktes Anfang der 1990er Jahre. Diese Krise erforderte eine Analyse der regionalen<br />
Situation <strong>und</strong> als Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung eine<br />
industrielle Restrukturierung, aber auch eine regionalspezifische Strategie zur Überwindung<br />
der Probleme <strong>und</strong> zur Sicherung der industriellen Zukunft der Region.<br />
Standortbedingungen <strong>und</strong> heutige Industriestruktur<br />
im nordöstlichen Santa Catarina<br />
Obwohl Santa Catarina mit etwa 95.500 km² einer der kleinsten brasilianischen<br />
B<strong>und</strong>esstaaten mit 2005 nur 6,0 Millionen Einwohnern (= 3,2% Brasiliens) ist, kommt<br />
diesem Staat eine große industrielle Bedeutung zu. An Zahl der Betriebe nimmt Santa<br />
Catarina ebenso den vierten Rang in Brasilien ein wie bei der Zahl der Industriebeschäftigten.<br />
Im Jahre 2004 waren über 476.000 Beschäftigte in der verarbeitenden<br />
Industrie tätig. Nach São Paulo mit 2,07 Millionen <strong>und</strong> einem Anteil von 35,5%, Rio<br />
Grande do Sul (10,6%) <strong>und</strong> Minas Gerais (10,2%) stehen Santa Catarina <strong>und</strong> Paraná<br />
mit je 8,2% der 5,8 Millionen Industriebeschäftigten an vierter Stelle.<br />
Die Industrie im nordöstlichen Santa Catarina spielt in Brasilien in vielen Branchen<br />
eine bedeutende Rolle. Nach der Wertschöpfung im Jahre 2004 werden im<br />
325
326<br />
Produktionsbereich folgender Industriezweige hohe Anteile an der brasilianischen<br />
Gesamtproduktion erreicht:<br />
Elektromotoren, Generatoren, Transformatoren 37,7%, Bekleidung 24,4%, Elektrogeräte<br />
(Kühlschränke, Gefriertruhen) 23,5%, Gießereiprodukte 22,7%, Textilien<br />
15,7%, Möbel 13,5% (FIESC 2006).<br />
Die Industrie in Santa Catarina hat einen hohen Anteil an Klein- <strong>und</strong> Mittelbetrieben,<br />
weist aber auch einige Großbetriebe auf, die als internationale Marktführer<br />
weltweit mit an der Spitze stehen. Nur knapp 30% der Industriebeschäftigten<br />
sind in Großbetrieben tätig. Mit einer hohen Diversifizierung, aber auch herausragenden<br />
Clustern, z. B. in der Textil<strong>und</strong><br />
Bekleidungsbranche <strong>und</strong> der<br />
Möbelindustrie, zeichnet sich die Industrie<br />
in Santa Catarina nicht nur<br />
durch ihre Pionierstellung in einigen<br />
Branchen aus, sondern hat sich<br />
auch durch hohen Qualitätsstandard<br />
der Produktion einen Namen<br />
in Brasilien gemacht, der auch auf<br />
den Export ausstrahlt.<br />
Dies trifft vor allem auf die nordöstlichen<br />
Teile des B<strong>und</strong>esstaats zu<br />
(siehe Abb.1), der die anderen Regionen<br />
mit seiner industriellen<br />
Konzentration von Groß-, Mittel- <strong>und</strong><br />
Kleinbetrieben deutlich übertrifft. In<br />
der regionalen Industrieentwicklung<br />
ragen die seit Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
erschlossenen Siedlungsgebiete<br />
(siehe Abb.2) mit vorwiegend<br />
Abb.1<br />
deutschen <strong>und</strong> italienischen Einwanderern<br />
<strong>und</strong> deren brasilianischen<br />
Nachkommen besonders hervor (siehe Abb.3).<br />
Die Mikroregionen des Itajaí-Talsystems mit Blumenau, Brusque, Rio do Sul<br />
<strong>und</strong> Itajaí, von Joinville ( mit Jaraguá do Sul ) sowie im Hochland um São Bento<br />
do Sul beschäftigen über 55% der in Santa Catarina in der Industrie Tätigen (siehe<br />
Tab. 1, S. 328). Joinville, Blumenau, Jaraguá do Sul <strong>und</strong> Brusque sind dynamische<br />
städtische Zentren, in denen die Industrie zwischen 40 <strong>und</strong> 60% der Erwerbstätigen<br />
stellt (Gesamtregion Nordost-Santa Catarina: 52,6%).<br />
Während aber die großen Regionalzentren Joinville (2005: 487.000 Ew.) <strong>und</strong><br />
Blumenau (2006: 301.000 Ew.) neben der sehr bedeutenden industriellen Konzentration<br />
heute bereits einen starken Anstieg des Dienstleistungssektors aufweisen,<br />
sind in kleinen Mittelstädten wie Jaraguá do Sul <strong>und</strong> Brusque sowie Kleinstädten<br />
wie Timbó, Indaial <strong>und</strong> Pomerode zwischen 60 <strong>und</strong> 70% der Erwerbstätigen<br />
in der Industrie beschäftigt (siehe Tab.2). Mit ihren 264.000 Beschäftigten<br />
würde die Region Nordost-Santa Catarina in Brasilien immer noch den siebten<br />
Rang bei der industriellen Erwerbstätigkeit einnehmen.
Abb.2<br />
Abb.3<br />
327
Im Gegensatz zu den übrigen brasilianischen B<strong>und</strong>esstaaten hat die Hauptstadt<br />
Santa Catarinas, Florianópolis, mit Ausnahme des Software-Sektors nur eine<br />
sehr geringe industrielle Bedeutung <strong>und</strong> ist nach Joinville nur die zweitgrößte<br />
Stadt dieses Staates.<br />
Im nordöstlichen Santa Catarina ist trotz sich verändernder nationaler <strong>und</strong> globaler<br />
Rahmenbedingungen im Bereich der Industriestruktur, industrieller Betriebsformen<br />
<strong>und</strong> Produktionsprozesse sowie in der Bewertung der entscheidenden Standortfaktoren<br />
in hohem Maße Kontinuität <strong>und</strong> eine regionale Identität erhalten geblieben.<br />
Bei der regionalen Bevölkerung, insbesondere den Nachkommen deutscher<br />
<strong>und</strong> italienischer Einwanderer, zeigt sich eine mit der soziokulturell geprägten<br />
wirtschaftlichen Entwicklung verknüpfte spezifische Identitätsfindung, die mit Selbstvertrauen,<br />
Unternehmungsgeist, zum Teil aber auch konservativer Beharrung, hoher<br />
Arbeitsmoral <strong>und</strong> mit einem starken Regionalbewusstsein verb<strong>und</strong>en ist, <strong>das</strong> auf<br />
einer für Brasilien sehr günstigen Sozialstruktur basiert.<br />
Nordost-Santa Catarina war bis in die 1960er Jahre insbesondere aufgr<strong>und</strong><br />
der Verkehrssituation im brasilianischen Wirtschaftsraum relativ isoliert. Im Rahmen<br />
der Phase der Importsubstitution beruhte die Produktion nahezu ausschließlich<br />
auf dem Vorhandensein lokalen <strong>und</strong> regionalen Kapitals. Die Industriefirmen<br />
zeigten geringe betriebliche Verflechtungen. Aber bereits früher war ein Qualitätsprofil<br />
der Catarinenser Industrie (Qualitätssiegel „Blumenau“) entstanden, <strong>das</strong> –<br />
trotz damals allgemein defizitärer Infrastruktur der weiterführenden Schulen <strong>und</strong><br />
fehlender Universitäten – auf der gründlichen betrieblichen Ausbildung der Beschäftigten,<br />
dem Erfahrungsschatz eingewanderter Techniker <strong>und</strong> einer Perfektionierung<br />
traditioneller Produktionsmethoden aufbaute (KOHLHEPP 1968, 1971).<br />
Die Liberalisierung der Märkte Anfang der 1990er Jahre bewirkte den Einfluss<br />
der Globalisierung mit ausländischen Direktinvestitionen <strong>und</strong> Importerleichterungen<br />
einerseits, verursachte andererseits aber erstmals internationalen Wettbewerbsdruck<br />
von Niedrigstlohnländern (China, Indien) <strong>und</strong> dadurch starke<br />
Verluste an Arbeitsplätzen, eine Produktionsausrichtung auf globale Anforderungen<br />
(Design, Markenname etc.) sowie die Notwendigkeit der betrieblichen Vernetzung<br />
vor dem Hintergr<strong>und</strong> der Clusterbildung.<br />
Trotzdem ist <strong>das</strong> regionale Profil der Industrie erhalten geblieben. Die Mehrzahl<br />
der Betriebe ist weiterhin im Familienbesitz bzw. unter der Leitung lokaler <strong>und</strong><br />
regionaler Unternehmer. Ausländische Kapitalbeteiligung oder gar Filialbetriebe<br />
sind immer noch die Ausnahme, staatliche Betriebe der verarbeitenden Industrie<br />
sind nicht vorhanden. Aufgr<strong>und</strong> der ethnischen Herkunft der Unternehmer sind<br />
Geschäftsverbindungen nach Deutschland <strong>und</strong> Italien verstärkt worden, obwohl<br />
die Ausbildung der kommenden Führungsgeneration nicht mehr wie früher in<br />
Europa stattfindet <strong>und</strong> der europäische Markt für brasilianische Produkte viele<br />
Hindernisse bietet.<br />
Die regionale Identität wird teilweise – indirekt – von außen gestärkt, indem<br />
integrationswillige Fachkräfte aus Metropolen, vor allem aus São Paulo, sich nach<br />
Santa Catarina bewerben <strong>und</strong> damit einen zunehmenden Trend der Mobilität<br />
qualifizierter Kräfte von den Metropolen in Richtung dynamischer Mittelstädte<br />
aufgr<strong>und</strong> der besseren Lebensqualität, des günstigeren sozialen Umfelds <strong>und</strong> weit<br />
geringerer Sicherheitsprobleme bestätigen. Zusätzlich finden in jüngerer Zeit eini-<br />
329
330<br />
ge deutsche <strong>und</strong> italienische mittelständische Unternehmer in der Region interessante<br />
Investitions- <strong>und</strong> Produktionsmöglichkeiten, unter Nutzung der Vorteile<br />
der Globalisierung aus europäischer Sicht, in diesem Falle aber auch zum Vorteil<br />
der regionalen Industriestandorte <strong>und</strong> deren Arbeitsmarkt.<br />
Die relativ geringe Größe der Industriestädte, vor allem im mittleren Itajaí-Tal<br />
<strong>und</strong> im Itapocú-Tal, begünstigen <strong>das</strong> Vorhandensein einer Industriearbeiterschaft,<br />
die sehr stark in <strong>das</strong> lokale Umfeld eingeb<strong>und</strong>en ist. Zwar sind heute weithin nicht<br />
mehr die traditionellen Arbeiter-Bauern die typischen Arbeitnehmer, die noch in<br />
den 1960er Jahren große Bedeutung hatten (KOHLHEPP 1968). Aber die Arbeitskräfte<br />
sind doch mit dem lokalen <strong>und</strong> regionalen Milieu großenteils eng verzahnt<br />
<strong>und</strong> besitzen durch bessere Wohnverhältnisse, teilweise auch durch Eigenversorgung<br />
mit Nahrungsmitteln, Arbeitsplatznähe, ges<strong>und</strong>heitliche Versorgung <strong>und</strong><br />
Sozialleistungen der Betriebe eine privilegierte Situation im Verhältnis zu den Metropolen<br />
<strong>und</strong> anderen Regionen Brasiliens.<br />
Die starke Integration in ein wiedererwachtes traditionsorientiertes <strong>und</strong> intensives<br />
Vereinsleben, vor allem in den nahe der Hauptstandorte liegenden dörflichen<br />
<strong>und</strong> kleinstädtischen Wohngemeinden, fördert <strong>das</strong> Gemeinschaftsgefühl.<br />
Dazu kommt <strong>das</strong> immer noch vorhandene patriarchalische Verhaltensmuster von<br />
Unternehmern in kleinen <strong>und</strong> mittelgroßen Familienbetrieben der Catarinenser<br />
Kleinstädte, in denen die Betriebsinhaber nicht ‚abgehoben‘ sind.<br />
Allerdings ist durchaus zu beobachten, <strong>das</strong>s sich bei großen Mittel- <strong>und</strong> insbesondere<br />
Großbetrieben die Nachfolgesituation häufig gewandelt hat. Bei erfolgreichen<br />
Unternehmen sind nicht mehr automatisch Familienangehörige in allen<br />
leitenden Funktionen tätig, sondern die Betriebe sind – notgedrungen – an sehr<br />
gut ausgebildeten, erfahrenen <strong>und</strong> leistungsorientierten Fachleuten interessiert,<br />
die von außen angeworben werden. Nur in positiven Ausnahmefällen sind noch<br />
Söhne, Enkel <strong>und</strong> andere Familienmitglieder der Betriebsgründer in allein verantwortlicher<br />
Stellung tätig. Bei den bereits in der ersten Hälfte des 20.Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
gegründeten Betrieben wurde die männliche Nachfolgegeneration der Unternehmerfamilien<br />
traditionell sehr häufig nach Deutschland zur Ausbildung geschickt.<br />
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben – aufgr<strong>und</strong> des Bruchs während der<br />
Kriegszeit <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> fehlender deutscher Sprachkenntnisse – oft die USA diese<br />
Funktion übernommen. In vielen Fällen erfolgte die gesamte Ausbildung aber<br />
auch in Brasilien, häufig in São Paulo.<br />
Auswirkungen der Globalisierung:<br />
Das Beispiel der Textil- <strong>und</strong> Bekleidungsindustrie<br />
Die Globalisierung hatte insbesondere für die Textil- <strong>und</strong> Bekleidungsindustrie<br />
gravierende Auswirkungen. Zunächst hat der aus Konkurrenzgründen notwendige<br />
Import moderner maschineller Ausrüstungen zu starker Rationalisierung auf<br />
dem Arbeitskraft-Sektor geführt. Die betrieblichen Strukturen wurden gestrafft <strong>und</strong><br />
verschlankt. Dann mussten aufgr<strong>und</strong> der asiatischen Konkurrenten, die 40 – 70%<br />
billiger produzieren, die großen Produzenten zahlreiche Arbeitskräfte entlassen<br />
<strong>und</strong> Produktionsteile tertiärisieren.<br />
Dies bewirkte eine existenzbedrohende Krise <strong>und</strong> einen nachhaltigen Schock
für <strong>das</strong> regionale branchenspezifische Selbstbewusstsein. Der Wettbewerbsdruck<br />
hat auch einige erste, zumeist erfolglose Versuche bewirkt, in Regionen Brasiliens<br />
mit niedrigeren Löhnen, so im Nordosten, Filialbetriebe einzurichten. Trotz staatlicher<br />
Subventionen (z.B. durch SUDENE 1 ) haben dort fehlende Facharbeiter<br />
<strong>und</strong> mangelnde industrielle Arbeitstradition sowie defizitäre Infrastruktur zunächst<br />
keine Alternative zur globalisierten Konkurrenz aus Asien zugelassen.<br />
Großbetriebe der Bekleidungsindustrie haben aber bereits seit Anfang der 1970er<br />
Jahre erfolgreich versucht, durch Auslagerung von Betriebsteilen, vor allem Nähereien,<br />
in die ländliche Umgebung die dort verfügbare billigere Arbeitskraft zu nutzen,<br />
insbesondere junge weibliche Arbeitskräfte. Für die Munizipien im Hinterland<br />
von Blumenau war dies eine sehr gute Möglichkeit, Frauen in den industriellen<br />
Arbeitsprozess einzubinden, ohne mit der landwirtschaftlichen Tradition sofort zu<br />
brechen <strong>und</strong> damit über relativ stabile soziale Verhältnisse zu verfügen.<br />
Dann kam es zur Tertiärisierung mit der zunehmenden Auslagerung von Fertigungsprozessen<br />
(z.B. Näharbeiten) in viele Dutzende neu entstandener Kleinbetriebe,<br />
die größtenteils von ehemaligen Mitarbeitern im Dunstkreis der Mutterfirma mit<br />
zum Teil von dort zur Verfügung gestellten Nähmaschinen eingerichtet wurden<br />
<strong>und</strong> bis zu 60 % der im Konfektionsbereich notwendigen Arbeiten übernehmen.<br />
Dabei nutzten die Unternehmen die Kenntnisse der ehemaligen Mitarbeiter in den<br />
Qualitätsanforderungen der Produktion, trennten sich gleichzeitig von Sozialabgaben,<br />
vermieden weitere Entlassungen <strong>und</strong> gaben saisonale Absatzschwankungen<br />
an diese Kleinbetriebe weiter, die sich auf flexiblere Arbeitsbedingungen – häufig<br />
auch auf informeller Basis unter Umgehung von Steuern <strong>und</strong> Beiträgen zur Sozialversicherung<br />
– einstellten. Für den Arbeitsmarkt bedeutete dies angesichts der Absatzprobleme<br />
der Großfirmen aber auch eine gewisse Arbeitsplatzsicherung durch<br />
Flexibilisierung der Service-Leistungen, vor allem für weibliche Arbeitskräfte.<br />
In jüngster Zeit wird aber aufgr<strong>und</strong> der wirtschaftlichen Entwicklung im Itajaí-<br />
Tal <strong>und</strong> der zunehmenden Verknappung an Arbeitskräften im Näherei-Sektor sowie<br />
aufgr<strong>und</strong> der relativ hohen Lohnkosten in den Städten Santa Catarinas von<br />
einigen Großbetrieben wieder in Regionen außerhalb des Staates ausgelagert. Die<br />
Arbeiten werden aber großenteils von firmenfremden Kräften durchgeführt. Heute<br />
geschieht dies z. B. in Goiás <strong>und</strong> Rio Grande do Norte.<br />
So hat die Cia. Hering, eines der führenden Unternehmen Lateinamerikas auf<br />
dem Bekleidungssektor, heute nur noch 56 % der Arbeitskräfte in den wichtigsten<br />
Sektoren am Hauptsitz in Blumenau <strong>und</strong> hier werden nur noch 60 % des Umsatzes<br />
erwirtschaftet. Während in Betriebsteilen in Indaial, Rodeio <strong>und</strong> Ibirama mit unterschiedlicher<br />
Ausrichtung auf den nationalen <strong>und</strong> internationalen Markt produziert<br />
wird, bedienen die Betriebe in Goiás ausschließlich den nationalen Markt.<br />
In Natal im Nordosten Brasiliens läuft die Produktion über outsourcing <strong>und</strong> damit<br />
Tertiärisierung von Arbeitsgängen wie Zuschneiden, Waschen <strong>und</strong> Appretur.<br />
Vertikalisierung im Produktionsprozess war im Untersuchungsgebiet lange Zeit<br />
von der Notwendigkeit zur Eigeninitiative mit Autarkiebestreben getragen. Vertikale<br />
Kooperation war für die größeren Unternehmen kaum notwendig, da diese<br />
Firmen komplett vertikal integriert waren (siehe Foto 1 vor S. 321) (MEYER-STAMER<br />
1. Superintendência do Desenvolvimento do Nordeste<br />
331
332<br />
1996, 2003). Auch horizontale Kooperation war nicht dringend gefordert, da der<br />
brasilianische Markt bis Anfang der 1990er Jahre abgeschottet war <strong>und</strong> unter diesen<br />
abgesicherten Bedingungen auf nationaler Ebene erfolgreich produziert werden<br />
konnte <strong>und</strong> auch der – subventionierte – Export funktionierte. Im Gegenteil,<br />
viele Betriebe versuchten, sich gegen lokale <strong>und</strong> regionale Konkurrenz abzusichern<br />
<strong>und</strong> möglichst wenig fachliche Details preiszugeben. Heute haben vertikale Desintegration<br />
<strong>und</strong> Spezialisierung in der Produktion nach K<strong>und</strong>enwünschen bzw. Modetrends<br />
bei der Bekleidungsbranche die große Bandbreite der traditionellen Produktionslinien<br />
in vielen Großbetrieben abgelöst. Seit jüngster Zeit bieten SENAI 2<br />
<strong>und</strong> die Universitäten in Munizipien mit Bekleidungsindustrie Mode-Kurse an.<br />
Im mittleren Itajaí-Tal (Médio Vale do Itajaí) gibt es traditionell eine starke Clusterbildung<br />
im Bereich der Textil- <strong>und</strong> Bekleidungsindustrie. Allerdings hat diese<br />
standortspezifische Konzentration bisher nicht zu besseren Kooperationsaktivitäten<br />
zwischen Betrieben gleicher Branche geführt. Mit Fusionen zur Stärkung der Angebotsstruktur,<br />
aber auch mit Abbau kostenintensiver Verwaltung wird die für<br />
diese Region typische Industrie (Wirkwaren, Freizeitkleidung, Frotteewaren, Bett<strong>und</strong><br />
Tischwäsche etc.) sich den Herausforderungen der Globalisierung stellen<br />
müssen, um weiterhin wettbewerbsfähig zu sein. Ein erster wesentlicher Schritt ist<br />
die 2004 ins Leben gerufene Initiative verschiedener Unternehmen in Blumenau,<br />
Jaraguá do Sul, Brusque, Criciúma etc. zur Gründung einer Organisation Santa<br />
Catarina Moda Contemporânea, die im Bekleidungs-Cluster die Chance zum Informationsaustausch<br />
<strong>und</strong> gemeinsamen Strategien zur Produktion von Modeartikeln<br />
nutzen möchten.<br />
Bisher stehen häufig mangelnde oder auch schlechte Erfahrungen, Eigeninteressen<br />
traditionsbewusster Unternehmerfamilien mit teilweise schwierigen<br />
Nachfolgeproblemen im Führungsbereich sowie Vorbehalte gegenüber einer Offenlegung<br />
der Firmensituation einer Kooperation entgegen. Durch Firmenkontakte<br />
<strong>und</strong> gemeinsame Übernahme von Infrastrukturprojekten (z. B. Kläranlagen<br />
für die Textil- <strong>und</strong> Bekleidungsindustrie), verstärkten privaten, aber auch der<br />
Forderung nach kommunalen oder staatlichen Service-Leistungen könnten Synergie-Effekte<br />
erzielt werden, die zur besseren Reaktionsmöglichkeit auf globale<br />
Herausforderungen <strong>und</strong> damit bessere internationale Wettbewerbsfähigkeit führen<br />
würden. Dazu gehören auch die jüngst in Blumenau erfolgreichen Anstrengungen<br />
zur Einrichtung eines Messegeländes (Parque Vila Germânica), um mit<br />
internationaler Konkurrenz ein gutes Produkt-Marketing zu erzielen.<br />
Die Industrie- <strong>und</strong> Handelskammern der Region haben ihre Aktivitäten stark<br />
intensiviert <strong>und</strong> versuchen, zusammen mit den Kommunalverwaltungen Probleme<br />
bei der Flächennutzungsplanung für weitere Industrieansiedlung zu lösen,<br />
Infrastrukturprojekte im Umweltschutz oder in Zusammenarbeit mit staatlichen<br />
Institutionen Verbesserungen der beruflichen Bildung zu erreichen. Die Kooperation<br />
zwischen Industrie <strong>und</strong> Universitäten lässt z. T. noch zu wünschen übrig. Dazu<br />
tragen auch bei einigen Universitäten <strong>das</strong> übermäßige parteipolitische Innenleben<br />
<strong>und</strong> die bestehenden Vorbehalte der Zusammenarbeit mit Unternehmern<br />
bei. Spezialisierte Kurse für Textiltechniker fehlen.<br />
2. Serviço Nacional de Aprendizagem Industrial [Nationaler Ausbildungsdienst für die Industrielehre]
Allerdings sind jüngere private Universitäts-Neugründungen an klein- <strong>und</strong><br />
mittelstädtischen Standorten außerordentlich aktiv, haben ein großes Einzugsgebiet<br />
der in Abendkursen Studierenden <strong>und</strong> kommen in ihrem Kursangebot stärker<br />
den Anforderungen der lokalen <strong>und</strong> regionalen Industrie nach. Ihre Positionierung<br />
als Fachhochschulen bringt eine Einstellung auf die industriellen Bedürfnisse<br />
mit sich <strong>und</strong> auch <strong>das</strong> Lehrpersonal verfügt häufig über fachpraktische Erfahrung<br />
aus betrieblicher Tätigkeit.<br />
Standortkonzentration <strong>und</strong> regionales<br />
Profil der Industrie im Nordosten Santa Catarinas<br />
In der räumlichen Ordnung der Industriestandorte hat sich zwar seit Jahrzehnten<br />
<strong>das</strong> Gr<strong>und</strong>muster mit spezifischen Branchen-Konzentrationen <strong>und</strong> Clustern<br />
erhalten, aber es haben sich räumlich durchaus differenzierte Prozesse der<br />
Strukturveränderung sowie der Wachstumsdynamik ergeben.<br />
Joinville ist mit heute bereits 0,5 Millionen Ew. die größte <strong>und</strong> wirtschaftlich<br />
bedeutendste Stadt in Santa Catarina. In der regionalen Konkurrenz mit Blumenau<br />
hat Joinville nicht nur in der Zahl der Industriebeschäftigten (siehe Tab. 2) deutliche<br />
Vorteile, sondern vor allem auch in der Branchendifferenzierung, der Öffnung<br />
für nicht-regionales sowie ausländisches Kapital <strong>und</strong> in der Entwicklungsdynamik.<br />
Joinville war noch bis in die 1960er Jahre aufgr<strong>und</strong> seiner relativ isolierten<br />
Lage – damals ohne Asphaltstraßenverbindung nach Curitiba <strong>und</strong> zum Hafen<br />
São Francisco do Sul – gegenüber Blumenau, <strong>das</strong> von der Entwicklungsachse im<br />
Itajaí-Tal <strong>und</strong> seinem Hinterland sowie der Asphaltstraße zum Hafen Itajaí profitierte,<br />
im Nachteil. Die Industrie in Joinville war aber stärker diversifiziert.<br />
Heute zeigt sich dies als großer Vorteil, da mit einer vielseitigen Metallindustrie,<br />
Maschinen- <strong>und</strong> Fahrzeugbau, Textil- <strong>und</strong> Bekleidungs- sowie Kunststoff- <strong>und</strong> chemischer<br />
Industrie eine große industrielle Bandbreite mit in ihrer Branche in Lateinamerika<br />
führenden Betrieben – Gießereiprodukte für die Automobilindustrie,<br />
Kühlschränke, Kompressoren, Plastikrohre <strong>und</strong> Rohrverbindungen – <strong>und</strong> z. T.<br />
ausländischem Kapital <strong>und</strong> internationalen Entwicklungsimpulsen vorhanden ist.<br />
Diese Diversifizierung zeigt sich auch an den Anteilen der einzelnen Branchen an<br />
der Zahl der Industriebeschäftigten (siehe Tab. 2).<br />
Aufgr<strong>und</strong> der Oberflächenverhältnisse hat die Industrie in Joinville, die in den<br />
1960er Jahren noch stark im Innenstadt-Bereich lokalisiert war (KOHLHEPP 1968),<br />
räumliche Expansionsmöglichkeiten an der städtischen Peripherie (Boa Vista <strong>und</strong><br />
Perini Business Park) genutzt, auch in den Nachbarmunizipien, wo jüngst größere<br />
Betriebe entstanden, so u. a. ein Walzwerk in São Francisco do Sul. Der in den<br />
letzten Jahren verstärkt ausgebaute gute Naturhafen São Francisco do Sul, die<br />
Fernstraßenverbindung nach Curitiba <strong>und</strong> in den Süden des Staates sowie ein<br />
ausbaufähiger Eisenbahnanschluss ins Hochland <strong>und</strong> der Flughafen sichern heute<br />
eine gute Verkehrsinfrastruktur.<br />
Durch die starke Entwicklung der Automobilindustrie im nur 130 km entfernten<br />
Curitiba hat sich die Standortsituation der Metall verarbeitenden Industrie<br />
<strong>und</strong> damit die strategische Lage von Joinville verbessert, obwohl die Ansiedlung<br />
eines der neuen großen Automobilwerke letztlich scheiterte, da der un-<br />
333
334<br />
günstigere Standort Juiz de Fora in Minas Gerais erfolgreich mit b<strong>und</strong>esstaatlichen<br />
Subventionen lockte. Heute sind aber allein 52 Zulieferbetriebe der Autoindustrie<br />
von São Paulo <strong>und</strong> Curitiba in Joinville lokalisiert. Die Stadt hat aufgr<strong>und</strong><br />
des hohen Arbeitsplatzangebots in den letzten Jahrzehnten vor allem aus<br />
dem von italienischen Einwanderern geprägten Süden des Staates <strong>und</strong> aus<br />
Paraná eine sehr starke Zuwanderung erlebt – 1965 hatte Joinville erst 65.000<br />
Ew. –, was erhebliche Probleme bei der Stadtentwicklung <strong>und</strong> der Wohnraumbeschaffung<br />
verursachte.<br />
Im Munizip Blumenau gibt es dagegen trotz aller outsourcing-Tendenzen <strong>und</strong><br />
dem Personalabbau weiterhin eine sehr starke Abhängigkeit von der Textil- <strong>und</strong><br />
Bekleidungsindustrie, in der heute noch 62,4% der Industriebeschäftigten tätig<br />
sind. Aufgr<strong>und</strong> der Topographie (siehe Foto 2) <strong>und</strong> der geringen Fläche des<br />
Munizips sind in Blumenau die für die Industrieansiedlung zu nutzenden Reserveflächen<br />
gering <strong>und</strong> häufig größere Erdarbeiten beim Gebäudebau notwendig.<br />
Zudem besteht die latente Gefahr von Überschwemmungen mit erheblichen Folgeschäden.<br />
Es hat sich ein Dezentralisierungsprozess in die Nachbarmunizipien,<br />
u. a. Indaial, Pomerode, Timbó, Gaspar, vollzogen, der aber bereits früher durch<br />
Auslagerung arbeitsintensiver Fertigungsteile (Näherei) der Großbetriebe der Textil-<br />
<strong>und</strong> Bekleidungsindustrie begonnen hatte.<br />
Die vor allem durch die Marktöffnung Brasiliens <strong>und</strong> Globalisierungseinflüsse<br />
verursachte Krise der Textil- <strong>und</strong> Bekleidungsindustrie bildet einen bedeutenden<br />
Unsicherheitsfaktor für Blumenau. Aber es wird versucht, mit Qualitätsproduktion<br />
(Mode, Freizeitkleidung, Frotteewaren) <strong>und</strong> zertifizierter Produktion,<br />
die in den letzten Jahren stark zugenommen hat (Umweltsiegel), verstärkt<br />
auf den anspruchsvollen Märkten in Europa <strong>und</strong> USA erfolgreich zu sein. Zur<br />
Verbesserung des Absatzes haben die großen Produzenten auch eigene Ladengeschäfte<br />
sowie zahlreiche Geschäfte im Franchising mit exklusivem Verkauf eigener<br />
Produkte im Inland, aber auch außerhalb Brasiliens – in einem Fall sogar<br />
in Saudi-Arabien – eingerichtet. Die Produktlinien werden heute auf alle sozialen<br />
Klassen <strong>und</strong> Altersgruppen ausgerichtet, wobei Kinder <strong>und</strong> Jugend besonders<br />
angesprochen werden. Als Innovation hat sich die Software-Industrie in<br />
Blumenau gut entwickelt (BERCOVICH/ SCHWANKE 2003) <strong>und</strong> wird durch neue<br />
Investoren weiter gestärkt.<br />
Die heimische Produktion wird durch sehr billige chinesische Importe bedrängt,<br />
die in jüngster Zeit zwar mit einem etwas höheren Zoll belegt wurden,<br />
aber häufig auch auf illegalem Wege auf den brasilianischen Markt kommen.<br />
Der früher stark auf Holzexporte ausgerichtete Hafen Itajaí ist heute ein unter<br />
räumlicher Enge leidender Container-Hafen an der Mündung des Itajaí-Açu,<br />
der durch den Bau des Hafens im Munizip Navegantes auf der anderen<br />
Flussseite infrastrukturell verbessert wird <strong>und</strong> für Blumenau <strong>und</strong> sein Hinterland<br />
von großer Bedeutung ist.<br />
Von den nahen Kleinstädten hat sich Pomerode (25.000 Ew.) zu einem<br />
diversifizierten Industriestandort entwickelt, in dem zwar die Bekleidungsindustrie<br />
einen Schwerpunkt bildet, aber auch der Maschinenbau, die Produktion<br />
von Pumpen <strong>und</strong> die Kunststoff- <strong>und</strong> Spielwarenproduktion zunehmend<br />
an Bedeutung gewinnen <strong>und</strong> die Porzellanproduktion Tradition hat. Die mit-
telständische Betriebsgründung eines deutschen Unternehmens sowie eine<br />
Betriebsverlagerung eines weiteren aus São Paulo sind Beispiele für den Aufschwung<br />
der Stadt, deren deutschstämmige Tradition – auch bei der deutschen<br />
Sprache – bewusst erhalten wird <strong>und</strong> mit ihrer landschaftlich reizvollen<br />
Umgebung für den nationalen sowie auch für den Tourismus aus Deutschland<br />
ein attraktives Ziel ist. Für betriebliche Neugründungen spielen die Arbeitskräfte<br />
‚aus lokaler Wurzel‘, die gute Verkehrsanbindung, <strong>das</strong> gute Betriebsklima<br />
ohne soziale Spannungen <strong>und</strong> die hohe Lebensqualität, vor allem die sehr<br />
geringe Kriminalität, eine große Rolle.<br />
Das zur Mikroregion Blumenau zählende Brusque (2005: 82.000 Ew.) besitzt<br />
eine lange Textiltradition <strong>und</strong> hat sich neben Blumenau als Zentrum der Textil<strong>und</strong><br />
Bekleidungsindustrie gehalten. Trotz aller Strukturprobleme dieses Industriezweigs<br />
sind heute dort noch über 72% der industriellen Arbeitskräfte in dieser<br />
Branche tätig. Brusque hat erfolgreich versucht, seine wirtschaftliche Stellung<br />
<strong>und</strong> den Absatz von Textilien als „capital da pronta entrega 3 “ zu verstärken <strong>und</strong> für<br />
auswärtige Käufer interessant zu machen. Der Kauftourismus mit zahlreichen Busreisenden,<br />
die zum Kauf bzw. zum späteren Wiederverkauf von Bekleidung nach<br />
Brusque kommen, gehört zum Stadtbild. Angesichts der latenten Branchenprobleme<br />
sind in Brusque in jüngerer Zeit auch Diversifizierungstendenzen zu<br />
erkennen, z. B. im Bereich der Metallverarbeitung.<br />
Als drittgrößter Standort in Santa Catarina hat sich inzwischen aber Jaraguá<br />
do Sul etabliert, dessen 29.000 Beschäftigte sich insbesondere auf die Bekleidungs-,<br />
Elektromotoren- <strong>und</strong> Nahrungs- <strong>und</strong> Genussmittelproduktion verteilen. Die industrielle<br />
Entwicklung der Stadt ist eine absolute Erfolgsgeschichte. Jaraguá, <strong>das</strong><br />
1960 erst 4.400 Ew. zählte, präsentiert sich heute als eine Mittelstadt von 120.000<br />
Einwohnern. Aufgr<strong>und</strong> der Abwanderung zu den nahen Zentren Joinville <strong>und</strong><br />
Blumenau hatte Jaraguá erst seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, aber dann<br />
sehr schnell, ein eigenständiges industrielles Profil entwickelt. Bereits vor 40 Jahren<br />
konnte konstatiert werden, <strong>das</strong>s Jaraguá in Klein- <strong>und</strong> kleinen Mittelbetrieben<br />
„mit die größte industrielle Vielseitigkeit“ der Region besitzt, die „die breite, leistungsstarke<br />
Gr<strong>und</strong>lage für eine zukünftige Weiterentwicklung“ bietet (KOHLHEPP<br />
1968, S. 320). Dies hat sich bis heute in besonderem Maße verwirklicht.<br />
Die Industriebetriebe, so der größte Elektromotoren-Hersteller Lateinamerikas<br />
(siehe Foto 3) mit sieben Betrieben in Brasilien <strong>und</strong> fünf im Ausland, darunter<br />
einem in der Volksrepublik China, insgesamt 14.000 Beschäftigten <strong>und</strong> einem Umsatz<br />
von ca. 1 Mrd. , sowie leistungsstarke Großbetriebe des Bekleidungssektors, sind<br />
in der Stadt fest verwurzelt. Zahlreiche soziale <strong>und</strong> kulturelle Einrichtungen werden<br />
von der Industrie getragen oder gesponsert. Der Aufbau einer kleinen dynamischen<br />
Universität hat neue Impulse auf dem Ausbildungssektor gebracht. Die<br />
Lebensqualität in Jaraguá do Sul ist für Brasilien vorbildlich, der HDI (Human<br />
Development Index) ist der höchste im Staate Santa Catarina. Das in Jaraguá do<br />
Sul erwirtschaftete BIP pro Kopf der Bevölkerung ist mit 20.500 R$ (2003) bei weitem<br />
höher als in Joinville (13.150 R$) <strong>und</strong> Bumenau (12.500 R$) <strong>und</strong> übertrifft den<br />
Durchschnittswert von Santa Catarina, <strong>das</strong> in Brasilien an fünfter Stelle aller Bun-<br />
3. „Hauptstadt der prompten Lieferung“.<br />
335
336<br />
desstaaten steht, um fast <strong>das</strong> Doppelte. Allerdings ist die Folge eines differenzierten<br />
aufnahmefähigen Arbeitsmarkts <strong>und</strong> günstiger Lebensbedingungen eine starke<br />
Zuwanderung, die absorbiert <strong>und</strong> integriert werden muss.<br />
Auf dem nordöstlichen Hochland Santa Catarinas haben sich mit São Bento<br />
do Sul (70.000 Ew.) <strong>und</strong> Rio Negrinho in den letzten Jahrzehnten auf traditioneller<br />
Wurzel der Nachkommen von Einwanderern aus dem Böhmerwald zwei wichtige<br />
Zentren zu einem Cluster der Möbel- <strong>und</strong> Holzindustrie entwickelt, wobei São<br />
Bento Tendenzen zur Branchendifferenzierung aufweist. In den 1990er Jahren<br />
vervielfachten sich die Exporte aus São Bento, <strong>das</strong> 1997 etwa die Hälfte der brasilianischen<br />
Möbelexporte stellte. Mit der wieder erstarkten Konkurrenz osteuropäischer<br />
<strong>und</strong> auch südostasiatischer Produzenten sind Probleme aufgetaucht, sich<br />
auf dem komplexen westeuropäischen Markt zu behaupten.<br />
Hauptproblem ist nach MEYER-STAMER (2003) die Rivalität der Unternehmer<br />
<strong>und</strong> <strong>das</strong> fehlende Wissen über die spezifische Marktsituation, so <strong>das</strong>s er São Bento<br />
als „Musterbeispiel für ein unkooperatives Cluster“ bezeichnet. Nur durch gemeinsame<br />
Anstrengungen der industriellen Akteure im Bereich von Design-Innovationen<br />
<strong>und</strong> Vermarktungseffizienz wird die internationale Wettbewerbsfähigkeit beibehalten<br />
werden können. Allerdings steht die Mikroregion São Bento nach<br />
Joinville, Blumenau <strong>und</strong> Jaraguá heute immer noch an vierter Stelle der<br />
Catarinenser Exporte von Industrieprodukten.<br />
Schlussbetrachtung<br />
Zwischen der Tendenz der Globalisierung von Wirtschaft <strong>und</strong> Kultur <strong>und</strong> dem<br />
Bedeutungsgewinn der regionalen Ebene in diesen Bereichen besteht ein komplexes<br />
Spannungsverhältnis. Globalisierungstendenzen sind heute ein immanenter<br />
Bestandteil der Regionalentwicklung <strong>und</strong> der aktualisierten Handlungsmuster<br />
der regionalen Akteure.<br />
Der Erfolg einer Region ist davon abhängig, <strong>das</strong>s wirtschaftliche Entwicklungen<br />
über lebensweltliche Beziehungen, vorurteilsfreie Zusammenarbeit <strong>und</strong> soziale<br />
Netzwerke ablaufen. Diese Form der regionalen Identitätsbildung basiert auf<br />
einem regionalen endogenen Entwicklungspotenzial <strong>und</strong> drückt sich in einem<br />
ges<strong>und</strong>en wirtschaftlichen Lokal- <strong>und</strong> Regionalpatriotismus aus, einem umfassenden<br />
Regionalbewusstsein, <strong>das</strong> als positives Ergebnis eine kooperative Erfolgsgeschichte<br />
ermöglicht <strong>und</strong> die Wettbewerbsfähigkeit auf nationaler <strong>und</strong> internationaler<br />
Ebene steigert.<br />
Ökonomische <strong>und</strong> soziokulturelle Faktoren greifen auf der regionalen<br />
Maßstabsebene sehr viel stärker ineinander, als bisher erkannt wurde. Sie erzeugen<br />
trotz aller Einflüsse der Globalisierung aufgr<strong>und</strong> der Flexibilisierungsstrategien<br />
der Unternehmen <strong>und</strong> angepassten Reaktionsmechanismen der beteiligten<br />
Akteure spezifische regionale Milieus, in denen gegenseitiges Vertrauen<br />
<strong>und</strong> Kooperationsbereitschaft negatives Konkurrenzdenken <strong>und</strong> Eigenbrötelei<br />
aber noch überwinden muss. Die ethnozentrische Abgrenzung der Besiedlungsgebiete<br />
europäischer Einwanderer in der Pionierphase durch die Ansiedlungspraktiken<br />
der staatlichen <strong>und</strong> privaten Akteure wurde in Santa Catarina durch<br />
die Entstehung eines neuen, brasilianischen Nationalgefühls der Nachkommen
der Einwanderer sowie infolge der Durchmischung durch Binnenwanderung<br />
überw<strong>und</strong>en. Insofern ist eine übergreifende regionale Identität entstanden,<br />
die sich allerdings klar von anderen Regionen Brasiliens (Nordosten, Norden<br />
etc.) in Lebensstil, Wirtschaftsweise <strong>und</strong> Zielorientierung der regionalen Entwicklung<br />
unterscheidet.<br />
Dies trifft auch auf den industrialisierten Nordosten von Santa Catarina zu, in<br />
dem der industrielle Umbruch zum Postfordismus im Gange ist <strong>und</strong> gemeinsame<br />
Antworten auf die Herausforderungen der Globalisierung gesucht werden. Dadurch<br />
könnten Wettbewerbsnachteile wie ein überhöhter Wechselkurs des Real,<br />
dessen Stärke in Relation zum US-Dollar in den letzten Jahren zum Nachteil des<br />
Exports immer weiter zugenommen hat, <strong>und</strong> enorm hohe Kreditzinsen ebenso<br />
wie erhebliche Lohnnebenkosten zumeist abgefedert werden.<br />
Für die Entscheidungsträger <strong>und</strong> die fachlichen Akteure werden erhöhte Investitionen<br />
in Fachwissen, Kontaktnetze, Marktstrukturen <strong>und</strong> Ausbildung in einer<br />
globalisierten Welt immer entscheidender. Kommunale <strong>und</strong> staatliche Wirtschaftsförderung<br />
sowie administrative Erleichterungen, u. a. beim Export, sind<br />
weitere stark ausbaufähige Stützpfeiler regionaler Entwicklung.<br />
In einer Region wie dem Nordosten Santa Catarinas, mit dem Vorteil von<br />
in brasilianischem Maßstab relativ geringen sozialen Konflikten, kann sich<br />
Regionalbewusstsein auf der Basis des industriellen Qualitätssiegels „Santa<br />
Catarina“ dann auch in der Stärkung der industriewirtschaftlichen Position<br />
auf dem nationalen <strong>und</strong> dem Weltmarkt äußern. Die Industrie im nordöstlichen<br />
Santa Catarina hat trotz aller Einflüsse der Globalisierung <strong>und</strong> der damit<br />
notwendig werdenden Anpassungsprozesse ihre historisch f<strong>und</strong>ierte <strong>und</strong><br />
angesichts der innerbrasilianischen regionalen Disparitäten klar umrissene,<br />
sozial, soziokulturell <strong>und</strong> ökonomisch f<strong>und</strong>ierte regionale Identität großenteils<br />
bewahrt.<br />
Anmerkungen<br />
1) Die Autoren führten in den Jahren 2000 bis 2007 zahlreiche Befragungen<br />
von Personen in Industriebetrieben, Berufsverbänden, Industrie- <strong>und</strong> Handelskammern,<br />
Gewerkschaften, Kommunalverwaltungen, staatlichen Institutionen,<br />
regionalen Universitäten <strong>und</strong> Vereinen sowie mit Akteuren auf allen beruflichen<br />
Ebenen durch. In industriellen Unternehmen wurden 72 Intensiv-Interviews geführt.<br />
Allen Befragten, Firmen <strong>und</strong> Institutionen sei auch an dieser Stelle für ihre<br />
Bereitschaft zur Mitarbeit <strong>und</strong> Unterstützung nochmals gedankt.<br />
Die Arbeiten erfolgten im Rahmen zweier Forschungsprojekte: Cultura<br />
Empresarial no Vale do Itajaí 1945 – 1990 (Maria Luiza Renaux: IPS, Blumenau,<br />
FURB 2000/2002) sowie Globalização e Identidade Regional: O caso do Nordeste<br />
Catarinense (Maria Luiza Renaux: CNPq/CEMOP, Blumenau, FURB 2004-2006; Gerd<br />
Kohlhepp: Geographisches Institut der Universität Tübingen/ Deutschland,<br />
Forschungsschwerpunkt Lateinamerika, 2002-2007).<br />
2) Besonderer Dank gilt Herrn Dipl. Ing. Hans Prayon, Blumenau, der mit seinem<br />
Fachwissen <strong>und</strong> Regionalkenntnissen sowie durch zahlreiche organisatorische<br />
Hilfen die Untersuchungen in dankenswerter Weise jederzeit unterstützte.<br />
337
338<br />
Literatur<br />
BERCOVICH, Néstor / SCHWANKE, Charles (2003): Cooperação e competividade na indústria de<br />
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MEYER-STAMER, Jörg (2003): Die Herausforderung der wissensbasierten Entwicklung. Perspektiven<br />
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RENAUX, Maria Luiza (1995): O outro lado da história: O papel da mulher no Vale do Itajaí. Blumenau.<br />
SILVA, Marcos Aurélio da (2004): Reestruturação industrial na zona de colonização alemã catarinense:<br />
o caso do complexo têxtil. In: Geosul 19 (37), S. 67-93.<br />
STEIN, Stanley (1979): Origens e evolução da indústria têxtil no Brasil – 1880-1950. Rio de Janeiro.<br />
Prof. Dr. Maria Luiza Renaux, promovierte in Geschichte an der Universität São Paulo;<br />
Professorin des Mestrado für Regionalentwicklung an der Universität Blumenau (FURB).<br />
E-mail: luizarenaux@hotmail.com<br />
Prof. Dr. Gerd Kohlhepp, emeritierter Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialgeographie<br />
(1978-2005) am Geographischen Institut der Universität Tübingen/ Deutschland;<br />
Forschungsschwerpunkt Lateinamerika. E-Mail: gerd.kohlhepp@t-online.de.
Vor 80 Jahren –<br />
Beginn des Luftverkehrs in Brasilien<br />
Harro Fouquet<br />
São Paulo<br />
Resumo: Terra natal do pioneiro da aviação Alberto Santos Dumont,<br />
o Brasil somente começou a beneficiar-se do transporte aéreo<br />
comercial em 1927. Duas empresas aéreas foram então<br />
f<strong>und</strong>a<strong>das</strong> no país, ambas resultantes de associações entre<br />
investidores brasileiros e empresários alemães; esses últimos<br />
contribuíram acima de tudo com aviões, tecnologia e „knowhow“.<br />
Entre to<strong>das</strong> as companhias destacou-se a mais antiga,<br />
a VARIG, que conquistou gradativamente a liderança no<br />
Brasil e na América do Sul. Posicionada entre as vinte maiores<br />
empresas aéreas do m<strong>und</strong>o, nas últimas déca<strong>das</strong> do século<br />
XX seus jatos voavam para quatro continentes: América,<br />
Europa, Ásia e África. Uma seqüência de crises e dificuldades<br />
econômicas, que já causara o fechamento de outras<br />
duas empresas aéreas brasileiras, forçou a VARIG a ingressar<br />
no regime da Recuperação Judicial. Após o leilão da unidade<br />
operacional somente uma pequena parcela dos seus serviços<br />
aéreos anteriores continua sendo mantida. O encolhimento<br />
da VARIG acarretou múltiplas per<strong>das</strong> à nação brasileira,<br />
tanto de ordem econômica como social.<br />
Abstract: Home country of aviation pioneer Alberto Santos Dumont,<br />
Brazil only started to benefit from commercial air transport<br />
in 1927. Two airlines were then fo<strong>und</strong>ed in this country,<br />
both of them resulting from associations between Brazilian<br />
investors and German entrepreneurs; the latter contributed<br />
mainly with aircraft, technology and know-how. The<br />
oldest Brazilian airline, VARIG, gradually succeeded in becoming<br />
Brazil’s and South America’s leading air carrier.<br />
Ranking among the twenty largest airlines worldwide, its<br />
jet airplanes flew to four continents during the last decades<br />
of the 20 th century: America, Europe, Asia and Africa. A<br />
sequence of crises and economic difficulties, which had<br />
already led to the closure of two other Brazilian airlines,<br />
forced VARIG to file for Court ordered bankruptcy protection.<br />
After auctioning off the operational unit only a small<br />
portion of the former air services are being maintained.<br />
The shrinkage of VARIG has caused multiple losses to the<br />
Brazilian economy, including social aspects.<br />
339
340<br />
Beschwerlicher Anfang für VARIG – schnelle Expansion bei Condor<br />
Ähnlich wie im neunzehnten Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>das</strong> Dampfschiff <strong>und</strong> die Eisenbahn<br />
der menschlichen Tätigkeit ungeahnte neue Möglichkeiten erschlossen haben,<br />
ist unser Dasein im zwanzigsten Jahrh<strong>und</strong>ert, dank der Erfindung <strong>und</strong> rasanten<br />
Weiterentwicklung von Automobil, Flugzeug, Telekommunikation <strong>und</strong> Computer,<br />
gr<strong>und</strong>legend umgestaltet worden. Im Rückblick auf diese Entwicklung soll hier<br />
der Werdegang <strong>und</strong> <strong>das</strong> letztendliche Schicksal der beiden ältesten brasilianischen<br />
Luftverkehrsunternehmen zusammenfassend nachgezeichnet werden.<br />
Zuvor sei vermerkt, <strong>das</strong>s weltweit der Flugverkehr unmittelbar nach dem Ende<br />
des Ersten Weltkrieges begann. Als offizielles Datum gilt der 5. Februar 1919, an<br />
dem eine Maschine der Deutschen Luft-Reederei zum ersten planmäßigen Flug<br />
von Berlin nach Weimar startete. Weitere Dienste entwickelten sich in rascher<br />
Folge, hauptsächlich in Deutschland <strong>und</strong> anderen europäischen Ländern. Ausnahme<br />
war sicherlich die schon 1919 in Kolumbien mit deutscher Hilfe gegründete<br />
SCADTA. In Brasilien hingegen – wo die fliegerische Pionierarbeit von Alberto<br />
Santos Dumont naturgemäß allgemeines Interesse <strong>und</strong> Begeisterung ausgelöst<br />
hatte – führte selbst die damals vorausplanende Regierungspolitik anfänglich nicht<br />
zum ersehnten Ziel.<br />
In Brasilien ein bodenständiges Luftverkehrsunternehmen aufzubauen, hatte<br />
sich auch Otto Ernst Meyer-Labastille zur Aufgabe gemacht. Nach seinem Abschied<br />
von der preußischen Fliegertruppe war er 1921 eingewandert <strong>und</strong> hat<br />
sich, zwei Jahre später, in Porto Alegre niedergelassen. Nach intensiver <strong>und</strong> mühevoller<br />
Vorarbeit gelang es ihm, den Behörden <strong>und</strong> einem Großteil der<br />
riograndenser Gesellschaft die Vorteile des neuartigen Verkehrmittels nahe zu bringen.<br />
Ende 1926 erklärte sich deshalb eine Gruppe von Unternehmern bereit, <strong>das</strong><br />
benötigte Kapital für die bereits geplante Fluggesellschaft VARIG aufzubringen.
Während Meyer zwecks Verhandlungen zum Erwerb des benötigten Fluggerätes<br />
nach Deutschland gereist war, ging unabhängig davon die damals Aufsehen<br />
erregende Wirtschaftsmission des ehemaligen deutschen Reichskanzlers Hans<br />
Luther vonstatten. An Bord des dem Condor-Syndikat gehörenden Dornier Wal<br />
„Atlantico“ – einem zweimotorigem Flugboot für neun Fluggäste – flogen er <strong>und</strong><br />
seine Begleiter von Buenos Aires mit vielen Zwischenlandungen nach Rio de<br />
Janeiro. Am 1. Januar 1927 wurde dann der brasilianische Verkehrsminister Victor<br />
Conder von Rio nach Florianópolis befördert. Die dabei geleistete Überzeugungsarbeit<br />
muss sehr eindrucksvoll gewesen sein. Das in Berlin beheimatete Syndikat –<br />
eine Studiengesellschaft <strong>und</strong> Versuchskonsortium, an dem auch die Deutsche<br />
Lufthansa beteiligt war – erhielt schon wenig später Genehmigung, auf befristete<br />
Zeit planmäßigen Flugverkehr im Süden des Landes zu betreiben. Nach einem<br />
Eröffnungsflug am 3. Februar wurde kurz darauf der erste reguläre Flugdienst in<br />
Brasilien auf der Strecke Porto Alegre-Pelotas-Rio Grande aufgenommen <strong>und</strong> bis<br />
zum 15. Juni noch 66 mal beflogen.<br />
Unterdessen hatte in Porto Alegre am 7. Mai 1927 die Gründungsversammlung<br />
der S. A. Empreza de Viação Aérea Rio Grandense (VARIG) stattgef<strong>und</strong>en. Unter den<br />
etwa 500 Aktionären spielte dabei <strong>das</strong> Condor-Syndikat mit 21% des gezeichneten<br />
Kapitals eine besondere Rolle. Im Gegenzug kaufte VARIG den „Atlantico“, welcher<br />
somit als erstes in Brasilien registriertes Verkehrsflugzeug unter dem Kennzeichen P-<br />
BAAA in die Geschichte eingegangen ist. Als Direktoren wurden, neben Otto Ernst<br />
Meyer, noch Rudolf Cramer von Clausbruch, Fugkapitän der Lufthansa, sowie Fritz<br />
W. Hammer, Mitbegründer des Condor-Syndikats gewählt. Per Dekret vom 10. Juni<br />
wurden dem Unternehmen Verkehrsrechte erteilt, die sich allerdings auf <strong>das</strong> Gebiet<br />
des Staates Rio Grande do Sul <strong>und</strong> die Küstenregion des benachbarten Santa<br />
Catarina beschränkten. Die regulären Flüge der „Linha da Lagoa“ wurden am 22.<br />
Juni im Namen der neu gegründeten Gesellschaft wieder aufgenommen.<br />
Dornier Wal „Atlantico“ (VARIG-Archiv)<br />
341
342<br />
Auf Gr<strong>und</strong> der erwähnten Sondergenehmigung richtete <strong>das</strong> Condor-Syndikat<br />
seinerseits noch im selben Jahr Flüge von Rio über Santos, Paranaguá, São Francisco<br />
<strong>und</strong> Florianópolis nach Porto Alegre ein. Die deutschen Gesellschafter entschlossen<br />
sich jedoch, <strong>das</strong> Syndikat zu liquidieren. Zwei von ihnen – Fritz Hammer<br />
<strong>und</strong> Max Sauer – beteiligten sich sodann an dem am 1. Dezember 1927 in Rio de<br />
Janeiro gegründeten Syndicato Condor Ltda., gemeinschaftlich mit Conde Ernesto<br />
Pereira Carneiro <strong>und</strong> der Firma Hermann Stoltz & Cia. Verkehrsrechte für den<br />
gesamten brasilianischen Raum wurden am 28. Januar 1928 erteilt. Dadurch konnten<br />
die schon in Betrieb befindlichen Dienste weitergeführt <strong>und</strong> zugleich mit der<br />
Einrichtung neuer Verbindungen ab Rio de Janeiro in Richtung Salvador <strong>und</strong><br />
Recife begonnen werden. Friedrich Wilhelm (Fritz) Hammer, seit 1919 Vorreiter<br />
deutscher Pionierarbeit beim Aufbau des Flugverkehrs in Südamerika, verließ <strong>das</strong><br />
Syndicato Condor 1930 um sich neuen Aufgaben zu widmen. Er kam 1938 bei<br />
einem Flugzeugunfall in Ecuador ums Leben.<br />
Für die VARIG gestalteten sich die ersten Jahre, verkehrsmäßig bedingt, recht<br />
schwierig. Dreimal – 1928, 1929 <strong>und</strong> 1930 – unterbreitete <strong>das</strong> Syndicato Condor<br />
Vorschläge zur Übernahme, die jedoch abgelehnt wurden. Danach verkaufte <strong>das</strong><br />
deutsche Condor-Syndikat seine VARIG-Aktien an den Staat Rio Grande do Sul,<br />
während gleichzeitig <strong>das</strong> Flugboot „Atlantico“ zurückgegeben wurde. Das Inkrafttreten<br />
eines mit der Staatsregierung bereits abgeschlossenen Vertrags verzögerte<br />
sich jedoch infolge der Revolution von 1930 bis zum Ende 1931. Nur dem tatkräftigen<br />
Eintreten des Aufsichtsratsvorsitzenden Dr. Adroaldo Mesquita da Costa<br />
war es zu verdanken, <strong>das</strong>s die drohende Insolvenz verhindert wurde. Der Kauf<br />
von zwei Maschinen für fünf Fluggäste, vom Typ Junkers F-13, ermöglichte dann<br />
ab 1932 den schrittweisen Ausbau des Streckennetzes, dank auch der inzwischen<br />
gebauten Landebahnen. Hierzu muss noch bemerkt werden <strong>das</strong>s, den Realitäten<br />
der Zeit entsprechend, planmäßiger Flugverkehr in den meisten Fällen nur durch<br />
staatliche Subventionen wirtschaftlich abgesichert werden konnte.<br />
Trotz der anerkennungswerten Leistungen der VARIG im Staate Rio Grande<br />
do Sul ist nicht zu übersehen, <strong>das</strong>s bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges die<br />
Entwicklung des Flugverkehrs in Brasilien hauptsächlich vom Sindicato 1 Condor<br />
(Tochter der Lufthansa) <strong>und</strong>, ab 1930, auch von Panair do Brasil (Tochter der Pan<br />
American) bestimmt wurde. Systematisch bauten sie landesüberspannende Streckennetze<br />
aus, welche selbst entlegene Regionen einschlossen, wie <strong>das</strong> Amazonasbecken,<br />
Mato Grosso oder <strong>das</strong> Territorium Acre. So verfügte z. B. Condor schon<br />
1937 über eine Flotte von 16 Maschinen. Regelmäßig angeflogen wurden 42 Zielorte;<br />
für Flugsicherung <strong>und</strong> Kommunikation standen 24 eigene Funkstationen<br />
zur Verfügung. Technischer Höhepunkt wurde die 1939 erfolgte Inbetriebnahme<br />
von zwei Flugzeugen vom Typ Focke-Wulf Fw 200 „Condor“. Indessen fristeten<br />
VARIG – sowie die 1933 gegründete <strong>und</strong> 1935 von der Regierung des Staates São<br />
Paulo übernommene VASP – ein bescheideneres Dasein in ihren regionalen Bereichen.<br />
VASP hat sich jedoch durch den Einsatz von Ju-52-Maschinen auf der<br />
1936 eröffneten Strecke São Paulo-Rio besonders hervorgetan.<br />
Zusätzlich zu dem während der dreißiger Jahre von Lufthansa <strong>und</strong> Condor<br />
1. Nach der Orthografiereform von 1931 nicht mehr mit „y“.
gemeinschaftlich betriebenem<br />
Luftpostverkehr<br />
Europa-Südamerika soll<br />
bei dieser Gelegenheit<br />
auch an die Flüge des<br />
Luftschiffes „Graf Zeppelin“<br />
erinnert werden.<br />
Über mehrere Jahre hinweg<br />
wurden, bis 1937,<br />
auf der Strecke Friedrichshafen-Rio<br />
de Janei-<br />
„Graf Zeppelin“ bei Recife ro <strong>und</strong> zurück regelmäßig<br />
Fluggäste <strong>und</strong> Post<br />
befördert. So hatte der amtierende Präsident Getúlio Vargas schon 1933 Gelegenheit,<br />
<strong>das</strong> Luftschiff während eines 24-stündigen Fluges von Recife nach Rio kennen<br />
zu lernen. Ein in sehr fre<strong>und</strong>schaftlichem Ton gehaltener Telegrammwechsel<br />
mit Reichspräsident von Hindenburg war die Folge. Die große, noch funktionsfähige<br />
ehemalige Wartehalle des Zeppelin, steht heute im Dienst der Luftbasis Santa<br />
Cruz der brasilianischen Luftwaffe.<br />
Wie letztlich weltweit, führten auch in Brasilien die Kriegsereignisse zu einschneidenden<br />
Veränderungen bei vielen Flugverkehrsunternehmen <strong>und</strong> den<br />
jeweiligen Besitzverhältnissen. Das Sindicato Condor wurde 1942 nationalisiert.<br />
Die meisten deutschen Mitarbeiter wurden entlassen, unter ihnen auch Flugkapitän<br />
Cramer von Clausbruch. Präsident <strong>und</strong> Hauptaktionär der in Serviços Aéreos<br />
Cruzeiro do Sul umbenannten Gesellschaft wurde ihr vormaliger Rechtsberater,<br />
José Bento Ribeiro Dantas. Und bei Panair do Brasil wurde <strong>das</strong> Aktienkapital in drei<br />
Etappen – 1943, 1946 <strong>und</strong> 1961 – an brasilianische Investoren verkauft.<br />
2<br />
Höhenflug der VARIG<br />
Im Falle der VARIG verliefen die Dinge anders. Um als ehemaliger deutscher<br />
Staatsbürger die Existenz der Gesellschaft nicht zu gefährden, übergab Otto Ernst<br />
Meyer Anfang 1942 die Geschäftsleitung an seinen ersten Mitarbeiter, Ruben Martin<br />
Berta. Trotz der kriegsbedingten Schwierigkeiten konnte anschließend durch<br />
Zukauf von gebrauchtem Fluggerät die Transportleistung im Passagierverkehr bis<br />
1945 sogar beachtlich gesteigert werden. Um aber dem Unternehmen auch für<br />
die weitere Zukunft eine solide <strong>und</strong> sozial gerechte Kapitalbasis zu gewährleisten,<br />
gelang es Berta 1945, die Aktionäre – der Staat Rio Grande do Sul einbegriffen –<br />
zur Übergabe mehrheitlicher Aktienanteile an die neu gegründete F<strong>und</strong>ação dos<br />
Funcionários da Varig (heute F<strong>und</strong>ação Ruben Berta) zu bewegen. Während Bertas<br />
24-jähriger Amtszeit entwickelte sich die Airline zur wichtigsten Fluggesellschaft<br />
Brasiliens <strong>und</strong> Südamerikas. Nach seinem Ableben 1966 konnten seine Nachfolger<br />
– Erik de Carvalho (1966-1979) <strong>und</strong> Helio Smidt (1980-1990) viele Positionen<br />
sogar noch weiter ausbauen.<br />
2. Quelle: DAVIES, R. E. G.: Airlines of Latin America since 1919. Washington 1984.<br />
343
344<br />
Als Meilensteine dieser Entwicklung gelten: die Erweiterung des Streckennetzes<br />
von Porto Alegre über Florianópolis <strong>und</strong> Curitiba nach São Paulo <strong>und</strong> Rio<br />
(1946); Übernahme der Aero Geral, deren Flüge ab Rio neben anderen Zielorten<br />
Salvador, Recife <strong>und</strong> Natal erreichten (1952); Beginn der Langstreckenflüge nach<br />
New York (1955); Einsatz der ersten Düsenmaschinen – Caravelle (1959) <strong>und</strong> Boeing<br />
707 (1960). Ein bedeutender Schritt war die Übernahme (1961) des Consórcio<br />
Real, welches in nur 15 Jahren zur größten Fluggesellschaft Brasiliens <strong>und</strong> Südamerikas<br />
aufgestiegen war. Außer mehr als h<strong>und</strong>ert Zielorten in Brasilien bediente Real<br />
damals u. a. Miami, Mexico City <strong>und</strong> Los Angeles <strong>und</strong> besaß die Konzession der<br />
Flüge nach Japan. Ein weiterer großer Zuwachs kam mit der Überlassung der vormals<br />
von Panair do Brasil betriebenen Flüge nach Europa (1965). Zusätzlich sind zu<br />
erwähnen die ständige Erneuerung <strong>und</strong> Modernisierung der Flotte, mittels Einführung<br />
jeweils neuster Modelle von Boeing, McDonnell Douglas, Airbus <strong>und</strong> Embraer<br />
bis hin zur Boeing 777 (2001), sowie die Erstellung der großen Wartungshalle nebst<br />
Werkstätten <strong>und</strong> Prüfständen für Überholung von Fluggerät, Triebwerken <strong>und</strong> Zubehör,<br />
am Internationalen Flughafen von Rio de Janeiro.<br />
Über viele Jahre hinweg behauptete VARIG eine allgemein anerkannte führende<br />
Stellung in Südamerika. Im innerbrasilianischen Streckennetz waren Städte<br />
in sämtlichen Staaten vertreten. Die „Ponte Aérea“ <strong>und</strong> regionale Strecken, die<br />
von Rio Sul <strong>und</strong> Nordeste bedient wurden, r<strong>und</strong>eten <strong>das</strong> Angebot ab. Internationale<br />
<strong>und</strong> interkontinentale Flüge verbanden Brasilien <strong>und</strong> Südamerika mit einer<br />
Reihe von Zielen in Nordamerika <strong>und</strong> Europa, aber auch mit Afrika <strong>und</strong><br />
Asien, wo Städte wie Tokio, Nagoya, Bangkok <strong>und</strong> Hongkong erreicht wurden.<br />
Zugleich wurde auch <strong>das</strong> Frachtgeschäft mit Hilfe von zweckbestimmtem Fluggerät<br />
laufend ausgebaut. Die Infrastruktur umfasste, zusätzlich zu den schon<br />
erwähnten technischen Einrichtungen, Pilotenschule, Flugsimulatoren sowie<br />
andere Ausbildungs- <strong>und</strong> Trainingszentren. Eine Tochtergesellschaft war für <strong>das</strong><br />
gro<strong>und</strong> handling auf dutzenden von Flughäfen zuständig. Zu erwähnen ist noch<br />
die Cia. Tropical de Hoteis, die unter anderem die bekannten Hotels an den<br />
Iguaçú-Wasserfällen <strong>und</strong> in Manaus betrieb. Auch war <strong>das</strong> Unternehmen über<br />
viele Jahrzehnte lang aktives Mitglied der International Air Transport Association<br />
(IATA). Insbesondere aber wurde die schon 1965 unter Ruben Berta neu begonnene<br />
Zusammenarbeit mit Lufthansa laufend erweitert <strong>und</strong> vertieft. So war es<br />
nicht zuletzt ihrem damaligen Vorsitzenden – Dr. Jürgen Weber (Deutsch-Brasilianische<br />
Persönlichkeit 2006) – zu verdanken, <strong>das</strong>s VARIG im Jahre des siebzigsten<br />
Geburtstages als sechstes Mitglied zur Star Alliance kam.<br />
Aus der Stabilität in die Krise<br />
Nach Überwindung der krisenreichen Zeit der sechziger Jahre des vergangenen<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts hatte VARIG sich im darauf folgenden Jahrzehnt zu einem<br />
wirtschaftlich <strong>und</strong> finanziell soliden <strong>und</strong> technologisch aktualisierten Unternehmen<br />
entwickelt. Auch die 1975 erfolgte Übernahme der Cruzeiro do Sul (ehemals<br />
Sindicato Condor) war bald verkraftet <strong>und</strong> diese Airline, wie zuvor schon VARIG,<br />
an die Börse (Bovespa) gebracht. Doch <strong>das</strong> Wirtschaftsklima verschlechterte sich<br />
zu Anfang der achtziger Jahre, zuerst weltweit infolge der zweiten Ölkrise <strong>und</strong>
anschließend durch die länger währende brasilianische Finanzkrise, die schon<br />
1982 einen ihrer Höhepunkte erreicht hatte. Für die zu jenem Zeitpunkt schon<br />
angeschafften Maschinen vom Typ Boeing 747 war deshalb für VARIG als brasilianischem<br />
Unternehmen unerwartet keine Finanzierung durch US-amerikanische<br />
Institutionen mehr möglich. Diese wurde schließlich bei japanischen Banken in<br />
deren Landeswährung aufgenommen. Die spätere Aufwertung des Yen gegenüber<br />
dem Dollar machte aber die Tilgung unrealisierbar, was zur Rückgabe der<br />
Jumbos führte. Zusätzlich verblieben noch Schulden in Höhe von mehreren h<strong>und</strong>ert<br />
Millionen Dollar.<br />
Ähnlich verhängnisvoll wirkte sich die 1985 von der Regierung verfügte Kontrolle<br />
der internen Flugpreise aus. Die über Jahre hinweg unzureichenden Preisangleichungen,<br />
bei gleichzeitig immer höheren Inflationsraten – von teilweise<br />
weit über 1000% jährlich – stürzten alle Airlines in tiefe Schulden. Eine Entschädigung<br />
für die auf umgerechnet etwa 2,2 Milliarden US-Dollar bezifferten Einkommenseinbußen<br />
(VARIG-Gruppe r<strong>und</strong> 50% davon) ist von allen Gesellschaften<br />
1992 gerichtlich beantragt worden; die entsprechenden Verfahren sind jedoch<br />
bis heute nicht abgeschlossen. Ebenfalls ergebnislos verlief ein seinerzeit<br />
vom Luftfahrtministerium in Aussicht gestellter Plan zur Rekapitalisierung der<br />
betroffenen Unternehmen.<br />
Ein dritter Faktor war zweifellos die ab 1990 von den zuständigen Behörden<br />
befolgte verkehrspolitische Neuorientierung bei der Zuteilung von internationalen<br />
Flugstrecken. Als Prinzip wurde die so genannte Multi-Designation eingeführt,<br />
was zur gegenseitigen Konkurrenz brasilianischer Gesellschaften auf den wichtigsten<br />
Auslandsstrecken führte. Wie die Praxis erwiesen hat, ergaben sich daraus<br />
hohe Betriebsverluste sowie eine merkliche Schwächung aller hiesigen Betreiber<br />
gegenüber ihren ausländischen Konkurrenten.<br />
Wie für eine mehrheitlich im internationalen Sektor operierende Airline charakteristisch,<br />
ist auch VARIG besonders stark von den Folgen des Golfkrieges (1991)<br />
<strong>und</strong> des Attentats auf <strong>das</strong> World Trade Center (2001) betroffen worden. Die der<br />
globalen Zivilluftfahrt dadurch entstandenen dramatisch hohen Verluste werden<br />
im ersten Fall auf 20, im zweiten auf knapp 40 Milliarden Dollar beziffert. Zusätzlich<br />
sollten auch die Rückwirkungen der Finanzkrise in Asien, sowie die aus den zeitweilig<br />
gewaltigen Kursschwankungen Dollar x Real entstandenen Verluste, nicht<br />
unerwähnt bleiben. Selbstverständlich müssen auch die auf sämtliche Schulden<br />
anfallenden beträchtlich hohen Zinsen berücksichtigt werden.<br />
Wie die vormals aufgezeigten Fakten andeuten, musste die finanzielle Lage der<br />
VARIG – hauptsächlich wegen der nicht erfolgten Begleichung der seit 1992 eingeforderten<br />
Entschädigungszahlung – schon ab jenem Zeitpunkt als angeschlagen<br />
gelten. Der später erfolgte Zusammenbruch von TransBrasil <strong>und</strong> VASP bestärkt<br />
diese Erkenntnis. Zu keiner Zeit sind daraufhin Mittel <strong>und</strong> Wege zur Überwindung<br />
der Schwierigkeiten unversucht geblieben, wie die folgende exemplarische<br />
Zusammenfassung zeigt. Finanzielle Restrukturierungen in den Jahren 1994<br />
<strong>und</strong> 1999 erbrachten, mangels an Zuführung von neuem Kapital, nur kurzzeitige<br />
Erleichterung. Obwohl die Ruben-Berta-Stiftung sich schon im Jahre 2002 zum<br />
Verzicht ihrer kontrollierenden Position bereiterklärt hatte, blieben Versuche einer<br />
von der staatlichen Entwicklungsbank BNDES zu koordinierenden Kapitali-<br />
345
346<br />
sierung erfolglos. Auch die seinerzeit geplante Fusion mit TAM wurde als letztlich<br />
<strong>und</strong>urchführbar erkannt <strong>und</strong> gleichfalls aufgegeben. Parallel zu diesen Abläufen<br />
ist im operativen Sektor die Belegschaft von 28000 Mitarbeitern im Jahre 1991<br />
stufenweise bis Ende 2005 auf knapp 12000 verringert worden. Unabhängig hiervon<br />
ist noch zu erwähnen, <strong>das</strong>s im Jahre 1995 eine Hauptversammlung der Ruben-<br />
Berta-Stiftung die Änderung ihrer Satzungen beschloss. Die bis dahin in den Händen<br />
ihres Präsidenten vereinigten Befugnisse wurden einem siebenköpfigen – aus<br />
Mitarbeitern der VARIG bestehenden – Kuratorium übertragen, dessen Vorsitzender<br />
als Sprecher fungiert. Das Fehlen einer klaren Trennung zwischen Kompetenzen<br />
von ‚Aktionären‘ <strong>und</strong> ‚Firmenangehörigen‘ hat anschließend zu vielfachen<br />
Interessenskonflikten geführt, welche häufige Umbesetzungen an der Verwaltungsspitze<br />
ausgelöst haben. Die konkrete Einwirkung dieser Begebnisse auf <strong>das</strong> letztendliche<br />
Schicksal des Unternehmens muss aber, angesichts des ebenfalls extrem<br />
schwierigen äußeren Umfeldes, entsprechend relativiert werden.<br />
Zur Abwendung der drohenden Insolvenz wurde die Gesellschaft im Juni 2005,<br />
dank eines kurz zuvor erlassenen Gesetzes, unter gerichtlichen Schutz gestellt.<br />
Einige Zeit später sind dann zwei Tochtergesellschaften – VEM (Technik) <strong>und</strong><br />
VARIG-Log (Fracht) – veräußert worden. Im Juli 2006 sind schließlich die Verkehrsrechte<br />
der VARIG <strong>und</strong> der Rio Sul, nebst dazugehöriger operativer Aktiva, bei<br />
einer Versteigerung von VARIG-Log erworben worden. Sie wurden dann im März<br />
2007 an die Fluggesellschaft GOL weiterverkauft. Dieses nun „Neue VARIG“ genannte<br />
Unternehmen betreibt zurzeit mit einer erheblich verkleinerten Flotte ein<br />
entsprechend begrenztes Streckennetz in Brasilien <strong>und</strong> im Ausland. Die ‚alte‘<br />
VARIG hat – unter dem Namen „Nordeste“ – als Aufgabe die Verwaltung der übrigen<br />
Aktiva <strong>und</strong> Passiva behalten.<br />
Durch die Krise im Bereich der Luftfahrt sind der brasilianischen Wirtschaft tief<br />
greifende, teilweise nur schwer qualifizierbare Verluste zugefügt worden. Das bleibt<br />
nicht allein auf die sozialen Aspekte beschränkt, wo beispielsweise die Liquidierung<br />
einer Pensionskasse <strong>und</strong> auch massive Abwanderung von hoch qualifizierten Fachkräften<br />
zu beklagen sind. Unternehmen aus Bereichen wie Technik, flight training,<br />
catering oder gro<strong>und</strong> handling sind mehrheitlich in die Hände von ausländischem<br />
Kapital kontrollierter Finanzgruppen gekommen. Zum anderen ist durch die<br />
Schrumpfung von VARIG der Anteil brasilianischer Airlines am Auslandsgeschäft in<br />
letzter Zeit dramatisch <strong>und</strong> unverhältnismäßig stark zurückgegangen, wodurch dem<br />
Land entsprechend hohe Beträge an Devisen verloren gegangen sind.<br />
Angesichts der aufgeführten Tatsachen drängt sich die Erkenntnis auf, <strong>das</strong>s –<br />
auch unter Berücksichtigung punktueller, dem Management unterstellbarer Fehler<br />
– eine systematische Befolgung zielbewusster Verkehrspolitik, ein rechtzeitiges<br />
Eingreifen der Behörden, sowie eine weniger schleppend funktionierende Justiz,<br />
den betroffenen Unternehmen <strong>und</strong> der brasilianischen Gesellschaft viele bedauernswerte<br />
Erfahrungen hätten ersparen können.<br />
Rückblick <strong>und</strong> Ausblick<br />
Der entscheidende Beitrag, den deutsche Unternehmen <strong>und</strong> Einzelpersonen<br />
beim Aufbau des südamerikanischen <strong>und</strong> insbesondere des brasilianischen
Luftverkehrs geleistet haben, ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten.<br />
Ihre Pioniertätigkeit muss aber unter anderem als Basis für die Entstehung der<br />
jahrzehntelang bedeutendsten Airline der Region gelten. Nach dem Vorbild seiner<br />
deutschen <strong>und</strong> brasilianischen Gründer hat sich VARIG auch stets für den<br />
Erhalt <strong>und</strong> den Ausbau guter Beziehungen zwischen beiden Nationen eingesetzt.<br />
Förderung des Tourismus <strong>und</strong> Mitarbeit an den bilateralen Wirtschaftstreffen<br />
sollen dafür nur ein kleines Beispiel sein. Dessen eingedenk wollen wir<br />
der Hoffnung Ausdruck verleihen, <strong>das</strong>s die dem Unternehmen vor achtzig Jahren<br />
in die Wiege gelegten Werte durch den Fortbestand des Namens VARIG<br />
auch weiterhin erhalten bleiben.<br />
Die letztlich vornehmste Aufgabe des Flugverkehrs – Menschen aus allen Teilen<br />
unserer globalisierten Welt einander näher zu bringen – muss allerdings, in<br />
Anbetracht der damit verb<strong>und</strong>enen schweren Umweltbelastung, entsprechend<br />
neu bewertet werden. So wird es in den kommenden Jahrzehnten auch im Bereich<br />
der Luftfahrt nicht an neuen Herausforderungen für Techniker <strong>und</strong> Unternehmer<br />
mangeln.<br />
Harro Fouquet, geboren 1927 in São Paulo, ist seit 1948 in der Luftverkehrsbranche tätig. Er<br />
kam zur VARIG, als diese 1961 die damalige Fluggesellschaft REAL übernahm. Betriebswirt,<br />
arbeitete er hauptsächlich in den Bereichen Streckenplanung <strong>und</strong> Verkehrspolitik. Als Direktor<br />
für Planung trat er 1993 in den Ruhestand, ist aber seitdem weiterhin Mitglied von Aufsichtsräten,<br />
z. Zt. von VARIG-Log; zudem beschäftigt er sich mit der Aufarbeitung der Geschichte des<br />
brasilianischen Luftverkehrs.<br />
347
Figur des Hans Staden in der Wanderaustellung<br />
Unter Menschfresser-Leuthen / Entre as Gentes Antropófagas<br />
Hans Staden e o primeiro livro sobre o Brasil 1557 – 2007,<br />
die im August 2007 in São Paulo startete <strong>und</strong><br />
bis Mai 2008 in mehreren Städten Brasiliens zu sehen ist.
Aus der Arbeit des<br />
Martius-Staden-Instituts<br />
Kulturbericht 2007<br />
Martina Merklinger<br />
São Paulo<br />
Das Jahr 2007 stand im Zeichen der beiden Namenspatrone des Martius-<br />
Staden-Instituts: Hans Staden <strong>und</strong> Carl Friedrich Philipp von Martius. Die Erstveröffentlichung<br />
der Reiseberichte von Hans Staden, die berühmte Warhaftige Historia<br />
<strong>und</strong> Beschreibung eyner Landtschafft der Wilden / Nacketen / Grimmigen Menschfresser-Leuthen<br />
in der Newenwelt America gelegen... liegt nun 450 Jahre zurück, was<br />
<strong>das</strong> Martius-Staden-Institut dazu bewegte, einige Aktivitäten daraufhin auszurichten.<br />
2007 jährte sich auch der Beginn der legendären Expedition von Carl Fr. Ph.<br />
von Martius <strong>und</strong> Johann Baptist von Spix zum 190. Mal – ein Anlass, dem ein<br />
Textbeitrag im vorliegenden Jahrbuch gewidmet ist.<br />
450 Jahre Hans Staden<br />
Der Schwerpunkt des Kulturprogramms in diesem Jahr jedoch lag auf Hans<br />
Staden, der traditionell gewichtigeren Persönlichkeit in der Geschichte des Instituts,<br />
<strong>das</strong> ja bis 1997 allein dessen kompletten Namen getragen hat: Hans-Staden-<br />
Institut. Mit einem Forschungskolloquium zu Staden <strong>und</strong> der Vernissage der unter<br />
wesentlicher Mitwirkung des Martius-Staden-Instituts konzipierten Wanderausstellung<br />
Unter Menschfresser-Leuthen / Entre as Gentes Antropófagas im hessischen<br />
Wolfhagen wurde <strong>das</strong> Programmjahr des Instituts eröffnet. Die Ausstellung<br />
des Regionalmuseums Wolfhager Land enthält lange illustrierte <strong>und</strong> zweisprachige<br />
Textfahnen, die den Inhalt der Warhaftigen Historia resümiert wiedergeben,<br />
von den abenteuerlichen Erlebnissen Stadens als Expeditionsreisender bis<br />
hin zu seinen detailgetreuen Beschreibungen der Tupinambá-Indianer, in deren<br />
Gefangenschaft er geriet. Zudem werden die Umstände beleuchtet, in denen dieses<br />
erste Brasilien-Buch entstanden ist, <strong>und</strong> schließlich wird die Rezeption des<br />
Buches von der Renaissance bis in die Gegenwart aufgezeigt. Originalexponate,<br />
wie die niederländische Staden-Ausgabe <strong>und</strong> insbesondere ein Exemplar der<br />
Marburger Ausgabe von 1557 aus dem Besitz der Niedersächsischen Staats- <strong>und</strong><br />
Landesbibliothek Göttingen veredeln diese Jubiläumsschau.<br />
Die Ausstellung war noch bis Juli in Deutschland zu sehen – als letztes in<br />
Korbach, ein Ort in Hessen, der ebenfalls mit Staden <strong>und</strong> seiner Familie verb<strong>und</strong>en<br />
1. In Korbach bei Verwandten habe sich Staden 1555 aufgehalten, nachdem er von seiner Reise<br />
zurückgekehrt war <strong>und</strong> wo er schließlich <strong>das</strong> Handwerk des Salpetersiedens erlernt habe.<br />
Das letzte Dokument, <strong>das</strong> gesichert mit ihm in Zusammenhang gebracht wird, stamme<br />
ebenfalls aus Korbach. Vgl. Obermeier, Franz, in: Staden, Hans: Warhaftige Historia / Zwei<br />
Reisen nach Brasilien (1548-1555) / História de duas viagens ao Brasil, S. 407.<br />
349
350<br />
wird 1 – bevor sie schließlich nach São Paulo verladen wurde. Von da aus koordinierte<br />
<strong>das</strong> Martius-Staden-Institut – dank der Unterstützung des Auswärtigen<br />
Amtes <strong>und</strong> der Vermittlung des Goethe-Instituts 2 – eine Ausstellungstournée an<br />
mehrere Orte innerhalb Brasiliens: São Paulo <strong>und</strong> Valinhos, Florianópolis <strong>und</strong><br />
Curitiba. Für den Anschluss im neuen Jahr sind vorgesehen: Itanhaém, Recife,<br />
Porto Alegre <strong>und</strong> Bertioga.<br />
Die rege Resonanz vor allem bei jungen Besuchern hat bewiesen, <strong>das</strong>s vom<br />
Thema Hans Staden auch heute noch ein großer Reiz ausgeht, es Abenteuerlust<br />
weckt <strong>und</strong> die Fantasie anregt. Gerade der Aspekt des Kannibalismus, mit dem<br />
Hans Staden zu seiner eigenen Beunruhigung konfrontiert wurde, berührte sowohl<br />
seine wie auch noch unsere Zeitgenossen <strong>und</strong> lässt nach wie vor Raum für<br />
weitergehende Forschungen.<br />
Auch der in Hessen lebende brasilianische Künstler José De Quadros betont<br />
den anthropophagischen Gehalt der Warhaftigen Historia in seiner neuen Bilderserie<br />
zu Hans Staden, die zentraler Bestandteil einer weiteren Ausstellung des<br />
Martius-Staden-Instituts in diesem Jahr war: Staden revisto – Pinturas recentes<br />
de José De Quadros lautete der Titel der Schau mit insgesamt drei großformatigen<br />
Gemälden <strong>und</strong> eben dieser 20-teiligen Serie. Der Künstler arbeitet mit der<br />
Ikonographie der Holzschnitte aus dem Buch dieses deutschen Abenteurers <strong>und</strong><br />
bringt die Bilder mittels Selektion <strong>und</strong> Übermalung in einen aktuellen Zusammenhang.<br />
Sensibel ausgearbeitete Bilder in mehreren Farb- <strong>und</strong> Leseschichten charakterisieren<br />
die Serie, die eigens für dieses Jubiläum im Martius-Staden-Institut<br />
konzipiert wurde.<br />
Ebenfalls im Rahmen dieses bibliographischen Jubiläums wurde am 31. Mai<br />
gemeinsam mit der Eröffnung der Gemäldeausstellung ein neues Buch aus der<br />
Staden-Forschung vorgestellt: Hans Staden: Warhaftige Historia / Zwei Reisen<br />
nach Brasilien (1548-1555) / História de duas viagens ao Brasil, erschienen im<br />
Westensee Verlag unter der Mitherausgabe des Martius-Staden-Instituts. Es handelt<br />
sich dabei um die erste Staden-Ausgabe, die sowohl den historischen Text als<br />
Faksimile als auch eine von Joachim Tiemann sprachlich aktualisierte deutsche<br />
Version <strong>und</strong> eine portugiesische Übersetzung enthält. Ergänzt wird dieser Teil durch<br />
eine Zeittafel zu Hans Staden <strong>und</strong> seinem Werk sowie durch kritische Erläuterungen<br />
vom Herausgeber Franz Obermeier.<br />
Von Büchern <strong>und</strong> Büsten<br />
Zwei weitere Buchpräsentationen fanden in den Räumen des Martius-Staden-<br />
Instituts statt: Am 1. August stellte José Eduardo Heflinger Jr. aus Limeira seine<br />
Dokumentation über die Geschichte der Fazenda Ibicaba vor, 3 <strong>und</strong> am 13.<br />
November erfolgt die Präsentation des vorliegenden Martius-Staden-Jahr-<br />
2. Ein Teil der weiteren Ausstellungsstationen sind Goethe-Institute in Brasilien oder vom Goethe-Institut<br />
geförderte Kulturgesellschaften.<br />
3. Heflinger, José Eduardo Jr.: Ibicaba – O Berço da imigração Européia de Cunho Particular,<br />
Limeira 2007. Der Verlag nutzte die Gelegenheit zur Präsentation einer weiteren Publikation:<br />
Reynaldo Kuntz Busch: A História de Limeira, Limeira 32007.
uches. 4 Kurzweilig <strong>und</strong> heiter hatte uns Ignácio de Loyola Brandão bei der<br />
Jahrbuchvorstellung 2006 Denkanstöße aus seinem neuen Buch gegeben. Als Fortführung<br />
dieser im vergangenen Jahr erstmals vorgenommenen Lesung mit einem<br />
der Jahrbuch-Autoren wird auch dieses Mal ein Schriftsteller erwartet: Fernando<br />
Bonassi. 5 Ebenso der Literatur, aber auch der Bildenden Kunst gewidmet ist die für<br />
den Anschluss geplante feierliche Enthüllung jener Kopfbüste, an deren Pendant<br />
sich viele Paulistaner erinnern, als sie noch in der Nähe der Stadtbibliothek Mario<br />
de Andrade stand: Johann Wolfgang von Goethe. Es handelt sich um einen<br />
der in kleiner Auflage erstellten Abgüsse des im vergangenen Jahr verstorbenen<br />
Bildhauers Tao Sigulda. Die von Wolfgang Dietzius gestiftete Skulptur hat nun<br />
einen würdigen Platz auf dem Schulhof der Porto-Seguro-Schule (III) gef<strong>und</strong>en. 6<br />
Auszeichnung: der Martius-Staden-Preis 2007<br />
Der jährlich vergebene Martius-Staden-Preis geht in diesem Jahr an eine Institution,<br />
die seit 1923 in Brasilien existiert <strong>und</strong> sich hier insbesondere auf dem Gebiet der<br />
berufsbildenden Sozialarbeit verdient gemacht hat: <strong>das</strong> Kolping-Werk. Die Obra Kolping<br />
do Brasil, unabhängig von dem deutschen Kolping-Werk 7 , ist in Brasilien<br />
mittlerweile mit 423 Vereinen in 21 B<strong>und</strong>esstaaten aktiv <strong>und</strong> hat ihre Arbeit in diesem<br />
Jahr unter <strong>das</strong> Motto „Trabalhando em mutirão construiremos nosso chão“ gestellt.<br />
Musikalische Begegnungen<br />
Wie <strong>das</strong> Vorjahr war auch 2007 für <strong>das</strong> Martius-Staden-Institut ein besonders<br />
musikalisches Jahr. Begonnen hat es mit dem Besuch des Salonorchesters<br />
DaCapo, <strong>das</strong> vom Martius-Staden-Institut nach Brasilien eingeladen wurde <strong>und</strong><br />
dessen Tournée in Piracicaba begann. Von der dortigen Musikschule Escola de<br />
Música Piracicaba Ernst Mahle, inzwischen Partnerinstitution des Martius-Staden-<br />
Instituts, reiste es nach Valinhos (Porto-Seguro-Schule II) <strong>und</strong> einen Tag später<br />
zum didaktischen Konzert an die Porto-Seguro-Schule in São Paulo, <strong>das</strong> die acht<br />
Musiker dort unter lebhafter Beteiligung der Schüler gaben. Das Hauptkonzert<br />
schließlich fand im Club Transatlântico statt, als Kooperationsveranstaltung zwischen<br />
Club <strong>und</strong> Martius-Staden-Institut. Spritzige Rhythmen, darunter Walzer,<br />
Tangos <strong>und</strong> Czar<strong>das</strong> erfüllten den Saal, der durch Buffet <strong>und</strong> ansprechender Dekoration<br />
eine gemütliche Kaffeehausatmosphäre erhielt.<br />
4. Da die Einreichung dieses Textes noch vor Ablauf des Jahres erfolgt, sind die Veranstaltungen<br />
ab Oktober nur als verbindliche Planungen zu verstehen. Änderungen sind demnach<br />
noch möglich.<br />
5. Dieser Reihe liegt die Idee zu Gr<strong>und</strong>e, neben Wissenschaftlern auch Schriftsteller im Jahrbuch<br />
zu berücksichtigen, in deren Werk Erfahrungen aus/mit Deutschland deutlich werden.<br />
Ignácio de Loyola Brandão <strong>und</strong> Fernando Bonassi verbindet <strong>das</strong> Künstlerprogramm des<br />
DAAD, über <strong>das</strong> sie in Deutschland waren.<br />
6. Der erwähnte andere Abguss der Goethe-Büste wurde am 11. Dezember 1976 im Garten<br />
der Städtischen Bibliothek von São Paulo in Erinnerung an den Beginn der deutschen Einwanderung<br />
nach São Paulo enthüllt.<br />
7. Im Jahre 1849 wurde u. a. von Adolph Kolping der Kölner Gesellenverein gegründet, der als<br />
Keimzelle des heutigen Kolping-Werkes gilt.<br />
351
352<br />
Wenige Wochen später schon gab es <strong>das</strong> nächste Gemeinschaftskonzert dieser<br />
beiden Institutionen, bei dem <strong>das</strong> Trio Drei Martini 8 mit seiner Hommage an<br />
die Gesangsdiven Marlene Dietrich, Edith Piaf u. a. beeindruckte. Die bild- <strong>und</strong><br />
tonreiche Show erfolgte mit Unterstützung der Firma KS Kolbenschmidt <strong>und</strong> des<br />
Robert-Bosch-Instituts <strong>und</strong> wird sicherlich noch Wiederholungen haben.<br />
Musikalisch weiter ging es dann am 18. Mai mit einem Begegnungskonzert zwischen<br />
einer deutschen <strong>und</strong> einer brasilianischen Bigband. Die vom Goethe-Institut unterstützte<br />
Jugend Jazz Band Anhalt <strong>und</strong> die Big Band da Santa der Faculdade<br />
Santa Marcelina sorgten gemeinsam für einen schwungvollen Abend mit brasilianischen<br />
<strong>und</strong> internationalen Jazzrhythmen auf der Bühne der Porto-Seguro-Schule.<br />
Die nächste deutsch-brasilianische musikalische Begegnung wird im Oktober<br />
erfolgen, mit dem zweiten Konzert des Martius-Staden-Instituts im renommierten<br />
Konzerthaus Sala São Paulo. Erneut tritt dort <strong>das</strong> Sinfonische Orchester Sto. André<br />
mit einem Gast aus Deutschland auf. Auf Initiative des Dirigenten Flavio Florence<br />
stehen die Vier letzten Lieder (Richard Strauss) mit ihrem elegischen Charakter<br />
auf dem Programm. Dazu ist die Sopranistin Regina Klepper aus München<br />
eingeladen, die gerade eine CD mit diesem Werk produziert hat <strong>und</strong> dieses nun<br />
gemeinsam mit dem Sinfonischen Orchester auf die Bühne bringt.<br />
Neben diesen Musikveranstaltungen u. a. mit Gastmusikern aus Deutschland<br />
organisierte <strong>das</strong> Martius-Staden-Institut auch die Konzerte der großen Musikensembles<br />
der Porto-Seguro-Schule 9 . Der Porto-Seguro-Chor beispielsweise studierte<br />
<strong>das</strong> Mozart-Requiem ein, dessen Aufführung in der São-Luis-Gonzaga-Kirche<br />
aufgr<strong>und</strong> seiner musikalischen Qualität <strong>und</strong> der sakralen Atmosphäre einen<br />
besonderen Höhepunkt darstellte.<br />
Zum Jahresabschluss werden alle drei Ensembles <strong>das</strong> Weihnachtskonzert bestreiten,<br />
an dem dann schließlich auch der Kinderchor der Porto-Seguro-Schule<br />
teilnehmen wird.<br />
Weitere Aktivitäten des Martius-Staden-Instituts<br />
Kleinere Aktivitäten, die hier nicht detailliert aufgeführt werden, ergänzen <strong>das</strong><br />
Jahresprogramm des Martius-Staden-Instituts. An zwei ‚Offenen Samstagen‘<br />
wurde vor allem Berufstätigen die Gelegenheit gegeben, die Bibliothek <strong>und</strong> <strong>das</strong><br />
Archiv zu nutzen; <strong>und</strong> im Schulgebäude der Sprachschule D’kurs im Paulistaner<br />
Stadtteil Brooklin wurde mit ausgewählten Theaterplakaten aus dem Institutsbestand<br />
<strong>das</strong> Werk des Berliner Ensembles <strong>und</strong> Bertolt Brechts in Erinnerung gerufen.<br />
Auch im Dokumentationszentrum, d. h. in Archiv <strong>und</strong> Bibliothek des<br />
Martius-Staden-Insituts, gab es einige Neuerungen zu Bestandspflege <strong>und</strong> Nutzung.<br />
Die bedeutsamsten dabei sind die Informatisierung des Bibliothekskatalogs<br />
8. Drei Martini hat sich eigens für diese Show Marlene e Edith... canções que o m<strong>und</strong>o ouviu<br />
formiert: Jane Nassif (Mezzosopran), Leonardo Fernandes (Klavier) <strong>und</strong> Martin Willy (Gesang,<br />
Flöte <strong>und</strong> Saxophon). Ergänzt wird <strong>das</strong> Trio durch den künstlerischen Leiter Nick Ayer. Aus<br />
privaten Gründen konnte Martin Willy, der wesentlich an der Entwicklung des Programms<br />
beteiligt war, nicht teilnehmen <strong>und</strong> wurde von dem Saxophonisten Daniel Laleska vertreten.<br />
9. Erwachsenenchor unter der Leitung von Sérgio Assumpção, Kammerorchester unter der<br />
Leitung von Gretchen Miller, Orchester in Valinhos unter der Leitung von Flavio Florence.
Foto: Murillo Medina<br />
Foto: Murillo Medina<br />
Das Trio Drei Martini nach der Vorstellung<br />
Marlene e Edith... Canções que o m<strong>und</strong>o ouviu<br />
am 19. April 2007 im Club Transatlântico.<br />
Das Salonorchester DaCapo aus Süddeutschland am 15. März 2007 auf der Bühne des Club<br />
Transatlântico. Von links nach rechts: Mirek Jahoda (Violine), Carsten Schmidt-Hurtienne<br />
(Violine), Christof Maisch (Viola), Hans-Michael Eckert (Violoncello), Martin Meisenburg<br />
(Kontrabass), Jürgen Ochs (Piano <strong>und</strong> künstlerische Leitung), Armin Liebich (Klarinette).
José De Quadros,<br />
Canibal ou Vitalidade,<br />
2006, Rötel, Öl <strong>und</strong><br />
Acryl auf Papier <strong>und</strong><br />
Leinwand, 42 x 60 cm<br />
Ausstellungseröffnung Unter Menschfresser-Leuthen / Entre as Gentes Antropófagas –<br />
Hans Staden e o primeiro livro sobre o Brasil 1557–2007 am 14. August in der<br />
Porto-Seguro-Schule. Im Bild: Generalkonsul der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland Dr.<br />
Heinz-Peter Behr (Mitte), Eckhard E. Kupfer (links) <strong>und</strong> Alfried Plöger (rechts).
Büchertische bei<br />
Ausstellungseröffnung<br />
<strong>und</strong> Buchvorstellung<br />
Eröffnung der<br />
Ausstellung<br />
Staden Revisto –<br />
Pinturas Recentes<br />
de José<br />
De Quadros<br />
am 31. Mai 2007<br />
im Martius-<br />
Staden-Institut<br />
Fotos: Murillo Medina
Verleihung des Martius-Staden-Preises 2007 an Obra Kolping do Brasil,<br />
am 18. Oktober 2007. Im Bild (von links nach rechts): Pater Paulo Link <strong>und</strong> Sônia Aparecida<br />
Guilherme Teixeira als Vertreter des Kolping-Werkes, Alfried Plöger, Eckhard E. Kupfer.<br />
Konzert des Sinfonischen Orchesters Santo André<br />
am 21. Oktober 2007 in der Sala São Paulo.<br />
Im Bild: Flavio Florence (Dirigent)<br />
<strong>und</strong> Regina Klepper (Sopran).<br />
Fotos: Murillo Medina
<strong>und</strong> des Personenverzeichnisses, welche mittelfristig im Internet zur weltweiten<br />
Nutzung abrufbar sein werden sowie die vom Auswärtigen Amt unterstützte Restaurierung<br />
von Rarumbüchern aus dem Zeitraum von 1600 bis 1900.<br />
Gleichzeitig wird an der Aktualisierung <strong>und</strong> an der Erweiterung der Ressourcensammlung<br />
gearbeitet. Immer wieder erhält <strong>das</strong> Institut wertvolle Privatdokumente,<br />
die nach fachlicher Begutachtung in den Bestand übergehen <strong>und</strong> dazu beitragen,<br />
<strong>das</strong>s mit dem im Institut bereitgehaltenen Materialien ein zunehmend facetten<strong>und</strong><br />
umfangreicheres Bild der deutschen Präsenz in Brasilien gezeichnet werden<br />
kann. Insbesondere sind erwünscht: Fotos, Urk<strong>und</strong>en, Handschriften, die im Zusammenhang<br />
stehen mit den Deutschen in Brasilien. Ergänzend dazu hat – wie<br />
bereits im Vorwort dieses Jahrbuchs erwähnt – gerade ein Projekt begonnen, <strong>das</strong><br />
ebenfalls die aktive Teilnahme der Deutschen <strong>und</strong> Deutsch-Brasilianer in Brasilien<br />
erfordert. Anhand von – nach der Methodik der so genannten Oral History geführten<br />
– Interviews werden Lebenserfahrungen von deutschsprachigen Immigranten<br />
<strong>und</strong> deren Nachfahren dokumentiert, einer kritischen Auswertung unterzogen<br />
<strong>und</strong> damit späteren Forschungen zur Verfügung gestellt.<br />
Zudem ermöglicht <strong>das</strong> Generalkonsulat der Schweiz in São Paulo ein<br />
Forschungsprojekt zur Schweizer Einwanderung nach Brasilien, <strong>das</strong> vom Martius-<br />
Staden-Institut begleitet wird.<br />
Für sämtliche Aktivitäten gilt es, Partnerschaften mit anderen Institutionen zu<br />
gründen, um Synergieeffekte zu erzielen <strong>und</strong> gemeinsam neue Wege einzuschlagen.<br />
Diesen Partnern gebührt besonderer Dank: Stiftung Visconde de Porto Seguro,<br />
Generalkonsulat der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland, Club Transatlântico, Deutsch-<br />
Brasilianische Außenhandelskammer, Deutsch-Brasilianische Gesellschaft,<br />
Edunesp, Sociedade Pró Memória de Limeira, Generalkonsulat der Schweiz, Goethe-Institut,<br />
Stadtverwaltung <strong>und</strong> Sinfonisches Orchester der Stadt Sto. André,<br />
Regionalmuseum Wolfhager Land, Stadtmuseum São Caetano do Sul, Westensee<br />
Verlag Kiel <strong>und</strong> natürlich der Porto-Seguro-Schule. Auch danken wir den Mitgliedern<br />
10 , dem neu formierten Kulturbeirat 11 <strong>und</strong> den Sponsoren 12 , die oft tat- <strong>und</strong><br />
finanzkräftig die Aktivitäten des Martius-Staden-Instituts unterstützt haben <strong>und</strong><br />
mit denen wir optimistisch auf <strong>das</strong> nächste Programmjahr sehen.<br />
Weitere Informationen erhalten Sie auf unserer Homepage, die stetig wächst<br />
<strong>und</strong> zunehmend zur Dokumentation auch der vergangenen Aktivitäten dient.<br />
Sämtliche Veranstaltungen seit 2005 sind dort mit Text <strong>und</strong> umfangreichem Bildmaterial<br />
aufgeführt: www.martiusstaden.org.br.<br />
Martina Merklinger, geb. in Rastatt, ist seit April 2004 im Martius-Staden-Institut als<br />
Programmkoordinatorin tätig.<br />
10. Momentan zählt <strong>das</strong> Martius-Staden-Institut 53 Mitglieder, von denen 9 als Firmenmitglieder<br />
eingetragen sind: Instituto Robert Bosch; Schroeder Hermes Seguro; Schaeffler Group; Florence,<br />
Boltz Advogados; Moura Schwark; Degussa; CSR; Brasimet; Henkel.<br />
11. Am 12. April 2007 hat sich der neue Kulturbeirat konstituiert: Prof. Dr. Willi Bolle (Vorsitz),<br />
Renate Kutschat (Stellvertr. Vorsitz), Klaus Behrens, Ursula Dormien, Dr. Antiopy Lyroudias-<br />
Garbade, Karlheinz Pohlmann, Eduard M. Talmon-l’Armée <strong>und</strong> Hermann H. Wever.<br />
12. Im Jahr 2007 haben sich folgende Firmen <strong>und</strong> Institutionen als Sponsoren des Martius-<br />
Staden-Instituts hervorgetan: Bayer S.A., Henkel, Instituto Robert Bosch, wobei die Firma<br />
Henkel <strong>und</strong> <strong>das</strong> Robert-Bosch-Institut gleichzeitig auch Mitglieder sind.<br />
353
José De Quadros: História Verídica<br />
(Gemälde aus der Ausstellung Staden Revisto im Martius-Staden-Institut, 1. Juni - 27. Juli 2007).
Das atividades do<br />
Instituto Martius-Staden<br />
Relatório cultural 2007<br />
Martina Merklinger<br />
São Paulo<br />
O ano de 2007 transcorreu sob o signo dos patronos do Instituto Martius-Staden:<br />
Hans Staden e Carl Friedrich Philipp von Martius. Há quatrocentos e cinqüenta<br />
anos aparecia a primeira edição do relato de viagem de Hans Staden, a famosa<br />
Warhaftige Historia <strong>und</strong> Beschreibung eyner Landschafft der Wilden / Nacketen /<br />
Grimmigen Menschfresser-Leuthen in der Newenwelt America gelegen, motivo para o<br />
Instituto realizar algumas atividades volta<strong>das</strong> a esta data. Cumpriram-se também,<br />
neste ano, os 190 anos do início da lendária expedição de Carl Fr. Ph. von Martius e<br />
Johann Baptist von Spix; este Anuário traz uma matéria dedicada a esta viagem.<br />
450 anos Hans Staden<br />
O foco principal <strong>das</strong> atividades culturais neste ano porém, foi Hans Staden,<br />
tradicionalmente a personalidade de maior peso para o Instituto, que até 1997<br />
se chamava unicamente Instituto Hans Staden. Iniciaram-se as atividades comemorativas<br />
com um colóquio de pesquisa sobre Hans Staden e a vernissage da<br />
exposição itinerante Unter Menschfresser-Leuthen / Entre as Gentes Antropófagas<br />
em Wolfhagen, evento que contou com a f<strong>und</strong>amental colaboração e<br />
cooperação do Instituto. A exposição do Museu Regional de Wolfhagen compõe-se<br />
de longos banners trazendo textos bilíngües e ilustrações, que reproduzem,<br />
de forma resumida, o conteúdo do livro de Hans Staden, desde suas arrisca<strong>das</strong><br />
experiências como viajante até as descrições minuciosas dos tupinambás,<br />
em cujo cativeiro esteve. Além disso, a mostra esclarece as circunstâncias sob as<br />
quais este primeiro livro sobre o Brasil fora escrito, e detalha a recepção da obra<br />
desde os tempos da Renascença à atualidade. A edição original da obra em<br />
holandês bem como um exemplar da edição de Marburgo de 1557, propriedade<br />
da Biblioteca Estatal de Göttingen na Baixa Saxônia, enobrecem a exposição<br />
comemorativa.<br />
Até julho a mostra esteve aberta na Alemanha, por último na cidade de<br />
Korbach (Hesse) – que sempre é mencionada no contexto de Staden e sua família<br />
1 – de onde foi embarcada para São Paulo. Sob a coordenação do Instituto<br />
1. Seria em Korbach, em 1555, onde Staden teria permanecido na casa de parentes, após seu<br />
regresso, e onde teria aprendido o ofício de salitreiro. O último documento em que se<br />
menciona Staden também seria de Korbach. Cf. Obermeier, Franz, em: Staden, Hans:<br />
Warhaftige Historia / Zwei Reisen nach Brasilien (1548-1555) / História de duas viagens ao<br />
Brasil, Kiel 2007, pág. 407.<br />
355
356<br />
Martius-Staden – e graças ao apoio do Ministério <strong>das</strong> Relações Exteriores da<br />
Alemanha e à intermediação do Instituto Goethe 2 – se iniciou o itinerário brasileiro<br />
desta exposição: São Paulo e Valinhos; Florianópolis e Curitiba. Na seqüência<br />
estão previstas, para o ano que vem, as cidades de Itanhaém, Recife, Porto<br />
Alegre e Bertioga.<br />
A ressonância, principalmente entre o público jovem, demonstrou que o tema<br />
Hans Staden, até os dias de hoje, fascina, suscita espírito aventureiro, estimula a<br />
fantasia. O aspecto do canibalismo, que tanto inquietou Hans Staden quando<br />
pessoalmente confrontado com este, tocou tanto seus quanto nossos contemporâneos,<br />
e continua sendo matéria de contínuas pesquisas.<br />
José De Quadros, artista brasileiro residente em Hesse, também enfatiza o<br />
conteúdo antropofágico da Warhaftige Historia, em sua série de quadros com<br />
relação a Staden que constituiu o foco central de outra exposição do Instituto<br />
Martius-Staden neste ano: Staden revisto – Pinturas recentes de José De Quadros<br />
foi o título desta mostra, composta por três pinturas grandes e pela série<br />
mencionada. O pintor trabalha com a iconografia <strong>das</strong> xilogravuras do livro deste<br />
aventureiro e leva estas representações aos tempos atuais, através de uma seleção<br />
destas e pintura sobreposta. Quadros trabalhados de maneira sensível, em<br />
diversas cama<strong>das</strong> de cor ou leitura, são características desta série, especialmente<br />
concebida para o Instituto Martius-Staden por ocasião deste jubileu.<br />
Inserido neste contexto comemorativo foi lançado, por ocasião da vernissage<br />
da exposição em 31 de maio, produto de pesquisa extensa, o livro Hans Staden:<br />
Warhaftige Historia / Zwei Reisen nach Brasilien (1548-1555) / História de<br />
duas viagens ao Brasil. Trata-se de uma publicação da Editora Westensee, com<br />
a co-editoria do Instituto Martius-Staden.<br />
Esta edição abrange o texto histórico de Staden, em fac-símile, a transcrição<br />
deste original para um alemão atualizado, efetuada por Joachim Tiemann, e uma<br />
tradução ao português. Um quadro cronológico, referente a Staden e sua obra, e<br />
comentários críticos do editor Franz Obermeier complementam a edição.<br />
De livros e bustos<br />
Outras duas apresentações de livros aconteceram no recinto do Instituto: em<br />
1° de agosto José Eduardo Heflinger Jr. de Limeira trouxe sua documentação<br />
sobre a história da Fazenda Ibicaba 3 e, em 13 de novembro, ocorrerá o lançamento<br />
do Anuário Martius-Staden. 4 De forma divertida e alegre Ignácio de<br />
Loyola Brandão incitara a reflexões, por ocasião do lançamento do Anuário de<br />
2006, narrando passagens de seu livro a ser publicado. Dando continuidade a<br />
2. Parte dos outros locais de exposição são alguns Institutos Goethe ou Centros Culturais<br />
patrocinados pelo Instituto Goethe.<br />
3. Heflinger, José Eduardo Jr.: Ibicaba – O Berço da Imigração Européia de Cunho Particular,<br />
Limeira 2007. A Editora lançou, na mesma ocasião, outra publicação de Reynaldo Kuntz<br />
Busch: A História de Limeira, Limeira (3ª edição) 2007.<br />
4. Uma vez que a entrega deste texto ocorreu antes do final do ano, os eventos a partir de<br />
outubro tem caráter de planejamento definido; alterações porém, ainda podem ocorrer.
estas leituras, feitas por um dos autores do Anuário, espera-se para este ano outro<br />
escritor: Fernando Bonassi. 5<br />
Num ato dedicado tanto à Literatura como às Artes Plásticas será descerrada<br />
solenemente nesta ocasião um meio-busto de Johann Wolfgang von Goethe;<br />
muitos paulistanos se lembrarão de uma réplica deste, dos tempos quando ainda<br />
se encontrava nos jardins da Biblioteca Mario de Andrade. Trata-se de uma <strong>das</strong><br />
poucas moldagens desta peça do escultor Tao Sigulda, falecido no ano passado.<br />
A escultura, doada pelo Sr. Wolfgang Dietzius, recebeu um lugar digno no<br />
pátio do Colégio Visconde de Porto Seguro (Unidade III). 6<br />
Premiação: Obra Kolping do Brasil<br />
Neste ano o Premio Martius-Staden será outorgado a uma instituição que<br />
desde 1923 existe no Brasil e cujo mérito é o trabalho social-profissionalizante:<br />
a Obra Kolping.<br />
A Obra Kolping do Brasil , organização independente da Obra Kolping alemã<br />
7 , conta, no país, com 423 associações em 21 estados. Suas atividades deste<br />
ano tem como tema „Trabalhando em mutirão construiremos nosso chão“.<br />
Encontros musicais<br />
Como já o ano anterior, também este foi dedicado, de forma especial, à música.<br />
O Instituto convidara a Orquestra de Salão DaCapo que iniciou sua tournée<br />
no Brasil na cidade de Piracicaba. Da Escola de Música Piracicaba Ernst Mahle,<br />
entrementes instituição parceira do Instituto, os oito músicos viajaram para<br />
Valinhos (Porto Seguro Unidade II) para, no dia seguinte, fazer um concerto<br />
didático, na Unidade I em São Paulo, ocasião em que ocorreu uma animada<br />
interação com os alunos. A apresentação principal desta orquestra entretanto foi<br />
o concerto no Club Transatlântico, evento realizado em parceria entre o Instituto<br />
e dito clube. Ritmos alegres e vivos, dentre eles valsas, tangos ou czar<strong>das</strong> soavam<br />
no salão que, através de uma decoração agradável com bufê, emanava uma<br />
atmosfera aconchegante dos tradicionais salões de café.<br />
Poucas semanas mais tarde acontecia o próximo concerto, realizado em parceria<br />
<strong>das</strong> duas instituições, em que o Trio Drei Martini 8 fazia uma homenagem às<br />
5. Na intenção dos editores, ao lado de cientistas, também escritores, em cujo trabalho se<br />
manifestam experiências relaciona<strong>das</strong> com a Alemanha, deverão se fazer presentes no<br />
Anuário. Ignácio de Loyola Brandão e Fernando Bonassi, fizeram ambos parte do programa<br />
do DAAD, voltado a artistas, que possibilitou suas esta<strong>das</strong> na Alemanha.<br />
6. A outra moldagem mencionada desta herma de Goethe se inaugurara em memória da imigração<br />
alemã a São Paulo, nos jardins da Biblioteca Municipal desta cidade, em 11/12/1976.<br />
7. No ano de 1849 Adolph Kolping f<strong>und</strong>ara o Kölner Gesellenverein, considerado a célula mater<br />
da Obra Kolping dos dias de hoje.<br />
8. O conjunto Drei Martini formou-se especialmente para o show Marlene e Edith ... canções<br />
que o m<strong>und</strong>o ouviu: Jane Nassif (meio-soprano) Leonardo Fernandes (piano) e Martin Willy<br />
(canto, flauta e saxofone). A direção artística de Nick Ayer complementa o trio. Pela força de<br />
motivos particulares Martin Willy, essencialmente envolvido na elaboração do programa, não<br />
pôde fazer parte da apresentação e foi substituído pelo saxofonista Daniel Laleska.<br />
357
358<br />
grandes cantoras Marlene Dietrich e Edith Piaf, e outras, que a todos impressionou.<br />
O show, rico em imagens e som, contou com o apoio da empresa KS Kolbenschmidt<br />
e do Instituto Robert Bosch, e provavelmente terá mais apresentações.<br />
A programação continuou em 18 de maio com o encontro musical entre<br />
uma banda brasileira e uma alemã. A Jugend Jazz Band Anhalt, patrocinada<br />
pelo Instituto Goethe, e a Big Band da Santa, da Faculdade Santa Marcelina,<br />
trouxeram ritmos brasileiros e internacionais contagiantes, encantando o público<br />
no Porto Seguro.<br />
O próximo encontro musical brasileiro-alemão ocorrerá em outubro, quando<br />
do seg<strong>und</strong>o concerto organizado pelo Instituto, na renomada Sala São Paulo.<br />
Apresentar-se-á novamente a Orquestra Sinfônica de Santo André que contará<br />
com a participação de uma convidada da Alemanha. Por iniciativa do regente<br />
Flavio Florence constarão do programa os „Vier letzten Lieder“ (Quatro últimas<br />
canções), de Richard Strauss, uma composição de cunho elegíaco. Para interpretála<br />
convidou-se a soprano Regina Klepper, de Munique, onde esta acabou de lançar<br />
um CD com essa obra a ser apresentada aqui com a Orquestra Sinfônica.<br />
Ao lado destes eventos musicais, que contaram com a participação de músicos<br />
convidados da Alemanha, entre outros, o Instituto organizou os concertos<br />
<strong>das</strong> grandes formações concertantes do Porto Seguro. 9 O Coral Porto Seguro<br />
trabalhara o Réquiem de Mozart, cuja apresentação na Igreja de São Luis Gonzaga<br />
se destacou pela qualidade da interpretação em ambiente espiritual.<br />
As três formações musicais farão o concerto de Natal no qual haverá a<br />
participação do Coral Infantil.<br />
Outras atividades do Instituto<br />
Atividades menores, não menciona<strong>das</strong> especificamente, complementam a programação<br />
anual do Instituto. Assim realizou-se, já por duas vezes, um ‚Sábado de<br />
Portas Abertas‘, possibilitando aos interessados o acesso à Biblioteca e ao Arquivo<br />
para fins de pesquisa; na Escola de Línguas D’Kurs fez-se uma exposição com os<br />
pôsteres de teatro, do acervo do Instituto, evocando Bert Brecht e a atuação do<br />
Berliner Ensemble.<br />
No Centro de Documentação, ou seja no Arquivo e na Biblioteca do Instituto<br />
Martius-Staden, ocorreram inovações na manutenção e uso do acervo. Reveste-se<br />
de especial importância a informatização do catálogo da Biblioteca e do<br />
índice de pessoas, ambos disponibilizados, a médio prazo, na rede possibilitando um<br />
acesso m<strong>und</strong>ial, e o restauro <strong>das</strong> obras raras de 1600 a 1900, um projeto que conta<br />
com a participação e o apoio do Ministério <strong>das</strong> Relações Exteriores da Alemanha.<br />
Concomitantemente trabalha-se na complementação de recursos históricos,<br />
uma vez que o Instituto recebe constantemente documentos preciosos. Após<br />
avaliação profissional, estes são incorporados ao acervo existente, possibilitando<br />
destarte um quadro cada vez mais amplo e diferenciado da presença alemã no<br />
Brasil. Imagens, documentos manuscritos e atestados relacionados a esta são de<br />
9. Coral de adultos sob a regência de Sergio Assumpção, Orquestra de Câmara dirigida por<br />
Gretchen Miller, Orquestra de Valinhos tendo à sua frente Flavio Florence.
enorme valor e particularmente bem-vindos. Iniciou-se, outrossim, e como já<br />
mencionado no prefácio deste Anuário, um projeto que requer a participação<br />
ativa de alemães e descendentes destes no Brasil. A partir de entrevistas, que<br />
seguem o método da História Oral, são colhi<strong>das</strong> e documenta<strong>das</strong> experiências<br />
de vida dos imigrantes alemães e seus filiados e, após análise crítica,<br />
disponibilizados para futuras pesquisas.<br />
Além do mais, o Consulado Geral da Suíça em São Paulo possibilitou um projeto<br />
que visa ao levantamento da imigração suíça ao Brasil, projeto este que o<br />
Instituto acompanha.<br />
Para to<strong>das</strong> as atividades vale fazer parcerias com outras instituições, assim<br />
criando sinergias para novos caminhos. A estes parceiros dirigem-se os agradecimentos<br />
especiais: F<strong>und</strong>ação Visconde de Porto Seguro, Consulado Geral da República<br />
Federal da Alemanha, Club Transatlântico, Câmara de Comercio Exterior<br />
Brasil-Alemanha, Sociedade Brasil-Alemanha (DBG), Edunesp, Sociedade Pró Memória<br />
de Limeira, Consulado Geral da Suíça, Instituto Goethe, Prefeitura e Orquestra<br />
Sinfônica da cidade de Santo André, Museu Regional de Wolfhagen, Museu<br />
da Cidade de São Caetano, Editora Westensee (Kiel) e, certamente, ao Colégio<br />
Visconde de Porto Seguro. Agradecemos outrossim aos associados 10 , ao recém<br />
formado Conselho Cultural 11 , e aos patrocinadores 12 , que, por muitas vezes de<br />
maneira ativa e/ou financeira, apoiaram os eventos do Instituto, de forma que<br />
visualizamos um novo e profícuo ano de realizações.<br />
Mais informações se encontram na homepage do Instituto, sempre atualizada,<br />
mas voltada também à documentação <strong>das</strong> atividades realiza<strong>das</strong>. Desde<br />
2005 os eventos do Instituto ali têm seus registros ricos em textos e imagens:<br />
www.martiusstaden.org.br<br />
(Tradução: Renata Kutschat)<br />
Martina Merklinger, nascida em Rastatt, trabalha desde abril 2004 no Instituto Martius-<br />
Staden como coordenadora da programação cultural.<br />
10. Atualmente o Instituto Martius-Staden conta com 53 sócios; destes, 9 são empresas: Instituto<br />
Robert Bosch; Schroeder Hermes Seguros; Schaeffler Group; Florence, Boltz Advogados;<br />
Moura Schwark; Degussa; CSR; Brasimet; Henkel.<br />
11. Em 12 de abril de 2007 foi constituído o Conselho Cultural: Prof. Dr. Willi Bolle (presidente),<br />
Renata Kutschat (vice-presidente), Klaus Behrens, Ursula Dormien, Dra . Antiopy Lyroudias-<br />
Garbade, Karlheinz Pohlmann, Eduard M. Talmon-l’Armée e Hermann Wever.<br />
12. No ano de 2007 destacaram-se as seguintes empresas e instituições como patrocinadores do<br />
Instituto: Bayer S.A., Henkel, Instituto Robert Bosch, os últimos dois sendo sócios do Instituto.<br />
359
Neue Bücher in der<br />
Bibliothek des Martius-Staden-Instituts<br />
BOLLE, Willi. Grandesertão.br: o romance de formação do Brasil. São Paulo: 34, 2004.<br />
BON, Henrique. Imigrantes: a saga do primeiro movimento migratório organizado rumo<br />
ao Brasil às portas da independência. 2 ed. Nova Friburgo: Imagem Virtual, 2 2004.<br />
BORGES, Adélia. et. al. Desenho Anônimo: legado da imigração no sul do Brasil: Coleção<br />
Azevedo Moura. São Paulo: Museu da Casa Brasileira, 2007.<br />
BORSDORF, Axel (Ed.); HÖDEL, Walter (Ed.). Naturraum Lateinamerika: Geographische<br />
<strong>und</strong> biologische Gr<strong>und</strong>lagen. (¡Atención! Jahrbuch des Österreichischen Lateinamerika-Instituts.<br />
Bd. 10.). Wien: LIT, 2006.<br />
CAMPOS, Cynthia Machado. A política da língua na era Vargas: proibição do falar alemão<br />
e resistência no Sul do Brasil. Campinas: Editora da Unicamp, 2006.<br />
DIETRICH, Eva. (Ed.). et. al. Der Traum vom Glück: Schweizer Auswanderung auf brasilianische<br />
Kaffeeplantagen 1852-1888. Baden: hier +jetzt, Verlag für Kultur <strong>und</strong><br />
Geschichte, 2003.<br />
DIETZ, Carola. Nachgeholtes Leben: Helmuth Plessner 1892-1985. Göttingen: Wallstein,<br />
2006.<br />
D. Leopoldina: Cartas de uma imperatriz. São Paulo: Estação Liberdade, 2006.<br />
DREHER, Martin N. (Org.) et. al. Imigração & Imprensa. (XV Simpósio de História da<br />
Imigração e Colonização). Porto Alegre: EST Edições, 2004.<br />
ELY, Nilza Huyer. (Org.). Três Cachoeiras: marcas do tempo. (Simpósio sobre imigração<br />
alemã no litoral norte/RS). Porto Alegre: EST Edições, 2004.<br />
ELY, Nilza Huyer. (Org.). Arroio do Sal: marcas do tempo. (Simpósio sobre imigração<br />
alemã no litoral norte/RS). Porto Alegre: EST Edições, 2007.<br />
FONTELES, Bené. Bahia: Ausência e Presença em Gameleira do Assuruá. São Paulo:<br />
Movimento Artistas pela Natureza, 2004.<br />
FLUSSER, Vilém. Vogelflüge: Essays zu Natur <strong>und</strong> Kultur. München/Wien: Carl Hanser, 2000.<br />
FRÖSCHLE, Hartmut. Die Deutschen in Brasilien einst <strong>und</strong> jetzt. (Eckartschrift Bd. 183).<br />
Wien: Österreichische Landsmannschaft, 2006.<br />
GANS, Vitor Volker. Aus deutscher Dichtung / Da poesia alemã. Nova Petrópolis:<br />
Sociedade União Popular Theodor Amstad, 2004.<br />
GARCIA, Eugênio Vargas. Entre América e Europa: a política externa brasileira na década<br />
de 1920. Brasília: FUNAG, 2006.<br />
HEFLINGER, José Eduardo Jr. Ibicaba: O berço da imigração européia de cunho<br />
particular. Limeira: Unigráfica, 2007.<br />
361
362<br />
INSITUTO MOREIRA SALLES (Ed.). O m<strong>und</strong>o de Alice Brill. São Paulo: Instituto Moreira<br />
Salles, 2005.<br />
ISOLAN, Flaviano Bugatti. Das páginas à tela: cinema alemão e imprensa na década de<br />
1930. Santa Cruz do Sul: EDUNISC, 2006.<br />
KRÄHENBÜHL, René Robert. Família Krähenbühl: História da Emigração-Suíça/Brasil:<br />
1854/1857. Füllinsdorf/Campinas: Edição própria, 2006.<br />
KRIEK, Frederica. No sagrado território <strong>das</strong> lembranças. Recife: Bagaço, 2006.<br />
LICHT, Otavio Augusto Boni. Povoadores alemães do Rio Grande do Sul 1847-1849.<br />
Porto Alegre: EST, 2005.<br />
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LUSTOSA, Isabel. D. Pedro I. São Paulo: Companhia <strong>das</strong> Letras, 2006.<br />
MELLO, Evaldo Cabral de. Nassau. São Paulo: Companhia <strong>das</strong> Letras, 2006.<br />
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Grosso: 1920/1934. São Paulo: All Print, 2005.<br />
MUELLER, Telmo Lauro. Imigração alemã: sua presença no RS há 180 anos. Porto Alegre:<br />
EST, 2005.<br />
ODEBRECHT, Rolf; ODEBRECHT, Renate Sybille. Cartas de Família: ensaio biográfico de<br />
Emil Odebrecht e ensaio de seu filho Oswaldo Odebrecht Sênior. Blumenau: Edição<br />
do autor, 2006.<br />
OLIVEIRA, IONE. Aussenpolitik <strong>und</strong> Wirtschaftsinteresse: in den Beziehungen zwischen Brasilien<br />
<strong>und</strong> der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland: 1949-1966. Frankfurt/M.: Peter Lang, 2005.<br />
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catarinense. Blumenau: EDIFURB/Cultura em Movimento, 2000.<br />
ROSA, Gilson Justino de. Imigrantes alemães: 1824-1853. Porto Alegre: EST, 2005.<br />
SCHAEBER, Petra. Die Macht der Trommeln: Olodum <strong>und</strong> die Blocos Afros aus Salvador<br />
/Bahia - afro-brasilianische Kultur <strong>und</strong> “Rassen”beziehungen. Berlin: Archiv der<br />
Jugendkulturen, 2006.<br />
SCHNEIDER, Eva. Die Löwin tanzt im Spätherbst: ein Leben in Brasilien <strong>und</strong> Deutschland.<br />
Frankfurt/M.: MEDU Verlag, 2005.<br />
SIOLI, Harald: Gelebtes, geliebtes Amazonien. Forschungsreisen im brasilianischen Regenwald<br />
zwischen 1940 <strong>und</strong> 1962. (Herausgegeben <strong>und</strong> bearbeitet von Gerd<br />
KOHLHEPP). München: Verlag Dr. Friedrich Pfeil, 2007.
SOARES, Maria Elias (Ed.); SCHWAMBORN, Ingrid (Ed.). José de Alencar: Iracema:<br />
Lenda do Ceará / Legende aus Ceará. Fortaleza: Edições UFC, 2006.<br />
SOUZA, Sergio Muniz de. Histórias que meus avôs e minas avós não me contaram. [s l.]:<br />
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WILLKOMMEN IN BRASILIEN: Praktische Tipps zum Einleben in São Paulo <strong>und</strong> Rio de<br />
Janeiro. (Publikation der Deutsch-Brasilianischen Industrie- <strong>und</strong> Handelskammern<br />
São Paulo <strong>und</strong> Rio de Janeiro, des Martius-Staden-Instituts (IMS) <strong>und</strong> der<br />
Wirtschaftsjunioren São Paulo). São Paulo: Câmara de Comércio e Indústria<br />
Brasil-Alemanha, 2006.<br />
ZILLIG, Cezar. Dear Mr. Darwin: a intimidade da correspondência entre Fritz Müller e<br />
Charles Darwin. São Paulo: Sky/Anima Comunicação e Design, 1997.<br />
ZILLIG, Cezar. Fritz Müller, meu irmão. Blumenau: Cultura em Movimento, 2004.<br />
363
Instituto Martius-Staden / Martius-Staden-Institut<br />
Mantenedora / Institutsträger<br />
F<strong>und</strong>ação Visconde de Porto Seguro
Empresas Associa<strong>das</strong> / Firmenmitglieder
F<strong>und</strong>ação Visconde de Porto Seguro<br />
Mantenedora / Institutsträger<br />
Presidente Alfried K. Plöger 1. Vorsitzender<br />
Vice-Presidente Heiner J. G. L. Dauch Stellv. Vorsitzender<br />
1º Secretário Christian W. Buelau 1. Schriftführer<br />
2º Secretário Otto Max Widmer 2. Schriftführer<br />
1º Tesoureiro Nicolas Schaeffter 1.Schatzmeister<br />
2º Tesoureiro Manfred Michael Schmidt 2. Schatzmeister<br />
Diretor Vogal Mario Probst Beirat<br />
Editores e<br />
Jahrbuch / Anuário 2007<br />
Rainer Domschke Herausgeber <strong>und</strong><br />
Redação Eckhard E. Kupfer<br />
Renata S. G. Kutschat<br />
Martina Merklinger<br />
Redaktion<br />
Coordenação Gráfica Ivahy Barcellos Grafik<br />
Projeto Gráfico Alessandra Carignani Grafische Gestaltung<br />
ISSN - 1677-051X<br />
Instituto Martius-Staden<br />
Diretor Eckhard E. Kupfer<br />
Martina Merklinger<br />
Daniela Rothfuss<br />
Rainer Domschke<br />
Rua Itapaiúna, 1355 • 05707-001 • São Paulo - SP<br />
Fone: (11) 3744-1070 • Fax: (11) 3501-9488<br />
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®<br />
produções editoriais<br />
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