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I Erwerbsarbeit, Eigenarbeit, handwerkliche Arbeit und Soziale Arbeit

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Fakultät <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Pflege<br />

Offene Werkstätten als Orte<br />

gestalterischen <strong>und</strong> sozialen Erlebens<br />

Neue Wege für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> in der <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft?<br />

Kreativ-Zentrum Wolfen<br />

Annemarie Graffé<br />

Diplomarbeit<br />

vorgelegt von<br />

<strong>und</strong><br />

Kristina Hilles<br />

Erstbetreuerin: Prof. Dr. rer. soc. Dipl.-Päd. Maria Bitzan<br />

Zweitbetreuer: Prof. Dr. rer. soc. Heinrich-Johannes Bartjes<br />

Esslingen November/Dezember 2007


DANKE SAGEN…<br />

…möchten wir allen, die zum Gelingen dieser <strong>Arbeit</strong> beigetragen haben.<br />

An erster Stelle danken wir Frau Kiontke, den Mitarbeitern <strong>und</strong> Mitarbeiterinnen <strong>und</strong> den<br />

Besucherinnen des Kreativzentrums e.V. sowie Herrn Slavicek <strong>und</strong> den Besuchern <strong>und</strong> Besucherinnen<br />

des Kempodium e.V., die uns Einblick in ihre <strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> in ihre Sichtweisen<br />

gewährt haben. Der Ideenreichtum <strong>und</strong> das Engagement, mit dem in beiden Einrichtungen<br />

Orte gestalterischen <strong>und</strong> sozialen Erlebens geschaffen werden, haben uns sehr beeindruckt.<br />

Wir danken auch Andrea Baier <strong>und</strong> Christa Müller <strong>und</strong> der anstiftung für ihr Interesse,<br />

Vertrauen <strong>und</strong> die Unterstützung bei unserem Forschungsvorhaben.<br />

Unser besonderer Dank gilt auch Maria Bitzan, für die stetige <strong>und</strong> ermutigende Unterstützung<br />

<strong>und</strong> die konstruktiven Anregungen im <strong>Arbeit</strong>sprozess. Danke auch an Heinz Bartjes, der uns<br />

insbesondere bei der Themenfindung Ermutigung <strong>und</strong> Hilfe gegeben hat.<br />

Eine Diplomarbeit zwischen, neben, vor <strong>und</strong> nach <strong>Erwerbsarbeit</strong>, Hausarbeit, Versorgungsarbeit,<br />

Erziehungsarbeit, Beziehungsarbeit <strong>und</strong> (einem vorübergehend stark reduzierten<br />

Ausmaß an) <strong>Eigenarbeit</strong> braucht für ihr Gelingen praktische <strong>und</strong> seelisch-moralische<br />

Unterstützung. Dafür haben gesorgt:<br />

Anne: Hans, für Unterstützung in wirklich jeder (!) Hinsicht <strong>und</strong> erfrischend fachfremde<br />

Anregungen, Angie für bewährte Hilfe in den Bereichen „Kinder, Küche, Kaffeetrinken“,<br />

Jakob, Helena <strong>und</strong> Rosa, für Extramithilfe im Haushalt, Monika <strong>und</strong> Gerhard Wegner, Magda<br />

<strong>und</strong> Schorsch Graffé für die Enkelbetreuung während der Ferien, Leila für die<br />

Seelenpostkarten, Feli für besonders schnelles <strong>und</strong> ausdauerndes Korrekturlesen <strong>und</strong> Heri, den<br />

tollen Hausgerätetechniker.<br />

Kristina: Nicole, die allen Widerständen zum Trotz immer <strong>und</strong> immer wieder für humorvolle<br />

<strong>und</strong> wohltuende Mußest<strong>und</strong>en zwischendurch sowie für lebenserhaltende <strong>und</strong> aufbauende<br />

Unterstützung gesorgt hat; Julia für anregende Gespräche <strong>und</strong> gemeinsame Abendessen; Uli für<br />

Lesen <strong>und</strong> sprachliche Anstöße, Lena <strong>und</strong> Angelika für aufmunternde Telefonate aus der<br />

Ferne; Angela für mitfühlende <strong>und</strong> bestärkende Worte sowie ablenkende <strong>Arbeit</strong>saufträge…;<br />

Leila für den Kontakt <strong>und</strong> dafür, dass es sie gibt!<br />

Vielen Dank!


Inhaltsverzeichnis<br />

Inhaltsverzeichnis..................................................................................................... 1<br />

Abkürzungsverzeichnis............................................................................................ 3<br />

Einleitung................................................................................................................... 4<br />

I <strong>Erwerbsarbeit</strong>, <strong>Eigenarbeit</strong>, <strong>handwerkliche</strong> <strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> ......... 8<br />

1. Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong> ........................................................ 9<br />

1.1 Was war <strong>und</strong> ist <strong>Arbeit</strong>? .............................................................................. 9<br />

1.1.1 Kulturelle, philosophische <strong>und</strong> moralische Aspekte von <strong>Arbeit</strong>............. 10<br />

1.1.2 Die Wirtschaftsordnung <strong>und</strong> die <strong>Arbeit</strong> – historischer Zugang .............. 12<br />

1.1.3 <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft <strong>und</strong> Normalarbeitsverhältnis der Ersten Moderne .15<br />

1.2 Das Ende der <strong>Erwerbsarbeit</strong>?................................................................... 17<br />

1.2.1 Kennzeichen der Zweiten Moderne ...................................................... 19<br />

1.2.2 <strong>Arbeit</strong> in der postfordistischen Wirtschaftsordnung............................... 21<br />

1.2.3 Die flexible <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft ............................................................. 28<br />

2. <strong>Eigenarbeit</strong> ....................................................................................................... 34<br />

3. Handwerkliche <strong>Arbeit</strong>sprozesse..................................................................... 42<br />

3.1 Charakteristika <strong>handwerkliche</strong>r Produktionsweise.................................... 42<br />

3.2 Wirkungen <strong>handwerkliche</strong>r <strong>Arbeit</strong>sprozesse auf den Menschen .............. 46<br />

3.3 Handwerkliche Tätigkeiten <strong>und</strong> Pädagogik............................................... 52<br />

3.4 Möglichkeiten <strong>und</strong> Grenzen des Mediums Handwerk............................... 55<br />

4. Standortbestimmung <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> .............................................................. 57<br />

4.1 Ziele <strong>und</strong> Aufgaben der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong>.................................................... 57<br />

4.2 Lebensweltorientierte <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>......................................................... 59<br />

4.2.1 Ziele ...................................................................................................... 59<br />

4.2.2 Aufgaben in der Gesellschaft ................................................................ 60<br />

4.2.3 Struktur- <strong>und</strong> Handlungsmaxime........................................................... 61<br />

4.3 Lebensweltorientierung <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft....................................... 61<br />

4.4 Lebensbewältigung <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft............................................. 63<br />

II Die Praxis in den Offenen Werkstätten...................................................... 66<br />

1. Forschungsfrage <strong>und</strong> Forschungsgegenstand ............................................ 67<br />

2. Das Forschungsdesign ................................................................................... 69<br />

2.1 Forschungsmethoden ............................................................................... 72<br />

2.2 Die Auswertung der Interviews ................................................................. 74<br />

3. Das Kreativzentrum Wolfen-Nord................................................................... 76<br />

3.1 Vorstellung von Einrichtung, Stadtteil, <strong>und</strong> Befragten............................... 76<br />

3.1.1 Portrait des Kreativzentrum e.V. ........................................................... 76<br />

3.1.2 Portrait des Stadtteils: Was bleibt? Wer bleibt? .................................... 82<br />

3.1.3 InterviewpartnerInnen <strong>und</strong> die Interviewsituation.................................. 84<br />

3.2 Auswertung der Interviews........................................................................ 87<br />

3.2.1 Anliegen, Motive <strong>und</strong> Bedeutungen der NutzerInnen ........................... 87<br />

3.2.2 Motive <strong>und</strong> Nutzen der MitarbeiterInnen ............................................... 91<br />

3.2.3 Ziele <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>sweisen ........................................................................ 92<br />

3.2.4 Stadtteil aus Sicht der BewohnerInnen ................................................. 95<br />

3.2.5 Das Kreativzentrum im Stadtteil............................................................ 97<br />

3.3 Ergebnisse der Untersuchung des Kreativzentrums................................. 99<br />

3.3.1 Armutsstadtteil - <strong>Arbeit</strong>slosigkeit ......................................................... 100<br />

3.3.2 Bedeutung der <strong>Eigenarbeit</strong> im Kreativzentrum <strong>und</strong> in Wolfen-Nord ... 101<br />

3.3.3 Bedeutung der Einrichtung als Ort der Begegnung im Stadtteil.......... 105<br />

1


3.4 Resümee................................................................................................. 110<br />

4. Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung .............. 114<br />

4.1 Vorstellung von Region, Einrichtung <strong>und</strong> Befragten ............................... 114<br />

4.1.1 Portrait von Stadt <strong>und</strong> Region Kempten.............................................. 114<br />

4.1.2 Portrait des Kempodium...................................................................... 116<br />

4.1.3 InterviewpartnerInnen <strong>und</strong> Interviewsituation...................................... 122<br />

4.2 Auswertung der Interviews...................................................................... 124<br />

4.2.1 Anliegen, Motive <strong>und</strong> Bedeutung für die NutzerInnen......................... 124<br />

4.2.2 Ziele, Selbstverständnis <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>sweisen........................................ 130<br />

4.2.3 Engagement <strong>und</strong> Ehrenamt ................................................................ 136<br />

4.2.4 Das Kempodium in der Region ........................................................... 141<br />

4.3 Ergebnisse der Untersuchung des Kempodium...................................... 145<br />

4.3.1 Bedeutung der <strong>Eigenarbeit</strong> im Kempodium ........................................ 145<br />

4.3.2 Bedeutung des Kempodium als besonderes infrastrukturelles Angebot<br />

150<br />

4.4 Resümee................................................................................................. 153<br />

5. Offene Werkstätten – ein Modell für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>? ........................... 156<br />

5.1 Gegenüberstellung Kreativzentrum <strong>und</strong> Kempodium ............................. 157<br />

5.2 Stärkung persönlicher Kompetenzen der Lebensbewältigung................ 160<br />

5.3 Gestaltung der Verhältnisse.................................................................... 164<br />

5.4 Grenzen <strong>und</strong> Risiken............................................................................... 172<br />

Schlussbetrachtung.............................................................................................. 176<br />

Literaturverzeichnis.............................................................................................. 179<br />

Anhang 1 <strong>und</strong> 2...........................Besuch im Kreativzentrum, Besuch im Kempodium<br />

2


Abkürzungsverzeichnis<br />

ABM <strong>Arbeit</strong>sbeschaffungsmaßnahme der Agentur für <strong>Arbeit</strong><br />

AGH <strong>Arbeit</strong>sgelegenheit nach § 16 (2) SGB II<br />

BMBF B<strong>und</strong>esministerium für Bildung <strong>und</strong> Forschung<br />

BVJ Berufsvorschuljahr<br />

BWSA Bildungswerk Sachsen-Anhalt<br />

EWN Erneuerungsgesellschaft Wolfen-Nord mbH<br />

GÖS Gesellschaft für ökologische Sanierung – Beschäftigungsgesellschaft in<br />

Sachsen Anhalt<br />

IFSW International Federation of Social Workers<br />

NGO Non Governmental Organization, Nichtregierungsorganisation<br />

SAM Strukturanpassungsmaßnahme der Agentur für <strong>Arbeit</strong><br />

ARGE <strong>Arbeit</strong>sgemeinschaften der Kommunen mit der Agentur für <strong>Arbeit</strong>, die<br />

die Institution des JobCenter bildet.<br />

3


Einleitung<br />

Handwerk <strong>und</strong> <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> 1 , das ist eine Verbindung, die unser beider Berufswege<br />

prägt. Sowohl aus eigener Erfahrung als Schreinerin <strong>und</strong> als Buchbinderin, als auch im<br />

sozialpädagogischen Umgang mit Gruppen <strong>und</strong> Einzelpersonen haben wir erlebt, wie<br />

viele positive Aspekte mit <strong>handwerkliche</strong>m <strong>Arbeit</strong>en verb<strong>und</strong>en sind. Häufig tauschten<br />

wir uns darüber aus, wo <strong>handwerkliche</strong>s Tun im Rahmen <strong>Soziale</strong>r <strong>Arbeit</strong> sinnvoll <strong>und</strong><br />

gewinnbringend eingesetzt wird oder werden kann. Wir sahen beide viel versprechende<br />

Nutzungsmöglichkeiten für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>. Da uns dieses Interesse schon seit<br />

Beginn des Studiums verbindet, beschlossen wir im Frühjahr 2007, in einer gemeinsamen<br />

Diplomarbeit das Thema aufzugreifen <strong>und</strong> uns wissenschaftlich auf die Suche<br />

nach Verbindungslinien zu machen.<br />

Vom Hörensagen kannten wir so genannte öffentliche „Werkstätten für <strong>Eigenarbeit</strong>“, in<br />

denen Menschen neben oder jenseits der <strong>Erwerbsarbeit</strong> handwerklich für den eigenen<br />

Bedarf Dinge herstellen, die aber auch einen Bürgerhauscharakter haben. Das war der<br />

Ausgangspunkt für unsere Idee:<br />

Könnte nicht, vor dem Hintergr<strong>und</strong> der Risiken <strong>und</strong> Schwierigkeiten in der Zweiten Moderne,<br />

ein solches Modell wertvolle Ansatzpunkte für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> liefern?<br />

Unsere Neugierde an dem Thema war geweckt. Als Gegenstand unserer Diplomarbeit<br />

wählten wir die Frage, inwieweit Offene Werkstätten als öffentliche Orte für <strong>Eigenarbeit</strong><br />

<strong>und</strong> lebendiges, soziales Miteinander mit gegenwärtigen Konzepten <strong>Soziale</strong>r <strong>Arbeit</strong><br />

korrespondieren.<br />

Die Aktualität der Fragestellung liegt unseres Erachtens darin, dass sich im Prozess<br />

der Modernisierung, insbesondere im zentralen Bereich der <strong>Arbeit</strong> massive Veränderungen<br />

vollzogen haben <strong>und</strong> weiter vollziehen werden. <strong>Erwerbsarbeit</strong> verliert an Integrationskraft.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> als Integrationsprofession in einer <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft muss<br />

sich dieser Problematik stellen <strong>und</strong> den Ausbau, die Gestaltung <strong>und</strong> Entwicklung ihrer<br />

Institutionen erörtern (vgl. Füssenhäuser/ Thiersch 2001, S. 1883).<br />

Dank der Tatsache, dass die gemeinnützige Stiftung anstiftung das Nebeneinander<br />

verschiedener <strong>Arbeit</strong>sformen bereits seit 20 Jahren in der Praxis erprobt, konnten wir<br />

mit einem qualitativen Verfahren in zwei Einrichtungen – dem Kreativzentrum e.V. in<br />

1<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> verwenden wir als allgemeinen Begriff, der Sozialarbeit <strong>und</strong> Sozialpädagogik<br />

übergeordnet ist.<br />

4


Wolfen-Nord bei Bitterfeld in Sachsen-Anhalt <strong>und</strong> im Kempodium e.V. in Kempten im<br />

Allgäu – durch Befragungen mit NutzerInnen <strong>und</strong> einem/r ExpertIn 2 durchführen. Dabei<br />

ist die Frage leitend, wie die Praxis der Werkstätten für <strong>Eigenarbeit</strong> in unterschiedlichen<br />

Sozialräumen aussieht <strong>und</strong> welche Bedeutungen sie für die Menschen vor Ort<br />

hat. Von einer Gegenüberstellung der Ergebnisse erhoffen wir uns eine Bandbreite an<br />

unterschiedlichen Sichtweisen <strong>und</strong> Erfahrungen. Bei der Auswertung blicken wir dann<br />

u. a. durch die „Theoriebrille der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong>“ <strong>und</strong> fahnden nach Querverbindungen,<br />

um so das mögliche Potenzial einer Kombination von Handwerk <strong>und</strong> <strong>Soziale</strong>r <strong>Arbeit</strong> in<br />

einem offenen Setting abwägen zu können. Für unsere Erörterung wählen wir die Bezeichnung<br />

„Offene Werkstätten“. Wir möchten damit den offenen <strong>und</strong> voraussetzungslosen<br />

Zugang für alle Menschen zu dem Angebot als Kennzeichen der Einrichtungen<br />

hervorheben.<br />

Die Auswahl der Themenschwerpunkte <strong>und</strong> die Gliederung sind in gemeinsamer <strong>Arbeit</strong><br />

entstanden. Das Gesamtwerk ist als Gemeinschaftsarbeit zu sehen, da ein stetiger<br />

Austausch an Anregungen <strong>und</strong> Ideen bis in die Textausarbeitung hinein stattfand. Einzelne<br />

Kapitel wurden schwerpunktmäßig individuell ausgearbeitet. Zur Begutachtung<br />

<strong>und</strong> Bewertung kennzeichnen wir diese mit dem Namen der jeweiligen Autorin.<br />

Unsere <strong>Arbeit</strong> ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil werden theoretische Zugänge<br />

erörtert <strong>und</strong> dargestellt. Im zweiten Teil stellen wir die empirische Untersuchung <strong>und</strong><br />

deren Ergebnisse vor.<br />

Zur Gliederung des ersten Teils:<br />

Im Kap I 1 „Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong>“ beginnt Annemarie Graffé mit<br />

einer Erörterung der Begriffe <strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft. Dabei wird <strong>Arbeit</strong> insbesondere<br />

im Lichte des Modernisierungsprozesses betrachtet <strong>und</strong> herausgearbeitet,<br />

welchen Stellenwert die <strong>Erwerbsarbeit</strong> als spezifische Form von <strong>Arbeit</strong> heute für die Individuen<br />

besitzt. Außerdem wird auf die Charakteristika <strong>und</strong> auf Anforderungen des<br />

flexiblen <strong>Arbeit</strong>smarktes an die <strong>Arbeit</strong>skräfte eingegangen. Angesichts der Massenarbeitslosigkeit<br />

fragen wir nach Szenarien für die Zukunft der <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft.<br />

<strong>Eigenarbeit</strong> ist ein mehrdeutiger Begriff, der auch in wissenschaftlichen Erörterungen,<br />

die sich mit dem Verhältnis unterschiedlicher Tätigkeitsformen zueinander beschäftigen,<br />

nicht einheitlich verstanden <strong>und</strong> eingesetzt wird. Im Kap. I 2 stellt Kristina Hilles<br />

2 Eine geschlechtergerechte Sprache setzen wir in dieser Schreibweise um, gelegentlich schreiben<br />

wir die männliche <strong>und</strong> weibliche Form aus.<br />

5


die unterschiedlichen Begriffsbestimmungen dar <strong>und</strong> geht anschließend auf das Verständnis<br />

von <strong>Eigenarbeit</strong> ein, das in den Werkstätten für <strong>Eigenarbeit</strong> die Gr<strong>und</strong>lage<br />

darstellt.<br />

Handwerkliches <strong>Arbeit</strong>en hat im Rahmen der Pädagogik eine lange Tradition; dort wo<br />

ganzheitliche Bildungsprozesse stattfinden, wo Lernen mit Kopf, Herz <strong>und</strong> Hand umgesetzt<br />

werden soll. Die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> hat <strong>handwerkliche</strong>s <strong>Arbeit</strong>en als Medium bereits in<br />

den unterschiedlichen <strong>Arbeit</strong>sfeldern <strong>und</strong> zielgruppenspezifischen Angeboten integriert.<br />

Eine systematische theoretische Beschreibung <strong>handwerkliche</strong>r <strong>Arbeit</strong>sprozesse <strong>und</strong> ihrer<br />

Wirkungen, die als Basis für konzeptionelle Einbeziehung des Mediums in die <strong>Soziale</strong>n<br />

<strong>Arbeit</strong> dienen könnte, haben wir nicht gef<strong>und</strong>en. In Kap. I 3 lotet Kristina Hilles<br />

die Wirkungen <strong>handwerkliche</strong>n Tuns <strong>und</strong> das Potenzial <strong>handwerkliche</strong>r <strong>Arbeit</strong> im Rahmen<br />

von Settings der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> aus.<br />

In Kap. I 4 nimmt Annemarie Graffé eine knappe Standortbestimmung der <strong>Soziale</strong>n<br />

<strong>Arbeit</strong> vor. Von einer sehr allgemeinen Zielbestimmung ausgehend kommt sie auf eine<br />

Funktions- <strong>und</strong> Gegenstandsbestimmung im Rahmen der Lebensweltorientierten <strong>Soziale</strong>n<br />

<strong>Arbeit</strong>. Die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> steht jedoch im Kontext der Analysen zur <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft<br />

in Kap. I 1 vor der Aufgabe, sich (neu) zu positionieren.<br />

Zur Gliederung des zweiten Teils:<br />

Der zweite Teil unserer <strong>Arbeit</strong> beginnt mit der differenzierten Ausarbeitung unseres<br />

Erkenntnisinteresses (Kap. II 1). Dem schließt sich die Darstellung der methodischen<br />

Vorgehensweise (Kap. II 2) im Forschungsprozess an. Hier gab es eine intensive gemeinsame<br />

Beschäftigung mit der Thematik, aus der heraus wir die notwendigen Entscheidungen<br />

gemeinsam trafen <strong>und</strong> auch unsere Forschungsinstrumente, die Fragebögen,<br />

für unsere qualitativen Interviews erstellt haben. Annemarie Graffé hat die<br />

Ergebnisse dieses Auseinandersetzungs- <strong>und</strong> Entscheidungsprozesses anschließend<br />

verschriftlicht.<br />

Die Besuche in der Praxis <strong>und</strong> die Datenerhebung stellten den Höhepunkt der Bearbeitung<br />

unserer Fragestellung dar. Trotz des höheren Zeitaufwands unternahmen wir die<br />

Reisen im Team. Zum einen aus Neugierde an den jeweiligen Einrichtungen, wir wollten<br />

einfach gerne wissen, wie es dort zugeht, wie es dort ist. Zum anderen war uns<br />

wichtig, dass wir jeweils von beiden Einrichtungen eine Vorstellung gewinnen konnten<br />

<strong>und</strong> so auch ein Gegenüber hatten, um unsere Eindrücke gemeinsam reflektieren zu<br />

können. Unser Motto dabei war auch: Vier Augen sehen mehr als zwei. In Kap. II 3<br />

6


wird von Annemarie Graffé das Kreativzentrum vorgestellt <strong>und</strong> die Auswertung dieser<br />

Materialien vorgenommen. In Kap. II 4 verfährt Kristina Hilles mit den Materialen des<br />

Kempodium in gleicher Weise. In unserem Blick auf die jeweiligen Einrichtungen stellen<br />

wir bereits Bezüge zu Sicht- <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>sweisen der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> her <strong>und</strong> interpretieren<br />

auf der Gr<strong>und</strong>lage von Theoriewissen der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong>.<br />

Im letzten, gemeinsam verfassten Kapitel unserer Diplomarbeit (Kap. II 5) kehren wir<br />

zu unserer Ausgangsfrage zurück. In einer pointierten Gegenüberstellung der Ergebnisse<br />

der beiden Einrichtungen zeigen wir die unterschiedliche Ausformung in der Praxis<br />

der beiden Institutionen, die unterschiedlichen Bedeutungen <strong>und</strong> Sichtweisen der<br />

Menschen auf. Hiervon ausgehend erörtern wir, welche Chancen <strong>und</strong> Grenzen wir in<br />

einer solchen Konzeption für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> erkennen können.<br />

Wir hoffen, eine interessante <strong>und</strong> anregende <strong>Arbeit</strong> vorzulegen. Wir selbst haben durch<br />

die Bearbeitung wichtige Erkenntnisse gewonnen <strong>und</strong> bereichernde Erfahrungen gemacht,<br />

die wir nicht missen möchten. Forschung war für uns eine neue <strong>und</strong> spannende<br />

Aufgabe. Wir hoffen, dass wir unseren InterviewpartnerInnen <strong>und</strong> den Einrichtungen in<br />

unserer Auslegung der Materialien gerecht werden.<br />

Neue Wege zu gehen ist immer mit Unsicherheiten verb<strong>und</strong>en, eröffnet aber ungeahnte<br />

Lernmöglichkeiten. Dieser Satz lässt sich sowohl auf unser Projekt Diplomarbeit beziehen,<br />

als auch auf die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>, die angesichts der gesellschaftlichen <strong>und</strong> individuellen<br />

Unsicherheiten in der Zweiten Moderne unseres Ermessens vor die Aufgabe<br />

gestellt ist, neue Wege auszuprobieren.<br />

7


<strong>Erwerbsarbeit</strong>, <strong>Eigenarbeit</strong>, <strong>handwerkliche</strong> <strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

I <strong>Erwerbsarbeit</strong>, <strong>Eigenarbeit</strong>, <strong>handwerkliche</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

<strong>Arbeit</strong> ist der zentrale Begriff unserer theoretischen Erörterungen, <strong>Arbeit</strong> in unterschiedliche<br />

Bezugsrahmen gesetzt. Offene Werkstätten können Orte sein,<br />

• an denen die Möglichkeit geboten wird, neben oder jenseits von <strong>Erwerbsarbeit</strong><br />

tätig zu werden<br />

• an denen in <strong>Eigenarbeit</strong> Produkte hergestellt werden<br />

• an denen handwerklich gearbeitet wird<br />

• die möglicherweise Gelegenheitsstrukturen für Menschen schaffen, wie sie aus<br />

Sicht der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> (in einer nachindustriellen <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft) sinnvoll<br />

sind.<br />

In den folgenden vier Kapiteln bemühen wir uns zunächst jeweils um eine Eingrenzung<br />

des Begriffes „<strong>Arbeit</strong>“ in seinem jeweiligen Kontext <strong>und</strong> nehmen eine Bestimmung vor.<br />

Im ersten Kapitel werden sowohl über philosophische Aspekte als auch über einen historischen<br />

Zugang das heutige Verständnis <strong>und</strong> die heutige Bedeutung der <strong>Arbeit</strong> für die<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> für die Subjekte hergeleitet. Es mündet in eine Analyse der heutigen<br />

<strong>Arbeit</strong>sgesellschaft aus soziologischer Sicht.<br />

<strong>Eigenarbeit</strong> als Begriff, der im Zusammenhang mit Offenen Werkstätten eingesetzt<br />

wird, bedarf einer Klärung <strong>und</strong> Eingrenzung. Dies geschieht im zweiten Kapitel.<br />

Handwerk als spezifische (traditionelle) Form der <strong>Arbeit</strong> zur Herstellung von Produkten<br />

wird im dritten Kapitel beleuchtet. Hier wählen wir nach einem kurzen Blick aus historischer<br />

Position eine sozialpsychologische <strong>und</strong> (sozial-)pädagogische Perspektive <strong>und</strong><br />

fragen nach den Wirkungen <strong>handwerkliche</strong>n Tuns.<br />

Im vierten Theoriekapitel werden wir auf die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> eingehen. Wir beginnen mit<br />

einer knappen Funktions- <strong>und</strong> Gegenstandsbestimmung <strong>und</strong> stellen anschließend kurz<br />

die Theoriekonzepte der Lebensweltorientierung <strong>und</strong> der Lebensbewältigung dar.<br />

Alle vier Kapitel dienen als Folie für die Analyse der beiden Praxiseinrichtungen <strong>und</strong><br />

die Interpretation der Interviews, sie bilden die Basis für unsere Rückschlüsse <strong>und</strong> Ergebnisse.<br />

8


1. Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong><br />

Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong><br />

Dieses Kapitel dient zur Klärung der Begriffe <strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft. Es gibt einen<br />

Überblick über die Veränderung der Bedeutung der <strong>Arbeit</strong>, der <strong>Arbeit</strong>sformen <strong>und</strong><br />

der strukturellen Organisation von gesellschaftlich wichtiger <strong>Arbeit</strong> im Wandel der Zeit<br />

<strong>und</strong> zeigt auf, wo aus unserer Perspektive Diskussionsansätze liegen.<br />

1.1 Was war <strong>und</strong> ist <strong>Arbeit</strong>?<br />

Ziel dieses Absatzes ist, darzulegen, dass es <strong>Arbeit</strong> als absolute Kategorie nicht gibt<br />

<strong>und</strong> sich nur im jeweils geschichtlichen, kulturellen Kontext ein spezifisches <strong>Arbeit</strong>sverständnis<br />

herausgebildet hat, bzw. je nach Blickwinkel <strong>Arbeit</strong> unterschiedlich bewertet<br />

wird. Weiter soll die heutige Bedeutung <strong>und</strong> Funktion von <strong>Arbeit</strong> für den/die Einzelne/n<br />

<strong>und</strong> die Gesellschaft als ganze skizziert werden <strong>und</strong> geklärt werden, auf welchen historischen<br />

Entwicklungen diese basieren. Das, was die „<strong>Arbeit</strong>sgesellschaft“ kennzeichnet,<br />

soll herausgearbeitet werden.<br />

Was ist <strong>Arbeit</strong>? Diese Frage zu klären, scheint aufs erste einfach, doch auf der Suche<br />

nach einer Antwort bemerkt man, dass dies ein schwieriges oder gar unmögliches Unterfangen<br />

ist.<br />

Im Politiklexikon findet man folgende Definition:<br />

„<strong>Arbeit</strong> ist eine spezifisch menschliche – sowohl körperliche als auch geistige – Tätigkeit,<br />

die vor allem dazu dient, die zur Existenzsicherung notwendigen Mittel zu beschaffen.<br />

Sie stellt aber auch immer eine technisch-kulturell geprägte Form der Auseinandersetzung<br />

mit der jeweiligen Umwelt dar. <strong>Arbeit</strong> ist insofern ein gestaltender,<br />

schöpferisch-produzierender <strong>und</strong> sozialer, zwischen Individuen vermittelnder Akt. <strong>Arbeit</strong><br />

ist von zentraler Bedeutung für die Verteilung individueller Lebenschancen, das<br />

Selbstwertgefühl <strong>und</strong> die Stellung des einzelnen in der Gesellschaft“ (Schubert/ Klein<br />

2006, Stichwort <strong>Arbeit</strong>).<br />

Diese Definition lässt mehr Fragen offen, als dass sie Antworten liefert. Es werden die<br />

unterschiedlichsten Betrachtungsdimensionen angesprochen: Philosophische, anthropologische,<br />

soziologische, psychologische, moralische Dimension. Hinzu kommt im<br />

folgenden Teil der Definition dieses Lexikons die politisch-ökonomische Dimension:<br />

„Im politisch-ökonomischen Sinne ist <strong>Arbeit</strong> der wichtigste Produktionsfaktor, der als<br />

Gr<strong>und</strong>lage zur Entwicklung der Faktoren Boden, Kapital <strong>und</strong> technischer Fortschritt<br />

dient“ (ebd.).<br />

9


1.1.1 Kulturelle, philosophische <strong>und</strong> moralische Aspekte von <strong>Arbeit</strong><br />

Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong><br />

Eine andere Herangehensweise ist, zu fragen: Was nannten die Menschen in unterschiedlichen<br />

Zeiten <strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> welche Bedeutung wurde ihr jeweils zugemessen? <strong>Arbeit</strong><br />

wird dann in ihrem jeweiligen historisch-kulturellen Kontext gesehen <strong>und</strong> bewertet.<br />

Es wird deutlich, dass es eine absolute Antwort nicht gibt, dass es das Wesen der <strong>Arbeit</strong><br />

an sich nicht gibt (vgl. Engler 2005, S.22). Moralische <strong>und</strong> philosophische bzw.<br />

theologische Ansichten spielen für die Bewertung immer eine Rolle. Es wird aber auch<br />

deutlich, dass auch in der Vergangenheit das „Phänomen <strong>Arbeit</strong> in Abgrenzung zu anderen<br />

Tätigkeiten existiert“ (Giarini/ Liedtke 1998, S. 31) hat.<br />

Die ausführliche Betrachtung der historischen Entwicklung der kulturellen Bedeutung<br />

von Tätigkeiten, die <strong>Arbeit</strong> genannt wurden, ist in diesem Rahmen unmöglich. Um die<br />

Wandlungen des <strong>Arbeit</strong>sverständnisses deutlich zu machen, greifen wir nur einzelne<br />

Epochen heraus <strong>und</strong> stellen sie in Bezug auf ihr spezifisches Verhältnis zur <strong>Arbeit</strong> hin<br />

vor. Die Entwicklungen, die als Wegbereiter des bis heute geltenden <strong>Arbeit</strong>sverständnisses<br />

mit der (oben angeführten) Einengung auf <strong>Erwerbsarbeit</strong> maßgeblich sind, sollen<br />

ausführlicher behandelt werden.<br />

Notwendigkeit<br />

Am Beginn der menschlichen Evolution hatte alles Handeln nur ein Ziel: den eigenen<br />

Lebensunterhalt, die eigene materielle Existenz zu sichern <strong>und</strong> die der Sippe bzw. der<br />

Nachkommen. Die Lebensnotwendigkeit von Tätigkeiten wie Jagen, Sammeln, Herstellen<br />

von Werkzeugen etc. maß den Tätigkeiten selbst ihre Bedeutung <strong>und</strong> ihren Wert zu<br />

(vgl. Giarini/ Liedtke 1998, S. 34). Mit dem Gebrauch des modernen Wortes <strong>Arbeit</strong>, das<br />

zu dieser Zeit sicher kein Synonym kannte, könnte man sagen, dass <strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> Leben<br />

untrennbar eins waren.<br />

Unfreiheit<br />

In der griechischen Antike hatte sich eine Gesellschaft mit grob gesehen zwei sozialen<br />

Gruppen herausgebildet: Jene die arbeiten mussten, die dem Gesetz der Notwendigkeit<br />

unterworfen waren, <strong>und</strong> jene, die von der <strong>Arbeit</strong> befreit waren. Die erste Gruppe<br />

bildeten die Sklaven, Kinder, Frauen <strong>und</strong> Fremde (nicht zur Stadtgemeinschaft gehörende),<br />

die zweite Gruppe die freien volljährigen Männer, denen allein die Aufgabe der<br />

Gestaltung der Gesellschaft in der pólis (des Stadtstaates) zukam. Platon sah die eigentliche<br />

Bestimmung des Menschen in der bewussten schöpferischen Auseinandersetzung<br />

mit der Natur <strong>und</strong> der Gesellschaft. Hierfür war die Muße eine Gr<strong>und</strong>bedingung.<br />

Wer arbeiten musste, war damit unfrei <strong>und</strong> minderwertig. Frei war nur der vom<br />

10


Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong><br />

Erwerb des Lebensnotwendigen freie, über ein Haus gebietende Mann. Freiheit <strong>und</strong><br />

<strong>Arbeit</strong> schlossen sich gegenseitig aus (vgl. Gorz 1989, S. 235 <strong>und</strong> Kocka 2001, S. 2).<br />

Heute würden die geistigen, administrativen <strong>und</strong> politischen Tätigkeiten der freien<br />

Männer selbstverständlich unter dem <strong>Arbeit</strong>sbegriff subsumiert werden.<br />

Sühne<br />

In der christlichen Tradition sieht Gott für den Menschen sechs Tage <strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> einen<br />

Tag Ruhen vor. Darin steckt sowohl der Auftrag, die Welt tätig zu gestalten, als auch<br />

durch die Mühe <strong>und</strong> im Schweiße des Angesichts für den Sündenfall zu büßen. <strong>Arbeit</strong><br />

war von Gott dem aus dem Paradies vertriebenen Menschen aufgebürdete Mühsal<br />

(vgl. Giarini/ Liedtke 1998, S.32). Deutlich wird dieses Verständnis auch sprachlich:<br />

das althochdeutsche Wort „arabeit“ steht synonym für Mühe, Plage. Diese Sichtweise<br />

beherrschte das Denken im christlichen Mittelalter.<br />

Sittlichkeit <strong>und</strong> Ehrbarkeit<br />

Mit der Reformation setzten sich in protestantisch geprägten Teilen Europas <strong>und</strong> von<br />

hieraus ausgehend später auch in Amerika die lutheranischen Ansichten durch. Damit<br />

erfuhr die <strong>Arbeit</strong> zum ersten Mal eine positive Bewertung, <strong>und</strong> erhielt über den konkreten<br />

Nutzen hinaus einen sittlichen Wert zugeschrieben. Diese Auffassung ist gekennzeichnet<br />

durch die Vorstellung von <strong>Arbeit</strong> als Pflicht des Menschen, die ihn erst zum zivilisierten<br />

Wesen macht, bzw. <strong>Arbeit</strong> als Beruf. <strong>Arbeit</strong> generell ist Dienst am Nächsten<br />

<strong>und</strong> damit zugleich Dienst gegenüber Gott. Somit gewann <strong>Arbeit</strong> in der frühen Neuzeit<br />

in den europäischen Städten eine zentrale Bedeutung. „Ehrbare <strong>Arbeit</strong> war nun Basis<br />

genossenschaftlicher Vergesellschaftung <strong>und</strong> mit Freiheit <strong>und</strong> Stadtbürgerrecht positiv<br />

verknüpft, diametral anders als in der antiken pólis“ (Kocka 2001, S.2).<br />

Gewinnstreben<br />

Im Calvinismus wurde diese Überzeugung noch verstärkt, so dass Muße oder Zeitvergeudung<br />

als Sünde aufgefasst wurden. Calvin vertrat die Ansicht, <strong>Arbeit</strong> sei der von<br />

Gott vorgeschriebene Selbstzweck des Lebens, wirtschaftlicher Erfolg sei als Lohn<br />

Nachweis der Gnade Gottes (vgl. Giarini/ Liedtke1998, S.32). Max Weber sah im protestantischen<br />

<strong>Arbeit</strong>sethos die moralische Gr<strong>und</strong>lage für das Gewinnstreben im Kapitalismus<br />

angelegt <strong>und</strong> beschrieb die Zusammenhänge in seinem 1904 erschienenen<br />

Werk „Die protestantische Ethik <strong>und</strong> der ’Geist’ des Kapitalismus“. Webers Ansichten<br />

sind in der Wissenschaft weitgehend Konsens (vgl. Giarini/ Liedtke, S. 33).<br />

Selbstverwirklichung<br />

11


Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong><br />

Im 17. <strong>und</strong> 18. Jahrh<strong>und</strong>ert kam durch die philosophischen Ansichten der Aufklärer<br />

(Kant, Hegel u. a.) eine weitere neue Dimension hinzu, die ins heutige Denken hineinreicht.<br />

<strong>Arbeit</strong> wurde nicht nur als Quelle von Wohlstand <strong>und</strong> Reichtum positiv bewertet,<br />

ihr wurde zudem auch eine schöpferisch-kreative Seite beigemessen. Kocka (2001,<br />

S.2) schreibt: „Bis 1800 hatte sich in der westlichen Zivilisation der <strong>Arbeit</strong>sbegriff ein<br />

Stück weit aus seiner früher dominanten Verbindung zu Kampf, Not <strong>und</strong> Mühsal gelöst,<br />

aufs schöpferisch kreative hinbewegt <strong>und</strong> als Kern menschlicher – jedenfalls bürgerlicher<br />

– Identitätsbildung empfohlen“. Insbesondere im Bürgertum rückte der Leistungsgedanke<br />

in den Vordergr<strong>und</strong> in Zusammenhang mit <strong>Arbeit</strong>, „der Bürger“ definierte seinen<br />

Status über die eigene Leistung <strong>und</strong> setzte sich so vom privilegierten (Feudal-<br />

)Adel ab (vgl. Bonß 2002, S.8).<br />

Wie wir sehen, enthält der <strong>Arbeit</strong>sbegriff unterschiedliche moralische Bedeutungsüberformungen,<br />

die bis heute sowohl Gegenstand intellektueller, wissenschaftlicher Diskurse<br />

sind (Richard Sennet, Oskar Negt, André Gorz…) als auch die reale politische Debatte<br />

bestimmen: Debatte um Mindestlöhne oder Gr<strong>und</strong>einkommen, Dauer der<br />

Zahlung von <strong>Arbeit</strong>slosengeld. Ökonomische Aspekte spielen bei diesen Streitfragen<br />

selbstverständlich auch immer eine Rolle. Letztendlich ist es aber immer auch eine<br />

Frage des Menschenbildes, welchen Rahmen die Politik schafft.<br />

1.1.2 Die Wirtschaftsordnung <strong>und</strong> die <strong>Arbeit</strong> – historischer Zugang<br />

Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf den europäischen Raum, eine grobe<br />

Skizze soll den strukturellen Wandel <strong>und</strong> seine sozialen Folgen in seinen wesentlichen<br />

Zügen nachzeichnen. Die Darstellung der Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung<br />

<strong>und</strong> ihrer Einflüsse auf die Gesellschaften <strong>und</strong> das <strong>Arbeit</strong>sverständnis beginnen wir mit<br />

der Zeit der Auflösung der feudal-ständischen Ordnung, nach dessen Ende sich das<br />

kapitalistische Wirtschaftsprinzip mehr <strong>und</strong> mehr durchsetzte. Es fanden umwälzende<br />

Veränderungen statt, Organisation, Charakter <strong>und</strong> Bewertung der <strong>Arbeit</strong> betreffend.<br />

Wir möchten im Folgenden versuchen, die genannten einzelnen Aspekte als grobe Linien<br />

bis in die heutige Zeit zu skizzieren, um sie dann im Anschluss in einem Portrait<br />

der modernen <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft zusammenzuführen.<br />

Die Kennzeichen des Kapitalismus waren die nun neue, freie Vertragsbildung (zumindest<br />

formal) zwischen Unternehmer <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>er, die Steuerung der Wirtschaftsprozesse<br />

über den Markt (Angebot <strong>und</strong> Nachfrage) <strong>und</strong> das Streben nach Gewinn (s. o.).<br />

Die Entwicklungen im Bereich der Technik, insbesondere die Erfindung der Dampfmaschine,<br />

die die Produktion unabhängiger werden ließ von der menschlichen <strong>Arbeit</strong>skraft<br />

<strong>und</strong> Energie, beschleunigten den Veränderungsprozess <strong>und</strong> griffen tief in die <strong>Arbeit</strong>s-<br />

12


Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong><br />

<strong>und</strong> Lebensweisen der Menschen ein. Die industrielle Revolution veränderte das Gesicht<br />

der Gesellschaften von Gr<strong>und</strong> auf.<br />

Organisation der <strong>Arbeit</strong><br />

• Räumliche <strong>und</strong> zeitliche Trennung der Sphären von <strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> Nicht-<strong>Arbeit</strong>. Durch<br />

die Gründung von Manufakturen <strong>und</strong> später Fabriken findet eine Verlagerung der<br />

<strong>Arbeit</strong> aus dem Wohnhaus heraus in Manufakturen <strong>und</strong> Fabriken statt. <strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong><br />

Freizeit werden zu einer neuen Erfahrung. Mit <strong>Arbeit</strong> ist zunehmend <strong>Erwerbsarbeit</strong><br />

gemeint (vgl. Kocka 2001, S. 3).<br />

• Ausrichtung der <strong>Arbeit</strong> an den produktionsbedingten Abläufen in der Manufaktur<br />

oder Fabrik. Durch technischen Fortschritt wird die Produktion unabhängiger von<br />

natürlichen Bedingungen wie z. B. Tageslicht, Jahreszeiten, natürlichen Energiequellen,<br />

Lebensrhythmus der <strong>Arbeit</strong>er.<br />

• Gewinnstreben <strong>und</strong> technisch möglich gewordene Steigerung der Produktivität befördern<br />

den Effizienzgedanken. Entwicklung <strong>und</strong> Rationalisierung werden zu den<br />

Kennzeichen der Modernisierung.<br />

• Ab Anfang des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts etabliert sich der Fordismus als Wirtschaftsprinzip.<br />

Kennzeichen sind:<br />

o Automation, d. h. Fließbandproduktion<br />

o Aufteilung der Produktionsschritte<br />

o <strong>Arbeit</strong>er führen möglichst einfache, immer wiederkehrende <strong>Arbeit</strong>en aus<br />

o standardisierte Massenprodukte <strong>und</strong> Löhne, die den <strong>Arbeit</strong>ern selbst den Kauf<br />

der Produkte ermöglichen (vgl. Sennet 1998, S.49)<br />

• Sozialpolitische Verknüpfung von <strong>Erwerbsarbeit</strong> <strong>und</strong> sozialer Sicherung führt zur<br />

Normierung der <strong>Erwerbsarbeit</strong> <strong>und</strong> zur ihrer gesetzlich-administrativen Verfestigung.<br />

Einengung des Begriffs <strong>Arbeit</strong> auf <strong>Erwerbsarbeit</strong> (Kocka 2001, S.4)<br />

Charakter der <strong>Arbeit</strong><br />

• <strong>Arbeit</strong>steilung <strong>und</strong> stetige Steigerung der Produktivität bestimmen das Gesicht der<br />

<strong>Arbeit</strong> im Fordismus<br />

• Die Ambivalenz dieser Merkmale zeigt sich in der Gefahr der geistigen Abstumpfung<br />

der <strong>Arbeit</strong>er einerseits <strong>und</strong> in der Wohlstandssteigerung für alle Menschen<br />

andererseits (vgl. Sennet 1998, S. 46 bzw. Nutzinger/ Held 2000, S. 7. Die Autoren<br />

beziehen sich auf Adam Smith 3 ).<br />

3<br />

Adam Smith, 1723 – 1790, schottischer Moralphilosoph <strong>und</strong> Begründer der Nationalökonomie<br />

(Volkswirtschaftslehre)<br />

13


Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong><br />

• Entfremdung der <strong>Arbeit</strong>er von der <strong>Arbeit</strong>. Nach Marx verlieren die <strong>Arbeit</strong>er den Bezug<br />

zum Produkt <strong>und</strong> die Kontrolle über den <strong>Arbeit</strong>sprozess <strong>und</strong> die Produktionsmittel<br />

(vgl. Marx bei Gorz 1989, S.42).<br />

• <strong>Arbeit</strong> wird zur Ware. Sie wird zum Zweck des Gelderwerbs ausgeübt <strong>und</strong> bekommt<br />

einen Tauschwert zugewiesen (vgl. Gorz 1998, S.40 ff.).<br />

• <strong>Arbeit</strong> wird zum Beruf. Das Modell der Berufsarbeit auf Lebenszeit wird zur Norm<br />

für Männer, <strong>Arbeit</strong>steilung führt zu Spezialisierung in allen Bereichen, es entstehen<br />

Berufsgruppen. <strong>Soziale</strong> Beziehungen innerhalb der Sphäre der <strong>Arbeit</strong> gewinnen an<br />

Bedeutung (vgl. Kocka 2001, S. 4).<br />

• <strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> Beruf bilden die Identifikationsgr<strong>und</strong>lage für Männer. Es entsteht ein<br />

Ausbildungswesen mit entsprechenden Abschlüssen. Damit wird <strong>Arbeit</strong> zur Basis<br />

von individueller <strong>und</strong> sozialer Identität <strong>und</strong> entfaltet vergesellschaftende Wirkung<br />

(ebd.).<br />

Wert <strong>und</strong> Stellenwert der <strong>Arbeit</strong><br />

• Menschliche <strong>Arbeit</strong> wird zum Kostenfaktor in der Produktion. Die Marktlogik führt<br />

dazu, dass der Tauschwert einer <strong>Arbeit</strong> ihren Wert bestimmt, der eigentliche Bedarf<br />

verliert an Bedeutung. Ein Teil der <strong>Arbeit</strong>, vorwiegend der produktive Teil, wird<br />

monetarisiert 4 . Nichtbezahlte Tätigkeiten <strong>und</strong> Subsistenz werden als nichtproduktiv<br />

angesehen <strong>und</strong> gegenüber Lohnarbeit abgewertet (Giarini/ Liedtke1998,<br />

S. 92).<br />

• Die Vorstellung von einer „weiblichen“ <strong>und</strong> einer „männlichen“ <strong>Arbeit</strong>ssphäre setzt<br />

sich durch. Die Mutterrolle wird ideologisch überhöht. Gleichzeitig wird Hausarbeit<br />

als nicht produktive <strong>Arbeit</strong> finanziell abgewertet (vgl. Bock/ Duden 2000 [1977], S.<br />

31).<br />

• Das Modell der Ernährer-Hausfrauen-Ehe wird geschaffen <strong>und</strong> gesellschaftlich <strong>und</strong><br />

rechtlich 5 verfestigt. Es gilt die Vorstellung, dass das Einkommen des Mannes so<br />

bemessen sein muss, dass es die gesamte (Klein-)Familie ernährt. Fraueneinkommen<br />

sind dagegen niedriger bemessen, u. a. mit der Argumentation, dass sie<br />

nur einen Hinzuverdienst darstellen (vgl. Giarini/ Liedtke 1998, 113).<br />

4 Giarini/ Liedke verwenden die Terminologie „monetarisiert“ <strong>und</strong> „nicht monetarisiert“ <strong>und</strong><br />

schaffen so eine klare Trennung von zwei Systemen, in beiden wird ihrer Überzeugung nach<br />

jeweils durch <strong>Arbeit</strong> Wohlstand geschaffen. Im monetarisierten System wird ein Tauschwert angenommen,<br />

im nicht monetarisierten System findet kein Austausch statt, die <strong>Arbeit</strong> geschieht im<br />

Wesentlichen zur Eigenproduktion (vgl. Giarini/ Liedtke 1998, S. 37).<br />

5 Nach § 1356 BGB durfte die eine verheiratete Frau nur insoweit berufstätig sein, als es mit ihren<br />

Pflichten in der Familie zu vereinbaren war. Die Verpflichtung, zum Familienunterhalt beizutragen,<br />

erfüllte die Frau in der Regel durch die Führung des Haushaltes. Erst im Eherechtsänderungsgesetz<br />

von 1977 (!) fand eine Abkehr vom Leitbild der Hausfrauen-Ehe statt <strong>und</strong> diese<br />

Norm wurde neu gefasst (vgl. Deinert 1995).<br />

14


Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong><br />

1.1.3 <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft <strong>und</strong> Normalarbeitsverhältnis der Ersten Moderne<br />

Von <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft zu reden, bedeutet, die Analyse der gesellschaftlichen Vorgänge<br />

aus einem bestimmten Blickwinkel heraus vorzunehmen: die <strong>Arbeit</strong> ins Zentrum<br />

der Analyse zu stellen. Über die Einengung des <strong>Arbeit</strong>sbegriffs auf <strong>Erwerbsarbeit</strong> <strong>und</strong><br />

den Bedeutungsgewinn derselben für Individuen <strong>und</strong> Gesellschaft haben wir im vorangegangenen<br />

Kapitel geschrieben. Es ist dabei klar geworden, dass es korrekter wäre,<br />

von <strong>Erwerbsarbeit</strong>sgesellschaft zu sprechen. Da dies jedoch kein gängiger Begriff ist,<br />

bleiben wir bei dem zuerst genannten. Im folgenden Abschnitt möchten wir die Charakteristika<br />

derjenigen <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft, wie sie in der Phase der Moderne ab Ende des<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>erts bis in die 70er Jahre des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts hinein vorherrschend war,<br />

darstellen. „Ihre (…) ausgeprägteste Form fand die <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft in ihrer wohlfahrtsstaatlich<br />

abgefederten, industriekapitalistischen Epoche der Nachkriegszeit“ (Galuske<br />

2002, S.38). Mit Ulrich Beck (1986) gesprochen handelt es sich um die <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft<br />

der so genannten Ersten Moderne (zur Terminologie Erste <strong>und</strong> Zweite<br />

Moderne siehe Kap. I 1.2.1).<br />

Erstmals verwendete Hannah Arendt 1958 den Begriff <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft in ihrem<br />

Buch Vita Activa <strong>und</strong> beschreibt die <strong>Arbeit</strong> als „einzige Tätigkeit“ in der Gesellschaft,<br />

die als verbindendes Element für alle ihre Mitglieder fungiert, die also inneren Zusammenhalt<br />

schafft <strong>und</strong> sichert (1960, S. 11/12).<br />

Daheim/ Schönbauer (bei Galuske 2002, S.34) führen folgende Definition des Begriffes<br />

an:<br />

„<strong>Arbeit</strong>sgesellschaft – das bezeichnet einen Typ von Gegenwartsgesellschaften, in denen<br />

die Vergesellschaftung wesentlich über <strong>Erwerbsarbeit</strong> erfolgt: Die Menschen sind<br />

für ihren Lebensunterhalt darauf angewiesen, zumeist unselbständig Vollzeit erwerbstätig<br />

zu sein. Die Erwerbsverhältnisse, die sie eingehen, sind durch eine Vielzahl von<br />

gesellschaftlichen Verhältnissen verflochten; nicht zuletzt definieren Leistungswerte<br />

Respektabilität <strong>und</strong> legitimieren soziale Ungleichheit. <strong>Erwerbsarbeit</strong> selbst hat materielle<br />

<strong>und</strong> sozialkulturelle Wirkungen, die in die anderen Lebensbereiche ausstrahlen <strong>und</strong><br />

auch nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben noch spürbar sind; sie prägt<br />

Weltbild <strong>und</strong> Selbstbild der <strong>Arbeit</strong>enden <strong>und</strong> ist die Gr<strong>und</strong>lage ihrer Identität.“<br />

Die in den Kap. I 1.1.1 <strong>und</strong> I 1.1.2 angesprochenen Aspekte finden wir in dieser Definition<br />

als Merkmale der <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft wieder.<br />

Dabei ist der Begriff der <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft eng mit der Vorstellung vom so genannten<br />

„Normalarbeitsverhältnis“ verknüpft. Durch die strukturellen Vorgaben der kapitalisti-<br />

15


Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong><br />

schen Wirtschaftsordnung mit der auf Massenproduktion <strong>und</strong> Massenkonsum ausgerichteten<br />

Industrie <strong>und</strong> der als <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft konstruierten staatlichen Ordnung<br />

(soziales Versicherungssystem), kurz der sozialen Marktwirtschaft, wurde die Anpassung<br />

der Individuen an die „Normalitätsfiktion“ (Bonß 2002, S.9) weitgehend alternativlos<br />

(vgl. Galuske 2002, S.69). Es „wird nicht nur Reichtum produziert, sondern auch ein<br />

bestimmter Mensch, der Menschentyp, den die <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft braucht: der normalisierte-normierte<br />

Mensch, der dieser Gesellschaft entspricht“ (Gil bei Galuske 2002,<br />

S.35). Der wohlfahrtsstaatlich „abgefederte“ Kapitalismus wird auch als „Fordismus“<br />

bezeichnet (vgl. ebd., S.110).<br />

Normalarbeitsverhältnis meint: Berufseintritt nach einer Ausbildung in jungen Jahren,<br />

einer darauf folgenden kontinuierlichen Beschäftigung in Vollzeit bis zum Renteneintritt<br />

<strong>und</strong> der damit endenden beruflichen Aktivität. Hiermit korreliert z. B. das deutsche Rentensystem,<br />

das nur demjenigen die vollen Rentenansprüche zusichert, der diesen Weg<br />

gegangen ist. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass diese Normalität, oder vielleicht<br />

besser Norm für männliche Gesellschaftsmitglieder galt, während die Norm(alität)<br />

für Frauen die Hausfrauen- <strong>und</strong> Mutterrolle vorsah. Das fordistische Modell des Konsumkapitalismus<br />

zeitigte eben auch Folgen in der Sphäre der Reproduktion. Dabei ist<br />

ein „Standbein des Fordismus neben der Verallgemeinerung von Konsum <strong>und</strong> Lohnarbeit<br />

die Durchsetzung der Kleinfamilie“ (ebd., S. 67). Für Frauen galten lange Zeit der<br />

Beruf <strong>und</strong> die <strong>Arbeit</strong> des Mannes indirekt in der oben beschriebenen Weise mit: Existenzsicherheit,<br />

Status <strong>und</strong> Identität wurden hierüber erlangt.<br />

Beide Begriffe, <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft <strong>und</strong> Normalarbeitsverhältnis, treffen die Realität im<br />

vom Wiederaufbau geprägten Nachkriegsdeutschland relativ gut. <strong>Arbeit</strong> war nötig, um<br />

die durch den Krieg zerstörte Infrastruktur wiederaufzubauen. Sie hatte aber nicht nur<br />

pragmatische Gründe, sondern bot eine moralisch-ethische Projektionsfläche für Sinn<br />

<strong>und</strong> wurde zum wichtigsten F<strong>und</strong>ament einer neuen kollektiven Identität. „Somit kann<br />

die B<strong>und</strong>esrepublik für die ersten r<strong>und</strong> 30 Jahre ihres Bestehens primär als <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft<br />

charakterisiert werden“ (Fromme 2001, 616). Nochmals zusammengefasst<br />

die wesentlichen Kennzeichen dieser Epoche: „Verallgemeinerung von Lohnarbeit,<br />

Massenproduktion, Massenkonsum, Kleinfamilie als Reproduktionseinheit, Standardisierung<br />

von Lebensläufen <strong>und</strong> Ausbau sozialer Sicherungssysteme“ (Galuske 2002,<br />

S.68).<br />

Bisher völlig unberücksichtigt geblieben ist die Bedeutung der <strong>Arbeit</strong> im <strong>Arbeit</strong>er- <strong>und</strong><br />

Bauern-Staat DDR. Da wir als Untersuchungsgegenstand bewusst eine Einrichtung in<br />

den neuen B<strong>und</strong>esländern ausgewählt haben, möchten wir hier in einem kleinen Exkurs<br />

das Verhältnis zur <strong>Arbeit</strong> in der ehemaligen DDR nachzeichnen. Oskar Negt<br />

16


Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong><br />

schreibt: „Die DDR war eine planwirtschaftlich durchorganisierte <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft in<br />

einem Land, für dessen Bevölkerung Fleiß, autoritäre Folgebereitschaft <strong>und</strong> Disziplin<br />

nie ein Problem gewesen sind“ (2001, S. 684). Sie „war eine <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft – unter<br />

Abzug aller gerade auch durch die <strong>Arbeit</strong>erbewegung erkämpften politischen <strong>und</strong><br />

persönlichen Rechte, die dem einzelnen ermöglichen, Gefühle des Protestes genauso<br />

zum Ausdruck zu bringen wie Zustimmung, wenn es um die den öffentlichen Raum berührenden<br />

Fragen des eigenen Lebenszusammenhangs geht“ (ebd., S.685). <strong>Arbeit</strong> war<br />

in der DDR Teil der staatlichen Ideologie; in der Form von staatlich organisierter <strong>und</strong><br />

garantierter <strong>Erwerbsarbeit</strong> war es dem Staat möglich, <strong>Arbeit</strong> zum Sozialisationsmedium<br />

schlechthin zu machen. Wolfgang Engler (2005, S.53) beschreibt unter der Kapitelüberschrift<br />

„die Spinne <strong>Arbeit</strong>“ die Wolfener Filmfabrik, genau jene Fabrik, die für den<br />

Stadtteil prägend war, in dem heute das Kreativzentrum liegt (siehe auch Kap. II 3.1.2).<br />

„Die <strong>Arbeit</strong>sstelle bettete die Menschen in stabile soziale Beziehungen sowie in ein<br />

dichtes Geflecht gemeinschaftlicher Aktivitäten <strong>und</strong> individuell abrufbarer Dienstleistungen<br />

ein“ 6 . Müller (2003, S.9) schreibt in ihrem Text über Wolfen-Nord: „Der <strong>Arbeit</strong>splatz<br />

war Lebenswelt“. Die so erzeugte Bindungskraft der <strong>Arbeit</strong> hatte durchaus widersprüchliche<br />

Aspekte, wie Negt feststellt (vgl. 2001, S.684 ff.). Einerseits schuf sie ein<br />

„sinnvolles Kollektiv“, ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das heute in „ostalgischer Manier“<br />

gerne heraufbeschworen wird, andererseits folgte aus dem Abgeschnitten-Sein<br />

von Freiheitsrechten eine Verödung. Müller (2003, S.9) beschreibt, dass das „Prinzip<br />

Fremdversorgung“ zwangsläufig für eine soziale <strong>und</strong> kulturelle Entmündigung der <strong>Arbeit</strong>erschaft<br />

sorgte. Engler (2005, S.53) hält fest: „Als die Betriebe schlossen, kam den<br />

Menschen daher weit mehr abhanden als nur die bloße <strong>Arbeit</strong> Gelegenheit <strong>und</strong> Antrieb<br />

zu kollektiven wie persönlichen Unternehmungen.“ Die vergesellschaftende Kraft der<br />

<strong>Arbeit</strong> wirkte durchaus auch jenseits des Kapitalismus, sogar in spezifisch verstärkter<br />

<strong>und</strong> verlängerter Weise, da die Zweite Moderne in der DDR sozusagen erst mit der<br />

Wende Einzug halten konnte.<br />

1.2 Das Ende der <strong>Erwerbsarbeit</strong>?<br />

In den 1970er Jahren begannen sich erstmals Grenzen des Wachstums abzuzeichnen,<br />

die Endlichkeit der Ressourcen rückte durch die Ölkrisen ins Bewusstsein der Menschen<br />

<strong>und</strong> es traten Sättigungserscheinungen am Markt auf (vgl. Degele/ Dries, S. 16).<br />

Die Folge war, nach einer Periode von nahezu Vollbeschäftigung, eine steigende <strong>Arbeit</strong>slosenzahl.<br />

6 Engler führt eine Liste der betriebszugehörigen Einrichtungen auf, die deutlich macht, dass es<br />

sich um eine „R<strong>und</strong>umversorgung“ in allen Lebensbereichen handelte: sozialer, kultureller, materieller<br />

Bereich.<br />

17


Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong><br />

Ralf Dahrendorf formulierte auf dem 21. Soziologentag 1982 das Schlagwort von der<br />

„Krise der <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft“ (Dahrendorf bei Berger 2001, S.73). Unter dem Eindruck<br />

immer weiter steigender <strong>Arbeit</strong>slosenzahlen in fast allen Industrienationen erneuerte<br />

Jeremy Rifkin (2004 [1995]) Mitte der 1990er Jahre die Prognose vom „Ende<br />

der <strong>Arbeit</strong>“ infolge der immer weiter getriebenen Automatisierung in allen Sektoren <strong>und</strong><br />

meint das bevorstehende Ende der <strong>Erwerbsarbeit</strong> im oben beschriebenen klassischen<br />

Sinne. Unter dem Titel „The Employment Dilemma and the Future of Work“ legten Orio<br />

Giarini <strong>und</strong> Patrick Liedtke 1997 dem Club of Rome eine Analyse der Entwicklungen<br />

des globalen <strong>Arbeit</strong>smarktes vor <strong>und</strong> das Thema wurde in die Agenda der gr<strong>und</strong>legenden<br />

Themen der Gegenwart aufgenommen.<br />

Handelt es sich nun um eine Krise der <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft, die in den Idealen der ersten<br />

Moderne, (Vollbeschäftigung <strong>und</strong> Normalbiografie) festhält, die durch Anpassung<br />

der Menschen an neue Produktions- <strong>und</strong> Wirtschaftsbedingungen überw<strong>und</strong>en werden<br />

kann? Oder naht tatsächlich durch immer weiter gesteigerte Produktivität in der Zweiten<br />

Moderne ein Ende der <strong>Erwerbsarbeit</strong>, bzw. kommen wir zu Bedingungen im Bereich<br />

der <strong>Erwerbsarbeit</strong>, die es nahelegen, eine „neue <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft“ zu denken,<br />

in der die unterschiedlichen Tätigkeitsformen neu bewertet <strong>und</strong> verteilt werden? Was<br />

hat sich im letzten Viertel des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts für ein Wandel vollzogen, was sind seine<br />

Kennzeichen <strong>und</strong> ist er bereits abgeschlossen oder stecken wir noch mitten im Übergang?<br />

Um zu Antworten auf diese Fragen zu kommen, werden wir zunächst allgemeine Tendenzen<br />

des gesellschaftlichen Wandels aus soziologischer Perspektive betrachten<br />

(Kap. I 1.2.1). Danach werden wir auf die Veränderungen in der <strong>Arbeit</strong>swelt in den letzten<br />

30 Jahren eingehen (Kap. I 1.2.2). Der Schlagworte gibt es diesem Zusammenhang<br />

unübersichtlich viele: Globalisierung, Individualisierung, Dienstleistungsgesellschaft,<br />

digitale Revolution, Turbokapitalismus <strong>und</strong> Flexibilisierung (…die Liste ist damit<br />

nicht vollständig). Um uns nicht im Dickicht der Begriffe zu verlieren, greifen wir die in<br />

Kap. I 1.1.2 verwendete Untergliederung nach Veränderungen im Bereich der Organisation,<br />

des Charakters <strong>und</strong> des (Stellen-)Wertes der <strong>Arbeit</strong> auf. Uns ist dabei bewusst,<br />

dass die drei Elemente sich selbstverständlich gegenseitig bedingen <strong>und</strong> beeinflussen,<br />

entscheiden uns aber dafür, weil es uns so einfacher scheint, die Entwicklungslinien<br />

getrennt nachzuvollziehen. Trennscharfe Zuordnungen sind dabei aber nicht möglich.<br />

Die genannten Schlagworte werden in den Ausführungen im Kontext aufgegriffen <strong>und</strong><br />

erläutert.<br />

Abschließend werden wir die gegenwärtige <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft nochmals als Ganzes<br />

betrachten <strong>und</strong> die Frage der Krise oder ihres Endes wieder aufgreifen (Kap. I 1.2.3).<br />

18


1.2.1 Kennzeichen der Zweiten Moderne<br />

Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong><br />

Ulrich Beck analysiert seit Mitte der 1980er Jahre die gesellschaftlichen Veränderungen<br />

im Prozess der Modernisierung. Er zeichnet in seinem Buch über die Risikogesellschaft<br />

(vgl. 1986) den Weg unserer Gesellschaft in eine riskante Moderne nach. Kennzeichen<br />

dieser Risikogesellschaft ist ein Verlust an traditionellen Einbindungen,<br />

Rollenmustern <strong>und</strong> Verpflichtungen, der neue Freiheiten aber auch neue Risiken birgt<br />

(siehe hierzu auch unten: Individualisierung <strong>und</strong> Globalisierung). Becks Gesellschaftsanalyse<br />

findet in die Modernisierungstheorie der Ersten <strong>und</strong> der Zweiten Moderne Eingang.<br />

Die Terminologie „Erste Moderne“ <strong>und</strong> „Zweite Moderne“ verweist dabei auf zwei<br />

Dinge: Erstens, dass es „die Moderne“ gibt, d. h. dass sowohl in der Ersten als auch in<br />

der Zweiten Moderne Modernität eine zentrale gesellschaftliche Kraft ist, also durch rationales<br />

Handeln erzeugter Fortschritt, Erneuerung <strong>und</strong> Wandel. Zweitens verweist die<br />

Verwendung dieser Begriffe auf eine Kontinuität zwischen Erster <strong>und</strong> Zweiter Moderne<br />

<strong>und</strong> postuliert nicht einen vollständigen Bruch, wie der Begriff Postmoderne. Der Begriff<br />

Zweite Moderne postuliert eine „Verflechtung von Bruch <strong>und</strong> Kontinuität“ (Beck/ Lau<br />

2004, S.20). Der Unterschied von Erster <strong>und</strong> Zweiter Moderne liegt darin, dass die modernen<br />

Gesellschaften, insbesondere im letzten Drittel des Jahrh<strong>und</strong>erts, einem rapiden,<br />

radikalisierten Modernisierungsschub unterliegen, in dessen Rahmen die selbstverständlich<br />

gewordenen F<strong>und</strong>amente der Ersten Moderne Nationalstaat, Sozialstaat,<br />

<strong>Arbeit</strong>sgesellschaft, Biografiemuster wie z. B. das oben angeführte Normalarbeitsverhältnis<br />

etc., an Tragfähigkeit verlieren. Auf die Dimension der <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft bezogen<br />

bedeutet das: Die Idee der Vollbeschäftigung verliert in der Zweiten Moderne an<br />

Überzeugungskraft 7 (vgl. Beck 1999, S.28). Die Folge der Modernisierung, nämlich die<br />

Steigerung der Produktivität, wird zum Problem der steigenden <strong>Arbeit</strong>slosigkeit <strong>und</strong><br />

stellt damit die Leitideen der Modernisierung selbst, nämlich Normalbiografie <strong>und</strong> Vollbeschäftigung<br />

in Frage. Im Begriff der reflexiven Moderne wird aufgegriffen, dass die<br />

Moderne in dieser Weise auf sich selbst zurückgeworfen wird.<br />

In diesem Prozess sieht Beck nicht das Ende der Moderne <strong>und</strong> damit den Beginn einer<br />

Nachmoderne, sondern im Gegenteil deren Radikalisierung oder Vervollkommnung<br />

(Galuske 2002, S. 39).<br />

Individualisierung <strong>und</strong> Globalisierung<br />

Die Veränderungen auf den nationalen <strong>Arbeit</strong>smärkten geschehen auch im Zusammenhang<br />

mit anderen Tendenzen, die mit dem Prozess der Modernisierung einherge-<br />

7 Becks Sichtweisen sind dabei theoriegeleitet, er meint damit, dass es hier um eine Diskussion<br />

auf wissenschaftlicher Ebene geht, die nicht unbedingt in der Weise im Alltag der Menschen geführt<br />

wird. Das Modell der Vollbeschäftigung verliert in der Lesart der Zweiten Moderne an Überzeugungskraft.<br />

19


Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong><br />

hen: Globalisierung <strong>und</strong> Individualisierung. Der Begriff der Individualisierung muss differenziert<br />

gesehen werden, d. h. in ihm vereinen sich positive <strong>und</strong> negative Aspekte.<br />

Gerade am Beispiel der <strong>Arbeit</strong>steilung lässt sich dies gut erläutern. Je ausgeprägter<br />

<strong>Arbeit</strong>steilung ist, umso individualisierter (spezialisierter) entfalten Menschen Individualität<br />

oder Eigenheit, „sind aber gleichzeitig in diesem individualisierten Zustand immer<br />

stärker (sozialstrukturell gesehen) aufeinander angewiesen“ (Böhnisch/ Arnold/ Schröer<br />

1999 bei Galuske 2002, S. 44). Individualisierung meint nach Beck (vgl. 1986) dabei<br />

zugleich die Herauslösung von Individuen aus traditionellen Bindungen wie z. B. familiären<br />

Strukturen <strong>und</strong> den Verlust von handlungsleitenden Sicherheiten wie z. B. bestimmten<br />

gesellschaftlich getragenen Normen oder akzeptierten Rollenvorbildern. All<br />

dies bewirkt einerseits einen Gewinn an Freiheit <strong>und</strong> Wahlmöglichkeiten, eine neue<br />

Vielfalt von Lebensstilen wird möglich (Pluralisierung der Lebensstile). Die andere Seite<br />

der Medaille sind die neuen Unsicherheiten <strong>und</strong> Risiken: Ich kann mich nicht nur<br />

selbst entscheiden, ich muss es auch tun <strong>und</strong> muss somit auch die Konsequenzen<br />

meiner eigenen biografischen Entscheidungen tragen. Da das eigene Leben jedoch im<br />

Kontext von zahlreichen institutionellen Vorgaben gestaltet werden muss, entstehen<br />

neue Kontroll- <strong>und</strong> Reintegrationsmechanismen, die aber als kollektive Muster verschleiert<br />

bleiben. In der pluralisierten Gesellschaft entstehen neue soziale Ungleichheiten.<br />

Die Risiken sind dabei scheinbar individualisiert, ein Scheitern wird als persönliches<br />

Scheitern erlebt. Dies trifft auch <strong>und</strong> gerade auf die Situation am <strong>Arbeit</strong>smarkt zu.<br />

Die entstehenden Individuallagen sind durch <strong>und</strong> durch arbeitsmarktabhängig. Die jeweilige<br />

Situation des Einzelnen wird also bestimmt durch den unvermeidlichen Bezug<br />

zum <strong>Arbeit</strong>smarkt, <strong>und</strong> dies wird von Einzelnen aber nicht als gesellschaftliches, sondern<br />

als individuelles Problem erfahren. <strong>Arbeit</strong>slosigkeit ist zwar ein strukturelles Problem,<br />

wird aber häufig nicht als solches wahrgenommen, es erfolgt häufig eine Schuldzuschreibung<br />

(Selbst- <strong>und</strong> Fremdzuschreibung) an das Individuum. Beck schreibt:<br />

„Verschärfung <strong>und</strong> Individualisierung sozialer Ungleichheiten greifen ineinander. In der<br />

Konsequenz werden Systemprobleme in persönliches Versagen abgewandelt <strong>und</strong> politisch<br />

abgebaut“(1986, S. 117/118).<br />

Die zweite ebenfalls im Zusammenhang mit Modernisierung zu sehende Tendenz ist<br />

Globalisierung. Der Begriff wird in vielfältigen Kontexten <strong>und</strong> sowohl in wissenschaftlichen<br />

als auch in Alltagsdiskursen gebraucht. Eine exakte Bestimmung scheint uns hier<br />

weniger relevant als die stichwortartige Darstellung der Entwicklungstrends, die sich<br />

dahinter verbergen. Von Globalisierung wird gesprochen im Zusammenhang mit:<br />

• der verkehrs- <strong>und</strong> informationstechnischen (oder digitalen) Revolution; Raum <strong>und</strong><br />

Zeit verlieren an Bedeutung, die Welt wird zum „global village“<br />

20


Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong><br />

• einer wachsenden Bedeutung von transnationalen Akteuren wie EU, UN <strong>und</strong><br />

NGOs<br />

• weltweiten Handels- <strong>und</strong> Finanzströmen, weltweit vernetzten wirtschaftlichen Beziehungen,<br />

in denen sich machtvolle multinationale Konzerne herausgebildet haben<br />

(vgl. Galuske 2002, S.42)<br />

• einem zunehmend global ausgerichteten <strong>Arbeit</strong>smarkt<br />

Diese Trends ziehen Veränderungen auf verschiedenen Ebenen nach sich, die letztlich<br />

bis in die alltägliche Lebensführung hineinwirken. Am Beispiel der Sanierung des Unternehmens<br />

VW in den 1990er Jahren konnten wir das beobachten (siehe auch Kap. I<br />

1.2.2). „Der Staat sieht sich unter Globalisierungsbedingungen (…) einer Vielzahl technischer<br />

<strong>und</strong> ökonomischer Sachzwänge ausgesetzt, die seine politische Substanz erodieren“<br />

(Degele/ Dries 2005, S.189). Nina Degele <strong>und</strong> Christian Dries weisen (unter<br />

Verweis auf Görg 2004) darauf hin, dass „gerade die Hartz-Reformen der deutschen<br />

Sozialversicherung (…) nicht zuletzt mit dem Hinweis auf globale ökonomische Sachzwänge<br />

legitimiert [werden], gegen die der nationale Wirtschaftsraum sich nicht verschließen<br />

könne“ (ebd., S. 180).<br />

Der Zusammenhang globaler Vorgänge <strong>und</strong> lokaler bzw. individueller Folgen wird hierin<br />

deutlich 8 – in diesem Sinne wird häufig auch von Globalisierungsgewinnern <strong>und</strong> -<br />

verlierern gesprochen, wobei letztere gerade an der (Re-)Integration im Bereich der<br />

<strong>Erwerbsarbeit</strong> aufgr<strong>und</strong> lokaler Bedingungen scheitern. Umgekehrt gesprochen heißt<br />

das, die Verantwortung für das Erbringen der notwendig gewordenen Anpassungsleistung,<br />

nämlich flexibel auf wechselnde Anforderungen zu reagieren, sich immer wieder<br />

neu zu orientieren, weiterzuqualifizieren, mobil zu sein, um so integriert zu bleiben,<br />

liegt beim Individuum selbst.<br />

1.2.2 <strong>Arbeit</strong> in der postfordistischen Wirtschaftsordnung<br />

Die Krise des Fordismus <strong>und</strong> damit der Vollbeschäftigung begann in den späten<br />

1960er Jahren. Mit der Ölkrise 1973/74 ging die Nachfrage nach Gütern zurück, was<br />

zu Gewinneinbußen der Unternehmen <strong>und</strong> zu Entlassungen führte. Neue Anforderungen<br />

an die Wirtschaft wie eine zunehmend individualisierte Nachfrage <strong>und</strong> beschleunigtes<br />

Veralten von Produkten erforderten immer schnellere Innovation <strong>und</strong> flexiblere<br />

Produktionsweisen. „Die Konkurrenzfähigkeit erforderte die größtmögliche Mobilität,<br />

8 Der dialektischen Struktur, also den lokalen Auswirkungen von Globalisierungsprozessen, soll<br />

mit dem Begriff Glokalisierung nach Robertson (1992; 1998 bei Degele/ Dries 2005, S.194 f.)<br />

Rechnung getragen werden.<br />

21


Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong><br />

Anpassungsfähigkeit, <strong>und</strong> Geschwindigkeit beim Entwerfen <strong>und</strong> Produzieren von Neuheiten“<br />

(Gorz 1999, S.41), sie erforderte es sogar, gezielt durch neue Moden die Kurzlebigkeit<br />

von Produkten noch zu erhöhen, um die Absatzfähigkeit der Waren zu erhalten<br />

bzw. zu steigern. Ein „Rezept“ zur Steigerung der Gewinne durch Steigerung der<br />

Produktivität hatten die Japaner in der Autoproduktion bei Toyota entwickelt. Das zunächst<br />

unter dem Namen Toyotismus exportierte Fertigungs- <strong>und</strong> Managementsystem<br />

basierte im Vergleich zum Fordismus auf revolutionär gegensätzlichen Annahmen. Das<br />

Zitat eines japanischen Managers bringt es auf den Punkt: „Für die Amerikaner gibt es<br />

die, die denken, <strong>und</strong> die, die arbeiten. Bei uns sind die, die arbeiten, selbst diejenigen,<br />

die denken, <strong>und</strong> so benötigen wir nur den halben Personalstand (Gorz 1999, S.44). Im<br />

Gegensatz zur pyramidenförmigen Hierarchie setzte das Manage$ment auf Teamwork<br />

<strong>und</strong> Selbstverwaltung des Produktionsablaufs, also auf mehr Verantwortung auf Seiten<br />

der <strong>Arbeit</strong>er. Erklärtes Ziel war auch die stetige Verbesserung der Produkte <strong>und</strong> des<br />

Prozesses durch Ausschöpfung des Wissens <strong>und</strong> Könnens der <strong>Arbeit</strong>er (kai-zen Methode).<br />

Weiteres Merkmal des Toyotismus ist die „schlanke“ Produktion, die durch<br />

sparsamen Ressourcenverbrauch, geringe Lagerbestände <strong>und</strong> die Produktion „just in<br />

time“, die Fixkosten senkt.<br />

Dadurch, dass die Unternehmen zunehmend in internationale Konkurrenz traten, die<br />

Warenmärkte immer mehr weltumspannenden Charakter annahmen, steigerte sich der<br />

Wettbewerb um die größtmögliche Produktivität wie von selbst <strong>und</strong> es setzte ein Umstrukturierungsprozess<br />

in den Wirtschaftsunternehmen ein, der in eine Produktionsweise<br />

<strong>und</strong> Wirtschaftskultur mündete, die seit Mitte der 1980er Jahre unter dem Namen<br />

Postfordismus gefasst wird.<br />

Die Umgestaltung kam einem Paradigmenwechsel gleich, sie verlief nicht gleichförmig<br />

oder gleichzeitig, wir beschreiben einen Prozess, der über die letzten 30 Jahre die industrialisierte<br />

Welt mehr <strong>und</strong> mehr veränderte <strong>und</strong> der im Laufe dieser Zeit an Breite<br />

<strong>und</strong> Tiefe gewonnen hat. Auf einzelne Branchen oder Regionen einzugehen, ist in diesem<br />

Rahmen nicht möglich, wir beschränken uns hier auf eine Darstellung der allgemeinen<br />

Phänomene der postfordistischen Modernisierung der <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft.<br />

Veränderte Organisation der <strong>Arbeit</strong><br />

Zentrales Element der Umgestaltung ist die Flexibilisierung, die es den Unternehmen<br />

erlauben soll, auf die Wechselhaftigkeit des Marktes möglichst rasch zu reagieren. In<br />

den 1980er Jahren setzte eine verstärkte Deregulierung in der Sozial- <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>smarktpolitik<br />

ein, die zur Folge hatte, dass sich eine Reihe von diskontinuierlichen, befristeten<br />

oder Teilzeitbeschäftigungsformen entwickeln konnte (vgl. Berger 2001, S.<br />

70). Auch Leiharbeit spielt in den letzten 15 Jahren eine immer größere Rolle (vgl. Ga-<br />

22


Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong><br />

luske 2002; S.160, Beck 1999, S. 86) 9 . In Bezug auf die weiter bestehende gesell-<br />

schaftliche Orientierung am Normalarbeitsverhältnis werden diese Beschäftigungsformen<br />

auch als atypisch bezeichnet. Galuske (2002, S. 160) fasst diese Entwicklungen<br />

in Anlehnung an Matthies u. a. unter dem Begriff der externen Flexibilisierung.<br />

Zweite Komponente der Flexibilisierung ist die so genannte interne Flexibilisierung, die<br />

sich in unzähligen neuen <strong>Arbeit</strong>szeitmodellen <strong>und</strong> neuen Organisationsformen von <strong>Arbeit</strong><br />

ausdrückt (Galuske 2002, S. 159; Beck 1999, S. 80ff.; Sennet, S. 73 u. a.). Gleitzeit,<br />

Wochen-, Monats- <strong>und</strong> Jahreskonten, 4-Tage Woche, Heimarbeit werden immer<br />

häufiger zur Normalität, zusammengefasst unter dem Begriff flexible <strong>Arbeit</strong>szeit.<br />

Stellvertretend für diese Entwicklung in Deutschland kann das Volkswagenwerk Wolfsburg<br />

angeführt werden, das in den 1990er Jahren auf eine neue Unternehmensphilosophie<br />

umschwenkte: VW wurde zum „atmenden Unternehmen“: „Atmen durch Zeit<br />

heißt maximale Gleitzeit am Tag, 28,8 bis 38,8 St<strong>und</strong>en Atmungsspielraum pro Woche<br />

mit Flexibilitätskaskade, Leistungsbeitrag zur Beschäftigungssicherung, Zeitsouveränität<br />

<strong>und</strong> das Zeitwertpapier ‚Beschäftigungsscheck’ auch für den Mehrjahresausgleich<br />

(Hartz 1996 bei Galuske 2002, S.162). Beck formuliert: „Es gibt inzwischen fast so viele<br />

<strong>Arbeit</strong>szeitmodelle wie Unternehmen“ (1999, S.80).<br />

Das flexible Unternehmen ist in der Lage, flexibel zu arbeiten <strong>und</strong> zu liefern (Galuske<br />

2002, S.157). Externe <strong>und</strong> interne Flexibilisierung sorgen dabei für eine geringere Bindung<br />

zwischen Unternehmen <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>nehmerIn, die „Versprechen“ des Normalarbeitsverhältnisses<br />

wie Dauerhaftigkeit (im Falle von Leiharbeit <strong>und</strong> Befristung) <strong>und</strong> ausreichendem<br />

Sozialversicherungsschutz (im Falle von geringfügiger Beschäftigung <strong>und</strong><br />

Scheinselbstständigkeit) werden immer mehr unterlaufen. André Gorz verglich die „ideale“<br />

Unternehmensform der postfordistischen Zeit mit einem Netzwerk: „Das Paradigma<br />

der hierarchischen Organisation wird durch das der Netzwerkstrukturen ersetzt,<br />

die an ihren Knotenpunkten selbstorganisierte Kollektive in loser Koppelung koordinieren,<br />

von denen keines das Zentrum bildet“ (Gorz 2000, S.46. H. i. O.) Zur Beschreibung<br />

dieser Tendenzen wurden Begriffe wie Turbokapitalismus oder flexibler Kapitalismus<br />

geprägt, die Eingang in die sozialwissenschaftliche Debatte gef<strong>und</strong>en haben.<br />

9 Da die eigenständige Bearbeitung von aktuellen statistischen Daten des Instituts für <strong>Arbeit</strong>smarkt<br />

<strong>und</strong> Berufsforschung den Rahmen der Diplomarbeit übersteigt, beziehen wir uns auf die<br />

Analysen von Galuske <strong>und</strong> Beck, die auf Daten aus den späten 1990er Jahren basieren. Interessant<br />

<strong>und</strong> aufschlussreich wäre die neueste Entwicklung nach den <strong>Arbeit</strong>smarktreformen <strong>und</strong><br />

unter dem Einfluss des aktuellen wirtschaftlichen Aufschwungs durchaus.<br />

Siehe zu Leiharbeit auch Rifkin 2004 [1995], S. 153 ff., der den noch stärkeren Trend <strong>und</strong> dessen<br />

Folgen in den USA beschreibt: „…gehen viele US-amerikanische Unternehmen dazu über,<br />

ihre Belegschaft in ein Zwei-Stufen-System einzugliedern. Eine Stammbelegschaft von Dauer-<br />

<strong>und</strong> Vollzeitbeschäftigten wird verstärkt durch Teilzeit- oder Zeitbeschäftigte.“ Dass der Trend<br />

zu mehr Leiharbeit sich offenbar auch in Deutschland fortsetzt, lässt ein Blick in die Jobbörse<br />

der Agentur für <strong>Arbeit</strong> zumindest plausibel erscheinen.<br />

23


Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong><br />

Galuske resümiert: „Im Zuge ihrer Modernisierung entledigt sich die kapitalistische <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft<br />

immer mehr jener Bremsen, die der geregelte Industriekapitalismus<br />

fordistischer Prägung dem Markt in Form von Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsrechten verordnet<br />

hat. Damit ist die <strong>Arbeit</strong> nicht am Ende, aber sie legt sich ein neues Gewand zu.<br />

Die <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft geht in ihr flexibles Stadium“ (Galuske 2002, S. 165).<br />

Veränderter Charakter der <strong>Arbeit</strong><br />

Der Paradigmenwechsel ist bereits in dem Zitat des japanischen Managers deutlich<br />

geworden. War der <strong>Arbeit</strong>er 10 im Fordismus allein ausführende Kraft in einem zergliederten<br />

<strong>Arbeit</strong>sprozess gewesen <strong>und</strong> dadurch bewusst von Kreativität <strong>und</strong> produktiven<br />

Möglichkeiten abgeschnitten, so wurde er nun (auf)gefordert Verantwortungsbewusstsein<br />

für das Ganze zu übernehmen (vgl. Engler 2005, S.62). Die <strong>Arbeit</strong> setzt eine höhere<br />

Qualifizierung voraus <strong>und</strong> es wird in neuen Strukturen der Teamarbeit gearbeitet.<br />

Diese Veränderungen bringen auf der einen Seite den <strong>Arbeit</strong>er wieder näher an das<br />

Produkt, vermindern die Entfremdung, verhindern die Abstumpfung, „wecken geistige<br />

Interessen in der <strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> über sie hinaus, fordern <strong>und</strong> fördern die Zuständigkeit<br />

auch jenseits des persönlichen Aufgabenkreises, schaffen Handlungs- <strong>und</strong> Spielräume,<br />

die es so bislang nicht gab“ (ebd., S. 65) 11 . Die andere Seite der Medaille sind die<br />

gestiegenen Anforderungen an die <strong>Arbeit</strong>er. Diese liegen in höheren fachlichen Anforderungen,<br />

Rifkin zeichnet das Szenario von einer „neuen Elite der Wissensarbeiter“<br />

(2004 [1995], S. 159). Die wirtschaftliche Lage der weniger qualifizierten <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen<br />

wird sich verschlechtern, für diese wird häufig die Prämisse „Hauptsache überhaupt<br />

<strong>Arbeit</strong>“ (Redler 1999a, S. 29) gelten.<br />

Erhöhte Anforderungen gehen auch mit der flexiblen Umgestaltung von <strong>Arbeit</strong>smarkt<br />

<strong>und</strong> Beschäftigungsverhältnissen, mit immer mehr individuellen Vereinbarungen zwischen<br />

<strong>Arbeit</strong>geberInnen <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen einher. Beispielhaft sei hier die Umstrukturierung<br />

im Bereich der Zeiterfassung angeführt: Die <strong>Arbeit</strong>szeitvorgabe wurde<br />

häufig durch eine <strong>Arbeit</strong>szielvorgabe ersetzt, Outputorientierung lenkt den Marktdruck<br />

direkt bis zum/r einzelnen MitarbeiterIn (vgl. Galuske 2002, S. 163). Die Zielvorgaben<br />

dabei sind dergestalt, dass sie selten leicht erreichbar sind (vgl. Sennet 1998, S. 71).<br />

Nach Bourdieus Einschätzung soll die Delegation von Verantwortung die Selbstausbeutung<br />

der Angestellten gewährleisten (vgl. Bourdieu 1998 bei Galuske 2002, S. 165).<br />

10 Hier verwenden wir die männliche Form stellvertretend, da es die Norm <strong>und</strong> den Geist dieser<br />

Zeit widerspiegelt.<br />

11 Sennet teilt diese Ansicht nicht: „Flachere Hierarchien <strong>und</strong> Verschlankung [sind] alles andere<br />

als dezentralisierende Verfahren“ (1998, S.69). Durch neue Informationstechniken seien die <strong>Arbeit</strong>er<br />

stärkerer Kontrolle ausgesetzt, <strong>und</strong> er sieht darin eine neue subtilere Form der Machtverteilung<br />

innerhalb der Organisation. Er weist auf die Herstellung von Einzelteilen von Produkten<br />

auf dem globalen Markt hin. Die Zerstückelung des <strong>Arbeit</strong>sprozesses durch <strong>Arbeit</strong>steilung setze<br />

sich in anderer Weise fort.<br />

24


Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong><br />

Die Angst vor <strong>Arbeit</strong>slosigkeit ist der Motor für immer weitere Absenkung der Zumut-<br />

barkeitsgrenzen <strong>und</strong> zwar sowohl von staatlich-institutioneller Seite 12 , als auch der ei-<br />

genen inneren Grenzen dessen, was Menschen bereit sind (sein müssen) für einen<br />

bestimmten Lohn zu leisten.<br />

Die Technologieentwicklung <strong>und</strong> insbesondere die Digitalisierung bringen ebenfalls<br />

neue Anforderungen mit sich: Beck (1999, S.77). formuliert: „Digitalisierung ist am Ende<br />

mit einer neuen Art von Alphabetisierung gleichzusetzen: Wer die Computersprache<br />

nicht beherrscht, sieht sich aus dem Kreis gesellschaftlicher Kommunikation ausgeschlossen.“<br />

Gleichzeitig ermöglicht die kommunikative Vernetzung mit der ganzen Welt<br />

die Option, „zugleich hier <strong>und</strong> dort zu sein.“ Raum <strong>und</strong> Zeit werden in der <strong>Arbeit</strong>swelt<br />

mehr <strong>und</strong> mehr aufgehoben, es ist z. B. möglich, zu Hause zu sein <strong>und</strong> bei der <strong>Arbeit</strong>.<br />

Die seit der Industrialisierung erst herausgebildete Trennung der Sphären wird nun<br />

wieder aufgehoben, „als Reaktion darauf muss alltägliche Zeit verstärkt aktiv <strong>und</strong> reflexiv<br />

kontrollierend gestaltet <strong>und</strong> dabei letztlich eine je eigene Zeitordnung entwickelt<br />

werden“ (Jurczyk/ Voß 2000, S.151).<br />

Richard Sennet (1998, S. 85 f.) weist auf eine weitere Folge des Vormarschs des<br />

Computers oder computergesteuerter Anlagen für die <strong>Arbeit</strong>erInnen hin: Diese verkomplizieren<br />

die <strong>Arbeit</strong> nicht automatisch, je nach Einsatzfeld vereinfachen sie sie<br />

auch. Am Beispiel einer Bäckerei verdeutlicht Sennet seine Thesen. Er beschreibt zum<br />

einen große Erleichterungen im Bereich vormals körperlicher <strong>Arbeit</strong>, zum anderen aber<br />

stellt er eine neue Art der Entfremdung fest, die er „Unlesbarkeit“ nennt. „Inzwischen<br />

kommen die Bäcker nicht mehr mit den Zutaten der Brotlaibe in Berührung, da sie den<br />

gesamten Vorgang mit Hilfe von Bildschirmsymbolen überwachen (…). Brot ist ein<br />

Bildschirmsymbol geworden.(…) Also ist ihnen [den <strong>Arbeit</strong>skräften] ihre Tätigkeit nicht<br />

mehr in dem Sinne verständlich, dass sie wüssten, was sie eigentlich tun“ (ebd., S. 87).<br />

Mit der Globalisierung <strong>und</strong> Digitalisierung <strong>und</strong> immer stärkeren Automatisierung von<br />

<strong>Arbeit</strong>s- <strong>und</strong> Herstellungsprozessen haben die Komplexität <strong>und</strong> die Zergliederung von<br />

<strong>Arbeit</strong>sabläufen enorm zugenommen. Im wahrsten Sinne des Wortes sind Teilprozesse<br />

für die <strong>Arbeit</strong>enden nicht mehr greifbar <strong>und</strong> entziehen sich damit auch ein Stück weit<br />

der Einflussnahme <strong>und</strong> Steuerung. Der Kontakt zum Produkt geschieht, wenn überhaupt<br />

nicht mehr auf einer unmittelbaren (körperlichen) Ebene, sondern über das abstrakte<br />

Wissen darüber, womit die Firma ihr Geld verdient. Dies mag für einzelne Branchen<br />

stärker zutreffen als für andere. Die Tendenz zu dieser neuen Art der<br />

Entfremdung ist unseres Erachtens allgemeiner Art.<br />

12 siehe auch §121 SGB III. Zumutbare Beschäftigungen. (1) Einem <strong>Arbeit</strong>slosen sind alle seiner<br />

<strong>Arbeit</strong>sfähigkeit entsprechenden Beschäftigungen zumutbar, soweit allgemeine oder personenbezogene<br />

Gründe der Zumutbarkeit einer Beschäftigung nicht entgegenstehen.<br />

25


Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong><br />

Wert <strong>und</strong> Stellenwert der <strong>Arbeit</strong><br />

An der Norm der erwerbsmäßig ausgeübten Beschäftigung hat sich nicht viel geändert.<br />

Im Gegenteil, die Norm gilt inzwischen auch verstärkt für die zweite, nämlich weibliche<br />

Hälfte der Bevölkerung, „schließlich galt die <strong>Erwerbsarbeit</strong> als Weg zur Emanzipation<br />

von Frauen“ (Bührmann/ Diezinger/ Göckel 2000, S.11). Mit <strong>Erwerbsarbeit</strong> wird häufig<br />

nicht nur Gelderwerb verknüpft, nach wie vor sind soziale Integration <strong>und</strong> gesellschaftliche<br />

Teilhabe damit verb<strong>und</strong>en. In seiner Studie „Identitätskonstruktionen. Das Patchwork<br />

der Identitäten in der Spätmoderne“ gehen Heiner Keupp et. al. auf die Bedeutung<br />

der <strong>Erwerbsarbeit</strong> für die Identitätsentwicklung von Jugendlichen <strong>und</strong> jungen<br />

Erwachsenen ein: „Solange die Gesellschaft ein bestimmtes – an der Logik des Kapitals<br />

orientiertes – Verständnis von <strong>Erwerbsarbeit</strong> in das Zentrum ihrer gesellschaftlichen<br />

Organisation stellt, solange soziale Anerkennung <strong>und</strong> gesellschaftlicher Einfluss<br />

dadurch vermittelt werden, solange Produktivität, (materieller) Gewinn <strong>und</strong> Konsum vor<br />

allem in ihren quantitativen Dimensionen die herrschenden Werte dieser Gesellschaft<br />

sind, bleibt <strong>Erwerbsarbeit</strong> die wesentliche Schnittstelle, an der sich die einzelnen an<br />

dieser Gesellschaft beteiligen können. (…) Sie ist die Eintrittskarte in unsere Gesellschaft“<br />

(Keupp et. al 1999, S. 123 f.).<br />

<strong>Arbeit</strong> soll dabei auch Erfüllung sein, sie ist sogar stärker als im Fordismus Gr<strong>und</strong>lage<br />

für Identifikation, die Art der <strong>Arbeit</strong> definiert auch die persönliche Identität. Wer sein<br />

Leben erzählt, geht fast immer ausführlich auf die getane <strong>Arbeit</strong> ein, <strong>Arbeit</strong> wurde<br />

selbstbegründend <strong>und</strong> sinnstiftend (vgl. Kocka 2001, S.5). Der „Zwang“ zur Individualisierung<br />

findet seinen Ausdruck auch in dem Streben nach einem Traumberuf, in dem<br />

die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit stattfinden kann. Gleichzeitig sind der Zugang<br />

zum <strong>und</strong> Verbleib im „System <strong>Erwerbsarbeit</strong>“, geschweige denn zum/ im Traumberuf,<br />

durch die zuvor skizzierten höheren Anforderungen an Qualifizierung, Flexibilität<br />

<strong>und</strong> Mobilität <strong>und</strong> durch den <strong>Arbeit</strong>splatzmangel erschwert. Hierin verbirgt sich ein<br />

strukturimmanenter Widerspruch, der auf der individuellen Ebene gelöst werden muss.<br />

Der Wert der <strong>Arbeit</strong> bemisst sich dabei einerseits am Qualifikationsniveau, das für die<br />

Ausübung vorausgesetzt wird. Gering- <strong>und</strong> Unqualifizierte verdienen dabei häufig so<br />

wenig, dass der Job nicht ausreicht, um ein Auskommen zu haben, weshalb in<br />

Deutschland derzeit über Mindest- oder Kombilöhne diskutiert wird. Dagegen gibt es<br />

Gehaltsbereiche, die sich nur schwer mit einer Qualifikation oder realen Leistung in<br />

Verbindung bringen lassen bzw. wo, zynisch gesagt, die Leistung darin besteht, Unternehmen<br />

zu verschlanken <strong>und</strong> die Rendite des Unternehmens zu erhöhen (der Soziologe<br />

<strong>und</strong> Sozialphilosoph Oskar Negt in einem Interview. Goethe-Institut 2006, S.3.), d.<br />

h. konkret Stellen abzubauen bzw. Löhne zu drücken, wie es augenblicklich bei der Te-<br />

26


Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong><br />

lekom geschieht. Es ist uns bewusst, dass hier die beiden Enden der Lohnskala plakativ<br />

gegenübergestellt sind <strong>und</strong> dass zwischen diesen beiden Polen eine breit ausdifferenzierte<br />

„Mitte“ von Tätigkeiten mit entsprechender Entlohnung liegt. Es lässt sich aber<br />

unserer Ansicht nach verallgemeinernd vertreten, dass ausschlaggebend für die<br />

Lohnhöhe nicht die Frage ist, wie notwendig die zu erledigende <strong>Arbeit</strong> ist, sondern welchen<br />

Tauschwert sie auf dem Markt zu erzielen vermag.<br />

Der Wert der <strong>Arbeit</strong> bemisst sich außerdem immer noch an den Kategorien Männer<strong>und</strong><br />

Frauenarbeit. Auch wenn formal beiden Geschlechtern der Weg zu fast allen Berufen<br />

offensteht, so zeigt sich in der Realität, dass es „weibliche <strong>und</strong> männliche“ Berufe<br />

gibt, so genannte segregierte Berufe (der Anteil eines Geschlechts in dem Beruf liegt<br />

unter 30%), gibt. Männliche <strong>Arbeit</strong> wird durchweg höher bewertet <strong>und</strong> bezahlt als weibliche<br />

<strong>Arbeit</strong> 13 . Positionshierarchisch setzt sich die Segregation fort. Auch hier verbirgt<br />

sich ein Widerspruch: Die Verheißungen der Moderne legen nahe, alle Möglichkeiten<br />

stünden offen, strukturelle Hürden wirken jedoch unterschiedlich für die Geschlechter<br />

<strong>und</strong> die Folgen werden häufig dem Individuum selbst zugeschrieben.<br />

Die unterschiedliche Wertung der bezahlten <strong>und</strong> unbezahlten Tätigkeiten gilt auch heute<br />

noch. Dies zeigt u. a. die Tatsache, dass die Wirtschaftsleistung eines Staates am<br />

Bruttosozialprodukt gemessen wird, also an der Geldsumme, die die bezahlte produktive<br />

Leistung widerspiegelt <strong>und</strong> die unbezahlten Tätigkeiten außen vorlässt, sie werden<br />

schlicht nicht sichtbar (vgl. Giarini/ Liedtke 1998 S. 94). Auf der individuellen Ebene<br />

drückt sich dies in einem Verständnis aus, das lauten könnte: „Ich werde bezahlt, also<br />

habe ich gearbeitet. Das ist das COGITO der Lohnarbeitsgesellschaft“ (Engler 2004, S.<br />

103; Hervorh. i.O.). Dieselbe Tätigkeit hat einen anderen gesellschaftlichen Wert, je<br />

nachdem ob sie bezahlt ausgeübt oder unbezahlt geleistet wird, sie wird entweder dem<br />

produktiven oder dem nichtproduktiven Teil der <strong>Arbeit</strong> zugerechnet. Am Beispiel der<br />

Tätigkeit der Kindererziehung wird es deutlich: Wer (fremde) Kinder professionell erzieht,<br />

hat Einkommen <strong>und</strong> hat eigenständig Teil am System der sozialen Sicherung,<br />

wer eigene Kinder privat betreut <strong>und</strong> erzieht, ist bestenfalls über den Ehepartner abgesichert<br />

<strong>und</strong> ist finanziell gegenüber der Erzieherin benachteiligt 14 (vgl. Giarini/ Liedtke<br />

13 Das Einstiegsgehalt für eine FH-AbsolventInnen in Ingenieurberufen liegt derzeit bei ca.<br />

37.000 € - 39.000 €/ Jahr (www.ingenieurkarriere.de), das für SozialarbeiterInnen bei ca.<br />

32.700 € /Jahr (B<strong>und</strong>esagentur für <strong>Arbeit</strong> 2007 bei www.sueddeutsche.de). Soziologische Theorien<br />

feministischer Couleur sehen in der Abwertung der vorwiegend von Frauen ausgeübten<br />

Berufe die Produktion bzw. Reproduktion der hierarchischen Struktur des Geschlechterverhältnisses.<br />

Sobald Frauen einen <strong>Arbeit</strong>sbereich für sich „eroberten“, erfolgte dessen sukzessive<br />

Abwertung in Form geringerer Bezahlung, weshalb der Beruf für Männer unattraktiv wurde. Am<br />

Beispiel des Berufs des Sekretärs/ der Sekretärin kann diese Entwicklung gezeigt werden (vgl.<br />

Degele/ Dries, S. 215ff.).<br />

14 Wir sprechen hier nicht vom ideellen Wert, der den unbezahlten (meist Frauentätigkeiten) so<br />

gerne großzügig beigemessen wird. Das idealisierte Mutterbild hat auch im Jahr 2007 noch ve-<br />

27


Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong><br />

1998, S. 144). Wer nicht selbst erwerbstätig ist, <strong>und</strong> sei er oder sie dennoch tätig <strong>und</strong><br />

zum Wohlstand beitragend, hat auch kein Anrecht auf mehr als die staatliche Gr<strong>und</strong>versorgung,<br />

aus dem ihm oder ihr, sofern als „erwerbsfähig eingestuft“ nach dem Prinzip<br />

„fördern <strong>und</strong> fordern“ möglichst bald „herausgeholfen“ werden soll.<br />

Die Vorstellung von <strong>Erwerbsarbeit</strong> als sittlich-moralischer Verpflichtung <strong>und</strong> der Vorrang<br />

der Leistungsgerechtigkeit (im System der <strong>Erwerbsarbeit</strong>) wirken fort. Rifkin (2004<br />

[1995], S. 54) bringt den Wert der <strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> den Wert des Menschen in Zusammenhang<br />

<strong>und</strong> formuliert scharf: „Seit dem Beginn der Moderne bemisst sich der Wert eines<br />

Menschen am Marktwert seiner <strong>Arbeit</strong>skraft.“ In der Tat: Marktwert der <strong>Arbeit</strong>skraft,<br />

Einkommen <strong>und</strong> Statusgewinn bzw. -erhalt, sichtbar durch Konsummöglichkeiten, sind<br />

heute untrennbar verb<strong>und</strong>en (vgl. Bonß 2002, S.9).<br />

1.2.3 Die flexible <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft<br />

<strong>Arbeit</strong>sgesellschaft kann heute nicht ohne <strong>Arbeit</strong>slosigkeit besprochen werden. Seit<br />

den 1970er Jahren steigt das Niveau der <strong>Arbeit</strong>slosigkeit in den Industrieländern kontinuierlich<br />

auf immer neue Rekorde an. Dabei unterliegt die Kurve zyklisch konjunkturellen<br />

Schwankungen, es ist jedoch nicht zu übersehen, dass in jeder Konjunkturphase<br />

ein höherer Sockel an <strong>Arbeit</strong>slosen zurückblieb, als in der vorherigen. Unter diesem<br />

Eindruck scheinen sich die vormals prophetisch scheinenden Warnungen, dass der<br />

Erwerbsgesellschaft die <strong>Arbeit</strong> ausginge, zu bestätigen.<br />

Einige Wirtschafts-, Sozialwissenschaftler <strong>und</strong> auch Philosophen widmeten sich dem<br />

drängenden Thema. Wie bereits erwähnt, postulierte der Wirtschafts- <strong>und</strong> <strong>Soziale</strong>xperte<br />

Jeremy Rifkin 1995 (2004; 2005), dass die (Erwerbs-)<strong>Arbeit</strong> langfristig verschwinden<br />

würde. Die Folge des gewaltigen technologischen Fortschritts ist zunehmende Automatisierung<br />

<strong>und</strong> Rationalisierung <strong>und</strong> zwar über alle Branchen hinweg 15 Die immens gesteigerte<br />

Produktivität, die daraus resultiere, führe zu einem abnehmenden Volumen<br />

an als <strong>Erwerbsarbeit</strong> angebotenen Tätigkeiten auf dem <strong>Arbeit</strong>smarkt. Die zyklischen<br />

Krisen der Wirtschaft seien keine ausreichende Erklärung, vielmehr sei es so, dass<br />

letztendlich selbst „die billigste menschliche <strong>Arbeit</strong>skraft teurer ist als die Maschine“<br />

(Rifkin 2005, S.2). Wirtschaftswachstum sei nicht mit Beschäftigungswachstum gleichzusetzten,<br />

Rifkin spricht deshalb von einer „jobless recovery“ (arbeitsplatzlose Erholung)<br />

der Wirtschaft nach der Krise (2004, S.15). Auch die beiden Wirtschaftswissenschaftler<br />

Orio Giarini <strong>und</strong> Patrick Liedtke in ihrem Bericht an den Club of Rome <strong>und</strong> der<br />

hemente VerfechterInnen in Politik <strong>und</strong> Gesellschaft, wie die Diskussionen um Ausbau der Kinderkrippen<br />

gezeigt haben.<br />

15 Der Dienstleistungssektor ist hier genauso betroffen wie der produktive Sektor. Bankautomat,<br />

Fahrkartenautomat, automatisches Callcenter etc. geben davon ein eindrucksvolles Beispiel<br />

(vgl. Rifkin 2004 [1995]; Giarini, Liedtke 1998; Galuske 2002).<br />

28


Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong><br />

Philosoph Frithjof Bergmann <strong>und</strong> teilen diese Ansicht <strong>und</strong> stoßen deshalb, unterschiedlich<br />

akzentuiert, die Diskussion um ein neues Entsprechungsverhältnis unterschiedlicher<br />

Tätigkeitsformen <strong>und</strong> eine andere Form der materiellen Absicherung 16 <strong>und</strong> sozialen<br />

Integration an. Auch der Philosoph André Gorz (2000) entwirft eine Utopie in dieser<br />

Richtung <strong>und</strong> der Soziologe Ulrich Beck legt ein „Modell Bürgerarbeit“ vor. Diese visionären<br />

Entwürfe für die Zukunft sehen ein großes Beschäftigungspotenzial im so genannten<br />

Dritten Sektor, also in gemeinnützigen Tätigkeiten, im Bereich der Freiwilligenarbeit,<br />

im Bereich des Non-Profit. Allen gemeinsam ist auch die Intention, der<br />

„Wachstumsorientierung die Spitze [zu] brechen“ um es mit Ulrich Beck (1999, S. 128)<br />

zu formulieren <strong>und</strong> alle zielen im Großen <strong>und</strong> Ganzen darauf, auf der Basis von materieller<br />

Gr<strong>und</strong>sicherung <strong>und</strong> Partizipation am <strong>Arbeit</strong>smarkt <strong>Erwerbsarbeit</strong>, Bürgerarbeit<br />

<strong>und</strong> <strong>Eigenarbeit</strong> neu <strong>und</strong> enthierarchisiert zueinander in Beziehung zu setzen (vgl. Böllert,<br />

S.1289). <strong>Eigenarbeit</strong> bzw. Eigenproduktion oder auch Eigenleistung hat dabei in<br />

allen Konzepten einen Platz, <strong>und</strong> alle zielen auch in unterschiedlicher Form auf die<br />

Möglichkeit des/r Einzelnen sich in bestimmten Bereichen der <strong>Arbeit</strong> kreativ entfalten<br />

<strong>und</strong> entwickeln zu können <strong>und</strong> gleichzeitig demokratische Partizipation zu stärken. Dabei<br />

sind Bürgerarbeit <strong>und</strong> <strong>Eigenarbeit</strong> keine einheitlich gebrauchten Begriffe, <strong>und</strong> es<br />

werden jeweils unterschiedliche Tätigkeiten bzw. strukturelle Rahmenbedingungen<br />

vorgeschlagen, sofern die Visionen überhaupt so detailliert ausgearbeitet sind. Die Betrachtung<br />

von Bürgerarbeit würde ein eigenes Thema darstellen 17 , mit den Unschärfen<br />

des Begriffes <strong>Eigenarbeit</strong> setzen wir uns im nächsten Kapitel auseinander.<br />

Es gab in der Vergangenheit immer auch andere Stimmen, die zwar eine Krise der <strong>Erwerbsarbeit</strong><br />

sahen, jedoch nicht deren Ende. An den Leitbildern der ersten Moderne<br />

wird festgehalten <strong>und</strong> die Anpassung der Menschen an die veränderten Markt- <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>sbedingungen<br />

als Ausweg aus der Krise proklamiert. Kocka schrieb 2001 (S. 7):<br />

„Die massive Vernichtung herkömmlicher <strong>Arbeit</strong>splätze durch technologischen Wandel<br />

hat von Anfang an zur Industrialisierung gehört. (…) Doch immer wieder wurde die<br />

Vernichtung konkurrenzunfähiger <strong>Arbeit</strong>splätze durch die Entstehung von noch mehr<br />

neuen <strong>Arbeit</strong>splätzen kompensiert. (…) Wirtschaftshistoriker bezweifeln, dass dieser<br />

mehr als 200 Jahre lang funktionierende Regelungsmechanismus heute zu Ende gekommen<br />

ist.“<br />

16 Hier geht es um die unterschiedlichen Entwürfe zur Bereitstellung eines Gr<strong>und</strong>einkommens,<br />

die im Rahmen dieser <strong>Arbeit</strong> nicht erörtert werden können.<br />

17 Einen guten, knappen Überblick über die unterschiedlichen Modelle der Bürgerarbeit gibt Galuske<br />

2002, S.257 ff. Dabei müssten solche Modelle aus unserer Sicht immer auch aus dem<br />

Blickwinkel der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> begutachtet werden. Welche Position, Funktion, Aufgabe hätte<br />

die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> in einer Gesellschaft, in der Jedermann <strong>und</strong> Jedefrau sich in irgendeiner Weise<br />

bürgerschaftlich betätigt?<br />

29


Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong><br />

Die „Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Sachsen <strong>und</strong> Bayern“ (1997) ging<br />

z. B. von dieser Position aus <strong>und</strong> erarbeitete Vorschläge zur Verbesserung der Beschäftigungslage.<br />

Der Vorsitzende der Kommission, Meinhard Miegel, stuft <strong>Arbeit</strong>slosigkeit<br />

als weitgehend überwindbares Problem ein <strong>und</strong> setzt dabei auf eine Ausweitung<br />

des Marktes im Bereich der einfachen personenbezogenen Dienste. Er schrieb, die<br />

„Erwerbsbevölkerung muss sich anpassen“ <strong>und</strong> stärker „unternehmerisches Verhalten<br />

entfalten“ (Miegel 2001, S.11 f.). Hemmnisse in diesem Zusammenhang seien die überkommene<br />

sozialstaatliche Versorgungsmentalität <strong>und</strong> eine „gesellschaftliche Ächtung<br />

derart niedrig produktiver Tätigkeiten. Solche Dienste nachzufragen, galt als unschicklich,<br />

sie anzubieten als unzumutbar“(ebd. S. 21). Ein weiteres Hemmnis war das<br />

(zumindest noch 2001) seiner Meinung nach zu hohe Niveau der Sozialhilfeleistungen<br />

<strong>und</strong> des <strong>Arbeit</strong>slosengeldes im Vergleich zum Einkommen aus niedrig entlohnten Tätigkeiten.<br />

Mit Blick auf das Job-W<strong>und</strong>er in den USA wurde die Deregulierung des Marktes<br />

empfohlen <strong>und</strong> eine Skizze des aktivierenden Sozialstaates entworfen (vgl. Böllert,<br />

S. 1288), die sich in der Reform 2005 unter dem Motto „fördern <strong>und</strong> fordern“ teilweise<br />

wiederfinden lässt. 18 Demzufolge steckt die <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft in einer Phase des<br />

Wandels, ein neues Gleichgewicht wurde noch nicht erreicht.<br />

Günther Voß <strong>und</strong> Hans Pongraz (1998, S.150) erarbeiteten einen, den charakteristischen<br />

Anforderungen des Postfordismus entsprechenden Idealtypus einer <strong>Arbeit</strong>skraft,<br />

den sie den „<strong>Arbeit</strong>skraftunternehmer“ nennen. Als Kennzeichen im Bereich der Qualität<br />

der <strong>Arbeit</strong>skraft führen sie auf:<br />

• „<strong>Arbeit</strong>skraft als individualisiertes „Halbfertigprodukt“<br />

• „Permanent weiterzuentwickelnde Fachfähigkeiten“<br />

Im Bereich der Zeitperspektive:<br />

18 Es stellt sich die Frage, ob der momentane wirtschaftliche Aufschwung <strong>und</strong> Beschäftigungszuwachs<br />

ursächlich mit den liberalisierenden <strong>Arbeit</strong>smarktreformen von 2005 zusammenhängt,<br />

oder ob er aufgr<strong>und</strong> der „normalen Schwankungen“ der Wirtschaft geschieht. Handelt es sich<br />

also wirklich um eine Trendwende oder eher um ein Strohfeuer? Die Daten des Instituts für <strong>Arbeit</strong>smarkt-<br />

<strong>und</strong> Berufsforschung (IAB) bestätigen den Rückgang der <strong>Arbeit</strong>slosigkeit: Im August<br />

2007 waren ca. 3,7 Mio. Menschen in Deutschland arbeitslos gemeldet, im Vorjahr waren es<br />

4,37 Mio. (http://doku.iab.de). Und wenn es sich um eine Trendwende handelt, dann muss auch<br />

eine andere Frage in dem Zusammenhang gestellt werden: In welchen Bereichen sind die neuen<br />

<strong>Arbeit</strong>splätze entstanden <strong>und</strong> wie sind die Beschäftigungsverhältnisse ausgestaltet. Schaffen<br />

sie Teilhabe- <strong>und</strong> Integrationsoptionen oder bekommen wir zunehmend amerikanische Verhältnisse,<br />

in denen häufig der Job den Mann oder die Frau nicht mehr ausreichend ernährt? Unter<br />

dem Schlagwort „,Brasilianisierung des Westens’ am Beispiel der USA“ schreibt Beck (1999, S.<br />

111 ff.): „Die Zukunft der <strong>Arbeit</strong> kann in Brasilien besichtigt werden“ <strong>und</strong> meint damit eine Spaltung<br />

in hochqualifizierte <strong>und</strong> gut bezahlte <strong>Arbeit</strong>skräfte einerseits <strong>und</strong> prekäre Erwerbsbedingungen<br />

für gering Qualifizierte auf der anderen Seite. Ob der gegenwärtige Aufschwung Becks<br />

Thesen eher stützt oder eher widerlegt, ist eine spannende Frage, deren Vertiefung in unserem<br />

Rahmen allerdings zu weit führen würde.<br />

30


Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong><br />

• „kontinuierliche aktive „Produktion“ <strong>und</strong> „Vermarktung der <strong>Arbeit</strong>skraft“<br />

• „temporäre Aufträge, partiell längerfristige Vertrauensbeziehungen zu Auftraggebern“<br />

All dies führt zu einem höheren Leistungs- <strong>und</strong> Erfolgsdruck, zur „Verbetrieblichung der<br />

Lebensführung“ (ebd.) <strong>und</strong> zur stärkeren Konkurrenz der Menschen untereinander.<br />

Sennets Analysen des neuen Kapitalismus schließen sich dieser Zuspitzung an. Er beschreibt<br />

die zunehmende Flüchtigkeit von <strong>Arbeit</strong>sbeziehungen, feste Bindungen an einen<br />

Ort, eine Firma, einen Beruf, ein Produkt scheinen für den Erfolg hemmend zu<br />

sein, daraus resultiert ein Dahintreiben der Menschen, das er „Drift“ nennt (vgl. 1998,<br />

S.15 ff.).<br />

Die bisher dargelegten Veränderungstendenzen der <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft mit all ihren<br />

Problemen können auch als „Übergang als (Dauer-)Zustand“ in der neuen <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft,<br />

interpretiert werden, indem „Unsicherheit unter dem Banner der Flexibilität<br />

zum Prinzip erhoben wird“ (Galuske 2002, S.175). Der ständige Wandel wäre in dem<br />

Fall ein Merkmal der neuen Gegenwart in der riskanten Moderne.<br />

Paradoxes Fazit aus den Beobachtungen ist, dass einerseits mehr Menschen, vor allem<br />

Frauen 19 , erwerbstätig sind, also von einer „Verallgemeinerung der <strong>Erwerbsarbeit</strong><br />

als Königsweg der Integration“ (Galuske 2002, S. 156) gesprochen werden kann, während<br />

gleichzeitig die Summe der geleisteten St<strong>und</strong>en <strong>Erwerbsarbeit</strong> schwand <strong>und</strong> eine<br />

„Erosion von Normalbiografien“ (Berger 2001, S. 73) festzustellen war. Unter den Bedingungen<br />

der flexiblen <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft muss man Abschied nehmen von durch<br />

Stabilität gekennzeichneten Lebensentwürfen, sich auf Diskontinuität einstellen (vgl.<br />

Galuske, S.164), <strong>und</strong> es entsteht eine neue Vielfalt postindustrieller Lebensläufe“ (Berger<br />

2001, S.74). Beck (1999, S. 77) sieht u. a. ein neues Job-Nomadentum voraus,<br />

Engler (2005, S. 63) stellt fest: „Die physische Belastung sank, die psychische Belastung<br />

stieg“. Nur mit hohen Kompetenzen im Bereich des Selbst-Managements sind<br />

diese Anforderungen zu bewältigen. Die zwei Seiten der Zweiten Moderne, Chance<br />

bzw. Freiheit <strong>und</strong> Risiko, werden deutlich sichtbar.<br />

Um es nochmals in eine sozialarbeiterische Perspektive zu wenden:<br />

In einer <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft zu leben, bedeutet also für die Subjekte, eine eigene innere<br />

Orientierung auf <strong>Erwerbsarbeit</strong> zu entwickeln <strong>und</strong>, gemäß dem Leistungsprinzip, An-<br />

19 Die Erwerbsneigung bei Frauen steigt nach wie vor an <strong>und</strong> wird auch staatlich unterstützt <strong>und</strong><br />

angekurbelt mithilfe von mehr <strong>und</strong> besseren Kinderbetreuungsmöglichkeiten. Daraus kann man<br />

schließen, dass Zentrierung auf <strong>Erwerbsarbeit</strong> von der ehemals männlichen Norm nach <strong>und</strong><br />

nach auch zur weiblichen Norm wird. Entscheidendes Kriterium hierbei ist die nach wie vor allein<br />

an <strong>Erwerbsarbeit</strong> geknüpfte finanzielle <strong>und</strong> soziale Absicherung, die Frauen immer öfter für<br />

sich unabhängig von einem Ehemann erarbeiten wollen oder müssen.<br />

31


Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong><br />

strengungen zu unternehmen, dazuzugehören, mithalten zu können(siehe auch Kap. I<br />

4.5). Wer aber an den Zugängen zu <strong>Erwerbsarbeit</strong> scheitert oder einer individuell anderen<br />

Lebensauffassung folgt, muss auf materielle <strong>und</strong> soziale Sicherung (teilweise) verzichten<br />

<strong>und</strong> „in Kauf nehmen“, am Rand der Gesellschaft zu stehen. <strong>Erwerbsarbeit</strong> ist<br />

damit also eine Frage von Inklusion bzw. Exklusion.<br />

Wolfgang Bonß (vgl. 2002) entwirft vor diesem Hintergr<strong>und</strong> ein Szenario, das von einer<br />

verschärften „Krise der Erwerbsgesellschaft“ ausgeht, in der sich die Kluft zwischen<br />

<strong>Arbeit</strong>splatzbesitzern <strong>und</strong> Nichtbesitzern vertiefen wird. Er schlägt daher Kurskorrekturen<br />

vor, „deren Umsetzung auf eine allmähliche Transzendierung der Erwerbsgesellschaft<br />

bei gleichzeitiger Erweiterung des gesellschaftlichen <strong>Arbeit</strong>sverständnisses abzielen<br />

müssten“ (ebd., S. 17). Es kommt ihm dabei darauf an, dass es nicht um eine<br />

Abwertung der <strong>Erwerbsarbeit</strong> geht, sondern um eine gleichzeitige Anerkennung <strong>und</strong><br />

Wertschätzung von Tätigkeiten wie <strong>Eigenarbeit</strong> oder bürgerschaftlichem Engagement<br />

als wertvolle <strong>Arbeit</strong>. Transzendierung wird verstanden als Überschreiten der Grenzen<br />

der Erwerbsgesellschaft in eine Gesellschaft in der „eine Pluralisierung der <strong>Arbeit</strong>sformen<br />

zwischen <strong>Erwerbsarbeit</strong>, <strong>Eigenarbeit</strong> <strong>und</strong> (…) Bürgerarbeit“ gelebt werden kann.<br />

Hierzu müsste dann aber über eine Veränderung der Gewichtung der Einkommensquellen<br />

zwischen Erwerbs-, Kapital- <strong>und</strong> Transfereinkommen nachgedacht werden.<br />

Bonß macht zwar auf den Reflexions- <strong>und</strong> Handlungsbedarf sowohl auf der Ebene der<br />

materiellen Absicherung der Menschen als auch auf der Ebene der Integrationskraft<br />

der unterschiedlichen Tätigkeiten aufmerksam; wie genau diese Schritte vollzogen<br />

werden könnten, darauf geht er jedoch nicht ein. Mit seinen Vorschlägen nähert er sich<br />

auf der Handlungsebene der Position der Vertreter des Endes der <strong>Erwerbsarbeit</strong> einen<br />

großen Schritt an.<br />

Wir möchten abschließend zusammenfassen:<br />

Angesichts der über einen langen Zeitraum stetig gestiegenen <strong>Arbeit</strong>slosenzahlen<br />

sprechen Wissenschaftler von einem Ende, einem Wandel oder einer Krise der <strong>Erwerbsarbeit</strong><br />

<strong>und</strong> der <strong>Erwerbsarbeit</strong>sgesellschaft. Die Verwendung der Begriffe gleicht<br />

dabei teilweise einem Verwirrspiel.<br />

Wir stellen fest, dass<br />

1. in der Zweiten Moderne <strong>Erwerbsarbeit</strong> weiterhin als zentrales Moment der Vergesellschaftung<br />

funktioniert <strong>und</strong> ein verallgemeinertes Leitmodell darstellt. Insofern<br />

besteht die <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft der ersten Moderne in den Köpfen weiter<br />

fort.<br />

32


Die vergesellschaftende Kraft der <strong>Arbeit</strong><br />

2. gleichzeitig <strong>Erwerbsarbeit</strong> an empirischem Boden verliert, da das Erwerbsar-<br />

beitsvolumen schwindet. Am dauerhaften Aufschwung, der alle Gruppen einbezieht,<br />

hegen wir Zweifel.<br />

3. die Flexibilitätsanforderungen an Erwerbstätige stark gestiegen sind. Der/ die<br />

Einzelne ist gefordert, die eigene <strong>Arbeit</strong>skraft permanent zu vermarkten. Damit<br />

wird <strong>Erwerbsarbeit</strong> zur ständigen „Konkurrenzveranstaltung“ <strong>und</strong> riskanten Bewältigungsaufgabe.<br />

4. eine neue Art der Entfremdung entstanden ist. <strong>Arbeit</strong>skräfte kommen häufig<br />

nicht mit dem Produkt, in dessen Herstellungs- oder Vermarktungsprozess sie<br />

involviert sind, in Berührung. Globale Strukturen, digitale <strong>Arbeit</strong>sweisen <strong>und</strong><br />

maximale Flexibilität bewirken eine Loslösung des Individuums von seiner Tätigkeit,<br />

ein inneres Verständnis oder eine Verb<strong>und</strong>enheit kann immer seltener<br />

erreicht werden.<br />

In diesen Widersprüchen zwischen der realen sozioökonomischen Entwicklung des<br />

Erwerbssystems <strong>und</strong> dem sozialen, politischen <strong>und</strong> ideologischen Überbau, sehen wir<br />

das Krisenpotenzial der gegenwärtigen <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft (vgl. Maier 2005, S.37). Die<br />

Diskrepanz zwischen Bedeutung der <strong>Erwerbsarbeit</strong> für die Individuen einerseits <strong>und</strong><br />

dem erschwerten Zugang zum System der <strong>Erwerbsarbeit</strong> andererseits, muss auch von<br />

der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> stärker aufgegriffen werden. Da es sich um einen Konflikt der Individuen<br />

in bzw. an den Strukturen handelt, scheint es uns plausibel, strukturelle <strong>und</strong> ideologische<br />

Veränderungen zu diskutieren <strong>und</strong> so, wie Bonß vorschlägt, auf eine<br />

Transzendierung der <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft hinzuwirken. Tätigkeiten, die nicht <strong>Erwerbsarbeit</strong><br />

sind, darunter auch <strong>Eigenarbeit</strong> <strong>und</strong> gemeinnützige Tätigkeiten, rückten damit ins<br />

gesellschaftliche Blickfeld.<br />

Genauso wichtig aber finden wir es, auf der Ebene der alltäglichen praktischen Aufgaben<br />

der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> auf diesen Konflikt zu reagieren.<br />

33


2. <strong>Eigenarbeit</strong><br />

<strong>Eigenarbeit</strong><br />

<strong>Eigenarbeit</strong> ist ein mehrdeutig verwendeter Begriff. Je nach Blickwinkel <strong>und</strong> Intention<br />

wird er in wissenschaftlichen Erörterungen, die sich mit dem Verhältnis verschiedener<br />

Tätigkeitsformen zueinander beschäftigen, mit unterschiedlichem Sinngehalt gefüllt.<br />

Darunter fallen steuerrechtliche, ökonomische, gesellschaftskritische, ökologische sowie<br />

gesellschaftspolitisch-visionäre Zugänge (vgl. Mutz et al. 1997, S.13 f. <strong>und</strong> 86). Wir<br />

werden im folgenden Kapitel einige Begriffsbestimmungen aufgreifen <strong>und</strong> anschließend<br />

auf das Verständnis von <strong>Eigenarbeit</strong> eingehen, das in den Werkstätten für <strong>Eigenarbeit</strong><br />

die Gr<strong>und</strong>lage darstellt.<br />

Den Begriff <strong>Eigenarbeit</strong> prägte Christine von Weizsäcker Ende der 70er Jahre des 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert aus einem feministischen Blickwinkel heraus <strong>und</strong> meinte damit all die <strong>Arbeit</strong>en,<br />

die jeder Mensch <strong>und</strong> die Gesellschaft zur Erhaltung des Lebens <strong>und</strong> der Gemeinschaft<br />

brauchen. Sie lehnte den damals oft synonym gebrauchten Begriff der „Reproduktionsarbeit“<br />

ab, da sie in diesem Wort die fälschliche Anerkennung des Vorrangs<br />

der Produktionsarbeit sah. Von Weizsäcker wollte mit dem Begriff auf die Unverzichtbarkeit<br />

der <strong>Eigenarbeit</strong> hinweisen. „Auf Essen, Trinken, Schlafen, Kinderbekommen,<br />

die essenziellen häuslichen <strong>Arbeit</strong>en kann man nicht verzichten. (…) Auf die <strong>Erwerbsarbeit</strong><br />

kann man notfalls verzichten, vor allem als Kind oder Greis. Da steckt also die<br />

umgekehrte Superiorität drin: Die <strong>Erwerbsarbeit</strong> sollte eher als die Dienerin der <strong>Eigenarbeit</strong><br />

aufgefasst werden“ (von Weizsäcker (Ernst U.) 2001, S.2). Es ging ihr in erster<br />

Linie darum, die vielfältigen Tätigkeiten jenseits der <strong>Erwerbsarbeit</strong> explizit zu benennen<br />

<strong>und</strong> ihnen einen angemessenen Stellenwert beizumessen 20 .<br />

In Diskussionen um die Rückgewinnung von Autonomie in der entfremdeten Produktions-<br />

<strong>und</strong> Dienstleistungsgesellschaft floss der Begriff <strong>Eigenarbeit</strong> Ende der 1970er<br />

Jahre ein. Er diente als „Suchbegriff“ (vgl. Dauschek/ Hüsch 1998, S. 34), dem damals<br />

bereits unterschiedliche Bedeutungen gegeben wurden. Ivan Illich akzentuierte 1982:<br />

„Ich nenne <strong>Eigenarbeit</strong> das, womit sich Menschen von Konsum <strong>und</strong> Produktion abset-<br />

20 Wir sehen in Christine von Weizsäckers Versuch der Aufwertung der Hausarbeit Parallelen<br />

zum feministischen Bielefelder (Subsistenz-)Ansatz. Diese kritische Gesellschaftstheorie, insbesondere<br />

vertreten von Claudia von Werlhof, Veronika Bennholdt-Thomsen <strong>und</strong> Maria Mies,<br />

ist wesentlich durch die Frage bestimmt, welche Funktionen <strong>und</strong> welche Wertigkeit die Subsistenzproduktion<br />

innerhalb kapitalistischer Gesellschaften <strong>und</strong> in traditionellen Gesellschaften<br />

der „Dritten Welt“ hat. In diesem Zusammenhang werfen sie auch Fragen nach der Hierarchie<br />

verschiedener <strong>Arbeit</strong>sformen <strong>und</strong> dem damit verknüpften Geschlechterverhältnis auf. Mit Subsistenzproduktion<br />

ist das beschrieben, was von Weizsäcker mit <strong>Eigenarbeit</strong> meint: „gebrauchswertorientierte,<br />

unmittelbar auf die Herstellung <strong>und</strong> Erhaltung des Lebens gerichtete <strong>Arbeit</strong>“<br />

(Baier, S. 73). Weitere inhaltliche Verknüpfungen – zumindest in Bezug auf Bedeutung <strong>und</strong><br />

Wertigkeit versorgender Tätigkeiten - tauchen in unterschiedlichsten feministischen Diskussionen<br />

auf, z. B. unter dem jüngeren Begriff „Care“ (vgl. Brückner 2001, S. 150 f.), der in Debatten<br />

um die gesellschaftliche Organisation von Fürsorge <strong>und</strong> Pflege verwendet wird.<br />

34


<strong>Eigenarbeit</strong><br />

zen. <strong>Eigenarbeit</strong> ist aktiver Konsum <strong>und</strong> Produktionsverzicht, motiviert aus aufgeklär-<br />

tem Hedonismus“ 21 , <strong>und</strong> weiter „<strong>Eigenarbeit</strong> soll der Ersatz von Ware durch eigenes<br />

Tätigsein heißen“ (Illich 1982, S. 52). Christine <strong>und</strong> Ernst U. von Weizsäcker (vgl.<br />

1979, S. 91 f.) bezeichnen <strong>Eigenarbeit</strong> als eine selbstbestimmte „ursprüngliche Form<br />

der <strong>Arbeit</strong>“; insofern sei sie eine Art Gr<strong>und</strong>recht, das den Menschen durch die Ökonomisierung<br />

der <strong>Arbeit</strong> zunehmend verwehrt bleibt <strong>und</strong> für dessen Rückgewinnung man<br />

eintreten müsse.<br />

Die Wurzeln der <strong>Eigenarbeit</strong> liegen demnach im Emanzipatorischen, als „Gegenströmung“<br />

zu steigendem Konsumdenken <strong>und</strong> zunehmend fremdbestimmter <strong>Erwerbsarbeit</strong><br />

(vgl. Kühnlein 1997, S. 41).<br />

Die in diesen Ansätzen anklingende Definition <strong>und</strong> die darin enthaltene Gesellschaftskritik<br />

sind der Ausgangspunkt für eine recht unübersichtliche Fülle von Begriffsbestimmungen,<br />

deren kleinster [0]gemeinsamer Nenner die Übereinstimmung ist, dass es<br />

sich um informelle, also nicht marktvermittelte, unbezahlte Tätigkeiten handelt. Die Abgrenzung<br />

zur <strong>Erwerbsarbeit</strong> ist das allen Definitionen zu Gr<strong>und</strong>e liegende Kriterium.<br />

Im folgenden Abschnitt nehmen wir den Versuch vor, die zunächst verwirrende Vielfalt<br />

von Definitionen <strong>und</strong> Kontexten, in denen <strong>Eigenarbeit</strong> als Kategoriebegriff gebraucht<br />

wird, in eine Ordnung zu bringen. Unterscheidungsmerkmal sind die Tätigkeiten, die<br />

mit der Definition umfasst sein sollen. Der jeweilige Bedeutungshorizont, also die visionären<br />

Aspekte bzw. der Kontext sollen ebenfalls kurz skizziert werden.<br />

Rolf G. Heinze <strong>und</strong> Claus Offe (1990a, S. 9 ff.) nehmen eine weit gefasste Begriffsbestimmung<br />

vor. Sie unterscheiden in erster Linie die formelle <strong>Erwerbsarbeit</strong> von der informellen<br />

<strong>Eigenarbeit</strong>. Dabei schlagen sie zunächst eine Dreiteilung von Tätigkeiten<br />

vor (<strong>Erwerbsarbeit</strong>, andere <strong>Arbeit</strong> bzw. dritter Sektor <strong>und</strong> Freizeitkonsum). Die Sphäre<br />

des so genannten dritten Sektors umfasst dabei „’Nützliche Tätigkeiten’ in der Grauzone<br />

zwischen Freizeitkonsum <strong>und</strong> <strong>Erwerbsarbeit</strong>“ (Heinze/ Offe 1990b, S. 95 f.). In diesem<br />

Sektor siedeln sie <strong>Eigenarbeit</strong> an.<br />

Inhaltlich kann <strong>Eigenarbeit</strong> alle erdenklichen Tätigkeiten umfassen, z. B. <strong>Eigenarbeit</strong> im<br />

Haushalt, Nachbarschafts- <strong>und</strong> Selbsthilfe, verschiedene Arten von Ehrenämtern, Vereinstätigkeiten<br />

etc. (vgl. Heinze/ Offe 1990a, S. 8); sie bildet in dieser Definition, die<br />

sich an der <strong>Erwerbsarbeit</strong> ausrichtet, sozusagen die Restkategorie (vgl. auch Mutz et al<br />

1997, S.13).<br />

Heinze <strong>und</strong> Offe betonen jedoch den <strong>Arbeit</strong>scharakter der Tätigkeit, der darin besteht,<br />

dass sie sich an einem „auch von anderen als nützlich bewertete[m] Ziel“ orientiert<br />

21 Der Begriff Hedonismus kommt aus der antiken griechischen philosophischen Lehre, nach<br />

welcher das höchste ethische Prinzip das Streben nach Sinnenlust <strong>und</strong> Genuss ist (vgl. Duden<br />

1990, S. 302)<br />

35


<strong>Eigenarbeit</strong><br />

(Gebrauchswert für andere) <strong>und</strong> dass sie in zeitgemäß produktiver Weise erfolgt (adä-<br />

quate Produktivität). Der Prozess des <strong>Arbeit</strong>ens an sich <strong>und</strong> der mögliche (Sinn-<br />

)Nutzen des Tätigseins kann hierbei nicht im Vordergr<strong>und</strong> stehen, wäre dies der Fall,<br />

so handele es sich um Freizeitaktivitäten oder Hobby. Diese Abgrenzung ist ihnen<br />

wichtig, um den <strong>Arbeit</strong>sbegriff nicht zu verwischen 22 .<br />

Ihnen geht es um die Verbesserung der sozial- <strong>und</strong> wirtschaftsstrukturellen Bedingungen,<br />

unter denen für die Gesellschaft nützliche informelle Tätigkeiten geleistet werden<br />

<strong>und</strong> um Erforschung <strong>und</strong> Verbreitung entsprechender Modelle des ökonomischen Austauschs<br />

in der Gesellschaft. Durch Formalisierung <strong>und</strong> institutionelle Sicherung in so<br />

genannten Kooperationsringen könnten informelle Tätigkeiten in marktähnlichen Arrangements<br />

(z. B. Mit Hilfe einer Gutscheinwährung), unabhängig von Verwandtschaftsnetzen,<br />

Berufs- oder Altersgruppen ausgetauscht werden <strong>und</strong> einen Gegenpol<br />

zum Monopol der Geldwirtschaft bilden. Diese Form eines „Nebenmarktes“ nennen<br />

Heinze <strong>und</strong> Offe „organisierte <strong>Eigenarbeit</strong>“.<br />

Ulrich Mückenberger (1990, S.197) bezieht gleichfalls nahezu alle Bereiche des informellen<br />

<strong>Arbeit</strong>ens ein, so auch Versorgungsarbeit <strong>und</strong> bürgerschaftliche Aktivitäten im<br />

Gemeinwesen. Er betont als Wesensmerkmal von <strong>Eigenarbeit</strong> allerdings Eigensinn<br />

<strong>und</strong> Eigennutzen, also die subjektive Seite von <strong>Eigenarbeit</strong>. Gleichfalls sieht er <strong>Eigenarbeit</strong><br />

aber auch als „Gegenmodell zur vorherrschenden kapitalistischen Marktgesellschaft“<br />

(ebd. S.198).<br />

„<strong>Eigenarbeit</strong> meint letztlich nicht marktvermittelte <strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>, die nicht fremdbestimmten<br />

Produktionsbedingungen unterliegt“ (ebd. S. 197). Der <strong>Arbeit</strong>scharakter wird<br />

im Vergleich zur Definition von Heinze/ Offe nicht explizit hervorgehoben.<br />

Adelheid Biesecker (2000, S. 7) fasst die Begriffsbestimmung etwas enger. Sie unterscheidet<br />

in ihren „Überlegungen zu einem erweiterten <strong>Arbeit</strong>sbegriff“ zwischen Erwerbs-,<br />

Versorgungs-, Gemeinwesen- <strong>und</strong> <strong>Eigenarbeit</strong>. In Anlehnung an Elisabeth<br />

Redler beschreibt sie <strong>Eigenarbeit</strong> als „selbstbestimmte <strong>Arbeit</strong> für sich allein“, diese Tätigkeiten<br />

können selbstversorgende sein oder auch produktive (kulturelle, soziale <strong>und</strong><br />

<strong>handwerkliche</strong> Produkte), nicht aber bürgerschaftliche Tätigkeiten oder Versorgung von<br />

anderen.<br />

Ihr geht es um ein verändertes Ökonomieverständnis, in dem Ökonomie eingebettet ist<br />

in soziale Mitwelt <strong>und</strong> natürliche Umwelt. Ein erweitertes Verständnis von <strong>Arbeit</strong> als<br />

„kooperative Vielfalt im Ganzen“ ist dafür entscheidend (vgl. ebd. S. 1). Eine Aufwer-<br />

22 Laut Heinze/ Offe setzt die Verwendung des Begriffes ‚<strong>Arbeit</strong>’ eine gesellschaftliche, d. h. sozial<br />

validierte Natur der Ziele <strong>und</strong> außerdem die Kritisierbarkeit der Tätigkeit unter Effizienz- <strong>und</strong><br />

Produktivitätsgesichtspunkten voraus (vgl. Heinze/ Offe 1990b, S. 106).<br />

36


<strong>Eigenarbeit</strong><br />

tung der <strong>Eigenarbeit</strong> (sowie der Versorgungs- <strong>und</strong> Gemeinwesenarbeit) <strong>und</strong> die Schaffung<br />

von Verbindungslinien zwischen den unterschiedlichen <strong>Arbeit</strong>ssphären könnten<br />

zur gerechteren Verteilung der zu leistenden <strong>Arbeit</strong> in der Gesellschaft führen – insbesondere<br />

auch unter geschlechtshierarchischen Gesichtspunkten.<br />

Außerdem verweist sie auf ökologische Aspekte der <strong>Eigenarbeit</strong>: durch ein anderes<br />

Konsumverständnis könne eine Reduktion des Warenkonsums erreicht werden, was<br />

zu vermehrter Ressourcen-Nachhaltigkeit führe. Gleichfalls sieht sie <strong>Eigenarbeit</strong> als<br />

Basis für die Entstehung von Autonomie <strong>und</strong> weist damit auf das Lernpotential hin, das<br />

sich in <strong>Eigenarbeit</strong> verbirgt. Sie verknüpft also ökonomische, ökologische <strong>und</strong> gesellschaftlich-visionäre<br />

Aspekte von <strong>Eigenarbeit</strong>.<br />

André Gorz (1989, S. 219) bezeichnet unter dem Oberbegriff „Tätigkeiten ohne Erwerbszweck“<br />

die Selbstversorgung (den Haushalt zu führen, sich selbst oder - im Unterschied<br />

zu Biesecker - auch Familienangehörige zu versorgen) als <strong>Eigenarbeit</strong> <strong>und</strong><br />

betitelt diese als „lästige Stubenarbeiten“. Gesondert hiervon (also nicht unter dem<br />

Begriff <strong>Eigenarbeit</strong>) geht er auf die autonomen Tätigkeiten ein, die „um ihrer selbst willen<br />

verrichtet werden“, also Selbstzweck sind (ebd. S. 236).<br />

Anhand dieser Unterscheidung wird deutlich, dass die Konnotation von <strong>Eigenarbeit</strong> <strong>und</strong><br />

Selbstbestimmung nicht immer zutreffend ist. Versorgungsarbeit ist zwar keiner<br />

Fremdbestimmung unterworfen, jedoch aber der Notwendigkeit, weshalb sie nur „formal<br />

selbstbestimmt“ ist. Wirklich autonome Tätigkeiten haben nach ihm folgende Charaktermerkmale<br />

(vgl. ebd. S. 238 ff.):<br />

• das tun, was man wahrhaft will <strong>und</strong> verantworten kann<br />

• der <strong>Arbeit</strong>sprozess ist ebenso wertvoll wie das Produkt oder die abgeschlossene<br />

Handlung<br />

• sie ist keinen ökonomischen Zwängen unterworfen, d. h. die aufgewendete Zeit<br />

spielt keine Rolle <strong>und</strong> die Gestaltung orientiert sich ausschließlich am eigenen<br />

Gefallen<br />

Deshalb können nach seiner Definition ökonomische marktmäßige (Erwerbs-<br />

)Tätigkeiten niemals autonom sein, auch wenn sie Dimensionen von Selbstentfaltung<br />

enthalten können. Die Differenzen zu Heinze/ Offe werden deutlich, die Grenze zu<br />

Freizeittätigkeiten ist fließend.<br />

Aus einem kritisch-feministischen Blickwinkel argumentiert Ruth Becker (1998, S. 257<br />

ff.). Sie entwirft keine eigenständige Begriffsbestimmung von <strong>Eigenarbeit</strong>. Stattdessen<br />

bezieht sie sich u. a. auf Schriften von Illich, Huber, Gorz <strong>und</strong> warnt vor Modellen <strong>und</strong><br />

Utopien, die <strong>Eigenarbeit</strong> romantisieren <strong>und</strong> verklären: Aus ihrer Sicht gerieten häufig<br />

37


<strong>Eigenarbeit</strong><br />

die „eher repetitiven Hausarbeiten zugunsten der kreativen Heimarbeit zunehmend aus<br />

dem Blick“ (ebd. S. 260). Darin sieht sie die Gefahr, dass Forderungen nach vermehrter<br />

<strong>Eigenarbeit</strong> zu einer erneuten Spaltung der Einkommens- <strong>und</strong> Teilhabeverhältnisse<br />

von Männern <strong>und</strong> Frauen führen: „Eine Verstärkung von <strong>Eigenarbeit</strong> <strong>und</strong> eine Reduktion<br />

von <strong>Erwerbsarbeit</strong> wird, so ist zu befürchten, diese Disparitäten noch verschärfen<br />

<strong>und</strong> Männern noch mehr als bisher die gut bezahlten Jobs zuschanzen, während Frauen<br />

auf die <strong>Eigenarbeit</strong> <strong>und</strong> eine Gr<strong>und</strong>sicherung verwiesen werden (…)“ (ebd. S. 278).<br />

Alternativ schlägt sie die „Utopie der Professionalisierung“ nicht monetär entlohnter <strong>Arbeit</strong>sbereiche<br />

vor.<br />

In den 1990er Jahren griff der US-amerikanische Philosoph Frithjof Bergmann den<br />

Begriff self-providing in seinem „new-work-modell“ auf. Ausgehend davon, dass <strong>Erwerbsarbeit</strong><br />

zu einem immer größeren Engpassfaktor wird <strong>und</strong> die zu erledigende <strong>Arbeit</strong><br />

häufig so strukturiert ist, dass sie für die Menschen Stress erzeugt <strong>und</strong> viele andere<br />

Begabungen <strong>und</strong> Fähigkeiten brachliegen lässt 23 , gliedert er sein Modell für eine<br />

Umverteilung von <strong>Arbeit</strong> in folgende drei Bausteine:<br />

1. Gerecht verteilte reguläre Teilzeitarbeit, die der finanziellen Gr<strong>und</strong>versorgung dient,<br />

2. high-tech-self-providing, also Selbstversorgung <strong>und</strong><br />

3. calling (Berufung), erwerbsfreie Zeit, die Menschen dazu nutzen können, „zu tun,<br />

was sie wirklich wollen“.<br />

Bei self-providing geht es nicht vorrangig um Subsistenztätigkeiten, sondern um die<br />

Herstellung von Gebrauchsgütern für den eigenen Bedarf mit Hilfe hoch technisierter,<br />

automatisierter Werkzeuge <strong>und</strong> Maschinen (z. B. dem so genannten Fabrikator), die<br />

möglichst in öffentlichen Zentren für die ganze Bevölkerung zugänglich wären (vgl. Die<br />

Zeit 2004).<br />

Seine Vision ist einerseits von einer gerechteren Verteilung der bezahlten <strong>Arbeit</strong> geprägt<br />

<strong>und</strong> andererseits von der Idee, dass der Gewinn an freier Zeit für den/die Einzelne/n<br />

durch die kreative Nutzung der neuen Technologien möglich gemacht wird. Nach<br />

seinem Verständnis wäre dies ein Weg in Richtung einer humaneren, intelligenteren,<br />

fröhlicheren <strong>und</strong> sinnlicheren Zukunft (ebd. S.3).<br />

23 Ähnliche Ansichten vertritt der Unternehmer Götz Werner. Er schlägt hinsichtlich der materiellen<br />

Absicherung allerdings ein bedingungsloses Gr<strong>und</strong>einkommen vor. Dieses könne seiner<br />

Ansicht nach eine Basis liefern, die Menschen wieder mehr Möglichkeiten zu sinnvollen <strong>und</strong><br />

persönlichkeitsentfaltenden Tätigkeiten eröffnet (vgl. Die Zeit 2007).<br />

38


<strong>Eigenarbeit</strong><br />

Einem engeren Verständnis von <strong>Eigenarbeit</strong> folgen Irene Kühnlein (1997), Gerd Mutz<br />

(2002), Elisabeth Redler <strong>und</strong> auch Jens Mittelsten Scheid (Gründer der anstiftung 24 ). In<br />

ihrer Auffassung von <strong>Eigenarbeit</strong> bündeln sich ökonomische, gesellschaftskritische,<br />

ökologische <strong>und</strong> gesellschaftlich-visionäre Gesichtspunkte. Diese münden in konkreten<br />

Ideen zur Umsetzung öffentlicher <strong>Eigenarbeit</strong> <strong>und</strong> sind verb<strong>und</strong>en mit Praxiserprobungen.<br />

Ihr Verständnis geht u. a. auf die Gedanken von Ivan Illich <strong>und</strong> Erich von Weizsäcker<br />

zurück. Öffentliche <strong>Eigenarbeit</strong>, so der Gedanke, ist ein Weg zur Rückverlagerung von<br />

„Tätigkeiten im häuslichen Umfeld (Selbstversorgung, Herstellung von Nutzgegenständen),<br />

die (…) mit zunehmender Industrialisierung aus dem privaten Sektor ausgegliedert<br />

wurden“ (Kühnlein 1997, S. 43). Damit verb<strong>und</strong>en ist die Idee, dass privathaushaltliche<br />

Potenziale aktiviert, aufgewertet <strong>und</strong> sichtbar gemacht werden.<br />

<strong>Eigenarbeit</strong> wird in erster Linie als gesellschaftlich-visionäre Option gesehen, eine Art<br />

zu arbeiten, die es – anders als <strong>Erwerbsarbeit</strong> – ermöglicht, Produkt <strong>und</strong> Prozess<br />

selbst <strong>und</strong> eigensinnig zu gestalten. Konsumverzicht <strong>und</strong> Aneignung von Autonomie<br />

stehen im Vordergr<strong>und</strong>. Darin steckt die f<strong>und</strong>amentale Kritik an der Erwerbs- <strong>und</strong> Konsumgesellschaft.<br />

Auf der Basis ihrer gesellschaftsanalytischen Ansichten - zunehmende Entfremdung in<br />

<strong>Arbeit</strong>sprozessen, zunehmende Ausgrenzung von Menschen aus dem <strong>Arbeit</strong>smarkt,<br />

zunehmend passive konsumorientierte Einstellung der Menschen, zunehmende Entgrenzung<br />

der Märkte – konstatiert die anstiftung einen Mangel, trotz materiellem Überfluss.<br />

Dieser Mangel besteht in dem Verlust an Identität <strong>und</strong> sozialer Solidarität der<br />

Menschen, der bis zur Sinnkrise führen kann (vgl. Mittelsten Scheid, 1995, S. 56). Aus<br />

Sicht der anstiftung „bietet der Ansatz der <strong>Eigenarbeit</strong> eine ebenso aktuelle wie wirksame<br />

Antwort auf spezifische Probleme der modernen Gesellschaft“<br />

(www.anstiftung.de/foreig.htm).<br />

Auf dieser gesellschaftlich-visionären Ebene ist <strong>Eigenarbeit</strong> zu verstehen als „Einladung<br />

zu einem Leben, das den Menschen schöpferische Gestaltungsräume eröffnet:<br />

im Umgang mit Materie, mit sich selbst <strong>und</strong> im Zusammenleben mit anderen Menschen“<br />

(anstiftung, Broschüre). <strong>Soziale</strong> <strong>und</strong> kulturelle Aktivitäten sind somit ausdrücklich<br />

integriert. Nach Mittelsten Scheid heißt <strong>Eigenarbeit</strong> auf der individuellen, praktischen<br />

Ebene: „Tätigsein im eigenen Auftrag, mit den eigenen Kräften, nach eigenem<br />

24 Die beiden untersuchten Einrichtungen, das Kreativzentrum Wolfen-Nord <strong>und</strong> das Kempodium,<br />

sind als Einrichtungen zur Förderung der <strong>Eigenarbeit</strong> von der gemeinnützigen Forschungsgesellschaft<br />

anstiftung (mit-)initiiert, finanziert <strong>und</strong> begleitet worden. Das erste große Projekt<br />

dieser Art war das 1987 gegründete Haus der <strong>Eigenarbeit</strong> (HEi) in München. Wie die anstiftung<br />

genauer involviert ist, wird in Teil II unserer <strong>Arbeit</strong> behandelt.<br />

39


<strong>Eigenarbeit</strong><br />

Konzept <strong>und</strong> für sich selbst. Durch sich <strong>und</strong> für sich einen Gebrauchswert schaffen –<br />

vor allem etwas Nützliches, aber auch Schönes“ (Mittelsten Scheid 1995, S.57).<br />

Eine Abgrenzung zu Freizeitaktivitäten nimmt auch die anstiftung vor: Zielgerichtetheit<br />

der <strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> Produktbezug werden hervorgehoben 25 .<br />

Am Ausgangspunkt der praktischen Erprobung dieser Ideen stehen verschiedene Projekte,<br />

in denen öffentlich nutzbare Räume <strong>und</strong> Werkstätten zur Verfügung gestellt werden.<br />

Handwerkliche <strong>Eigenarbeit</strong> nimmt dabei einen großen Raum ein, es geht um das<br />

Herstellen von Gebrauchsgegenständen im Sinne von Hannah Arendt (1960, S. 124<br />

ff.), auf ihr Werk „vita activa“ beziehen sich die AutorInnen.<br />

Zusammenfassend möchten wir einige Aspekte herausgreifen, die aus unserer Sicht<br />

im Zusammenhang mit unserer <strong>Arbeit</strong> wesentlich sind.<br />

1. Bedeutung von nicht erwerbsmäßig ausgeübten Tätigkeiten: Übereinstimmungen in<br />

den verschiedenen Ansätzen liegen laut Mutz et al. (1997, S.14) in der gesellschaftlichen<br />

Bedeutung von Tätigkeiten jenseits der <strong>Erwerbsarbeit</strong>: der geleisteten<br />

<strong>Erwerbsarbeit</strong> stehen fast doppelt so viele St<strong>und</strong>en erbrachter <strong>Eigenarbeit</strong> gegenüber,<br />

die im übrigen zu vier Fünfteln von Frauen erbracht wird. Fragen nach verschiedenen<br />

Bedeutungen von <strong>Eigenarbeit</strong> implizieren unseres Erachtens somit<br />

auch Fragen nach der geschlechtlichen Verteilung von <strong>Arbeit</strong>.<br />

2. Visionäre Aspekte: Gemeinsamkeiten bestehen ebenso darin, dass die AutorInnen<br />

<strong>Erwerbsarbeit</strong> in Bezug auf ihre zentrale Bedeutung <strong>und</strong> Stellung in einer Hierarchie<br />

der Tätigkeiten in Frage stellen <strong>und</strong> aus verschiedenen Blickwinkeln nach Alternativen,<br />

nach einem „Daneben“ suchen. Damit sind unterschiedliche visionäre<br />

Aspekte verb<strong>und</strong>en.<br />

3. Emanzipatorische Gesichtspunkte: Sie spielen in allen Modellen eine Rolle. Es<br />

geht darum, durch Eigentätigkeit mehr Autonomie in der Lebensgestaltung zu erlangen.<br />

25 Die Abgrenzung zu Freizeitbeschäftigungen wird in mehreren Dokumenten der anstiftung als<br />

Merkmal benannt, jedoch – bis auf die Abkehr von Konsum <strong>und</strong> des oben genannten<br />

Gebrauchswertes von Gegenständen - nicht näher erläutert. Wir gehen davon aus, dass es dabei<br />

auf einer theoretischen <strong>und</strong> ideellen Ebene um eine Betonung des Wertes dieser Tätigkeiten<br />

im Vergleich zu <strong>Erwerbsarbeit</strong> geht. Im konkreten Fall, auf der praktischen <strong>und</strong> subjektiven<br />

Ebene des Erlebens schätzen wir eine solche Abgrenzung allerdings als extrem schwierig ein:<br />

Wann ist z. B. das Herstellen eines selbst getöpferten Gefäßes ein Hobby <strong>und</strong> wann <strong>Eigenarbeit</strong>?<br />

40


<strong>Eigenarbeit</strong><br />

4. <strong>Eigenarbeit</strong> ist nicht voraussetzungslos: Notwendig <strong>und</strong> erforderlich sind neben ma-<br />

teriellen <strong>und</strong> räumlichen Ressourcen auch soziale Kapitalien (vgl. Kühnlein 1997,<br />

S.42 <strong>und</strong> Mutz et al 1997, S. 15). Mückenberger (1990, S. 197) formuliert in einer<br />

Zuspitzung: „Allein, wer Zugang zum Beruf hat, ist frei, sich für <strong>Eigenarbeit</strong> zu entscheiden“.<br />

Er spricht damit das Inklusionsmoment von <strong>Erwerbsarbeit</strong> an, welches<br />

laut verschiedener Studien 26 häufig Ausgangspunkt für <strong>Eigenarbeit</strong> <strong>und</strong> Engagement<br />

ist. Gorz (1989, S. 241) fasst zusammen: „Eigenproduktion <strong>und</strong> kooperative<br />

Tätigkeiten können nur dann autonome Tätigkeiten sein, wenn für jede(n) das Lebensnotwendige<br />

anderweitig gesichert ist.“ Als lebensnotwendig verstehen wir in<br />

diesem Zusammenhang, was Böhnisch mit Hintergr<strong>und</strong>sicherheit meint: materielle<br />

Sicherheit <strong>und</strong> soziale Teilhabe (vgl. Böhnisch 2001, S. 152).<br />

5. Begrenzte Reichweite von <strong>Eigenarbeit</strong>: Einigkeit herrscht laut Mutz et al. (ebd.) unter<br />

den sozialwissenschaftlichen Forschungen darin, dass jegliche Formen informeller<br />

Ökonomie keine eigenständigen <strong>Arbeit</strong>s- oder Produktionsbereiche sind, die<br />

marktförmige <strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> Erwerbseinkommen aus regulärer Beschäftigung substituieren<br />

könnten. <strong>Eigenarbeit</strong> kann <strong>Erwerbsarbeit</strong> unter den gegebenen sozialpolitischen<br />

Bedingungen also nicht ersetzen.<br />

In welcher Form diese Punkte in der Praxis der von uns untersuchten Einrichtungen<br />

auftreten bzw. welche Relevanz sie besitzen, werden wir im Auswertungsteil aufgreifen.<br />

26 Z.B: in einer Studie zur Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements (Enquete-Kommission<br />

2002, S. 202 f.)<br />

41


3. Handwerkliche <strong>Arbeit</strong>sprozesse<br />

Handwerkliche <strong>Arbeit</strong>sprozesse<br />

Wie in der Einleitung bereits formuliert, gehen wir davon aus, dass sich Prozesse<br />

<strong>handwerkliche</strong>n <strong>Arbeit</strong>ens als Medium für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> eignen – insbesondere vor<br />

dem Hintergr<strong>und</strong> der in Kap. I 1 beschriebenen Tendenz der Entfremdung von <strong>Arbeit</strong>sprozessen<br />

auf dem flexiblen <strong>Arbeit</strong>smarkt. Aus diesem Gr<strong>und</strong> möchten wir zunächst<br />

versuchen, Charakteristika für <strong>handwerkliche</strong>s <strong>Arbeit</strong>en darzustellen. In einem weiteren<br />

Schritt richten wir unseren Blick auf mögliche Wirkungen einer solchen <strong>Arbeit</strong>sweise<br />

auf den Menschen. Des Weiteren stellen wir über das „Medium Handwerk“ Bezüge zur<br />

Pädagogik her <strong>und</strong> arbeiten heraus, welche Ziele damit verfolgt werden können.<br />

Diese Bezüge werden dann in unserer empirischen Untersuchung zweier Praxis-<br />

Einrichtungen in der Auswertung <strong>und</strong> insbesondere in der unserer gesamten <strong>Arbeit</strong><br />

zugr<strong>und</strong>e liegenden Fragestellung Einklang finden.<br />

3.1 Charakteristika <strong>handwerkliche</strong>r Produktionsweise<br />

Um Charakteristika/ typische Merkmale <strong>handwerkliche</strong>r Produktionsweise zu verdeutlichen,<br />

wird in diesem Kapitel zunächst das professionelle/ gewerbliche Handwerk in<br />

seiner „ursprünglichen Form“ (detaillierter: siehe Quellen weiter unten) betrachtet.<br />

Da wir diesen Abschnitt eher kurz halten möchten, kann weder auf explizite Unterschiede<br />

zwischen Städten <strong>und</strong> ländlichen Regionen eingegangen werden, noch auf<br />

Unterschiede innerhalb verschiedener Handwerkszweige. Stattdessen versuchen wir,<br />

eine Gr<strong>und</strong>tendenz <strong>handwerkliche</strong>r Produktionsweise zu beschreiben. Eine solche ist<br />

immer verallgemeinernd <strong>und</strong> kann nur als „Gr<strong>und</strong>ton einer Melodie“ verstanden werden.<br />

Wenn also z. B. davon die Rede ist, dass Gesamtprozesse im Handwerk überschau-<br />

<strong>und</strong> beeinflussbar sind, so ist dies natürlich nicht auf jede Tätigkeit, jeden Betrieb,<br />

jede Kultur <strong>und</strong> jede Zeit übertragbar.<br />

Gerade in der Gegenwart ist auch das produzierende Handwerk vom Trend der Technisierung,<br />

Automatisierung <strong>und</strong> Spezialisierung betroffen <strong>und</strong> Betriebe gehen in unterschiedlicher<br />

Art <strong>und</strong> Weise damit um (siehe Exkurs).<br />

Da uns im Zusammenhang mit dieser <strong>Arbeit</strong> aber vor allem der „Gr<strong>und</strong>ton“ interessiert,<br />

werden im Folgenden hin <strong>und</strong> wieder Bezeichnungen wie „ursprünglich, originär“ oder<br />

ähnliche fallen, welche an dieser Stelle historisch nur oberflächlich belegt sind. Im Literaturverzeichnis<br />

finden sich jedoch weiterführende Angaben/ Quellen, die für eine Vertiefung<br />

verwendet werden können.<br />

42


Handwerkliche <strong>Arbeit</strong>sprozesse<br />

Exkurs: kurzer geschichtlicher Einblick zur Entwicklung des produzierenden Hand-<br />

werks<br />

Handwerkliche Produktionsweise hat sich ursprünglich – wie alle anderen Gewerbe<br />

auch – aus der Subsistenzwirtschaft, also der landwirtschaftlich geprägten Selbstversorgung<br />

<strong>und</strong> Bodenbearbeitung heraus entwickelt (vgl. Negt/ Kluge 1993, S. 162). „Erst<br />

mit der Weiterentwicklung von Werkstoffen <strong>und</strong> Verarbeitungsmethoden bildeten sich<br />

durch <strong>Arbeit</strong>steilung unterschiedliche spezialisierte Handwerke heraus, die ihre Produkte<br />

zunehmend auch über Märkte handelten“ (Rumpf 2003, S. 99).<br />

Als vorherrschende Produktionsweise kann Handwerk bis Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

bezeichnet werden. Die Gesellen <strong>und</strong> Meister 27 produzierten mit einfachen Universalwerkzeugen<br />

<strong>und</strong> dem eigenen Können: die in der Lehre <strong>und</strong> mit den Berufsjahren erworbenen<br />

Kenntnisse <strong>und</strong> <strong>handwerkliche</strong>n Fertigkeiten waren ihr Kapital.<br />

Anfang des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts trat die Massenproduktion weltweit ihren Siegeszug an.<br />

Güter <strong>und</strong> Dienstleistungen wurden nun zu niedrigen Preisen gefertigt <strong>und</strong> vermarktet.<br />

Jede/r sollte sich die industriellen Waren leisten können, der Markt war von einer ungesättigten<br />

Nachfrage nach Primärgütern geprägt (vgl. Ax 1997, S. 104 ff.). In dieser<br />

<strong>und</strong> der folgenden Zeit mussten viele traditionelle vorindustrielle Werkstätten schließen,<br />

sich einem „Funktionswandel“ unterziehen (z. B. eine Dorfschmiede verwandelte<br />

sich in einen Reparaturbetrieb für landwirtschaftliche Maschinen) oder sich durch Anpassung<br />

verändern (z. B. durch Vollmechanisierung oder Spezialisierung) (vgl. Stöckle<br />

2005, S. 9).<br />

Seit Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts wirken sich gesamtgesellschaftliche<br />

Entwicklungstendenzen wie Individualisierung, Singularisierung, Wertewandel <strong>und</strong> die<br />

Erosion traditioneller Lebenszusammenhänge zunehmend auf den Produktmarkt aus<br />

<strong>und</strong> spiegeln sich somit auch in Industrie <strong>und</strong> Handwerk wider (vgl. Ax 1997, S. 106).<br />

Die industrielle Massenproduktion verliert insofern an Bedeutung, als dass von Seiten<br />

der K<strong>und</strong>Innen ein erhöhter Bedarf nach Individualität, Flexibilität <strong>und</strong> Selbstbestimmung<br />

im Konsumverhalten zu verzeichnen ist. Es zeichnet sich ein Trend ab, der ein<br />

neues Leitbild verkörpert: das der „maßgeschneiderten Massenfertigung“ (Ax 1997, S.<br />

108) oder der „k<strong>und</strong>enindividuellen Massenproduktion“ (Gros 2001, S. 57). Die neue<br />

Produktion wird nicht nur als „nachindustriell“, sondern auch als „neohandwerklich“ oder<br />

als „digitales Handwerk“ bezeichnet (vgl. ebd., S. 57).<br />

27 Die hier verwendete männliche Sprachform weist darauf hin, dass Handwerksmeister in der<br />

Regel/ Tradition männlichen Geschlechts waren. Laut einer Untersuchung von Stöckle hatten<br />

die so genannten „Meisterfrauen“ jedoch eine ebenso wichtige, in vielen <strong>handwerkliche</strong>n <strong>Arbeit</strong>en<br />

unterstützende <strong>und</strong> das „System des ganzen Hauses zusammenhaltende“ Funktion im Betriebsablauf,<br />

die allerdings weder in besonderer Weise erwähnt noch entlohnt wurde (vgl. Stöckle<br />

1993, S. 337 ff.). Vgl. in diesem Zusammenhang auch die so genannten „Hausfrauisierung“<br />

von <strong>Arbeit</strong> (z. B. Müller 1998, S. 134 oder Baier 2004).<br />

43


Handwerkliche <strong>Arbeit</strong>sprozesse<br />

Neue technologische Entwicklungen ermöglichen es zunehmend, Unikate oder Kleinserien<br />

mit Hilfe computergesteuerter Programme (wie CAD/ CAM oder CNC-<br />

Programme 28 ) zu produzieren. Mit deren Hilfe können Handwerksbetriebe flexibler auf<br />

Markt <strong>und</strong> K<strong>und</strong>Innen reagieren. Diese können sich z. B. gewünschte Produkte via Internet<br />

selbst designen <strong>und</strong> Betriebe führen die fachliche Umsetzung mit Hilfe oben erwähnter<br />

Programme aus.<br />

Dabei verläuft die Grenze zwischen Handwerk <strong>und</strong> Industrie immer fließender <strong>und</strong><br />

kann kaum mehr trennscharf gezogen werden, denn die Produktionstechniken <strong>und</strong> -<br />

technologien bewegen sich aufeinander zu 29 . Wer also heute von gewerblichem<br />

Handwerk spricht, sollte „romantische“ Vorstellungen von Handarbeit überdenken. Die<br />

Anforderungen an HandwerkerInnen steigen mit der Technisierung <strong>und</strong> Digitalisierung<br />

zunehmend: Handwerkliche Gr<strong>und</strong>fähigkeiten <strong>und</strong> ein Vorstellungsvermögen über einzelne<br />

<strong>Arbeit</strong>sschritte der Fertigung werden ebenso benötigt wie die Fähigkeit zum Umgang<br />

mit komplexen Computerprogrammen. Das Handwerk findet in diesem Kontext<br />

mehr „im Kopf“ statt, als dass es vornehmlich „durch die Hände“ geht.<br />

Im Folgenden wenden wir uns intensiver dem „alten Handwerk“ zu. Hieran möchten wir<br />

den oben genannten Gr<strong>und</strong>ton des <strong>handwerkliche</strong>n <strong>Arbeit</strong>ens verdeutlichen.<br />

Blick auf das „alte Handwerk“:<br />

Der Blick auf das alte Handwerk verführt zum „Ausschweifen“. Besonders interessant<br />

sind z. B. Aspekte lokaler Ökonomie <strong>und</strong> der sozialen Eingeb<strong>und</strong>enheit von Handwerksbetrieben<br />

in das Gemeinwesen. Innerhalb dieses Abschnittes beschränken wir<br />

uns aber auf <strong>handwerkliche</strong> <strong>Arbeit</strong>sweise, die – herausgelöst aus dem Gesamtzusammenhang<br />

– unbeabsichtigterweise vielleicht einen idealisierenden verklärenden Eindruck<br />

entstehen lässt. Vor allem beim Durchforsten der Studie von Frieder Stöckle (s.<br />

u.) wird sehr wohl deutlich, unter welch harten Bedingungen teilweise im Handwerk<br />

gearbeitet wurde. Separat herausgegriffene „Glanzlichter“ spiegeln somit nicht das „Ursprüngliche<br />

in seiner Ganzheit“.<br />

Anstatt einer „Definition“ folgendes Zitat:<br />

„Das alte Handwerk ist kaum noch gegenwärtig, prägte aber über Jahrh<strong>und</strong>erte hinweg<br />

unsere Kultur. Es begründete die Sesshaftigkeit, das <strong>Arbeit</strong>en <strong>und</strong> Leben an einem Ort.<br />

Handwerker sein bedeutete, die eigene Leiblichkeit als Werkzeug auszubilden. Der Beruf<br />

stand in das Gesicht geschrieben. Heute stehen Laienkurse <strong>und</strong> therapeutische<br />

Angebote für Verlust <strong>und</strong> Bedeutung des wirklichen Handwerks“ (dds 2001, S. 81).<br />

28 Computer gestützte Zeichnung, Planung <strong>und</strong> Herstellung von Werkstücken.<br />

29 Definitionsaspekte finden sich z. B. in: Rumpf 2003, S. 112 ff. <strong>und</strong> Stöckle 1993, S. 25 ff.<br />

44


Handwerkliche <strong>Arbeit</strong>sprozesse<br />

Was hier als „wirkliches Handwerk“ bezeichnet wird, meint das vornehmliche <strong>Arbeit</strong>en<br />

mit den Händen. Innerhalb eines solchen Handwerks finden ganzheitliche <strong>Arbeit</strong>sprozesse<br />

statt. Ganzheitlich meint in diesem Zusammenhang, dass die einzelnen <strong>Arbeit</strong>svorgänge<br />

nacheinander bzw. aufeinander aufbauend <strong>und</strong> im Verb<strong>und</strong> miteinander erfolgen.<br />

Produkte werden in der Regel von der Planung über das Herstellen bis hin zum<br />

fertigen Werkstück manuell hergestellt. Auch wenn dabei Werkzeuge <strong>und</strong> Maschinen<br />

eingesetzt werden, die einzelne <strong>Arbeit</strong>sprozesse erleichtern <strong>und</strong> beschleunigen, so<br />

bleibt doch der Gesamtprozess in allen Phasen überschau- <strong>und</strong> beeinflussbar. Die<br />

Mitwirkung <strong>und</strong> Steuerung durch die <strong>Arbeit</strong>skräfte ist dabei zentral. <strong>Arbeit</strong>steilung findet<br />

nur partiell statt, typisch für das Berufsethos ist das so genannten „Allro<strong>und</strong>wissen“<br />

(vgl. Rumpf 2003, S. 125 f.).<br />

Zentral für die <strong>Arbeit</strong>sweise im so genannten „alten Handwerk“ 30 war das Erfahrungswissen:<br />

Handwerkliche <strong>Arbeit</strong>sweise kann als „Wissen aus Erfahrung“ beschrieben werden.<br />

Dieses Wissen geht über die Hände, bezieht alle Sinne mit ein – Handwerker sehen,<br />

hören, riechen, tasten ihre Produkte – <strong>und</strong> wird durch unzählige Wiederholungen gefestigt.<br />

Dazu tragen Erfolg <strong>und</strong> Misserfolg vollbrachter <strong>Arbeit</strong>sschritte bei <strong>und</strong> bestätigen<br />

<strong>und</strong> prägen es (vgl. Stöckle 1993, S. 259 ff.). Interessanterweise beschreibt Stöckle<br />

in seiner Untersuchung, dass es für die befragten Handwerker so gut wie kaum<br />

möglich gewesen sei, dieses Erfahrungswissen in Worten zu beschreiben. Es ist internalisiert<br />

<strong>und</strong> als Teil der Person stark mit ihr verwoben.<br />

„Das <strong>handwerkliche</strong> Erfahrungswissen bedeutet (idealtypisch) die Verfügbarhaltung<br />

<strong>und</strong> jederzeit mögliche Aktivierung sämtlicher Fähigkeiten <strong>und</strong> Fertigkeiten, die bei der<br />

Erreichung eines Produktionszieles oder Teilzieles nützlich sind“ (ebd., S. 263). Damit<br />

verb<strong>und</strong>en ist die Antizipationsfähigkeit in jedem Moment des Produktionsvorgangs, also<br />

die Vorstellungsfähigkeit im Hinblick auf die möglichen nächsten Schritte <strong>und</strong> Variablen.<br />

Somit kann dieses Erfahrungswissen als ganzheitlich bezeichnet werden – es<br />

sorgt auch dafür, dass die Spannung über den ganzen <strong>Arbeit</strong>sprozess durchgehalten<br />

wird. Stöckle (1993, S. 263) fasst zusammen: „Im Gegensatz zur industriellen oder<br />

30 Die charakteristische Darstellung <strong>handwerkliche</strong>r <strong>Arbeit</strong>sprozesse ist vornehmlich nachfolgenden<br />

Quellen entnommen, welche sich bei Interesse an der Thematik sehr gut zur Vertiefung<br />

eignen:<br />

• „Zukunftsfähigkeit durch Handwerk? (...)“ von S. Rumpf, der auf S. 95 ff. eine gute Zusammenfassung<br />

gibt <strong>und</strong> sich seinerseits auf die beiden folgenden Studien bezieht:<br />

• F. Stöckle: „Altes Handwerk im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert (…)“, eine Langzeitstudie zum „aussterbenden<br />

alten Handwerk“ in ländlichen Regionen Baden Württembergs. Untersucht wurden dabei<br />

insbesondere Handwerke des vorindustriellen Typs von ca. 1800 bis 1988.<br />

• C. Müller: „Von der lokalen Ökonomie zum globalisierten Dorf“, eine Untersuchung des Dorfes<br />

Borgentreich in Westfalen, wobei insbesondere die hohe Interdependenz (gegenseitige<br />

Wechselwirkung) von Handwerk <strong>und</strong> Landwirtschaft sowie u. a. nachhaltige Regionalentwicklungen<br />

in den Blick genommen werden.<br />

45


Handwerkliche <strong>Arbeit</strong>sprozesse<br />

post-industriellen <strong>Arbeit</strong> fällt das am Erfahrungswissen gesättigte <strong>und</strong> ‚gesteuerte’ <strong>Arbeit</strong>en<br />

nicht in die Leere der Routine <strong>und</strong> wird ‚entfremdete’ <strong>Arbeit</strong>, sondern wird vom<br />

Handwerker als sinnvoll erfahren.“<br />

3.2 Wirkungen <strong>handwerkliche</strong>r <strong>Arbeit</strong>sprozesse auf den Menschen<br />

„Ich kann meinen Gedanken – also meinen Formensinn walten lassen, die Füße sind in<br />

Bewegung beim Drehen, die Scheibe anschucken <strong>und</strong> die Hände da zu formen. Alles<br />

ist dabei. Alles ist da anstrengend auf die <strong>Arbeit</strong> konzentriert….Ich bin zufrieden, im<br />

wahren Sinn zufrieden.“<br />

Dieses Zitat eines Töpfers (Stöckle 2005, S. 120) bildet einen Übergang vom gewerblichen<br />

Handwerk zur Wirkungsweise auf den Menschen.<br />

Schwerpunkt dieses Kapitels ist das persönliche, gestalterische Erleben, das beim tätig<br />

werden mit den eigenen Händen, welches alle Sinne mit einbezieht, zur Entfaltung<br />

kommen kann.<br />

Im Erstellen von Werkstücken, die nach eigenen Vorstellungen <strong>und</strong> für den Eigengebrauch<br />

bestimmt sind, kommt die gestalterische Komponente nämlich insofern stärker<br />

zum Tragen, als dass sie nicht auftragsgeb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> somit „fremdbestimmt“ ist.<br />

Wir werden nun erläutern, welche Potenziale für die Entwicklung von Menschen wir in<br />

<strong>handwerkliche</strong>n <strong>Arbeit</strong>sprozessen erkennen <strong>und</strong> an welchen Punkten sie dazu beitragen<br />

können, Menschen in ihrer Lebensbewältigung zu unterstützen.<br />

Dazu werden wir Bezug zu verschiedenen theoretischen Konzepten nehmen. Folgende<br />

Potenziale lassen sich herauskristallisieren:<br />

• Persönlichkeitsstärkende Elemente<br />

• <strong>Soziale</strong> Komponenten<br />

• Bezug zu Dingen, die uns umgeben 31<br />

Persönlichkeitsstärkende Elemente<br />

Wie oben schon beschrieben, bietet das <strong>Arbeit</strong>en in ganzheitlichen Zusammenhängen<br />

Erfahrungen, die einen Prozess erlebbar machen.<br />

Dieser Prozess beginnt bei einem gestalterischen Entwurf. Dieser ist geprägt vom<br />

schöpferischen „Ideen spinnen“ – was stelle ich mir vor, wie soll mein Produkt später<br />

aussehen, wofür möchte ich es verwenden etc. Hier kann die eigene Gestaltungskraft<br />

angeregt <strong>und</strong> erfahren werden.<br />

31 Kurt Horz (1997) benennt im Zusammenhang mit <strong>handwerkliche</strong>r <strong>Eigenarbeit</strong> weitere Dimensionen,<br />

wie z. B. eine ökonomische <strong>und</strong> ökologische.<br />

46


Handwerkliche <strong>Arbeit</strong>sprozesse<br />

Weiter geht es mit dem Planen der Umsetzung. Das erfolgt unter Einbezug verschie-<br />

dener Gesetzmäßigkeiten, wie z. B. welches Material steht zur Verfügung, welche Verarbeitungsmöglichkeiten<br />

gibt es <strong>und</strong> wie ist der eigene Kenntnisstand. Dabei kann es<br />

durchaus vorkommen, dass der ursprüngliche Entwurf noch einmal verändert werden<br />

muss.<br />

Die Umsetzung erfordert den Einsatz persönlicher Präsenz. Konzentration <strong>und</strong> Durchhalten<br />

sind gefragt. Das beinhaltet möglicherweise, an eigene Grenzen zu kommen<br />

<strong>und</strong> Widerstände überwinden zu müssen. Dadurch kann die eigene Kraft <strong>und</strong> die Lust<br />

am Tun erlebt werden.<br />

Das <strong>Arbeit</strong>en macht gleichzeitig auch die sinnliche <strong>und</strong> haptische Auseinandersetzung<br />

mit den verwendeten Materialien möglich, welche durchaus ihren „Eigensinn“ haben.<br />

Im Bearbeitungsprozess kann es zusätzlich zu einer Art „Dialog“ mit dem Material<br />

kommen – welches selbst die Rolle eines „Gegenübers“ einnehmen kann.<br />

Wenn ein Versuch nicht gelingt wie beabsichtigt, besteht stets die Möglichkeit, Einfluss<br />

zu nehmen. Diese Ineinflussnahme kann unterschiedlich aussehen – sie kann bedeuten,<br />

zu überlegen, ob man einen Schritt zurückgehen kann, um es erneut zu versuchen<br />

oder ob man vom ursprünglichen Plan abweicht <strong>und</strong> etwas Neues entwickelt.<br />

Der Umgang mit auftretenden Schwierigkeiten <strong>und</strong> Herausforderungen kann (idealerweise)<br />

dazu beitragen, zu erfahren: es gibt viele Wege zu einem Ziel, ich kann sie mit<br />

meinen Möglichkeiten bewältigen <strong>und</strong> flexibel reagieren. 32 Gleichzeitig können eigene<br />

Stärken <strong>und</strong> Schwächen in diesem Rahmen erfahren werden – vor allem solche Eigenschaften<br />

<strong>und</strong> Kompetenzen betreffend, die in gewöhnlichen Erfahrungsräumen wenig<br />

oder gar nicht vorhanden sind. Ein Beispiel: Jugendliche, die im üblichen schulischen<br />

Kontext möglicherweise häufig ihre Schwächen erfahren, können sich <strong>und</strong> ihre<br />

Potenziale über die <strong>handwerkliche</strong> <strong>Arbeit</strong> unter Umständen anders erleben – unerwartete<br />

Kompetenzen, die sonst einfach untergehen, können sichtbar werden.<br />

Innerhalb eines solchen <strong>Arbeit</strong>sprozesses entwickelt sich schrittweise ein selbst gestaltetes<br />

Produkt aus selbst gewähltem <strong>und</strong> eigenhändig bearbeitetem Material. Prägend<br />

für diesen Verlauf ist außerdem, dass das Ziel, nämlich das Produkt, stets konkret erkennbar<br />

<strong>und</strong> der Prozess endlich ist. Er kann sichtbar abgeschlossen werden <strong>und</strong> ist in<br />

Form des Produktes greifbar – dieses lässt sich betrachten, berühren <strong>und</strong> ist möglicherweise<br />

zum täglichen oder außergewöhnlichem Gebrauch bestimmt.<br />

<strong>Soziale</strong> Komponenten<br />

32 Um Herausforderungen dieser Art erfolgreich zu bewältigen, bedarf es unter Umständen Unterstützung,<br />

die ermutigt <strong>und</strong> an den Stärken <strong>und</strong> Fähigkeiten der Menschen ansetzt. In Projekten<br />

der anstiftung wie dem HEi oder Kempodium arbeiten FachanleiterInnen aus diesem Gr<strong>und</strong><br />

bewusst ressourcenorientiert <strong>und</strong> bestärkend. Dazu in Kap II meHerr<br />

47


Handwerkliche <strong>Arbeit</strong>sprozesse<br />

Zusätzlich zu den persönlichkeitsstärkenden Momenten sehen wir soziale Potenziale in<br />

Settings <strong>handwerkliche</strong>n Tuns.<br />

Gemeinsames <strong>Arbeit</strong>en in Gemeinschaftsprojekten kann eine Brücke zwischen Menschen<br />

untereinander bilden, so dass eine „Begegnung über das Werkstück“ entstehen<br />

kann (Kühnlein 1997, S. 45). Eine solche Begegnung kann Erfahrungen gemeinsamen<br />

Miteinanders ermöglichen. Dieses kann sowohl Momente gegenseitiger Unterstützung<br />

als auch konfliktbesetzte Augenblicke enthalten, die es zu lösen gilt. Somit wird soziales<br />

Lernen möglich <strong>und</strong> soziale Kompetenzen können über ein gemeinsames Medium,<br />

ein kollektives Ziel erfahren <strong>und</strong> erweitert werden.<br />

Wenn ein entsprechend zugänglicher Rahmen in Form eines Bürgertreffs gegeben ist,<br />

wie z. B. im Haus der <strong>Eigenarbeit</strong>, kann <strong>handwerkliche</strong>s <strong>Arbeit</strong>en auch integrative Wirkungen<br />

haben, denn hier können Menschen unterschiedlichen Interesses zusammentreffen<br />

<strong>und</strong> sich über die <strong>Arbeit</strong> begegnen.<br />

Beim <strong>handwerkliche</strong>n <strong>Arbeit</strong>en in pädagogischen Kontexten (siehe auch weiter unten)<br />

kann in der Beziehungsarbeit zwischen AdressatInnen <strong>und</strong> Professionellen <strong>handwerkliche</strong>s<br />

<strong>Arbeit</strong>en die Funktion eines „Gemeinsamen Dritten“ (Wedekind 1986, S.98) übernehmen,<br />

eine Art Türöffner im Sinne eines niederschwelligen Zugangs, der Anknüpfungspunkt<br />

für weitere Themen sein kann, die auf direktem Weg – nur über das<br />

Medium Sprache – vielleicht nicht möglich sind.<br />

Bezug zu Dingen, die uns umgeben<br />

Wir gehen davon aus, dass über aktives, handwerklich-kreatives Tun ein direkter Bezug,<br />

eine persönliche Verbindung zu den Materialien <strong>und</strong> Dingen entsteht, die erstellt<br />

werden. Es gibt eine gemeinsame Geschichte. Diese ist einerseits sehr individuell,<br />

denn jeder Mensch verbindet mit dem Entstehungsprozess eigene Erinnerungen <strong>und</strong><br />

Gefühle, mit unterschiedlicher Prägung <strong>und</strong> Intensität. Aber auch Gemeinschaftsgefühle<br />

können – z. B. durch Gruppenprojekte – eine Verbindung darstellen.<br />

Wenn die entstandenen Objekte Gebrauchsgegenstände im Alltag darstellen, die verwendet<br />

werden oder einfach in der täglichen Umgebung präsent sind, kann die Identifikation<br />

mit den unmittelbaren Lebensräumen erhöht werden <strong>und</strong> es kann zu einer größeren<br />

Achtsamkeit <strong>und</strong> Wertschätzung gegenüber Dingen kommen. Die folgende<br />

Aussage eines Hauptschülers aus München, der mit seiner Klasse im HEi an einem<br />

Projekt teilgenommen hat, verdeutlicht diesen Punkt: „Wir machen das Schülercafé<br />

selber. Wir brauchen keine Möbel zu kaufen. Dann gehen wir besser damit um, weil wir<br />

an die schwere <strong>Arbeit</strong> denken, die darin steckt.“ (Zitat aus: Redler 2006, S. 10).<br />

Aspekte des Wohlfühlens <strong>und</strong> der eigenen Verortung <strong>und</strong> Zugehörigkeit in der alltäglichen<br />

Umgebung spielen dabei aus unserer Sicht eine entscheidende Rolle.<br />

48


Handwerkliche <strong>Arbeit</strong>sprozesse<br />

An diesem Punkt wird auch eine Verknüpfung zu gegenwärtig häufig erhobenen Nachhaltigkeitsforderungen<br />

deutlich, die für eine kritische Auseinandersetzung mit zunehmendem<br />

Konsumverhalten in unserer Gesellschaft plädieren.<br />

Bezug zu theoretischen Konzepten:<br />

Um die Wirkungen <strong>handwerkliche</strong>r Prozesse auf Menschen in einen theoretischen Bezug<br />

zu setzen, stellen wir Bezüge zu den Konzepten Flow <strong>und</strong> Salutogenese dar 33 .<br />

Flow<br />

Anhand obigen Zitats des Töpfers, in welchem er sein Erleben bei der <strong>handwerkliche</strong>n<br />

<strong>Arbeit</strong> beschreibt, kann der von dem Psychologen M. Csikszentmihalyi geprägte Begriff<br />

des Flow gut verdeutlicht werden. Bei seiner jahrelangen Forschung über positive Aspekte<br />

menschlicher Erfahrung kommt er zu der Erkenntnis, dass Freude, Kreativität<br />

<strong>und</strong> der Prozess vollständigen Einssein mit dem Leben (Flow) Menschen zu einer besseren<br />

Lebensqualität (<strong>und</strong> zu mehr Glück) verhelfen können (vgl. Csikszentmihalyi<br />

2005, S. 11). Laut seiner Forschung sind Momente eines solchen stärkenden Einsseins<br />

davon geprägt, dass „Körper <strong>und</strong> Seele eines Menschen bis an die Grenzen angespannt<br />

sind, in dem freiwilligen Bemühen, etwas Schwieriges <strong>und</strong> etwas Wertvolles<br />

zu erreichen“ (Csikszentmihalyi 2005, S.16). Mensch <strong>und</strong> Tätigkeit „verschmelzen“ in<br />

diesen Momenten miteinander, die Tätigkeit geschieht um ihrer selbst willen.<br />

Die Betonung liegt für ihn dabei auf einer aktiven Handlung, in der Menschen sich<br />

selbst im Tun, sich selbst tätig erfahren, vielleicht an ihre Grenzen kommen <strong>und</strong> erfahren,<br />

dass sie diese Herausforderung bewältigen können. Dabei ist ein entscheidender<br />

Punkt, die Kontrolle über das Tun zu haben, selbst zu steuern <strong>und</strong> aktiv beteiligt zu<br />

sein.<br />

Solche Erfahrungen – das können Erfahrungen im Sport, bei der <strong>Arbeit</strong>, letztlich bei jeder<br />

Tätigkeit sein – können unter Umständen auch sehr schmerzhaft <strong>und</strong> anstrengend<br />

sein, insbesondere wenn Menschen an eigene Grenzen gehen. Dennoch ist diese Anstrengung<br />

lohnend, denn sie vermittelt ein Gespür für die eigene Selbstwirksamkeit 34 .<br />

Neben den herausfordernden Elementen von flow-Erlebnissen sind unseres Erachtens<br />

jedoch auch Routinen <strong>und</strong> bekannte, vertraute Abläufe wichtig <strong>und</strong> stärkend. Sie können<br />

Sicherheit über das eigene Handeln geben <strong>und</strong> bilden häufig auch die Gr<strong>und</strong>lage<br />

dafür, dass die Bewältigung von Herausforderungen erst möglich wird. Handwerkliche<br />

33 Wir sehen durchaus auch Bezüge zu weiteren theoretischen Wissensbeständen, z. B. der<br />

Ergotherapie, der Design- <strong>und</strong> Kunsttherapie oder der Gehirnforschung, eine Auseinandersetzung<br />

mit allen würde aber zu weit führen.<br />

34 Den Begriff der Selbstwirksamkeit hat u. a. der Lernpsychologe Albert Bandura geprägt. Er<br />

meint damit die gr<strong>und</strong>legende Lernerfahrung, dass das eigene Tun Wirkung zeigt, dass Einflussnahme<br />

<strong>und</strong> Gestaltung der Umwelt <strong>und</strong> der Beziehungen durch eigenes Handeln geschieht.<br />

49


Handwerkliche <strong>Arbeit</strong>sprozesse<br />

<strong>Arbeit</strong>sweise kann aus unserer Sicht eine gute Mischung aus Routine-Handlungen <strong>und</strong><br />

Experimentier-Möglichkeiten bieten.<br />

Der Töpfer ist eins mit seiner Tätigkeit, <strong>und</strong> er ist zufrieden. Glück <strong>und</strong> Zufriedenheit,<br />

das durch eigenes Tun entsteht, stärkt Menschen in ihrer Persönlichkeit, wirkt motivierend<br />

<strong>und</strong> macht ein Gefühl der Sinnhaftigkeit des eigenen Handelns erfahrbar.<br />

Anhand nachfolgenden Beispiels eines Druck- <strong>und</strong> Buchbindeprojektes (initiiert <strong>und</strong><br />

durchgeführt von mir selbst (K.H.)) im Mädchentreff Tübingen kann dies noch etwas<br />

plastischer werden:<br />

Zu Beginn des Projektes wurden gemeinsam eigene Bezugspapiere bedruckt, die später<br />

dann für den Bucheinband verwendet werden sollten. Zunächst waren die Mädchen<br />

vor allem recht ungeduldig <strong>und</strong> konnten sich nicht vorstellen, wie aus den Rohmaterialien<br />

(Farbe, Papier, Pappe, Leim, Faden, Werkzeuge…) ein fertiges Buch entstehen<br />

sollte. Gleichzeitig motivierte ein mitgebrachtes Beispiel aber auch, sich an die <strong>Arbeit</strong><br />

zu machen. Die einzelnen Schritte des Buchbindens, die teilweise eine hohe Konzentration,<br />

exaktes <strong>Arbeit</strong>en <strong>und</strong> vor allem Durchhalten erfordern, glichen bei fast allen<br />

Mädchen einer Berg- <strong>und</strong> Talfahrt. Von Momenten, die „beflügelten“, weil ein <strong>Arbeit</strong>sschritt<br />

am gelingen war (z. B. das Entstehen eines tollen Musters mit leuchtenden Farben<br />

beim Papier-Drucken), über verzweifelte Momente, wenn etwas nicht klappen wollte<br />

(z. B. wenn sich Leim überall befand, nur nicht da, wo er sollte) war alles dabei –<br />

<strong>und</strong> Ermutigung meinerseits oder durch andere Mädchen, die unterstützen konnten,<br />

war ein wichtiges Element in diesem Prozess. Am Ende überwog bei allen Mädchen<br />

der Stolz darüber, „es geschafft zu haben“ <strong>und</strong> am Ende ein Buch in den Händen zu<br />

halten.<br />

Solche Gefühle <strong>und</strong> Erfahrungen können unseres Erachtens nach Ressourcen sein,<br />

die „abgerufen“ <strong>und</strong> adaptiert werden können.<br />

Salutogenese <strong>und</strong> Kohärenz<br />

Ein weiteres Modell, das sich gut eignet, um die Wirkungsweise <strong>handwerkliche</strong>r Prozesse<br />

zu verdeutlichen, ist das der Salutogenese. Dieser Ansatz richtet den Blick (im<br />

Gegensatz zu dem noch immer gängigeren biomedizinischen, pathogenetischen Modell<br />

von Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit) auf Faktoren wie Wohlbefinden, Ressourcen <strong>und</strong><br />

Widerstandskräfte von Menschen. Der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky geht darin<br />

der Frage nach, was Menschen ges<strong>und</strong> erhält, <strong>und</strong> erarbeitet damit eine Gr<strong>und</strong>lage für<br />

die Ges<strong>und</strong>heitsförderung (hiermit verb<strong>und</strong>en ist das Plädoyer für einen Paradigmenwechsel:<br />

nämlich von einer Defizit- zu einer Ressourcenorientierung zu gelangen).<br />

50


Handwerkliche <strong>Arbeit</strong>sprozesse<br />

Antonovsky hat in diesem Zusammenhang den Begriff des Kohärenzsinns (kohärent =<br />

zusammenhängend, „Sinn des Zusammenhangs“) geprägt. Das Konzept des Kohärenzgefühls<br />

beschreibt „die Fähigkeit, angesichts vielfältiger gesellschaftlicher Optionen<br />

ein Gefühl von Verstehbarkeit, Sinnhaftigkeit <strong>und</strong> Handhabbarkeit zu entwickeln"<br />

(vgl. Wydler et al. 2000, S. 14). Der Kohärenzsinn veranschaulicht damit die Möglichkeit<br />

von Menschen, ihnen widerfahrene Ereignisse <strong>und</strong> Anforderungen<br />

• verstehen zu können (als geordnete, strukturierte Erlebnisse <strong>und</strong> sie sinnvoll interpretieren<br />

zu können),<br />

• sie als in der Biographie bedeutungsvoll einzuordnen <strong>und</strong><br />

• Situationen gestalten/ Einfluss nehmen zu können.<br />

Nach Antonovsky stellt der Kohärenzsinn die Gr<strong>und</strong>haltung eines Menschen gegenüber<br />

der Welt <strong>und</strong> ihren Ereignissen dar, er bezeichnet diese Haltung auch als „(…)<br />

globale Orientierung (…), die das Maß ausdrückt, in dem man ein durchdringendes,<br />

andauerndes, aber dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, daß die eigene interne<br />

<strong>und</strong> externe Umwelt vorhersehbar ist <strong>und</strong> daß es eine hohe Wahrscheinlichkeit gibt,<br />

daß sich die Dinge so entwickeln werden, wie vernünftigerweise erwartet werden<br />

kann.“ (Antonovsky 1997, S. 16). Ein gutes Kohärenzgefühl stärkt demnach Menschen<br />

in ihrem Umgang mit Herausforderungen <strong>und</strong> Stressoren.<br />

Bei der Herausbildung <strong>und</strong> Entwicklung des Kohärenzgefühls spielen soziokulturelle,<br />

biographische <strong>und</strong> interaktionistische Faktoren eine Rolle 35 .<br />

Sehr interessant sind in diesem Zusammenhang auch Verknüpfungen zwischen dem<br />

Kohärenzgefühl <strong>und</strong> der Identitätsentwicklung (vgl. Höfer 2000, S. 57 f. <strong>und</strong> Keupp et<br />

al. 1999, S. 243 ff.). Auf diese Ausführungen kann hier nicht detailliert eingegangen<br />

werden. Als wichtig erachten wir in unserem Zusammenhang aber, dass gerade in der<br />

Zweiten oder Spätmoderne, die für Subjekte geprägt ist von fragmentierten, zersplitterten<br />

Erfahrungen <strong>und</strong> Widersprüchlichkeiten – also eben nicht von ganzheitlichen Sinnzusammenhängen<br />

– die Fähigkeit, eigene Verknüpfungen <strong>und</strong> Passungen herzustellen<br />

<strong>und</strong> Ereignissen in der Biografie <strong>und</strong> im täglichen Erleben eine Bedeutungen zu geben,<br />

besonders wichtig ist.<br />

Greift man Gedanken des Kohärenzkonzeptes auf <strong>und</strong> übersetzt sie mit dem Begriff<br />

einer Lebensbewältigungsressource (siehe auch Kap. I 4.5), so können Prozesse<br />

35 Über die frühere Annahme Antonovskys, das Kohärenzgefühl entwickle sich vornehmlich in<br />

der Kindheit, besteht im fachlichen Diskurs aktuell keine Einigkeit. Die Einschätzungen sind hier<br />

unterschiedlich, u. a. aufgr<strong>und</strong> bislang wenig durchgeführter Studien <strong>und</strong> der Schwierigkeit,<br />

Messmethoden zu finden, die der Komplexität des Gegenstandes gerecht werden (vgl. Faltermaier<br />

2000, S. 188 f.). Es gibt aber durchaus Ergebnisse, die Annahmen begründen, dass das<br />

Kohärenzgefühl auch in späteren Lebensabschnitten veränderbar ist (z. B. im Zusammenhang<br />

mit Psychotherapie: vgl. Fäh 2000, S. 149 ff.).<br />

51


Handwerkliche <strong>Arbeit</strong>sprozesse<br />

<strong>handwerkliche</strong>n <strong>Arbeit</strong>ens exemplarisch für das Erfahren bewältigbarer Aufgaben stehen.<br />

Beim <strong>handwerkliche</strong>n Tun werden die drei Momente Verstehbarkeit, Handhabbarkeit<br />

<strong>und</strong> Sinnhaftigkeit sicht- <strong>und</strong> erfahrbar. Ich möchte etwas herstellen, was für mich einen<br />

Sinn hat, ich muss mir überlegen, wie ich es umsetzen, also wie ich es handhaben<br />

kann, <strong>und</strong> ich muss verstehen, wie es funktioniert. Also kann ich diese drei Dinge erfahren.<br />

Im oben beschriebenen Beispiel vom Buchbinden finden sich alle diese Elemente.<br />

Wie in Bezug auf flow-Momente schon angedeutet, so kann unserer Vermutung nach<br />

dieses Erleben auch zur Bewältigung anderer Lebenssituationen beitragen, denn es<br />

trägt zu einer Stärkung der Persönlichkeit bei.<br />

Kritische Anmerkung/ Relativierung:<br />

Bei der hier angesprochenen Idee, über die individuelle Stärkung des Kohärenzgefühls<br />

durch <strong>handwerkliche</strong>s <strong>Arbeit</strong>en eine mögliche Verbesserung der Lebensbewältigung zu<br />

erreichen, müssen wir „uns selbst warnen“: Es besteht dabei die Gefahr der Individualisierung,<br />

bei der die komplexen strukturellen Lebensbedingungen von Menschen auf<br />

einem „Nebenschauplatz abgestellt werden“. Wydler et al. merken an, dass für die<br />

Entwicklung eines hohen Kohärenzsinns ein gewisses Maß an Handlungsfreiheit vorhanden<br />

sein muss (vgl. Wydler et al., S.200). Eine solche kann in der Regel erst wachsen,<br />

wenn elementare Gr<strong>und</strong>bedürfnisse gesichert sind. Wenn wir also an dieser Stelle<br />

eine Verknüpfung herstellen, so ist diese als kleines Steinchen innerhalb eines großen<br />

vielschichtigen Mosaiks zu sehen.<br />

Transfer:<br />

Die Frage, wie es gelingt, exemplarische Erfahrungen, wie sie in <strong>handwerkliche</strong>n <strong>Arbeit</strong>sprozessen<br />

ermöglicht werden, in den Alltag zu transferieren, stellt sich hier, wie<br />

auch in anderen Bereichen der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> (z. B. in der Erlebnispädagogik). An dieser<br />

Stelle kann nicht vertiefend darauf eingegangen werden (vertiefend hierzu z. B.<br />

Witte 2002). Aus unserer Sicht wären wiederholte Erfahrungen ideal, die Selbstwertgefühl<br />

<strong>und</strong> Selbstbild nachhaltig stärken <strong>und</strong> zu neuen Herausforderungen ermutigen.<br />

Dazu sind unseres Erachtens Gelegenheitsstrukturen hilfreich <strong>und</strong> vorteilhaft, wie sie<br />

die anstiftung mit ihren <strong>Eigenarbeit</strong>szentren geschaffen hat. Doch dazu später in der<br />

Untersuchung der Praxis meHerr<br />

3.3 Handwerkliche Tätigkeiten <strong>und</strong> Pädagogik<br />

52


Handwerkliche <strong>Arbeit</strong>sprozesse<br />

Zwar konnten wir kaum Literatur finden, die sich explizit mit den Wirkungen <strong>handwerkliche</strong>n<br />

Tuns auf theoretischer Ebene beschäftigt, wohl aber gibt es bereits eine lange<br />

Tradition des Handwerks als Medium in der Pädagogik. Einige Beispiele sind im Folgenden<br />

knapp umrissen, die in unseren theoretischen Überlegungen gewonnenen Überzeugungen<br />

finden sich in den Konzepten wieder.<br />

Schule <strong>und</strong> Bildung:<br />

In der Bildungsdebatte tauchen im Zusammenhang mit der Forderung nach ganzheitlichem<br />

Lernen immer wieder Überlegungen auf, die mit Begriffen wie „praktisches Lernen“<br />

(Flitner 2001, S. 93 f.) oder „Handlungsorientierung“ (Stöckle 1993, S. 450 f.) benannt<br />

werden.<br />

Wichtige Traditionslinien waren dabei das von Pestalozzi formulierte Postulat vom<br />

„Lernen mit Kopf, Herz <strong>und</strong> Hand“ sowie die reformpädagogische Bewegung Anfang<br />

des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts. Dort tauchte <strong>handwerkliche</strong>s <strong>Arbeit</strong>en als pädagogisches Medium<br />

in verschiedenen Schulkonzepten auf. Dabei wurde <strong>handwerkliche</strong>r Unterricht zum<br />

einen als Ausgleich zum Übergewicht an theoretischen Fächern gefordert. „<strong>Arbeit</strong>“<br />

wurde in der reformpädagogischen Diskussion zudem als eine elementare Dimension<br />

des Lebens erachtet, so dass Auseinandersetzung mit <strong>Arbeit</strong>svorgängen schon in der<br />

Schule gelernt werden sollte (vgl. Flitner 2001, S. 77).<br />

In Kerschensteiners Idee der <strong>Arbeit</strong>sschule wurde handwerklich-praktisches <strong>Arbeit</strong>en<br />

zu einem Kerninhalt des Bildungskonzeptes. Er sah darin die Möglichkeit, Kindern <strong>und</strong><br />

Jugendlichen durch praktisches Tun staatsbürgerliche <strong>und</strong> moralische Erziehung zu<br />

vermitteln. Zum einen begründete er dieses Medium damit, dass Zugang <strong>und</strong> Motivation<br />

für Kinder <strong>und</strong> Jugendliche über Handarbeit <strong>und</strong> das Herstellen selbst gefertigter<br />

Werkstücke, also das Tun in wirklichkeitsnahen Zusammenhängen, erleichtert würde<br />

(vgl. Flitner 2001, S. 82). Wirksam tätig sein können habe für Kinder eine Bedeutung,<br />

die sich aus den Anforderungen im Leben ergibt. Außerdem lägen die Qualitätsanforderungen<br />

im Werkstück selbst (<strong>und</strong> seiner Funktionalität) begründet – die <strong>Arbeit</strong> produziere<br />

insofern ihre Beurteilung selbst mit (vgl. ebd. S. 83). Zum anderen sah er im<br />

gemeinsamen schulischen <strong>Arbeit</strong>en in einem Projekt oder an einem Werkstück eine<br />

Gr<strong>und</strong>lage zur Förderung sozialen Handelns <strong>und</strong> im weiteren Sinne der Einübung<br />

„bürgerliche[r] Tugenden“: „ (…) das Einüben in die Tugenden der <strong>Arbeit</strong> im Zusammenhang<br />

des sozialen (…) Bewusstseins; die Erfahrung eines jeden: Ich arbeite nicht<br />

nur für mich selbst, sondern auch für die anderen.“ (ebd., S. 85). Dabei ging er von der<br />

<strong>Arbeit</strong>sgemeinschaft als Kernstück des Soziallebens <strong>und</strong> der Kooperation aus (vgl.<br />

ebd. S. 84).<br />

53


Handwerkliche <strong>Arbeit</strong>sprozesse<br />

In etwa zur gleichen Zeit entwickelte sich die Waldorfpädagogik nach Rudolf Steiner.<br />

Sie integriert bis heute <strong>handwerkliche</strong>s <strong>Arbeit</strong>en als Teil einer umfassenden ganzheitlichen<br />

Bildung im Lehrplan mit dem übergeordneten Ziel, „den jungen Menschen zu sich<br />

selbst zu führen, sich als ein selbst-tätiges Wesen, ein ‚Ich’ zu erleben, das in der Gemeinschaft<br />

mit anderen Menschen ein ‚Wir’ finden kann“ (Martin 2001, S. 261). Handwerk<br />

mit Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen wird in diesem Zusammenhang als ein Medium<br />

eingesetzt, das Erfahrungen mit sinnlichen, tast-, greif- <strong>und</strong> formbaren Materialien ermöglicht.<br />

Innerhalb dieses Erfahrens werden körperliche <strong>und</strong> seelische Willensanstrengung<br />

<strong>und</strong> die Überwindung von Widerständen (Materialien aus der Natur bearbeiten<br />

<strong>und</strong> Durchhalten) ebenso gefordert wie gestalterische <strong>und</strong> ästhetische Aspekte.<br />

Außer dem Tun als Prozess, der an sich schon eine Entwicklung <strong>und</strong> Ausbildung verschiedener<br />

Fertigkeiten <strong>und</strong> Fähigkeiten bedeutet, werden dabei auch soziale Aspekte<br />

für wichtig erachtet. Im Sinne des anthroposophischen Menschenbildes werden <strong>handwerkliche</strong><br />

Tätigkeiten im Unterricht entsprechend den Entwicklungsstufen der Kinder<br />

<strong>und</strong> Jugendlichen eingesetzt (das bedeutet z. B., dass bis zur vierten Klasse so genannten<br />

„weiche Handwerksformen“ wie Häkeln <strong>und</strong> Stricken unterrichtet werden, erst<br />

später kommt das so genannten „harte Handwerk“ dazu, das u. a. Holz- <strong>und</strong> Metallbearbeitung<br />

beinhaltet) (vgl. Stuhlmann 2001, S, 268 f.).<br />

Stöckle zieht in seiner Studie zum alten Handwerk einen Bogen zur schulischen Didaktik<br />

<strong>und</strong> sieht dies als Chance für komplexe Lernprozesse. Exemplarisch verdeutlicht er<br />

aus pädagogischer Sicht Möglichkeiten zur Integration von Handwerkstechniken als<br />

Teil des Unterrichts für verschiedene Altersstufen (Stöckle 1993, S. 450 ff.).<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>:<br />

In der Praxis der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> in therapeutischen Einrichtungen wird die Integration<br />

<strong>handwerkliche</strong>r Tätigkeiten in den verschiedensten <strong>Arbeit</strong>sfeldern ebenfalls praktiziert.<br />

Sei es in der <strong>Arbeit</strong> mit Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen oder mit Menschen, die von<br />

Sucht oder psychischer Erkrankung betroffen sind. Dabei sind die Übergänge von Pädagogik<br />

zu Therapie fließend <strong>und</strong> nicht leicht abzugrenzen. Besonders in der Kunst<strong>und</strong><br />

Ergotherapie werden die Potenziale künstlerisch-<strong>handwerkliche</strong>r Tätigkeiten genutzt<br />

<strong>und</strong> gezielt therapeutisch eingesetzt, um Heilungsprozesse zu unterstützen.<br />

Für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> rücken dabei Prozesse des Gestaltens im Hier <strong>und</strong> Jetzt mit den<br />

aktuell vorhandenen Möglichkeiten <strong>und</strong> Ressourcen in den Vordergr<strong>und</strong>. Die damit<br />

verknüpften Ziele können der einer therapeutischen Maßnahme dabei durchaus ähnlich<br />

sein (z. B. wenn es darum geht, Entwicklungsprozesse anzuregen oder darum,<br />

Menschen so zu stärken, dass sie ihren Alltag gelingender bewältigen können). Der<br />

Blickwinkel <strong>Soziale</strong>r <strong>Arbeit</strong> ist dabei allerdings weniger eng auf das Individuum allein<br />

54


Handwerkliche <strong>Arbeit</strong>sprozesse<br />

gerichtet sein, sondern um sozialisationsbedingte <strong>und</strong> lebensweltliche Faktoren erweitert<br />

(mehr dazu in Kapitel I 4.5).<br />

3.4 Möglichkeiten <strong>und</strong> Grenzen des Mediums Handwerk<br />

Wie in Kap. 3.2 beschrieben, kann Handwerk, als Medium eingesetzt, durch sein greifbares<br />

Ziel einen überschaubaren <strong>und</strong> auch motivierenden Rahmen bieten. Die Funktionalität<br />

eines erstellten Produktes kann einen Bezug zur eigenen Lebenswelt herstellen<br />

– es hat einen konkreten Gebrauchswert, der eine Brücke zum Alltag bauen<br />

kann 36 .<br />

Gleichzeitig kann ein solcher Rahmen – wenn er nicht flexibel gefasst wird – jedoch<br />

auch einengen. Er kann bspw. weniger experimentelle Potenziale bieten als das Medi<br />

um Kunst, das prinzipiell weniger auf einen Gebrauchswert ausgerichtet ist. Zudem<br />

sind die oben beschriebenen Möglichkeiten zur Veränderung bei Nicht-Gelingen eines<br />

Teilschrittes begrenzt – z. B. in Bezug auf Material (wenn z. B. bei einer Holzarbeit zu<br />

viel abgesägt wurde, kann das nicht ohne weiteres revidiert werden) <strong>und</strong> insbesondere<br />

in Bezug auf die Verwendbarkeit (Funktionalität) des Produktes – was Frustration <strong>und</strong><br />

Demotivation auslösen kann. Das kann einerseits ein Stück Realität abbilden <strong>und</strong> erfahrbar<br />

machen, wo eigene Stärken <strong>und</strong> Schwächen liegen, also die Selbsteinschät<br />

zung stärken. Andererseits können aber unter Umständen auch Erfahrungen des<br />

Scheiterns gefestigt werden, wenn keine befriedigende Lösung gef<strong>und</strong>en wird. In der<br />

Pädagogik sollte deshalb<br />

das Medium immer im Dienst der Ziele stehen <strong>und</strong> sensibel<br />

ausgewählt<br />

werden.<br />

Fazit<br />

Zusammenfassend halten wir fest, dass <strong>handwerkliche</strong>s <strong>Arbeit</strong>en, integriert in ein bedachtsam<br />

„inszeniertes Setting“, das einem Möglichkeitsraum gleicht <strong>und</strong> in dem ein<br />

unterstützender Geist spürbar ist, ein Medium zu mehr Selbstbestimmung <strong>und</strong> Selbst-<br />

befähigung darstellen kann. Als solches betrachtet bietet es zudem Potenziale zu einem<br />

(z. B. um das Medium<br />

Sprache) erweiterten Erleben eigener Kompetenzen <strong>und</strong><br />

Ausdrucksformen.<br />

Handwerkliche <strong>Arbeit</strong>sweise kann den mehrfach beschriebenen Entfremdungstendenzen<br />

entgegenwirken, denn sie ermöglicht ein überschaubares <strong>Arbeit</strong>en in Zusammen-<br />

hängen. Sie sollte – wie jede Methode in der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> - allerdings nicht zum<br />

36 Vgl. in diesem Zusammenhang die Evaluation der Mädchenwerkstatt Stuttgart: in der Auswertung<br />

mehrerer Projektwochen zur Berufsorientierung in Haupt- <strong>und</strong> Förderschulen wurde<br />

von Seiten der Mädchen als ein zentrales motivationssteigerndes Moment die selbst hergestellten<br />

Produkte benannt, die für sie als attraktiv <strong>und</strong> im Alltag verwertbar eingeschätzt wurden<br />

(Goltz 2004, S. 24)<br />

55


Handwerkliche <strong>Arbeit</strong>sprozesse<br />

Selbstzweck werden. Dahinter muss immer eine Zielformulierung stehen. In diesem<br />

Sinne sehen wir <strong>handwerkliche</strong>s <strong>Arbeit</strong>en: als Medium, das unterstützend eingesetzt<br />

werden<br />

kann, um den übergeordneten Zielen <strong>Soziale</strong>r <strong>Arbeit</strong> gerecht zu werden.<br />

56


4. Standortbestimmung <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

Standortbestimmung <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

In diesem Kapitel wollen wir die Ziele <strong>und</strong> Aufgaben der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> knapp umreißen,<br />

um dann auf den Bedarf ihrer reflexiven Neuausrichtung in der <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft<br />

hinzuweisen. Die Theoriekonstrukte Lebensweltorientierung <strong>und</strong> Lebensbewältigung<br />

werden skizziert.<br />

Da wir <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> im Kontext des Überbegriffes <strong>Arbeit</strong> betrachten, wählen wir einen<br />

Einstieg in dieses Kapitel über die bereits besprochene historische Bedeutung von <strong>Arbeit</strong><br />

als Ausgangspunkt für eine Definition. „<strong>Arbeit</strong>“ wird verstanden als notwendige Tätigkeit<br />

von Menschen, um den eigenen Lebensunterhalt zu sichern durch Herstellen<br />

von Lebens-Mitteln, Werkzeugen <strong>und</strong> Gütern, also durch die Herstellung von Produkten.<br />

In Kombination mit dem Wort „sozial“ bedeutet also <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>: die Herstellung oder<br />

Produktion des <strong>Soziale</strong>n. Da wo Menschen in Bezug zu ihrer Umwelt oder zu ihren<br />

Mitmenschen stehen, ist „das <strong>Soziale</strong>“ wertneutral gesehen jedoch immer schon vorhanden.<br />

Sozial heißt aber normativ verstanden auch wohltätig, menschlich, gemeinnützig,<br />

es ist also positiv besetzt <strong>und</strong> am besten in Abgrenzung zu den, in negativ bewertetem<br />

Zusammenhang gebrauchten Worten asozial oder unsozial zu verstehen.<br />

Insofern muss man <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> als Re-Produktion oder Wieder-Herstellung des<br />

(normativ) „guten“ <strong>Soziale</strong>n definieren. Sozialarbeiterinnen <strong>und</strong> Sozialarbeiter sind,<br />

technisch ausgedrückt, Re-Konstrukteure des <strong>Soziale</strong>n.<br />

4.1 Ziele <strong>und</strong> Aufgaben der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong><br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> kann das ‚<strong>Soziale</strong>’ nicht wertneutral betrachten, sie braucht Zielvorstellungen<br />

normativer Art, die sich aus einem von der Profession geteilten Menschen- <strong>und</strong><br />

Weltbild ableiten. Der vom internationalen Verband der Sozialarbeiter erarbeitete Code<br />

of ethics (IFSW) bietet hierzu die Gr<strong>und</strong>lage.<br />

Die zwei zentralen Prinzipien sind Achtung der Menschenwürde <strong>und</strong> soziale Gerechtigkeit:<br />

• „<strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> basiert auf der Achtung vor dem besonderen Wert <strong>und</strong> der Würde<br />

aller Menschen <strong>und</strong> aus den Rechten, die sich daraus ergeben. Sozialarbeiter/innen<br />

sollen die körperliche, psychische, emotionale <strong>und</strong> spirituelle Integrität<br />

<strong>und</strong> das Wohlergehen einer jeden Person wahren <strong>und</strong> verteidigen.“<br />

57


Standortbestimmung <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

• „Sozialarbeiter/innen haben eine Verpflichtung, soziale Gerechtigkeit zu fördern in<br />

Bezug auf die Gesellschaft im Allgemeinen <strong>und</strong> in Bezug auf die Person, mit der<br />

sie arbeiten.“<br />

(www.ifsw.org/en/p38000739.html)<br />

Auf Basis der von der IFSW formulierten Wertorientierungen kann man <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

als Menschenrechtsprofession, Gerechtigkeitsprofession oder Integrationsprofession<br />

bezeichnen. Die von der IFSW 2004 verabschiedete Definition <strong>Soziale</strong>r <strong>Arbeit</strong> lautet in<br />

der deutschen Übersetzung:<br />

„Die Profession <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> fördert sozialen Wandel, Problemlösungen in menschlichen<br />

Beziehungen <strong>und</strong> die Stärkung <strong>und</strong> Befreiung von Menschen, um das Wohlergehen<br />

zu stärken. Gestützt auf Theorien über menschliches Verhalten <strong>und</strong> sozialer Systeme<br />

greift Sozialarbeit an den Stellen ein, wo Menschen mit ihrer Umwelt in<br />

Wechselwirkung stehen. Die Gr<strong>und</strong>lagen von Menschenrechten sozialer Gerechtigkeit<br />

sind für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> wesentlich.“<br />

Auf ihrer Internetseite macht die IFSW auch darauf aufmerksam, dass die professionelle<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts als „dynamisch <strong>und</strong> sich weiterentwickelnd“ verstanden<br />

wird. Das bedeutet, sie kann nicht theoretisch <strong>und</strong> praktisch stehen bleiben,<br />

sie muss sich in dem selben Maße, wie gesellschaftliche Bedingungen sich verändern,<br />

wie gesellschaftliche Leitbilder einem Entwicklungsprozess unterliegen, selbst reflektieren<br />

<strong>und</strong> immer wieder neu positionieren.<br />

Ein anderer Zugang zu der Frage, was <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> ausmacht, ist die Frage nach ihrer<br />

Funktion <strong>und</strong> danach, welche Aufgabe sie im Sozialstaat erfüllt. Aufgr<strong>und</strong> der beiden<br />

Traditionslinien der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> in Deutschland (Armenfürsorge <strong>und</strong> Sozialpädagogik),<br />

des unscharfen Berufsprofils <strong>und</strong> der Unklarheit darüber, welche der<br />

wissenschaftlichen Bezugsdisziplinen als Leitwissenschaft gelten soll bzw. des Fehlens<br />

einer eigenen Sozialarbeitswissenschaft, ist es schwierig, eine allgemeine <strong>und</strong> genaue<br />

Bestimmung vorzunehmen (vgl. von Spiegel 2006, S.23). Funktions- <strong>und</strong> Gegenstandsbestimmungen<br />

erfolgen jedoch immer im Rahmen von einzelnen Theorien <strong>Soziale</strong>r<br />

<strong>Arbeit</strong>.<br />

58


Standortbestimmung <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

Einige bleiben dabei bewusst frei von normativen Bestimmungen, andere bekennen<br />

sich zu den von der IFWS genannten Zielen. 37 Da die von Hans Thiersch entwickelte<br />

Theorie der Lebensweltorientierten <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> im ausgehenden 20. <strong>und</strong> beginnenden<br />

21. Jahrh<strong>und</strong>ert großen Einfluss gewonnen hat <strong>und</strong> wohl die derzeit prominenteste<br />

theoretische Position zur <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> in Deutschland darstellt, werden wir die<br />

Funktions- <strong>und</strong> Gegenstandsbestimmung <strong>Soziale</strong>r <strong>Arbeit</strong> von der Warte dieser Theorie<br />

aus vornehmen.<br />

4.2 Lebensweltorientierte <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

Das von Hans Thiersch zunächst unter dem Stichwort „Alltagsorientierung“ entwickelte<br />

Konzept hat heute in allen <strong>Arbeit</strong>sfeldern der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> theoretische Ausdifferenzierung<br />

<strong>und</strong> praktische Konzeptionen unter dem Titel Lebensweltorientierung gef<strong>und</strong>en.<br />

Thiersch „selbst versteht das Konzept als eine mögliche Fokussierung sozialer<br />

<strong>Arbeit</strong>“ (Füssenhäuser/ Thiersch 2001, S. 1893; H. i. O.). Wir werden hier nur ganz<br />

grob die wesentlichen Punkte des Konzeptes darstellen, geordnet nach den Aspekten<br />

Ziele, gesellschaftliche Funktionen <strong>und</strong> Handlungsmaxime. Die Theorie in ihrer umfänglichen<br />

Gesamtheit kann jedoch nicht erläutert werden.<br />

4.2.1 Ziele<br />

Ausgehend von dem Gr<strong>und</strong>gedanken, dass <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> an den Erfahrungen der<br />

Menschen in jeweiligen Alltag anknüpfen muss, formuliert Thiersch als ein Ziel den gelingenderen<br />

Alltag der Individuen (vgl. Thiersch/ Grunwald/ Köngeter 2002). Lebensweltorientierte<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> orientiert sich an den AdressatInnen, an ihren eigenen<br />

Deutungen ihrer je eigenen Verhältnisse, Schwierigkeiten <strong>und</strong> Möglichkeiten. In ihrem<br />

Handeln bezieht die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> sich gleichermaßen auf subjektbezogene, wie auch<br />

auf gesellschaftliche Bedingungen. „Lebensweltorientierung heißt, auf die Probleme<br />

von Menschen so einzugehen, wie sie sich in der Lebenswelt ergeben, um ihnen so eine<br />

bessere, gelingendere Lebenswelt zu ermöglichen“ (Füssenhäuser/ Thiersch 2001,<br />

S. 1893).<br />

Hieraus ergibt sich bereits das zweite Ziel, nämlich die Stärkung der Emanzipation <strong>und</strong><br />

Demokratisierung. Es geht um die Stärkung der Ressourcen der Individuen, damit diese<br />

neue Erfahrungen <strong>und</strong> Formen der Selbstzuständigkeit erleben können. Als weiteres<br />

Ziel benennt Thiersch die Stärkung der sozialen Gerechtigkeit in der Gesellschaft<br />

37 Hiltrud von Spiegel greift in ihrem Kapitel „Das Handlungsfeld der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong>“ (2006, S.<br />

19 ff.) die Vorschläge für Funktions- oder Gegenstandsbestimmungen aus vier neueren einflussreichen<br />

Theorien heraus. Die Theorien zeigen nach von Spiegel auf, zwischen welchen Polen<br />

<strong>und</strong> in welchen Kontexten sich die Diskussion um den Gegenstand der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> abspielt.<br />

59


Standortbestimmung <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

<strong>und</strong> verweist damit bereits auf ihre gesellschaftliche Funktion (vgl. Thiersch/ Grunwald/<br />

Köngeter 2002).<br />

Die normative Bestimmung der Ziele von <strong>Soziale</strong>r <strong>Arbeit</strong> nach den von der IFWS formulierten<br />

ethischen Prinzipien findet sich demnach klar im Konzept der Lebensweltorientierten<br />

<strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> wieder. Wir fassen die Ziele zur Übersicht nochmals zusammen:<br />

• Stärkung der Emanzipation <strong>und</strong> Demokratisierung.<br />

• Auf der Mikroebene: Gelingenderer Alltag der Individuen<br />

• Auf der Makroebene: Stärkung der sozialen Gerechtigkeit in der Gesellschaft<br />

4.2.2 Aufgaben in der Gesellschaft<br />

Die Theorie der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> verhandelt „die Frage nach der intermediären Funktion<br />

der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> innerhalb des Sozialstaats, nach dem Nebeneinander von <strong>Soziale</strong>r<br />

<strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> sozialpolitischen <strong>und</strong> sozialen Dienstleistungen“ (Füssenhäuser/Thiersch<br />

2001, S. 1883).<br />

Zur allgemeinen Funktion <strong>Soziale</strong>r <strong>Arbeit</strong> in der Gesellschaft schreiben Thiersch/<br />

Grunwald/ Köngeter (2002: „<strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> ist ein Moment der modernen Sozialpolitik,<br />

wie es sich aus den Brüchen des modernen Industriekapitalismus <strong>und</strong> den damit einhergehenden<br />

Brüchen <strong>und</strong> Verwerfungen in den Lebensmustern entwickelt als ein Aspekt<br />

in dem kühnen neuzeitlichen Projekt, Gerechtigkeit als soziale Gerechtigkeit zu<br />

realisieren.“ Mit anderen Worten: <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> ist ein Instrument des Sozialstaates<br />

zur Eindämmung der Probleme, die sich aus dem kapitalistischen System ergeben.<br />

In Bezug auf die Aufgaben der Praxis schreiben Thiersch/ Füssenhäuser (2001, S.<br />

1877): <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> „als Profession ist (…) geb<strong>und</strong>en an Aufgaben der Praxis, an die<br />

Lebensbewältigungsaufgaben der Individuen in der heutigen gesellschaftlichen Realität,<br />

gefragt bei der Unterstützung, Beratung <strong>und</strong> Klärung von Lebensgestaltungsaufgaben<br />

<strong>und</strong> der Inszenierung veränderter <strong>Soziale</strong>r Realität.“<br />

Dazu braucht es eine Bestimmung <strong>und</strong> Klärung der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> in einer Theorie der<br />

Gesellschaft. Thiersch zieht als Basis die Gesellschaftsanalysen von Ulrich Beck heran,<br />

der unter der Überschrift „Risikogesellschaft“ (vgl. Beck 1986) die Individualisierung<br />

<strong>und</strong> Pluralisierung von Lebensverhältnissen <strong>und</strong> die Erosion tradierter Lebensmuster<br />

konstatierte. Seine Sichtweise wurde bereits in Kap. I 1 in Bezug auf die Veränderungen<br />

im Bereich der <strong>Erwerbsarbeit</strong> dargestellt. Thiersch/ Grunwald/ Köngeter (2002, S.<br />

166) stellen fest, dass „die lebensweltlichen Verhältnisse in der Krise stecken.“(…) Das<br />

Konzept lebensweltorientierter <strong>Soziale</strong>r <strong>Arbeit</strong> ist insofern die Antwort auf die gegenwärtig<br />

spezifischen gesellschaftlichen Brüche <strong>und</strong> Spannungen in der Lebenswelt.“<br />

60


4.2.3 Struktur- <strong>und</strong> Handlungsmaxime<br />

Standortbestimmung <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

Thiersch bleibt in seinen Überlegungen nicht theoretisch, er leitet ganz konkrete Prinzipien<br />

für sozialpädagogisches Handeln ab. Diese Struktur <strong>und</strong> Handlungsmaxime beziehen<br />

sich sowohl auf die Gestaltung der Strukturen <strong>Soziale</strong>r <strong>Arbeit</strong> durch die (<strong>und</strong> in<br />

den) Institutionen als auch der Beziehungen zwischen Professionellen <strong>und</strong> AdressatInnen.<br />

Sie werden hier nur in aller Kürze aufgeführt.<br />

• Prävention heißt sowohl die allgemeine Stabilisierung <strong>und</strong> Inszenierung belastbarer<br />

<strong>und</strong> unterstützender Infrastrukturen als auch, im speziellen Fall rechtzeitig <strong>und</strong><br />

vorausschauend Hilfe anzubieten.<br />

• Alltagsnähe heißt sowohl die Erreichbarkeit <strong>und</strong> Niederschwelligkeit von Hilfen <strong>und</strong><br />

offene Zugänge als auch eine an den individuellen Lebenserfahrungen der Klienten<br />

orientierte Hilfe.<br />

• Integration zielt auf eine Lebenswelt ohne Ausgrenzung, Unterdrückung <strong>und</strong><br />

Gleichgültigkeit. Sie meint Respekt <strong>und</strong> Offenheit für Unterschiedlichkeiten auf der<br />

Basis elementarer Gleichheit.<br />

• Partizipation zielt auf die Vielfalt von Beteiligungs- <strong>und</strong> Mitbestimmungsmöglichkeiten.<br />

Dabei ist echte Partizipation auf der Basis von gleichberechtigter Aushandlung<br />

gemeint.<br />

• Dezentralisierung bzw. Regionalisierung <strong>und</strong> Vernetzung beziehen sich ebenfalls<br />

auf die Forderung nach Hilfen vor Ort. Es wird betont, dass aufgr<strong>und</strong> unterschiedlicher<br />

regionaler Ressourcen eine Sicherung allgemeiner Leistungsstandards notwendig<br />

ist, um den Anspruch sozialer Gerechtigkeit in den Regionen einzulösen.<br />

(vgl. Thiersch/ Grunwald/ Köngeter, 2002, S.173)<br />

4.3 Lebensweltorientierung <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft<br />

Zentrales Moment der Lebensweltorientierung ist die spezifische Sicht auf die Lebensverhältnisse.<br />

Theoretische Überlegungen <strong>und</strong> Praxiskonzepte der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> sollen<br />

soziale Bedarfslagen in der jeweiligen Zeit, im jeweiligen Raum, in den jeweiligen<br />

sozialen Bezügen, in ihrem historisch-kulturellen Kontext erkennen <strong>und</strong> bearbeiten.<br />

Gesellschaftliche Entwicklungen <strong>und</strong> Veränderungen sind somit auch als Signal für die<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> zu verstehen, die eigene Rolle zu reflektieren <strong>und</strong> Veränderungen aufzunehmen,<br />

einzubinden. <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> muss ihre Rolle als Element sozialstaatlicher<br />

Infrastruktur angesichts der Veränderung äußerer Bedingungen immer wieder neu definieren,<br />

sich selbst neu positionieren, sie braucht „die Reflexion des Zusammenhangs<br />

gesellschaftlich-politischer Fragen mit disziplin- bzw. professionspolitischen Diskursen.<br />

Theorie der SA hat also zu fragen, wie die strukturinternen spezifischen Möglichkeiten<br />

61


Standortbestimmung <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

der SA im Kontext des Sozialstaatsanspruchs, seiner sozialpolitischen Rahmenbedingungen<br />

<strong>und</strong> unserer Gesellschaft realisiert werden können“ (von Spiegel 2006, S. 36).<br />

Derzeit befindet sich der Sozialstaat in einer Finanz- <strong>und</strong> Strukturkrise. Michael Galuske<br />

(2002, S. 16 ff.) diagnostiziert als Ausgangspunkt für gegenwärtige Krisenphänomene<br />

die Finanzierungskrise des Systems der sozialen Sicherung, die im Konstruktionsprinzip<br />

des Sozialstaates, der auf Lohnarbeit basiert, ihre Ursache hat. Dabei<br />

zeigen sich drei entscheidende Folgen für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>:<br />

1. Die Ressourcen für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> werden knapper, sie ist dazu gezwungen,<br />

ihre Strukturen <strong>und</strong> Vorgehensweisen zunehmend an Effizienz auszurichten,<br />

wobei sie Gefahr läuft, Prinzipien wie Prävention, Partizipation oder Integration<br />

nur verkürzt beachten zu können. Ökonomische <strong>und</strong> Marktprinzipien gewinnen<br />

an Boden in der Planung <strong>und</strong> Steuerung sozialer Hilfe- <strong>und</strong> Unterstützungsleistungen.<br />

2. <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>, auch verstanden als Normalisierungsauftrag im System von Hilfe<br />

<strong>und</strong> Kontrolle, verliert zunehmend ihre Gr<strong>und</strong>lage. Die Normalitätsannahmen<br />

der kapitalistischen <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft (Normalarbeitsverhältnis, Integration<br />

durch Lohnarbeit) scheinen an ein Ende gekommen zu sein (vgl. ebd.) 38 .<br />

3. In der Moderne ist eine Zunahme an schwierigen Lebenslagen festzustellen,<br />

<strong>und</strong> zwar sowohl an den „von Überforderung <strong>und</strong> Ausgrenzung bedrohten Rändern<br />

der Gesellschaft, wie in normalen Belastungen heutiger schwieriger Normalität“.<br />

Sie erhält ein erweitertes Profil, sie „rückt in die Mitte der Gesellschaft“<br />

39 (Thiersch 2000, S. 35/36).<br />

Aus Beobachtung dieser Entwicklungen heraus entstanden in der Vergangenheit Warnungen<br />

<strong>und</strong> Forderungen für die zukünftige Entwicklung der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong>, die hier<br />

nur sehr verkürzt vorgestellt werden können.<br />

Michael Galuske geht angesichts des widersprüchlichen Szenarios, dass die Nachfrage<br />

nach sozialen Dienstleistungen eher steigen wird <strong>und</strong> gleichzeitig die Ressourcen<br />

dafür eher zurückgehen werden, davon aus, dass es eine <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> mit „reduziertem<br />

Professionsverständnis“ (2002, S.356) geben könnte. Er sieht die Gefahr, dass<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> qualitativ „Federn lassen“ könnte.<br />

38 „Sozialarbeit als Normalisierungsarbeit“ (Schaarschuch/ Flösser/ H.-U. Otto 2001, S.270)<br />

stellte eine systemfunktionale Definition <strong>Soziale</strong>r <strong>Arbeit</strong> als staatliche Dienstleistung dar, die Mitte<br />

der 1980er Jahre formuliert wurde, „ironischerweise“ in einer gesellschaftlichen Situation, in<br />

der durch Modernisierungsprozesse Normalitätsmuster faktisch zu erodieren begannen (vgl.<br />

ebd. S. 271)<br />

39 Die Bezeichnung „Mitte der Gesellschaft“ ist unseres Erachtens mit Vorsicht zu genießen –<br />

wo beginnt <strong>und</strong> wo endet eine so genannten Mitte <strong>und</strong> wie lässt sie sich definieren? Die<br />

Schwierigkeit, Normalität in individualisierten <strong>und</strong> pluralisierten Lebensverhältnissen zu bestimmen,<br />

scheint ebenso auf die Begriffsbestimmung einer „Mitte“ zuzutreffen. Wir verstehen diese<br />

Bezeichnung im Kontext von Thierschs Aussagen als Abgrenzung zu sozial benachteiligten<br />

(von Exklusion betroffenen) Personengruppen.<br />

62


Standortbestimmung <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

Hans Thiersch (2002) <strong>und</strong> auch Maria Bitzan (2000) fordern eine radikalisierte oder repolitisierte<br />

Lebensweltorientierung. Thiersch stellt fest: „Zunächst braucht es den Willen<br />

zum <strong>Soziale</strong>n (…). Die Neugestaltung des <strong>Soziale</strong>n ist zunächst ein Problem politischgesellschaftlicher<br />

Strukturen, ein Problem also der <strong>Arbeit</strong>spolitik, der Städtebau- <strong>und</strong><br />

Familienpolitik – aber auch der Steuer- <strong>und</strong> Subventionspolitik sowie der Sozialpolitik“<br />

(Thiersch 2002, S.24/25). Der Wille zum <strong>Soziale</strong>n drückt sich auch in Bitzans Plädoyer<br />

für eine Konfliktorientierung in der lebensweltorientierten <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> aus: Sie sieht<br />

durchaus die Gefahr, dass <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> zur Managerin der Spaltung werden könnte,<br />

die die Akzeptanz <strong>und</strong> das Zurechtkommen der Menschen in ungleichen Verhältnissen<br />

unterstützt. Dem entgegen fordert sie die Aufdeckung von Konflikten in <strong>und</strong> mit den<br />

Verhältnissen (vgl. Bitzan 2000, S.342 ff.). Individuelles Scheitern, das im Lichte der<br />

Individualisierung, einhergehend mit der Idee der Leistungsgerechtigkeit, leicht als persönliches<br />

Versagen eines Menschen gewertet werden kann, muss, angesichts der gesellschaftlichen<br />

Bedingtheit von Lebensverhältnissen, strukturell verstanden <strong>und</strong> entsprechend<br />

bearbeitet werden.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> muss den „Normalisierungsauftrag“ kritisch überprüfen <strong>und</strong> darf ihren<br />

„Integrationsauftrag“ nicht aus dem Auge verlieren. An den Zielorientierungen, gerechte<br />

<strong>und</strong> belastbare Verhältnisse <strong>und</strong> angstfreie <strong>und</strong> stabile Kompetenzen der Lebensbewältigung,<br />

an einem gelingenderen Alltag, wird festgehalten.<br />

4.4 Lebensbewältigung <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft<br />

Das Theoriekonstrukt der Lebenslage <strong>und</strong> Lebensbewältigung nach Lothar Böhnisch<br />

stellt die Verknüpfung her, zwischen sozialstrukturellen Lebensbedingungen <strong>und</strong> psychosozialen<br />

Verhaltensweisen von Menschen. Damit schafft es ein Erklärungsmodell<br />

<strong>und</strong> ein Analyseinstrument für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>, es schlägt einen Bogen zwischen<br />

Theorie <strong>und</strong> Praxis. Da wir uns in unserem Auswertungsteil auf Böhnisch beziehen,<br />

stellen wir die kurze Erläuterung dieses Konzeptes voran.<br />

Indem individuelle <strong>und</strong> gesellschaftliche Aspekte berücksichtigt werden, setzt es Verhältnisse<br />

<strong>und</strong> Verhalten miteinander in Bezug.<br />

Böhnisch arbeitet für eine sozialpädagogisch aufklärende Analyse vier Gr<strong>und</strong>dimensionen<br />

heraus, innerhalb derer Menschen subjektiv bestrebt sind, einen Gleichgewichtszustand<br />

zu erhalten oder gegebenenfalls durch Bewältigungsverhalten zu erreichen.<br />

Diese sind:<br />

• Erfahrungen beim Aufbau oder Verlust von Selbstwert<br />

• <strong>Soziale</strong> Orientierung(slosigkeit)<br />

63


• Erwerb bzw. Fehlen von sozialem Eingeb<strong>und</strong>ensein <strong>und</strong> Rückhalt<br />

Standortbestimmung <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

• die Sehnsucht nach Normalisierung in der Balance (bzw. im Spannungsfeld) von<br />

Handlungsfähigkeit <strong>und</strong> Sozialintegration<br />

(vgl. Böhnisch 2002, S. 203 <strong>und</strong> 1997, S.36) 40 .<br />

Wie Menschen ihr Leben, ihren Alltag bewältigen, was für sie mit subjektivem Sinn belegt<br />

ist, ist stark mit ihrer jeweiligen Lebenslage verknüpft. Lebenslage meint nach<br />

Böhnisch (2002, S. 204) „sozialökonomisch bestimmte Lebensverhältnisse als Ressourcen<br />

individueller Lebensgestaltung“, also die strukturelle Ebene der Lebensbedingungen.<br />

Die Lebenslage gibt also Aufschluss über prinzipiell vorhandene Möglichkeiten <strong>und</strong><br />

Chancen zur Lebensbewältigung <strong>und</strong> Interessenentfaltung. Sie ergibt sich aus der Zusammensetzung<br />

<strong>und</strong> dem Wechselspiel so genannter Handlungsspielräume (differenziert<br />

von Ingeborg Nahnsen, 1975) in den Dimensionen:<br />

• Einkommen <strong>und</strong> Versorgung (Wie ist der Umfang möglicher Versorgung mit Gütern<br />

<strong>und</strong> Dienstleistungen?)<br />

• Kontakt <strong>und</strong> Kooperation (Welche Möglichkeiten zur Pflege sozialer Kontakte <strong>und</strong><br />

dem Zusammenwirken mit anderen bestehen?)<br />

• Lernen <strong>und</strong> Erfahrung (Welcher Art sind die Bedingungen der Sozialisation, wie<br />

werden soziale Normen internalisiert, welche Erfahrungen in der <strong>Arbeit</strong>swelt wurden<br />

gesammelt?)<br />

• Muße <strong>und</strong> Regeneration (Welcher Art sind psycho-physischen Belastungen, die u.<br />

a. entstehen durch <strong>Arbeit</strong>sbedingungen, Wohnmilieu, Umwelt, Existenzunsicherheit<br />

<strong>und</strong> welche Möglichkeiten zur Entlastung sind vorhanden?)<br />

• Disposition <strong>und</strong> Partizipation (Welche Möglichkeiten zur Mitentscheidung bestehen?)<br />

Laut Böhnisch führt die zunehmende Freisetzung der Menschen im arbeitsteiligen Industriekapitalismus<br />

dazu, dass die Menschen selbst mehr <strong>und</strong> mehr verantwortlich<br />

sind, soziale Integration zu bewerkstelligen. Das bedeutet auf der einen Seite Freiheit,<br />

mit ihr ist aber auch die Bedrohung verb<strong>und</strong>en, nicht mithalten zu können. Diese nicht<br />

offenk<strong>und</strong>ige, aber spürbare Ambivalenz erzeugt Stress <strong>und</strong> Bewältigungsdruck, der<br />

40 Böhnisch formuliert in den angegebenen Schriften vornehmlich die subjektiven Risiken, die in<br />

den jeweiligen Dimensionen bestehen („Verlust von…“), weil Bewältigungsverhalten in kritischen,<br />

Stress erzeugenden Lebenssituationen aktiviert wird. Wir haben die Dimensionen um ihre<br />

Umkehrung ins Positive erweitert, um nicht nur krisenbehaftete, sondern auch stärkende,<br />

stabilisierende Faktoren <strong>und</strong> Verhaltensweisen im Blick zu haben.<br />

64


Standortbestimmung <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

die Lebenslagen vieler Menschen durchzieht. Hinzu kommen Erwartungen an bestimmte<br />

Rollen, die auch mit unterschiedlicher Akzeptanz belegt sind. „Die Art der sozialpolitischen<br />

Akzeptanz entscheidet darüber, wie ich in meiner Lebenslage Probleme<br />

bewältigen <strong>und</strong> Lebensperspektiven gestalten kann“ (ebd. S. 210).<br />

Für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> heißt das Paradigma Freisetzung/ Bewältigung u. a., dass sie eine<br />

eigene sozialpolitische Reflexivität entwickeln muss (vgl. ebd. S. 202).<br />

65


II Die Praxis in den Offenen Werkstätten<br />

Die Praxis in den Offenen Werkstätten<br />

Den zweiten großen Teil unserer Diplomarbeit bildet die Dokumentation unseres Forschungsvorhabens:<br />

die empirische Untersuchung von zwei Einrichtungen mit offenen<br />

Werkstätten in unterschiedlichen Regionen in Deutschland. Praxisforschung war für<br />

uns eine spannende <strong>und</strong> neue Herausforderung, die wir mit Lust <strong>und</strong> Neugierde angingen.<br />

Zunächst erarbeiteten wir uns den notwendigen theoretischen Hintergr<strong>und</strong> für die qualitative<br />

Sozialforschung <strong>und</strong> wählten daraufhin geeignete Methoden für die Klärung unserer<br />

Fragestellung aus. In unserer Vorgehensweise orientierten wir uns an Steinert/<br />

Thiele (2000, S. 183 ff.), die folgende Schritte vorgeschlagen:<br />

• Formulierung <strong>und</strong> Präzisierung des Forschungsproblems<br />

• Planung <strong>und</strong> Vorbereitung der Erhebung, Entwurf des Forschungsdesigns<br />

• Erhebungsphase<br />

• Auswertungsphase<br />

• Forschungsbericht <strong>und</strong> Geltungsbegründung<br />

Diese Einteilung bildet das Gerüst unserer Gliederung im empirischen Teil. In Kap. II 1<br />

werden die beiden Einrichtungen knapp vorgestellt <strong>und</strong> ihre Auswahl als Forschungsgegenstand<br />

wird begründet. In Kap. II 2 beschreiben wir die Methodologie. Hier sind<br />

inhaltliche Präzisierungen <strong>und</strong> methodische Aspekte miteinander gekoppelt dargestellt.<br />

Die Kap. II 3 <strong>und</strong> II 4 sind Ergebnis der Auswertung <strong>und</strong> liefern erste Antworten auf die<br />

Forschungsfrage. In Kap. II 5 erörtern wir die Frage, wo in unseren Augen die Anknüpfungspunkte<br />

für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> liegen.<br />

66


1. Forschungsfrage <strong>und</strong> Forschungsgegenstand<br />

Forschungsfrage <strong>und</strong> Forschungsgegenstand<br />

In der Einleitung zu dieser Diplomarbeit <strong>und</strong> im Kap. I 2.1 schilderten wir unseren persönlichen<br />

Bezug zu dem Thema, aus dem die Idee für diese Untersuchung entsprungen<br />

ist. Das Interesse an einer Praxis, die auf den ersten, noch nicht wissenschaftlichen<br />

Blick Elemente von Handwerk <strong>und</strong> <strong>Soziale</strong>r <strong>Arbeit</strong> verknüpft. Der<br />

Forschungsgegenstand unserer Untersuchung ist, wie im Titel angekündigt, Offene<br />

Werkstätten.<br />

Erster Schritt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema war das<br />

Studium von Literatur zu den Themen, die wir im theoretischen Teil behandelt haben:<br />

die Analyse der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse mit dem Fokus auf <strong>Arbeit</strong>,<br />

die Beschäftigung mit den Wirkweisen von <strong>handwerkliche</strong>m Tun, die Auseinandersetzung<br />

mit dem Begriff <strong>Eigenarbeit</strong> <strong>und</strong> der Versuch einer knappen Standortbestimmung<br />

der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> fachlicher Diskussionspunkte.<br />

Weil es sich bei Offenen Werkstätten um eine kleine Zahl von Einrichtungen handelt,<br />

die nur einen begrenzten Bekanntheitsgrad über die jeweiligen Stadtteile bzw. Regionen<br />

hinaus haben, umreißen wir an dieser Stelle knapp, was Offene Werkstätten sind<br />

<strong>und</strong> was dort geschieht. Die detaillierte Vorstellung der von uns ausgewählten Einrichtungen<br />

erfolgt jeweils bei den Portraits der Einrichtungen in den Kap. II 3.1 <strong>und</strong> II 4.1.<br />

Des Weiteren konkretisieren wir unser Erkenntnisinteresse, das schließlich in eine<br />

konkrete Forschungsfrage mündet.<br />

Offene Werkstätten sind Einrichtungen, die professionell ausgestattete Werkstätten<br />

aus unterschiedlichen Handwerksbereichen (Metall, Holz, Papier <strong>und</strong> Druck <strong>und</strong> andere<br />

mehr) der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Interessierte Menschen können sich<br />

dort von FachanleiterInnen (meist gelernte HandwerkerInnen) bei der Herstellung von<br />

Werkstücken individuell beraten, anleiten oder unterstützen lassen, können aber auch<br />

eigenständig die Werkstätten nutzen. Sie können so in <strong>Eigenarbeit</strong> tätig werden, für<br />

den eigenen Bedarf Dinge reparieren oder herstellen. Außerdem gibt es meist ein vielfältiges<br />

Kursangebot. Zusätzlich verstehen sich Offene Werkstätten als Treffpunkt, ein<br />

„Werkstattcafé“ bietet hierfür Gelegenheit. Die Initiatoren gehen davon aus, dass <strong>Eigenarbeit</strong><br />

Erlebnisse, Kompetenzen <strong>und</strong> Produkte schafft (vgl. Redler 1999b, S. 1). Als<br />

übergeordnetes Ziel wird auch die Förderung nachhaltiger Lebensstile genannt.<br />

Die erste Einrichtung dieser Art in Deutschland war das „Haus der <strong>Eigenarbeit</strong>“ (HEi) in<br />

München, das bereits 1987 eröffnet wurde. Ziel ist, zu <strong>Eigenarbeit</strong> anzuregen, <strong>und</strong> so<br />

die „Verantwortung der Menschen für das eigene Handeln, das soziale Miteinander<br />

<strong>und</strong> die natürliche Umwelt zu fördern“ (anstiftung, Broschüre). Dieses Haus, <strong>und</strong> weite-<br />

67


Forschungsfrage <strong>und</strong> Forschungsgegenstand<br />

re Einrichtungen, die in den letzten 20 Jahren noch hinzukamen, wurden initiiert <strong>und</strong><br />

anschubfinanziert durch die 1982 gegründete Stiftung <strong>und</strong> gemeinnützige Forschungsgesellschaft<br />

anstiftung. Die anstiftung ist keine Förderstiftung, sondern realisiert in der<br />

Regel eigene Projekte, die sie auch wissenschaftlich begleitet. Ihr Motto lautet: „Forschen<br />

<strong>und</strong> Handeln für eine menschliche Zukunft“(ebd.). Dem Stifter <strong>und</strong> Gründer Jens<br />

Mittelsten Scheid geht es darum, „Menschen die Möglichkeit zu bieten, frei <strong>und</strong> selbstbestimmt<br />

gestalten <strong>und</strong> mitgestalten zu können – handwerklich, sozial <strong>und</strong> kulturell“<br />

(ebd.). Diese Aktivitäten nennt er „<strong>Eigenarbeit</strong>“. Sie soll in der zunehmend entfremdeten<br />

Welt (wieder) ein „Zugehörigkeitsgefühl zu unserer Welt <strong>und</strong> Identitätsbildung“ eröffnen<br />

(siehe auch Kap. I 2).<br />

Die in Kap. I 3 dargestellten theoretischen Gesichtspunkte unterstützen unsere persönliche<br />

Erfahrung <strong>und</strong> Überzeugung, dass Handwerk <strong>und</strong> <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> viele wertvolle<br />

Anknüpfungspunkte <strong>und</strong> Schnittstellen besitzen.<br />

In den Offenen Werkstätten wird eine Praxis gelebt, in der <strong>handwerkliche</strong> sowie soziale<br />

Aspekte eine Rolle spielen. Daraus entstand unsere Neugier <strong>und</strong> wir formulierten unser<br />

Erkenntnisinteresse in folgender Fragestellung:<br />

• Welche Ansatzpunkte liefert ein solches Modell für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

vor dem Hintergr<strong>und</strong> der Risiken <strong>und</strong> Schwierigkeiten in der Zweiten<br />

Moderne?<br />

• Inwieweit korrespondiert die gelebte Praxis mit aktuellen Konzepten<br />

<strong>und</strong> Theorien der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong>?<br />

Da die Häuser als offene Einrichtungen konzipiert sind, lag der Blick auf den sozialräumlichen<br />

Aspekt nahe <strong>und</strong> wir entschieden uns für eine weitere Zuspitzung des<br />

Themas mit der Fragestellung:<br />

• Wie sieht die Praxis der Offenen Werkstatt in unterschiedlichen Regionen<br />

aus <strong>und</strong> welche Bedeutungen hat sie für die Menschen vor Ort?<br />

Dabei wollten wir durch die „Theoriebrille der sozialen <strong>Arbeit</strong>“ schauen <strong>und</strong>, wie oben<br />

angeführt, Querverbindungen <strong>und</strong> Trennlinien zur <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> herausarbeiten. Um<br />

in der Forschungsarbeit etwas über die Bandbreite der Erfahrungen mit <strong>Eigenarbeit</strong> herausfinden<br />

zu können, wählten wir zwei Einrichtungen in sehr unterschiedlichen Regionen<br />

als Forschungsgegenstand aus.<br />

68


Das Forschungsdesign<br />

Das Kempodium e.V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung in Kempten. Kempten,<br />

eine gewachsene alte Stadt, hat 65.000 EinwohnerInnen <strong>und</strong> ist ein regionales Zentrum<br />

in der ländlichen, landwirtschaftlich <strong>und</strong> touristisch geprägten Region. Das Kempodium<br />

wurde seit 1996 entwickelt <strong>und</strong> 2000 eröffnet.<br />

Das Kreativzentrum Wolfen e.V. in Wolfen-Nord. Wolfen ist ein Stadtteil von Bitterfeld-<br />

Wolfen <strong>und</strong> liegt im so genannten ehemaligen Chemiedreieck der DDR. Wolfen hat<br />

zurzeit ca. 25.000 EinwohnerInnen. Kennzeichnend für diesen Standort ist die extrem<br />

hohe <strong>Arbeit</strong>slosigkeit nach der Wende, die u. a. zu einer starken Abwanderung aus der<br />

Plattenbausiedlung geführt hat. Das Kreativzentrum wurde 1998 eröffnet.<br />

Da der zeitliche Rahmen der Diplomarbeit Grenzen setzt, wollen wir betonen, dass unsere<br />

Untersuchungen <strong>und</strong> Darstellungen als „Momentaufnahme“ der Praxis zu einem<br />

Zeitpunkt X anzusehen sind, dass wir also die Entwicklungsgeschichte der Einrichtungen<br />

ebenfalls aus der heutigen Perspektive heraus <strong>und</strong> durch die subjektiven Aussagen<br />

der Menschen vor Ort betrachten wollen, nicht jedoch eigens zum Gegenstand der<br />

Forschung machen. Unsere empirische <strong>Arbeit</strong> soll damit exemplarischen Charakter<br />

haben, also aufzeigen, was als alltägliche Praxis in Offenen Werkstätten gelebt wird.<br />

2. Das Forschungsdesign<br />

Unsere Fragestellung zielt sowohl auf die Beschreibung der alltäglichen sozialen Praxis<br />

in den jeweiligen lebensweltlichen Bezügen der Menschen als auch auf die Erk<strong>und</strong>ung<br />

von subjektiven Deutungen, dahinter steht das einleitende Fragewort „Wie?“.<br />

Damit liegt die qualitative Herangehensweise bzw. die Auswahl qualitativer Methoden<br />

auf der Hand (vgl. Steinert/ Thiele 2000, S. 30/ 31).<br />

Die qualitative Forschung setzt auf der methodologischen Ebene einige Prinzipien voraus,<br />

von denen wir die wichtigsten kurz wiedergeben möchten (vgl. Lamnek 2002, S.<br />

165 ff.).<br />

Das Prinzip der Offenheit: Nur bei offener Begegnung <strong>und</strong> ebensolchen Fragestellungen<br />

kann die befragte Person ihre subjektiven Deutungen <strong>und</strong> Wirklichkeitskonstruktionen<br />

zur Sprache bringen. Darin enthalten ist auch das Prinzip der Zurückhaltung<br />

durch den/ die ForscherIn, der/ die im Forschungsprozess eigene Deutungen <strong>und</strong> Vorstrukturierungen<br />

zurückhalten muss. Die Fremdheit zwischen befragter Person <strong>und</strong> InterviewerIn<br />

muss gr<strong>und</strong>sätzlich anerkannt werden.<br />

Das Prinzip der Reflexivität ist entscheidend während des gesamten Forschungsprozesses,<br />

da eigene Anteile oder der Einfluss der Forschungssituation auf die Ergebnisse<br />

deutlich werden müssen.<br />

69


Das Forschungsdesign<br />

Um unser Erkenntnisinteresse in ein Forschungsinstrument zu übersetzen, stellten wir<br />

im ersten Schritt Hypothesen zum Sachverhalt „Offene Werkstatt“ an.<br />

Diese zuerst noch ungefiltert <strong>und</strong> spontan, später überprüft, überarbeitet <strong>und</strong> sortiert.<br />

So ermittelten wir die folgenden eher allgemeinen Hypothesen:<br />

1. Offene Werkstätten können Orte sein, wo sich Menschen mit unterschiedlichem<br />

Hintergr<strong>und</strong> begegnen können (� soziales Erleben)<br />

2. <strong>Eigenarbeit</strong> stärkt Kompetenzen <strong>und</strong> Potenziale (� gestalterisches <strong>und</strong> soziales<br />

Erleben)<br />

3. <strong>Eigenarbeit</strong> kann in Ergänzung/ neben/ jenseits zur <strong>Erwerbsarbeit</strong> selbstbestimmtes<br />

<strong>und</strong> ganzheitliches <strong>Arbeit</strong>en erfahrbar machen<br />

4. Offene Werkstätten bereichern <strong>und</strong> ergänzen die soziokulturelle Infrastruktur<br />

5. Es gibt Überschneidungen zwischen dem Konzept der „Offenen Werkstatt“ <strong>und</strong><br />

theoretischen Überlegungen der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> (Ziele, Menschenbild, <strong>Arbeit</strong>sweise…)<br />

Diese Hypothesen sollten für uns einerseits als Gerüst für die Themenwahl in den themenzentrierten<br />

Interviews dienen <strong>und</strong> andererseits bei der Auswertung derselben die<br />

„Suchrichtung“ vorstrukturieren.<br />

Um hier für eine klare Verständigung zu sorgen, definieren wir die Begriffe „gestalterisches<br />

Erleben“, „soziales Erleben“ <strong>und</strong> „ganzheitliches <strong>Arbeit</strong>en“ wie folgt:<br />

Zunächst zu dem Wort „Erleben“, das wir hier als substantiviertes Verb in den Mittelpunkt<br />

stellen. Das Verb erleben meint: mit ansehen, mitfühlen, mitmachen, erfahren,<br />

Erfahrungen machen 41 . In diesem Sinne verstehen wir unter Erleben die aktive (Mit-)<br />

Gestaltung <strong>und</strong> (bewusste) Teilnahme eines Menschen an der äußeren Welt. Nun<br />

bestimmen wir das Erleben näher durch die beiden Adjektive sozial <strong>und</strong> gestalterisch.<br />

<strong>Soziale</strong>s Erleben betont den Aspekt des Zwischenmenschlichen, wir meinen damit die<br />

Erfahrung der Teilhabe an einer Gemeinschaft, sich zugehörig fühlen.<br />

Mit gestalterischem Erleben wollen wir einerseits die Erfahrungen beschreiben, die<br />

durch die besondere Art des <strong>Arbeit</strong>ens, nämlich des <strong>Arbeit</strong>ens nach eigenen Plänen<br />

<strong>und</strong> Vorstellungen <strong>und</strong> die eigenhändige Ausführung des Herstellens ermöglicht werden:<br />

eine produktive <strong>und</strong> schöpferische Erfahrung 42 . In Kap. I 3 „Handwerkliche Ar-<br />

41 Duden Herkunftswörterbuch 2006, Stichwort leben<br />

42 Hier sind wir nah am Begriff des „Herstellen“ im Sinne von Hannah Arendt, den sie als einen<br />

Prozess beschreibt, an dessen Ende etwas „objektiv Greifbares“ entsteht (Arendt 1960, S. 81),<br />

„ein ganz <strong>und</strong> gar neues Ding, das beständig <strong>und</strong> eigenständig genug ist, von nun an ohne Hilfe<br />

des Menschen in der Welt zu bleiben“(ebd., S. 130). In diesem Prozess kann der Mensch sich<br />

selbst verdinglichen <strong>und</strong> der Mensch wird zum Homo faber, zum schaffenden Menschen (vgl.<br />

ebd., S. 122).<br />

70


Das Forschungsdesign<br />

beitsprozesse“ kam dies bereits zur Sprache. Zudem enthält unser Verständnis einen<br />

ästhetischen Aspekt. Wir gehen davon aus, dass Menschen bestrebt sind, sich mit<br />

schönen Dingen zu befassen, sich damit zu umgeben oder sie selbst herzustellen. Die<br />

Erfahrung, etwas Schönes selbst herzustellen, steigert oder ergänzt die Erfahrung<br />

schöpferisch zu sein um den ästhetischen Aspekt. „Schön“ gehört von der Wortherkunft<br />

her zu dem Begriff schauen <strong>und</strong> bedeutete ursprünglich „ansehnlich, was gesehen<br />

wird“ 43 . Wir belassen es bei der Bestimmung des Begriffs von schön dabei, dass<br />

als schön das gilt, was der oder die BetrachterIn oder ErschafferIn als ansehnlich empfindet.<br />

Andererseits heben wir den Begriff „gestalterisches Erleben“ auch auf eine abstraktere<br />

Ebene <strong>und</strong> meinen damit die Erfahrung, das eigene Leben <strong>und</strong> die eigenen Lebensumstände<br />

ein Stück weit selbst formen zu können.<br />

Hierin erklärt sich auch schon teilweise, was wir unter „ganzheitlichem <strong>Arbeit</strong>en“ verstehen,<br />

nämlich selbst BestimmerIn über das Produkt sowie über den <strong>Arbeit</strong>sprozess<br />

<strong>und</strong> dabei als ganzer Mensch im Denken, Fühlen <strong>und</strong> Handeln (heraus-)gefordert <strong>und</strong><br />

angesprochen zu sein.<br />

Der Begriff <strong>Eigenarbeit</strong> ist in unserem theoretischen Teil bereits erläutert. Wir beziehen<br />

uns hier auf die Definition der anstiftung, meinen also <strong>Eigenarbeit</strong> im engeren Sinne.<br />

Während unserer Auseinandersetzung mit der Thematik Offene Werkstätten kristallisierten<br />

sich auch Fragen heraus, zu denen wir noch keine Zusammenhangsvermutungen<br />

anstellen konnten. Wir nahmen diese Fragen als Teil des Erkenntnisinteresses, in<br />

dem es um Exploration geht, ebenfalls auf.<br />

1. Welche Bedeutung hat <strong>Eigenarbeit</strong> für die Menschen? Gibt es hier regionale<br />

Unterschiede?<br />

2. Welche Bedeutung hat die Einrichtung für die Menschen? Gibt es hier regionale<br />

Unterschiede?<br />

3. Wie ist es gelungen, dass in der Region Wolfen-Nord das Kreativzentrum trotz<br />

schwieriger Ausgangsbedingungen bestehen konnte?<br />

Die Erkenntnisinteressen operationalisierten wir in unseren Interviewleitfäden zu umgangssprachlich<br />

formulierten Erzählaufforderungen <strong>und</strong> Fragen.<br />

Unsere Erhebungsphase unterteilte sich genau genommen in zwei Phasen: Am 15.<br />

August 2007 besuchten wir das Kreativzentrum in Wolfen-Nord im Landkreis Bitterfeld<br />

nahe Leipzig <strong>und</strong> am 27. September waren wir im Kempodium in Kempten im Allgäu<br />

43 vgl. Duden Herkunftswörterbuch 2006, Stichwort „schön“<br />

71


Das Forschungsdesign<br />

zu Gast. Diese Termine bildeten die Höhepunkte in der Bearbeitung unserer Diplomthemenstellung.<br />

Einmal, weil wir zuvor mit Theorie <strong>und</strong> Leitfadenerstellung darauf hinarbeiteten<br />

<strong>und</strong> danach an der Auswertung <strong>und</strong> Interpretation feilten <strong>und</strong> Antworten auf<br />

unsere Forschungsfragen suchten. Zum anderen, weil wir mit sehr großer Neugier in<br />

die Einrichtungen vor Ort gingen, um wirklich über die Praxis der Offenen Werkstätten<br />

aus persönlichem <strong>und</strong> beruflichem Interesse möglichst viel zu erfahren. Besonders<br />

wichtig war uns, bei unserer Kontaktaufnahme mit den AkteurInnen vor Ort <strong>und</strong> bei unseren<br />

Lokalterminen, immer wieder die oben angeführten Prinzipien der Offenheit,<br />

Fremdheit <strong>und</strong> Reflexion zu berücksichtigen.<br />

In den folgenden Abschnitten werden die Erhebungsmethoden vorgestellt <strong>und</strong> ihre<br />

Auswahl begründet.<br />

2.1 Forschungsmethoden<br />

Als Methode wählten wir das problemzentrierte Interview. „Die Problemzentrierung<br />

meint, dass an gesellschaftlichen Problemstellungen angesetzt werden soll, deren wesentliche<br />

objektive Aspekte der Forscher sich vor der Interviewphase erarbeitet“ (Mayring<br />

2002, S. 68, Verwendung der männlichen Form i. O.). Zwar scheint der Begriff<br />

„problemzentriert“ in der sozialwissenschaftlichen Literatur zu Methoden der Forschung<br />

etabliert zu sein (Steinert/ Thiele 2000; Lamnek 2002), wir bevorzugen aufgr<strong>und</strong> der<br />

häufig negativen Konnotation von „Problem“ die Bezeichnung „themenzentriert“, die wir<br />

im Folgenden verwenden werden. „Das Interview lässt den Befragten möglichst frei zu<br />

Wort kommen, um einem offenen Gespräch nahe zu kommen. Es ist aber zentriert auf<br />

eine bestimmte Problemstellung, die der Interviewer einführt, auf die er immer wieder<br />

zurückkommt. Die Problemstellung wurde vom Interviewer bereits vorher analysiert; er<br />

hat bestimmte Aspekte erarbeitet, die in einem Interviewleitfaden zusammengestellt<br />

sind <strong>und</strong> im Gesprächsverlauf von ihm angesprochen werden“ (Mayring 2002, S. 67).<br />

Mit der thematischen Eingrenzung wollten wir sowohl dem Ziel der Überprüfung der<br />

Thesen gerecht werden, also nah an den von uns vorgegebenen Fragestellungen bleiben<br />

als auch den offenen Fragestellungen <strong>und</strong> subjektiven Sichtweisen Raum geben.<br />

Da uns sowohl die spezifischen Kenntnisse <strong>und</strong> Sichtweisen einer hauptamtlich beschäftigten<br />

Person (bzw. so gut wie hauptamtlich, s. u.) vor Ort interessierten als auch<br />

die Sichtweisen <strong>und</strong> Meinungen der NutzerInnen, entschieden wir uns für zwei getrennte<br />

Befragungen, eine mit einem/ einer ExpertIn <strong>und</strong> eine mit einer Gruppe von<br />

BesucherInnen.<br />

Das Gruppengespräch<br />

72


Das Forschungsdesign<br />

Die Wahl der Methode Gruppengespräch hatte zum einen den pragmatischen Gr<strong>und</strong>,<br />

den Zeitaufwand der Befragung in bewältigbaren Grenzen zu halten. Zum anderen eröffnete<br />

dies die Chance, in der Ermittlung von Einstellungen <strong>und</strong> Meinungen der TeilnehmerInnen<br />

sowohl individuelle Einschätzungen als auch überindividuelle, also Gruppenmeinungen<br />

zu erhalten (vgl. Steinert/ Thiele 2000, S. 148). Dies schien uns vor<br />

dem Hintergr<strong>und</strong>, etwas über die Bedeutung der Einrichtung in der regionalen Struktur<br />

erfahren zu wollen, als geeignete Vorgehensweise. 44<br />

Die Auswahl des Personenkreises für das Gruppengespräch stellte sich als schwierige<br />

Aufgabe dar. Unsere „Wunschgruppe“ sollte möglichst ca. 5 Personen umfassen <strong>und</strong><br />

nach den Kategorien Alter, Geschlecht, Nutzungsdauer <strong>und</strong> Nutzungshäufigkeit der<br />

Einrichtung, Nutzungsart (freie Nutzung, nur Kurse,…) durchmischt sein. Von einer<br />

möglichst großen Vielfalt innerhalb dieser Kategorien erhofften wir uns vielfältige<br />

Sichtweisen auf die Einrichtung <strong>und</strong> auf den Stadtteil/ die Region. Unsere Einflussnahme<br />

bei der Steuerung der Auswahl war aber durch die räumliche Entfernung zu<br />

den Einrichtungen <strong>und</strong> das Angewiesensein auf die Unterstützung durch die Verantwortlichen<br />

vor Ort stark eingeschränkt. So blieb also eine gewisse Unsicherheit in dieser<br />

Sache, der wir dadurch begegnen wollten, dass wir, sollte die Gruppe stark von unserer<br />

geplanten Vorstellung abweichen, alternativ spontane „Mini-Interviews“ mit<br />

gerade zufällig anwesenden BesucherInnen durchführen wollten.<br />

Die Befürchtung diesbezüglich bewahrheitete sich ein Stück weit, da insbesondere im<br />

Kreativzentrum die Bereitschaft zum Gespräch nicht vorab von der Leiterin abgeklärt<br />

worden war <strong>und</strong> wir deshalb spontan mit Mitarbeiterinnen statt mit NutzerInnen der<br />

Werkstätten sprachen. In Kempten konnten wir mit drei BesucherInnen <strong>und</strong> einem<br />

Mitarbeiter sprechen. Die einzige Möglichkeit, dieser Ungewissheit zu begegnen, wäre<br />

gewesen, mit mehr zeitlichem Spielraum vor Ort am Leben des Vereins teilzunehmen<br />

<strong>und</strong> mit unterschiedlichen Menschen ins Gespräch zu kommen. Der zeitliche Rahmen<br />

schloss dies aus.<br />

Das ExpertInneninterview<br />

Beim Experteninterview steht „der zu Befragende (…) nicht als einzelnes Subjekt im<br />

Blickpunkt des Interesses, sondern als Experte für einen spezifischen Handlungsbereich“<br />

(Lamnek 2002, S.176). Als Experten wählten wir die jeweiligen Leitungspersonen<br />

der Einrichtungen aus. In Wolfen ist dies die Vorstandsvorsitzende des Kreativzentrum<br />

e.V., die gleichzeitig auch die Leitung des Hauses hat. In Kempten ist es der<br />

44 Die Gruppenprozesse <strong>und</strong> gruppenspezifischen Verhaltensweisen, die ebenfalls mit dieser<br />

Methode untersucht werden können, wollten wir hingegen nicht auswerten.<br />

73


Das Forschungsdesign<br />

vom Verein eingesetzte hauptamtliche Geschäftsführer, der die operativen Geschäfte<br />

lenkt.<br />

Über diese Personen wollten wir Zugang zu internem Betriebswissen erhalten, da sie<br />

die sozialen Prozesse <strong>und</strong> Sachverhalte vor Ort kennen. Die Interviewform sollte ebenfalls<br />

themenzentriert sein <strong>und</strong> einen Leitfaden als Gesprächsgr<strong>und</strong>lage haben. Diese<br />

Interviews fanden wie geplant statt.<br />

Auf Basis der bis hierher getroffenen methodologischen Entscheidungen entwickelten<br />

wir die Leitfäden für unsere Interviews.<br />

Ursprünglich war geplant, ergänzend eine Dokumentenanalyse zu erstellen. Diese hätte<br />

einen ersten Zugang zum Forschungsgegenstand ermöglicht, der sich aufgr<strong>und</strong> der<br />

räumlichen Entfernung nach Kempten bzw. Wolfen als „indirekter Zugang“ über das<br />

Material angeboten hätte (vgl. Mayring 2002, S. 49). Die Analyse hätte auch Aufschluss<br />

darüber gegeben, wie sich die Einrichtung selbst darstellt <strong>und</strong> positioniert <strong>und</strong><br />

welche Sprache die Dokumente in Bezug auf die jeweiligen Adressaten sprechen. Des<br />

Weiteren wäre interessant gewesen, wie die Einrichtung von außen im Pressespiegel<br />

gesehen wird. Im Laufe der Bearbeitung der Diplomarbeit mussten wir von diesem<br />

Vorhaben jedoch abrücken. Dabei spielten zeitliche Gründe, aber auch ein großes Ungleichgewicht<br />

an Materialien aus den beiden Einrichtungen eine Rolle (Kempodium:<br />

sehr viel <strong>und</strong> sehr differenziertes Material, Kreativzentrum: 2 Flyer). Eine Vertiefung „in<br />

einer Richtung“ schien uns nicht zielführend für die angestrebte Gegenüberstellung der<br />

Ergebnisse aus den beiden Einrichtungen. Wir konzentrierten uns daher auf die sorgfältige<br />

Auswertung der Gespräche.<br />

2.2 Die Auswertung der Interviews<br />

Für die Auswertung der Interviews orientierten wir uns weiter an Mayring (vgl. 2002, S.<br />

89). Zunächst erfolgte eine wörtliche Transkription der aufgezeichneten Interviews.<br />

Diese vollständige Textfassung des verbal erhobenen Materials sollte die Basis für unsere<br />

ausführliche interpretative Auswertung bieten Wir entschieden uns hierbei für eine<br />

weitgehend bereinigte Übertragung ins Schriftdeutsch, hielten jedoch dialekt-bedingte<br />

Aussprache oder Formulierungen teilweise fest, da die regionale Färbung die Menschen<br />

authentischer wiedergibt. Zudem fügten wir Kommentare in Klammern ein, die<br />

nonverbale Äußerungen (z. B. „Lachen“) oder Handlungen (z. B. „Zeigen auf Frau K“)<br />

festhielten <strong>und</strong> die für das nachträgliche Verständnis des Textes von Belang waren.<br />

Eine noch genauere Kommentierung (z. B. nach Kallmeyer/ Schütze 1976, zitiert von<br />

Mayring 2002, S.92) hielten wir nicht für nötig, da wir beide bei allen Gesprächen an-<br />

74


Das Forschungsdesign<br />

wesend waren <strong>und</strong> weil die Auswertung zeitnah zu der Erhebung erfolgte, so dass die<br />

Situation zugleich in unserer Erinnerung vor Augen war.<br />

Als Auswertungsverfahren wählten wir die qualitative Inhaltsanalyse des gewonnenen<br />

Materials (vgl. ebd., S.114 ff.). Diese systematische Vorgehensweise sieht die Bildung<br />

von Kategorien aus dem Material heraus (deduktiv) vor, die fragetechnische Offenheit<br />

wird so auch auswertungstechnisch fortgeführt. Bei stärker theoriegeleiteter Textanalyse<br />

ist auch die Strukturierung des Materials möglich, wobei hier auch äußere Kategorien<br />

angelegt werden können (induktiv). Wir entschieden uns aufgr<strong>und</strong> unserer Fragestellung,<br />

die mit Hypothesen <strong>und</strong> Fragen konkretisiert ist, für eine Mischform. Als<br />

Ordnungskriterien dienten uns im ersten Schritt, bei der Erfassung der Selbstdefinitionen<br />

der Befragten, weitgehend die Themenschwerpunkte des Interviewleitfadens, die<br />

Feinstruktur unseres Kodeplans entwickelte sich jedoch aus dem Material heraus.<br />

Bei einem ersten Durchgang des Materials erfolgte die Erstellung eines Kodeplans,<br />

den Kategorien wurden anschließend alle Textstellen mit der jeweiligen F<strong>und</strong>stelle zugeordnet.<br />

Weitgehend gelang eine klare Abgrenzung, so dass jede Textstelle nur einer<br />

Kategorie zugeordnet wurde, in wenigen Fällen geschah eine doppelte Zuordnung, die<br />

der Explikation jeweils anderer Stellen dienen sollte.<br />

Diesem Schritt folgte dann unsere gemeinsame Auseinandersetzung mit dem strukturierten<br />

Material, in dem wir erste mögliche Interpretationen zu den einzelnen Themenschwerpunkten<br />

erarbeiteten. Diese argumentative Validierung sollte zur Absicherung<br />

der Qualität der zu treffenden Aussagen führen (vgl. Steinert 2000, S. 49). Daraufhin<br />

erstellten wir eine weitere, den Text zusammenfassende <strong>und</strong> verdichtende Paraphrasierung<br />

in einzelnen Kategorien (vgl. ebd., S. 141), die dann in die Darstellung der<br />

Selbstdefinitionen der Befragten mündete (siehe Kap. II 3.2 <strong>und</strong> II 4.2). Diese bildete<br />

dann die Basis für den nächsten Schritt, nämlich die Interpretation der Aussagen entlang<br />

der von uns zuvor aufgestellten Thesen <strong>und</strong> Fragestellungen, die in den Kap. II<br />

3.3 <strong>und</strong> II 4.3 nachzulesen ist.<br />

Die halb offene Vorgehensweise bei der Auswertung hat zur Folge, dass die beiden<br />

folgenden Kapitel nicht eins zu eins die gleiche Struktur aufweisen. Dies mag zwar auf<br />

Kosten der Übersichtlichkeit gehen, wird aber der Unterschiedlichkeit der Einrichtungen,<br />

Menschen <strong>und</strong> sozialen Situationen, die wir erlebt haben, viel mehr gerecht.<br />

75


3. Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

In diesem Kapitel beantworten wir einen Teil unserer Forschungsfrage, die lautet: Wie<br />

sieht die Praxis des Kreativzentrums Wolfen-Nord aus <strong>und</strong> welche Bedeutungen hat<br />

die Einrichtung für die Menschen im Stadtteil?<br />

Die Informationen stammen sowohl aus Textmaterialien über Wolfen-Nord <strong>und</strong> aus<br />

dem Internet, insbesondere von der Homepage des Kreativzentrums 45 , als auch aus<br />

eigenen Beobachtungen. Die Hauptinformationsquelle in diesem Kapitel stellen selbstverständlich<br />

die transkribierten Interviews dar. Interviewzitate können anhand des Kürzels<br />

der F<strong>und</strong>stelle zugeordnet werden. L steht für Leiterin, M für MitarbeiterIn <strong>und</strong> R<br />

für Rentnerinnen, die Zahl gibt die Zeilenzahl an. Sowohl Vereinsmitglieder als auch<br />

ehrenamtlich Tätige <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>skräfte, die einen so genannten 1-€-Job machen, werden<br />

von uns im Text „MitarbeiterInnen“ genannt. Es gibt im Kreativzentrum keine<br />

hauptamtlichen MitarbeiterInnen, <strong>und</strong> da die befragten Personen sich selbst so nannten,<br />

treffen wir im Folgenden ebenfalls keine Unterscheidung in der Angabe.<br />

Zunächst erfolgen eine Beschreibung von Einrichtung <strong>und</strong> Stadtteil <strong>und</strong> die Vorstellung<br />

unserer InterviewpartnerInnen (Kap. II 3.1). Daran schließt die systematische Auswertung<br />

<strong>und</strong> Interpretation der Interviews an (Kap. II 3.2). In Kap. II 3.3 stellen wir die Ergebnisse<br />

unter dem Fokus unserer Fragestellungen vor.<br />

3.1 Vorstellung von Einrichtung, Stadtteil <strong>und</strong> Befragten<br />

Wir beginnen mit einem kurzen Abriss der Entstehungsgeschichte des Kreativzentrums<br />

<strong>und</strong> einer ausführlichen Beschreibung der heutigen Angebote <strong>und</strong> Aktivitäten im Kreativzentrum.<br />

Dem folgt eine Darstellung der lokalen <strong>und</strong> regionalen Gegebenheiten <strong>und</strong><br />

Bedingungen, in die das Kreativzentrum eingebettet ist <strong>und</strong> in denen es agiert. Eine<br />

zusätzliche plastischere Darstellung vermitteln auch die Protokolle <strong>und</strong> Fotos unseres<br />

Besuches, die im Anhang zu finden sind (Anlage 5).<br />

Danach stellen wir unsere InterviewpartnerInnen vor.<br />

3.1.1 Portrait des Kreativzentrum e.V.<br />

1996 ging die Stiftung Bauhaus Dessau mit der Idee, ein Zentrum für <strong>Eigenarbeit</strong> nach<br />

dem Vorbild des Münchner HEi (siehe Kap. I 2) in der Plattenbausiedlung Wolfen-Nord<br />

einzurichten, an den Start. Ziel war es, eine Auseinandersetzung über die Rolle ver-<br />

45<br />

www.kreativzentrum.kr.funpic.de/index.htm in diesem Abschnitt folgend mit „Homepage“ angegeben.<br />

76


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

schiedener Formen von <strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> Existenzsicherung anzuregen <strong>und</strong> damit zur nachhaltigen<br />

Regionalentwicklung beizutragen (vgl. Adler et al. 2002). Als Partner vor Ort<br />

gewann sie die ABM-Träger-Gesellschaft für ökologische Sanierung (GÖS) <strong>und</strong> zur<br />

fachlichen Beratung <strong>und</strong> finanziellen Unterstützung beim Aufbau des Projekts erklärte<br />

sich auf Anfrage die anstiftung bereit. Diese erhoffte sich Erkenntnisse bezüglich der<br />

Erprobung <strong>und</strong> Verbreitung von <strong>Eigenarbeit</strong> in den neuen B<strong>und</strong>esländern (vgl. Müller<br />

2003).<br />

Die GÖS stellte eine Projektgruppe von 6 ABM-Kräften zusammen, die den Auftrag<br />

bekam, die Projektidee zu konkretisieren <strong>und</strong> hierbei von der anstiftung durch Beratung<br />

<strong>und</strong> Finanzierung eines längeren Besuchs im HEi unterstützt wurde.<br />

Am 1. September 1997 zog die Projektgruppe dann in das Gebäude des ehemaligen<br />

Kindergartens in der Straße der Jugend 16, welches die Stadt auf Betriebskostenbasis<br />

zur Verfügung stellte. Dem Projekt stehen seither etwa 600 qm Fläche zur Verfügung,<br />

etwa 250 qm davon sind an andere Vereine, Träger oder Personen untervermietet.<br />

Dazu kommt eine großzügige Außenfläche mit Wiese <strong>und</strong> altem Baumbestand. Im folgenden<br />

Jahr wurde unter Mithilfe von 30 jugendlichen BVJ-SchülerInnen das Haus<br />

umgebaut <strong>und</strong> die Werkstätten, finanziert von der anstiftung, eingerichtet. Im Kreativzentrum<br />

findet man eine professionell ausgestattete Holzwerkstatt, eine Metallwerkstatt,<br />

eine Töpferwerkstatt <strong>und</strong> eine Floristikwerkstatt. 46<br />

Um das Projekt weiter voran, <strong>und</strong> in die Selbstständigkeit zu bringen, war es erforderlich,<br />

einen Verein als Träger zu gründen. Auf der Homepage erfährt man, dass der<br />

Verein am 18.10.1998 gegründet wurde, im selben Monat fand auch die Eröffnung des<br />

Kreativzentrums statt. Anfangs arbeiteten ABM- <strong>und</strong> SAM-Kräfte mit von der anstiftung<br />

finanzierten Honorarkräften zusammen. Die Gr<strong>und</strong>annahme der anstiftung, dass mit<br />

einem öffentlichen Zentrum für <strong>Eigenarbeit</strong> an eine Tradition der Selbstorganisation,<br />

<strong>Eigenarbeit</strong> <strong>und</strong> Eigenversorgung der DDR-Bewohner angeknüpft werden könnte, bewahrheitete<br />

sich nicht, im Gegenteil, die Bevölkerung Wolfen-Nords zeigte anfangs ein<br />

auffallendes „Desinteresse an den <strong>Eigenarbeit</strong>swerkstätten“ (Müller 2003, S.2) 47 .<br />

Unsere Ansprechpartnerin im Kreativzentrum e.V. war Frau Kiontke, Vereinsvorsitzende,<br />

Leiterin <strong>und</strong> eine der GründerInnen. Sie berichtet: „Und die Anfangszeiten… war es<br />

sehr schwierig, überhaupt Leute hier reinzukriegen. Weil zu DDR-Zeiten ham die Leute<br />

alles selbst in ihren Häusern oder Garten… hergestellt. Die sind erst mal in den Bau-<br />

46 Genaueres zur Ausstattung erfährt man auf der Homepage des Kreativzentrums.<br />

47 Den Ursachen hierfür ging Christa Müller, damals Mitarbeiterin, heute Geschäftsführerin der<br />

anstiftung, 1998 in einer qualitativen Studie nach: Akzeptanzprobleme von Eigeninitiative <strong>und</strong><br />

<strong>Eigenarbeit</strong>: Das Kreativzentrum in der Plattenbausiedlung Wolfen-Nord.<br />

77


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

markt gegangen <strong>und</strong> haben gekauft. Also von <strong>Eigenarbeit</strong> wollten die überhaupt nichts<br />

wissen. (…) Die ham gesagt: ‚Selbst gebaut hab ich jetzt 40 Jahre lang. Ich möchte<br />

jetzt mal etwas anderes’“ (L 658-665). Die Schwierigkeiten waren so massiv, dass: „wir<br />

nach dem dritten Jahr schon tot gesagt [waren]. Weil das mit der <strong>Eigenarbeit</strong> nicht geklappt<br />

hat <strong>und</strong> alles drum <strong>und</strong> dran. Auch München hat dann gesagt: ,Och nö also, so<br />

richtig ist das eigentlich nicht’“(L 850-853). Die anstiftung zog sich nach einigen Jahren<br />

allmählich aus der Beratung zurück <strong>und</strong> die Finanzierung der Honorarkräfte wurde eingestellt.<br />

Die Einrichtung der Werkstätten überließ man dem Verein zur weiteren Verfügung.<br />

Der Kontakt zur anstiftung erfolgt seitdem lose über das von der anstiftung gegründete<br />

<strong>und</strong> koordinierte „Netzwerk <strong>Eigenarbeit</strong>“ 48 .<br />

Der Rückzug der anstiftung <strong>und</strong> die Krise, in der der Verein damals steckte, weckten<br />

offensichtlich den Stolz auf das, was in den Augen der Vereinsmitglieder bereits geleistet<br />

worden war, <strong>und</strong> setzten die nötigen Energien frei, um das Angebot so umzugestalten,<br />

dass es heute im Stadtteil angenommen wird. „Das war wahrscheinlich (…) wirklich<br />

der Ehrgeiz: warum sollen wir das jetzt zumachen!? Wir haben das jetzt alles so<br />

schön aufgebaut, irgendwas muss uns einfallen, wie wir das anders machen“ (L 859-<br />

865).<br />

Damals ging die alleinige Projektverantwortung auf den Verein über, der seitdem das<br />

Angebot gestaltet <strong>und</strong> weiterentwickelt hat. Während der ganzen Jahre gab es immer<br />

durch das <strong>Arbeit</strong>samt, heute durch die ARGE, geförderte Stellen bzw. 1-€-Jobs (AGH<br />

nach §16 (3) SGB II). Die Förderdauer setzte der Beschäftigung einzelner Personen<br />

immer wieder ein Ende <strong>und</strong> machte es erforderlich, andere Personen zu beschäftigen.<br />

Besonders in der Aufbauphase wirkte sich die hohe Fluktuation <strong>und</strong> die geringe Identifikation<br />

der MitarbeiterInnen nachteilig für das Projekt aus (vgl. Müller 2003, S.1). Heute<br />

gibt es einen stabilen Kern an MitarbeiterInnen, die Schlüsselfigur ist aber Frau Kiontke,<br />

sie bildet einen „Fixpunkt“ im Alltag des Kreativzentrums.<br />

Die Not der hohen Fluktuation der MitarbeiterInnen gereicht dem Kreativzentrum heute<br />

zur Tugend: einer AGH folgt in der Regel erneut die <strong>Arbeit</strong>slosigkeit <strong>und</strong> „die jetzt hier<br />

drin ehrenamtlich arbeiten, die ham entweder als 1-€-Job hier drin gearbeitet oder sie<br />

waren früher mal in der ABM-Maßnahme“ (L 135-137). Sie kommen einfach weiterhin.<br />

So entpuppt sich die vom JobCenter vermittelte <strong>Arbeit</strong>sgelegenheit als Mittel zur Mobilisierung<br />

<strong>und</strong> Gewinnung von Ehrenamtlichen.<br />

Heute arbeiten im Kreativzentrum fünfzehn ehrenamtliche MitarbeiterInnen (Frau Kiontke<br />

eingeschlossen), von denen sechs täglich kommen, die anderen bei Bedarf. Da-<br />

48<br />

Ziel dieses Netzwerks ist die Kommunikation <strong>und</strong> der Kontakt unter den verschiedenen Projekten<br />

<strong>und</strong> Initiativen für <strong>Eigenarbeit</strong>.<br />

78


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

zu kommen neun 1-€-JobberInnen im Zwei-Schicht-System. So können die Öffnungszeiten<br />

von Montag bis Freitag 9.00 - 18.00 Uhr <strong>und</strong> Samstag 9.00 - 14.00 Uhr abgedeckt<br />

werden. Der Verein hat momentan 10 Mitglieder, von den Gründungsmitgliedern<br />

ist nur noch Frau Kiontke mit dabei, sie ist seit drei oder vier Jahren Vereinsvorsitzende<br />

<strong>und</strong> arbeitet nach unserem Eindruck dem zeitlichen Umfang einer vollen Stelle entsprechend<br />

für den Verein.<br />

Als Zielbestimmung des Vereins Kreativzentrum-Wolfen e.V. ist auf der Homepage<br />

formuliert: „…steht das Kreativzentrum Wolfen der Bevölkerung von Wolfen <strong>und</strong> Umgebung<br />

als Begegnungsstätte <strong>und</strong> zur Freizeitgestaltung zur Verfügung.“ „Jeder, ob<br />

jung oder alt, [findet] etwas für sich <strong>und</strong> sein Hobby“.<br />

Nach dem Rückzug der anstiftung boten „die Freiwilligen“ die Werkstätten samt Fachanleitung<br />

dann zunächst den Schulen zur Durchführung von Projekttagen an <strong>und</strong> stießen<br />

damit offenbar in eine Lücke, da der Werkunterricht in Sachsen-Anhalt nach der<br />

Wende laut Frau Kiontke weggefallen war. „Wir ham dann die Schiene der Projekttage<br />

in den Schulen genommen <strong>und</strong> ham gesagt: O.k., das ist Heranführen an das alte<br />

Handwerk. (…). Und da ist dann wieder der Ansturm größer gewesen“ (L 669-688). Auf<br />

diesen Erfolg hin weitete der Verein das Angebot auch auf die Kindergärten aus. Um<br />

mehr altersgerechte Angebote machen zu können, wurde das Backen ebenfalls als „altes<br />

Handwerk“ ins Programm aufgenommen <strong>und</strong> die Floristikwerkstatt zur Bastelwerkstatt<br />

erweitert. Heute bildet die Kooperation mit Schulen <strong>und</strong> Kindergärten einen festen<br />

Baustein im Angebot. Gruppenangebote werden aber auch für Senioren 49 angeboten.<br />

(vgl. Homepage)<br />

Die offene Nutzung der Werkstätten, die am Beginn das Kernangebot darstellte, findet<br />

inzwischen Anklang, scheint jedoch, wie der offene Heimwerkertreff auch, nie besonders<br />

stark nachgefragt worden zu sein. Die anfänglich ablehnende Haltung gegenüber<br />

der <strong>Eigenarbeit</strong> „hat sich mit der Zeit ´n bisschen gegeben“ (L 665), die besondere<br />

Ausstattung mit Maschinen lockte die Leute an. Die Nutzung der Werkstätten scheint<br />

im Allgemeinen für BesucherInnen immer (noch) mit anfänglicher Überwindung verb<strong>und</strong>en<br />

zu sein (siehe Kap. II 3.2.3). Ein offenes Kursangebot gibt es in den Werkstätten<br />

nicht. Die FachberaterInnen arbeiten teils ehrenamtlich, teils sind sie 1-€-Jobber.<br />

Für die Anleitung in der Holz- <strong>und</strong> Metallwerkstatt ist aus Sicherheitsgründen eine ein-<br />

49 Die Menschen, mit denen wir sprachen, verwendeten ausschließlich die männliche Form der<br />

Personen oder Rollenbezeichnung, die die weiblichen Personen „mitmeint“. Ebenso auf der<br />

Homepage. Wir verwenden dort, wo wir die Dokumente <strong>und</strong> die Menschen sprechen lassen ebenfalls<br />

die männliche Form, um nah an der Wirklichkeit der Menschen zu bleiben.<br />

79


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

schlägige Ausbildung vorgeschrieben, zurzeit ist die Betreuung der Werkstätten durch<br />

dieses Fachpersonal gesichert.<br />

Zum Angebot kam später ein Computerkabinett hinzu. Als der Verein die Ausstattung<br />

von einem Beschäftigungsträger, der zuvor als Mieter Räume im Haus genutzt hatte,<br />

überlassen bekam, nahm er die Gelegenheit wahr <strong>und</strong> integrierte sie in sein Angebot.<br />

Die Computer mit Internetzugang können für alle Arten von <strong>Arbeit</strong>en genutzt werden,<br />

MitarbeiterInnen des Kreativzentrums „stehen hilfreich mit [ihrem] Wissen zur Seite“<br />

(Homepage). Außerdem gibt es als Angebot „für die Kleinen“ ein „Spielekabinett mit<br />

Computerspielen“ (ebd.). Kinder, Jugendliche <strong>und</strong> Erwachsene nehmen dieses Angebot<br />

nach Aussagen der Leiterin gleichermaßen gerne an, wenn auch mit unterschiedlichen<br />

Nutzungsformen <strong>und</strong> Interessen (siehe Kap. II 3.2.1).<br />

An dieser Stelle sei auch noch erwähnt, dass das Angebot des Kreativzentrums durch<br />

ein Spielzimmer mit Kinderbetreuung ergänzt wird. Während der Öffnungszeiten ist es<br />

immer geöffnet. Hier kommen ältere Kinder alleine hin, kleinere können dort betreut<br />

werden, wenn Eltern einer eigenen Beschäftigung in Werkstätten oder Computerkabinett<br />

nachgehen möchten.<br />

Ergänzend gibt es im Haus einen Cafébetrieb, der allen BürgerInnen offensteht. Es ist<br />

auch jederzeit „Laufk<strong>und</strong>schaft“ (L 303) willkommen, auch Menschen, die sonst keine<br />

Angebote des Hauses nutzen möchten. Die Laufk<strong>und</strong>schaft besteht in der Regel aus<br />

„Rentner[n], die hier wohnen“ (L 535-536). „Die kommen einfach mal rüber“ (L 535). Es<br />

zählen auch noch die „Kinder aus dem Umfeld“ (L 430-431) dazu, die nachmittags das<br />

Spielekabinett nutzen <strong>und</strong> sich, laut Frau Kiontke, gerne im Kreativzentrum aufhalten.<br />

Dazu kommt noch die regelmäßige Nutzung der Räume durch die unterschiedlichsten<br />

Gruppen, z. B. die „Rommé-Leute“ (L 104), „den Stickkurs“ (L 373) oder die verschiedenen<br />

„Rentnerklubs“ (L 372). Hierbei wird häufig auch die Bewirtung durch die Mitarbeiterinnen<br />

des Kreativzentrums im Cafébereich in Anspruch genommen. Die Räume<br />

werden zudem auch an Privatpersonen für Feierlichkeiten mit oder ohne Service vermietet.<br />

Ein weiterer Schwerpunkt in der <strong>Arbeit</strong> des Kreativzentrums sind die zahlreichen Feste<br />

<strong>und</strong> Spiel- <strong>und</strong> Bastelaktionen für Kinder. Sie werden sowohl im Haus als auch außerhalb,<br />

bei Festen oder in Kaufhäusern als Aktionen organisiert <strong>und</strong> durchgeführt. Diese<br />

werden teils vom MitarbeiterInnenteam selbst initiiert („wir ham ja Freitag auch unser<br />

80


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

Eisenbahnfest hier“ (L 314)), oder auf Bestellung als Dienstleistung angeboten: „Da ru-<br />

fen uns aber die Einkaufsmärkte an. Jetzt am Wochenende hat uns eben in Brehna der<br />

PEP angerufen, hat gefragt… ‚Wir wollen gerne ´ne Westernschau machen. Könnt ihr<br />

nicht mit den Kindern irgendwas …Western… basteln?’“ (L 309-311).<br />

Durch die Aktionen bei Veranstaltungen im Stadtteil, oft in Kooperation mit verschiedenen<br />

anderen Trägern, sowie durch Projekte anderer Träger <strong>und</strong> Angebote für Gruppen<br />

im eigenen Haus, hat sich der Verein in Wolfen-Nord heute einen festen Namen gemacht.<br />

Eine imposante Chronik der Veranstaltungen, die das Kreativzentrum seit Oktober<br />

2005 durchgeführt hat, findet sich auf der Homepage. Hier tauchen insgesamt 14<br />

lokale Akteure unterschiedlichster Art auf, mit denen das Kreativzentrum kooperiert.<br />

Zuletzt wurde die gute Kooperation mit anderen AkteurInnen im Stadtteil durch die<br />

Auswahl des Kreativzentrums als Standort für das Mehrgenerationenhaus 50 im Landkreis<br />

Bitterfeld bestätigt. Die Einweihung fand im Frühjahr 2007 statt.<br />

Zwar bringt die Aufnahme in das Programm etwas Geld in die Vereinskasse, eine gesicherte<br />

Finanzierung konnte bis heute aber nicht erreicht werden, geschweige denn die<br />

Finanzierung einer festen Stelle. Einnahmequellen sind außer den Raumvermietungen,<br />

durch die die Betriebskosten abgedeckt werden, der Überschuss aus dem Cafébetrieb,<br />

Einnahmen für das Durchführen von Bastelaktionen z. B. in Einkaufszentren, etwas<br />

Geld von der Freiwilligenagentur Mehrwert, hin <strong>und</strong> wieder Sachspenden <strong>und</strong> sehr selten<br />

Geldspenden. Die Nutzung des Computerkabinetts geschieht zum Selbstkostenpreis,<br />

die Werkstattnutzung einschließlich Anleitung ist kostenlos, es werden lediglich<br />

Material <strong>und</strong> Maschinennutzung (3 € pro St<strong>und</strong>e) berechnet. Die Finanzierung war von<br />

Beginn an unsicher <strong>und</strong> ist es bis heute: „Manchmal ist es wirklich so, also da denk ich:<br />

‚Mit was bezahlst du das jetzt?’ <strong>und</strong> manchmal ist es wirklich so, dann…: ,oh wir ham<br />

jetzt Geld, jetzt können wir wieder was kaufen’“ (L 268-270).<br />

50 Das Aktionsprogramm Mehrgenerationenhäuser wurde vom B<strong>und</strong>esministerium für Familie,<br />

Senioren, Frauen <strong>und</strong> Jugend aufgelegt. In diesem Jahr (2007) sollen insgesamt 500 Mehrgenerationenhäuser,<br />

in jedem Landkreis eines, ihre <strong>Arbeit</strong> aufnehmen.Sie werden über einen Zeitraum<br />

von fünf Jahren vom B<strong>und</strong> mit jeweils jährlich 40.000 € gefördert. Dabei werden keine<br />

neuen Strukturen geschaffen, vielmehr wird an den vorhandenen Ressourcen in den Regionen<br />

angeknüpft <strong>und</strong> diese werden ausgebaut, um die Zielsetzung erfüllen zu können. Ausgangsidee<br />

ist, das Miteinander der Generationen vom privaten in den öffentlichen Raum zu verlagern: „Für<br />

Menschen verschiedenen Lebensalters bietet ein Mehrgenerationenhaus Raum, sich ungezwungen<br />

zu begegnen <strong>und</strong> gegenseitig von den jeweiligen Kompetenzen der anderen zu profitieren.<br />

Es ist ein offener Ort, an dem gegenseitiger Austausch von Jung <strong>und</strong> Alt <strong>und</strong> Unterstützung<br />

von Familien neu gelebt wird. Es vernetzt Nachbarschaftshilfe <strong>und</strong> soziale Dienstleistungen<br />

in der Region <strong>und</strong> wird so zu einer lokalen Drehscheibe (…) So entsteht ein<br />

generationenübergreifendes Netzwerk, in das sich jeder <strong>und</strong> jede mit den persönlichen Fähigkeiten<br />

einbringen kann“ (www.mehrgenerationenhaeuser.de).<br />

81


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

Zurzeit läuft gerade ein Antrag über das Programm LOS 51 , um eine Finanzierung der<br />

<strong>Arbeit</strong> von Frau Kiontke zu erreichen. Der Ausgang ist im Augenblick noch offen.<br />

Nächstes Jahr kann das „Krea“, so wird das Haus von den Menschen dort genannt, bereits<br />

das 10-jährige Bestehen feiern. Die Leiterin plant für das kommende Jahr die verstärkte<br />

Umsetzung der Idee der Begegnung der Generationen <strong>und</strong> wünscht sich für die<br />

Zukunft „mehr K<strong>und</strong>schaft“ (M 359).<br />

3.1.2 Portrait des Stadtteils: Was bleibt? Wer bleibt?<br />

Wolfen liegt im so genannten ehemaligen Chemiedreieck der DDR zwischen Leipzig<br />

<strong>und</strong> Dessau, das Chemiekombinat <strong>und</strong> die Filmfabrik Original Wolfen, kurz Orwo, waren<br />

die größten <strong>Arbeit</strong>geber am Ort. Heute bestimmt im Wesentlichen ein Phänomen<br />

die Atmosphäre <strong>und</strong> den Alltag der Menschen: die hohe <strong>Arbeit</strong>slosigkeit von zurzeit<br />

18,7% (www.pub.arbeitsamt.de/hst/services/statistik/) bezogen auf den Landkreis Anhalt-Bitterfeld.<br />

Die Region Bitterfeld Wolfen hatte bis 1989 r<strong>und</strong> 70.000 <strong>Arbeit</strong>splätze, war einst Magnet<br />

für Menschen, die wegen der <strong>Arbeit</strong> kamen. Dann kamen die Wende <strong>und</strong> die Wiedervereinigung,<br />

die großen personalintensiven Betriebe konnten nicht mit den westdeutschen<br />

Unternehmen konkurrieren <strong>und</strong> mussten die <strong>Arbeit</strong>er entlassen (vgl.<br />

Franzen 2004). Wer konnte, zog fort (vgl. Müller 2003, S.3). Heute sind es nach noch<br />

schlechteren Jahren direkt nach der Wende immerhin wieder 25.000 <strong>Arbeit</strong>splätze im<br />

Landkreis (www.dradio.de), der Chemiepark, aufgebaut mit Hilfe staatlicher Subventionen,<br />

lockte Unternehmen mit hochmodernen Anlagen wieder nach Bitterfeld. Doch diese<br />

bieten in erster Linie hochqualifizierten Fachkräften eine Chance <strong>und</strong> es wird hochproduktiv,<br />

das heißt mit wenig Personal gearbeitet. Ein gutes Beispiel für den „jobless<br />

growth“ (siehe Kap. I 1.2.2).<br />

Seit 1. Juli diesen Jahres ist die ehemalige Stadt Wolfen durch Gebietsreform ein<br />

Ortsteil der Stadt Bitterfeld-Wolfen geworden. Der Stadtteil „Wolfen-Nord wurde zwischen<br />

1961 <strong>und</strong> 1990 ohne Anbindung an die Wolfener Altstadt <strong>und</strong> andere gewachsene<br />

Sozialbezüge auf dem Reißbrett entworfen“ (Müller 2003, S.2). Die Plattenbauten<br />

dienten als reiner Schlafort für die Beschäftigten der Industriebetriebe. In den besten<br />

Zeiten lebten in der <strong>Arbeit</strong>ersiedlung 35.000 Menschen in etwa 13.500 Wohnungen in<br />

vier großen Wohnkomplexen (www.ewnonline.de/ewn/su/su_um.php). Nach dem Zu-<br />

51 LOS steht für Lokales Kapital für <strong>Soziale</strong> Zwecke <strong>und</strong> ist ein Förderprogramm des B<strong>und</strong>esministeriums<br />

für Familie, Senioren, Frauen <strong>und</strong> Jugend aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds.<br />

Ziel von LOS ist, soziale <strong>und</strong> beschäftigungswirksame Potenziale vor Ort zu aktivieren, die<br />

durch zentrale Programme wie die Regelförderung des Europäischen Sozialfonds nicht erreicht<br />

werden (www.los-online.de/content/index_ger.html).<br />

82


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

sammenbruch der DDR <strong>und</strong> ihrer Wirtschaft gingen bei der Filmfabrik 1994 die Lichter<br />

aus, 14.500 <strong>Arbeit</strong>splätze waren mit einem Schlag weg (vgl. www.dradio.de). Wolfen-<br />

Nord ist in der Region, was <strong>Arbeit</strong>slosigkeit <strong>und</strong> Abwanderung betrifft, Gewinner trauriger<br />

Rekorde: 1998 herrschte eine Sockelarbeitslosigkeit von 50% (vgl. Müller 2003,<br />

S.3). Mit aktuelleren Zahlen für den Stadtteil wird es schwierig. Seit der Gebietsreform<br />

wird Wolfen nicht mehr separat erfasst. Die Abwanderung spricht eine deutliche Sprache,<br />

die Bevölkerung beträgt heute etwa die Hälfte von einst (17.000 Menschen) <strong>und</strong><br />

der Trend setzt sich weiter fort. „Nachweislich zog ein großer Teil der Abwanderer aus<br />

Wolfen-Nord in andere Teile des Landkreises, vornehmlich in die Stadt Bitterfeld“ (GIN-<br />

SEK 2006, S.1). Das lässt vermuten, dass die Abwanderungen „nicht allein arbeitsplatzbedingt,<br />

sondern auch wohnortbedingt waren“ (ebd.). Wolfen-Nord scheint auch<br />

für die Menschen in der Region als Wohnort unattraktiv geworden zu sein.<br />

Die Altersstruktur der Bevölkerung zeigt eine weitere Problematik auf. 28,7% der Menschen<br />

in Wolfen sind älter als 65 Jahre <strong>und</strong> 31,4 % zwischen 45 <strong>und</strong> 65 Jahren<br />

(www.bitterfeld-wolfen.de). Alle Informationen zusammen genommen ergibt sich folgendes<br />

Bild: Es bleiben hauptsächlich die Älteren <strong>und</strong> die gering Qualifizierten. Letztere<br />

werden zu Langzeitarbeitslosen, allein schon durch die Nicht-Bewegung gestehen<br />

die Dagebliebenen ihr Scheitern ein (vgl. Müller 2003, S. 3).<br />

Um für den Stadtteil neue Perspektiven zu erarbeiten, gründeten die Stadt Wolfen <strong>und</strong><br />

weitere Akteure 1996 die Erneuerungsgesellschaft Wolfen Nord mbH, kurz EWN (vgl.<br />

www.ewnonline.de). Die EWN bezeichnet sich selbst als Dienstleisterin im Bereich<br />

Stadtentwicklung, koordiniert den „Stadtumbau“ (zutreffender wäre der Begriff Rückoder<br />

Abbau) <strong>und</strong> führt das Stadtteilmanagement im Auftrag der vier Gesellschafter<br />

durch. Damit ist die EWN zum bedeutenden Akteur für die Gestaltung der Gegenwart<br />

<strong>und</strong> Zukunft in Wolfen-Nord geworden. Ihr Leitbild für den Stadtumbau ist Abriss <strong>und</strong><br />

Aufwertung. Der Abriss ist seit 2000 im Gang <strong>und</strong> soll bis 2010 dem Bedarf von angenommenen<br />

14.000 Wohneinheiten „angepasst“ werden 52 . Die verbleibenden Wohnungen<br />

werden im Standard angehoben. Die Flächen sollen begrünt werden. Aktuell steht<br />

der Abriss der Wohnkomplexe IV bevor, die genau gegenüber <strong>und</strong> neben dem Kreativzentrum<br />

in der Straße der Jugend liegen <strong>und</strong> bereits geräumt sind.<br />

Im Aufgabenfeld Stadtteilmanagement sieht sich die EWN aber auch als moderierender<br />

<strong>und</strong> koordinierender Impulsgeber für die sozialen, kulturellen, sportlichen oder<br />

bildenden Akteure. Sie arbeitet „gemeinwesen- <strong>und</strong> stadtteilorientiert im <strong>und</strong> für das<br />

52<br />

auf der Homepage der EWN findet man kleine Filme, die einen guten visuellen Eindruck des<br />

Stadtteils vermitteln<br />

83


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

Wohnquartier“ (ebd.). In Zusammenarbeit mit den Trägern vor Ort entwickelt die EWN<br />

Projekte <strong>und</strong> Maßnahmen zur Sicherung des sozio-kulturellen Lebens <strong>und</strong> unterstützt<br />

z. B. bei der Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten bis hin zur konkreten Hilfe bei<br />

der Mittelbeantragung. Das Kreativzentrum konnte u. a. durch die Mittelbeantragung<br />

für das Mehrgenerationenhaus von der Kooperation profitieren. Das Quartiersmanagement<br />

verwaltet auch das Stadtteilbudget. Die folgenden Projekte wurden bereits mit<br />

unterschiedlichen Kooperationspartnern auf den Weg gebracht:<br />

• Gründung des lokalen Bündnisses für Familie, in dem auch das Kreativzentrum<br />

Mitglied ist<br />

• Der Aufbau der Freiwilligenagentur Mehrwert, durch die auch Freiwillige an das<br />

Kreativzentrum vermittelt wurden<br />

• Haus der Beratung <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit als Quartierszentrum, das den Anwohnern,<br />

den Trägern des Gemeinwesens <strong>und</strong> anderen Organisationen einen Veranstaltungs-<br />

<strong>und</strong> Schulungsraum zur Verfügung stellt <strong>und</strong> in dem Büros <strong>und</strong> Beratungsräume<br />

unterschiedlicher Träger untergebracht sind. Dieses Haus liegt in<br />

„Wolfen-Stadt“, ist demnach keine direkte Konkurrenz zum Kreativzentrum<br />

• In Zusammenarbeit mit dem Jugendamt die fachliche Umsetzung des Programms<br />

LOS des B<strong>und</strong>esministeriums für Familie, Senioren, Frauen <strong>und</strong> Jugend.<br />

Hier versucht auch das Kreativzentrum mit Unterstützung der EWN eine<br />

Förderung zu erhalten<br />

Uns liegt leider keine Information darüber vor, ob in der EWN auch sozialpädagogische<br />

Fachkräfte beschäftigt sind.<br />

3.1.3 InterviewpartnerInnen <strong>und</strong> die Interviewsituation<br />

Die Leiterin des Kreativzentrums, Frau Kiontke, ist, wie bereits erwähnt, seit der Gründungsphase<br />

in die Prozesse im Kreativzentrum eingeb<strong>und</strong>en. Sie ist heute 52 Jahre<br />

alt, verheiratet, ihr Mann ist berufstätig. Sie wohnt nicht mehr in der Plattenbausiedlung,<br />

sondern seit einiger Zeit in einem jenseits der Bahnlinie gelegenen Ort mit dörflichem<br />

Charakter. Die beiden Kinder sind erwachsen <strong>und</strong> leben in Westdeutschland.<br />

Nach einer dreijährigen Phase der <strong>Arbeit</strong>slosigkeit bekam Frau Kiontke 1996 die ABM-<br />

Maßnahme bei der GÖS <strong>und</strong> begann mit fünf anderen ABM-Kräften die Planung <strong>und</strong><br />

Vorbereitungen für ein Haus.<br />

84


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

Ihre Stelle wurde als SAM-Stelle 53 noch drei weitere Jahre verlängert, seit ca. 2000 ar-<br />

beitet sie ehrenamtlich im Vorstand des Vereins <strong>und</strong> als Mitarbeiterin im Haus, vor drei<br />

oder vier Jahren übernahm sie die Leitung des Kreativzentrums. Die Zeit der <strong>Arbeit</strong>slosigkeit<br />

war für sie offenbar sehr prägend <strong>und</strong> ist es heute auch noch für ihr <strong>Arbeit</strong>sverständnis<br />

im Kreativzentrum (siehe Kap. II 3.2.3).<br />

Frau Kiontke hat keine Qualifikation im sozialen oder pädagogischen Bereich, „das hab<br />

ich alles erst mal hier so gelernt“ (L 888-889). Sie hätte sich diesen Werdegang selbst<br />

so nie vorgestellt, das sei wirklich alles so gewachsen. Während des Interviews wurde<br />

deutlich, wie sehr sie sich mit der <strong>Arbeit</strong> im Krea identifiziert, Begeisterung <strong>und</strong> Engagement<br />

waren spürbar.<br />

Frau Kiontke berichtete freimütig, ausführlich <strong>und</strong> offen über das Kreativzentrum, dabei<br />

erweckte sie den Anschein, dass diese Situation für sie nicht neu <strong>und</strong> fremd ist <strong>und</strong> sie<br />

durchaus mit Stolz über ihre <strong>Arbeit</strong> zu berichten weiß.<br />

Direkt im Anschluss an das Gespräch mit Frau Kiontke hatten wir Gelegenheit, mit<br />

zwei Mitarbeitern <strong>und</strong> einer Mitarbeiterin zu sprechen. An diesem Nachmittag waren in<br />

den Werkstätten <strong>und</strong> auch im Computerkabinett leider keine NutzerInnen anwesend.<br />

Frau Kiontke war der Meinung gewesen, dass es besser sei, spontan eine Gruppe von<br />

BesucherInnen zusammenzutrommeln <strong>und</strong> diese nicht vorher um Teilnahme zu bitten,<br />

da sie befürchtete, es entstünde sonst im Vorfeld der Eindruck, ausgefragt zu werden.<br />

Kurzfristig beschlossen wir, unser Gespräch mit den MitarbeiterInnen zu führen. Wir<br />

sprachen mit Fred (F), Werner (W) <strong>und</strong> Corinna (C) 54 . Frau Kiontke (K) saß auch mit<br />

dabei. Alle hatten eigentlich schon Feierabend, weil die Tage zuvor wegen des Sommerferienprogramms<br />

einige „Überst<strong>und</strong>en“ gemacht worden waren. Unser Eindruck<br />

war, dass die beiden Männer etwas überrumpelt waren, hauptsächlich Frau Kiontke zuliebe<br />

noch blieben <strong>und</strong> nur unwillig bereit waren, mit uns zu reden. Außerdem stellte<br />

das Aufnahmegerät eine zusätzliche Hürde dar, die für Misstrauen sorgte, das wir nur<br />

mühsam ausräumen konnten.<br />

53 SAM= Strukturanpassungsmaßnahme. §§ 272-279 des SGB III in Verb. mit § 415 (1) u.(2)<br />

SGB III. SAM „soll[t]en die Notwendigkeit einer Verzahnung von <strong>Arbeit</strong>smarkt- <strong>und</strong> Strukturpolitik<br />

unterstreichen. Sie soll[t]en bei einem Strukturwandel die Voraussetzungen für die Entstehung<br />

neuer <strong>Arbeit</strong>splätze schaffen“. Heute sind die o.g. §§ aufgehoben, eine Zuweisung war<br />

möglich bis 31.12.2003. Die Agentur für <strong>Arbeit</strong> agiert heute nach den Hartz-IV-Reformen unter<br />

dem Motto „informieren, beraten, vermitteln“ <strong>und</strong> versucht <strong>Arbeit</strong>suchende durch moderne<br />

Dienstleistungen am <strong>Arbeit</strong>smarkt, sprich Vermittlungsgutscheine an private Vermittlungsagenturen<br />

nach § 37 SGB III in Unternehmen auf dem ersten <strong>Arbeit</strong>smarkt unterzubringen. Es gibt<br />

aber noch immer geförderte Stellen, in die vor Ende 2003 eingewiesen wurde. Die Förderdauer<br />

für <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen über 55 Jahre betrug 5 Jahre. Damit sind die SAM-Stellen gesetzlich befristet<br />

bis 2008. (vgl. www.arbeitsagentur.de)<br />

54 Namen wurden geändert<br />

85


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

Corinna: Anfang bis Mitte 40, langzeiterwerbslos, wohnt direkt in einem Plattenbau<br />

ganz in der Nähe. Sie ist schon seit 5 Jahren im Krea <strong>und</strong> hatte zwischendurch einen<br />

1-€-Job. Jetzt ist sie ehrenamtlich tätig. Sie ist „Mädchen für alles“ im Cafébereich, in<br />

der Bastel- <strong>und</strong> Floristikwerkstatt <strong>und</strong> in der Kinderbetreuung, wohl auch im Computerkabinett,<br />

nur in der Holz <strong>und</strong> Metallwerkstatt arbeitet sie nie.<br />

Werner: Mitte/ Ende 40, wohnt in Wolfen, etwas weiter vom Krea entfernt. Hat Tischler<br />

gelernt. Er ist ebenfalls langzeiterwerbslos <strong>und</strong> hat seit 4 Monaten einen 1-€-Job im<br />

Krea in der Holz- <strong>und</strong> Metallwerkstatt, wo er die Fachanleitung macht. Er kannte das<br />

Kreativzentrum vorher nicht.<br />

Fred: Anfang/ Mitte 40 ist schon seit 7 Jahren im Krea. Er hatte zunächst dort eine<br />

ABM-Stelle. Seit deren Ende ist er wieder erwerbslos, jetzt ist er einer der ehrenamtlichen<br />

Mitarbeiter, die täglich da sind, <strong>und</strong> betreut die Holz- <strong>und</strong> Metallwerkstatt.<br />

Anfangs war die Gesprächsatmosphäre etwas gespannt, sie wurde jedoch im Lauf des<br />

Gesprächs lockerer. Insbesondere durch die Witze, so schien uns, gelang es doch, eine<br />

Stimmung zu schaffen, in der die TeilnehmerInnen nachdenkliche <strong>und</strong> privatere<br />

Gedanken äußerten. Flapsige <strong>und</strong> halb-ernste Aussagen sorgten immer wieder für Gelächter,<br />

ließen aber die schwierige Lebenssituation der Befragten durchscheinen. 55<br />

Wir hatte außerdem Gelegenheit, mit einer Rentnergruppe 56 zu sprechen. Die Frauen<br />

zwischen Mitte 60 <strong>und</strong> 81 Jahren treffen sich regelmäßig alle 14 Tage in den Räumen<br />

des Kreativzentrums zu Kaffee <strong>und</strong> Kuchen, zum Gespräch <strong>und</strong> gemeinsamen Handarbeiten,<br />

Basteln oder Töpfern. Es waren sechs Frauen anwesend, einige, die sonst<br />

dabei sind, fehlten an dem Tag.<br />

Frau Kiontke hatte der Gruppe bei unserem ersten R<strong>und</strong>gang durchs Haus die Befragung<br />

angekündigt. Die Rentnerinnen reagierten aufgeschlossener der Situation gegenüber<br />

als die MitarbeiterInnen, vielleicht weil sie sowieso zum Erzählen zusammenkommen.<br />

Wir haben den Frauen die Kürzel Frau E, Frau Z, Frau D, Frau V, Frau F <strong>und</strong><br />

Frau S gegeben.<br />

Es herrschte insgesamt eine gelöste <strong>und</strong> fröhliche Stimmung, die aber auch nachdenkliche<br />

Äußerungen zuließ.<br />

55<br />

Das Alter der Befragten haben wir geschätzt. Leider vergaßen wir, den Fragebogen zur Datenerhebung<br />

am Schluss ausfüllen zu lassen, einige Informationen ergaben sich aber aus dem<br />

Gespräch.<br />

56<br />

Für uns überraschend stellte sich heraus, dass die Rentnergruppe von Beginn an ausschließlich<br />

weibliche Mitglieder hatte.<br />

86


3.2 Auswertung der Interviews<br />

Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

Die thematische Strukturierung des folgenden Teils ist an die Ordnung der thematischen<br />

Blöcke im Interviewleitfaden grob angelehnt (siehe Kap II 2.2). Einige Informationen,<br />

hauptsächlich sachliche Aspekte betreffend, wurden bereits in die Portraits aufgenommen.<br />

Andere Blöcke wurden thematisch zusammengefasst, z. B. Anliegen,<br />

Motive <strong>und</strong> Bedeutungen oder Ziele, <strong>Arbeit</strong>sweisen <strong>und</strong> <strong>Eigenarbeit</strong>. Außerdem wurden<br />

auch Aspekte mit aufgenommen, die sich aufgr<strong>und</strong> der Offenheit im Forschungsprozess<br />

erst bei der Auswertung als wesentlich herausstellten, z. B. Bedeutung der<br />

Einrichtung für die MitarbeiterInnen. Deshalb gibt es weniger <strong>und</strong> teils andere Kapitel<br />

als Themenblöcke im Fragebogen. Durch die Auswahl von Zitaten als Zwischenüberschriften<br />

möchten wir das Material selbst sprechen lassen <strong>und</strong> besonders stark betonte<br />

Gesichtspunkte hervorheben oder auf die „Gr<strong>und</strong>stimmung“ aufmerksam machen.<br />

In die einzelnen Kapitel fließen jeweils Beiträge aus den Gesprächen mit unterschiedlichen<br />

Personengruppen ein. Die jeweiligen SprecherInnen können durch die Hinweise<br />

im Text oder die Quellenangabe der Person(engruppe) zugeordnet werden.<br />

3.2.1 Anliegen, Motive <strong>und</strong> Bedeutungen der NutzerInnen<br />

Unser Forschungsplan sah vor, dass wir eine Gruppe von Besuchern <strong>und</strong> Besucherinnen<br />

befragen. Da dies aus oben beschriebenen Gründen, was die offene Werkstatt-<br />

Nutzung betrifft, nicht möglich war, zeigt der folgende Abschnitt in weiten Teilen die<br />

von MitarbeiterInnen <strong>und</strong> Leiterin vermuteten Sichtweisen. Hier haben wir eine Strukturierung<br />

nach den unterschiedlichen Werkstattbereichen vorgenommen <strong>und</strong> die Anliegen<br />

<strong>und</strong> Motive für die Nutzung der Räume des Krea durch die Rentnerinnengruppe in<br />

dieses Kapitel aufgenommen. Wir bedauern, dass wir keine Stimmen von Kindern <strong>und</strong><br />

Jugendlichen bekommen konnten, diese hätten zur Einschätzung der Bedeutung des<br />

Krea eine weitere wichtige Facette beigesteuert. Das wäre nur mit einem längeren oder<br />

mehreren Ortsterminen leistbar gewesen.<br />

Holz- <strong>und</strong> Metallwerkstatt: „ich sag mal s’is positiv“ (M 58)<br />

Die Holz- <strong>und</strong> Metallwerkstätten werden laut den Aussagen der beiden Anleiter Fred<br />

<strong>und</strong> Werner, wenn keine Gruppenangebote stattfinden, hauptsächlich durch „Freizeitgärtner“<br />

(M 15), die „hobbymäßig, - so was basteln wollen“ (M 16), genutzt. Gleiches<br />

berichtete uns Frau Kiontke, die Leiterin: „In der Holzwerkstatt sind es sehr viel, die<br />

jetzt sagen: ich hab im Garten ´ne Bank, die müsste im Herbst mal abgehobelt werden,<br />

die müsste mal lasiert werden“ (L 408-411). Das Publikum ist überwiegend männlich:<br />

„…aber unten in den Werkstätten, das sind zu 90% die Männer“ (L 632-634). Hin <strong>und</strong><br />

wieder kommen auch „Frauen, die ledig sind <strong>und</strong> die Fahrräder repariert haben wollen,<br />

87


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

oder so was, oder die mal jetzt sagen, ich bräucht’ mal’n Tisch, oder können sie uns<br />

das mal zuschneiden" (M 19-21). Auch die Rentnerinnen bestätigen, dass sie die Holz<strong>und</strong><br />

Metallwerkstatt kaum nutzen.<br />

Die BesucherInnen haben dabei die Möglichkeit, Material beim Kreativzentrum zu kaufen<br />

oder es kommen „Leute […] <strong>und</strong> bringen’s Material mit <strong>und</strong> schneiden das dann<br />

selber zu“ (M 24-25). Maschinenarbeit geschieht immer „unter unserer Aufsicht“ (M<br />

26), die Anleiter helfen dabei mal mehr <strong>und</strong> mal weniger. In jedem Fall erhalten die BesucherInnen<br />

„Anleitung (…) <strong>und</strong> bisschen Unterstützung, Hilfe, mal’n Vorschlag. Oder<br />

ne Idee (…), wie se’s besser machen könnten“ (M 74-75).<br />

Auf unsere Frage nach der Bedeutung des Angebotes für die BesucherInnen waren<br />

sich die beiden einig: „Für die isses eigentlich positiv, würd ich sagen. Ja, auf jeden<br />

Fall, ja. K<strong>und</strong>en waren immer zufrieden, ja“ (M 63-65). Der Nutzen für die BesucherInnen<br />

liege in finanziellen Vorteilen, denn „…weil sie natürlich zu Hause die Möglichkeit<br />

nicht hat, das zu bohren“ (M 52-54). „Es hat ja doch nicht jeder soviel Penanzen grad<br />

jetzt in dieser Situation, dass der sich die <strong>und</strong> die Maschine leisten kann“ (M 60-62)<br />

<strong>und</strong> „teures Geld ausgeben muss ja nich sein“ (M 275). Dieses Motiv in den Werkstätten<br />

zu arbeiten, vermutet auch die Leiterin: „dass sie dann gesagt haben: »ok, Baumarkt<br />

ist ja auch teuer…also ich stell’s lieber wieder selber her«“(L 665-667). Auf erneute<br />

Nachfrage, nach weiteren Nutzenaspekten nannten die beiden Mitarbeiter die<br />

fachliche Anleitung <strong>und</strong> Unterstützung sowie den Aspekt, dass man mal von zu Hause<br />

rauskäme, dann „brauchen sie nicht im Haus sitzen“ (M 275).<br />

Kreatives Gestalten: „Guck mal, was wir gemacht haben, sieht doch gut aus“ (L 716)<br />

Die Töpferei, Floristik <strong>und</strong> Bastelwerkstatt sind hingegen die Domäne der Frauen <strong>und</strong><br />

auch der Kindergruppen. Hier kann Material ebenfalls gekauft oder eigenes Material<br />

mitgebracht werden. Bis vor einiger Zeit gab es eine gelernte Töpferin als Anleiterin,<br />

die auch das Drehen auf der Scheibe vermitteln konnte. Zurzeit fehlt diese Möglichkeit,<br />

Frau Kiontke kann jedoch Aufbautechnik vermitteln. Dieses Angebot nutzt die Rentnerinnengruppe<br />

gelegentlich, ebenso wie auch die Floristikwerkstatt. Z. B. an „… Weihnachten<br />

machen wir Gestecke hier“ (R 84). „Filzen,… haben wir auch schon gemacht<br />

<strong>und</strong> Ostereier, Kerzen,… Serviettentechnik“ (R 33-36). Bei diesen Aktionen bekommen<br />

die Rentnerinnen „Anregungen von unsrer Kollegin (eine Frau aus der Gruppe), die<br />

so’n bisschen die „Leitung“ hat in Anführungsstrichen“ (RD 29-30). „Die[se] hat dann<br />

schon die nötige Erfahrung <strong>und</strong> das Material“ (RD 39-41).<br />

Es kommen auch Einzelpersonen zum Töpfern oder kreativen Gestalten ins Krea, berichtet<br />

Frau Kiontke: „Das ist so, wie gesagt…, es ist Ostern, ich brauch´n Ostergesteck,<br />

ich will mir das nicht kaufen, weil es ja zu teuer ist. Ich möchte´n Ostergesteck<br />

88


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

basteln, das bastel’ ich dann hier’. Oder Weihnachten…, Herbstgestecke, so was. Oder<br />

auch Frühlingsgestecke: die kommen <strong>und</strong> sagen: »Ich habe da´n Tischchen stehen, da<br />

brauch ich was, hilf uns mal, was kann ich da hin machen?«’“(L 479-483). Die Nutzung<br />

der Werkstätten ist auch ohne Inanspruchnahme fachlicher Anleitung möglich, wird aber<br />

nach unserem Eindruck relativ wenig nachgefragt.<br />

Vermutete Motive der BesucherInnen sind im obigen Zitat bereits mit angesprochen.<br />

Auch hier geht es darum, Geld zu sparen <strong>und</strong> Anregung durch die MitarbeiterInnen zu<br />

bekommen. Frau Kiontke beobachtet allerdings auch, wie stolz <strong>und</strong> glücklich „sogar<br />

Erwachsene“ (L 715) sind, wenn sie fertig mit einem Werkstück sind.<br />

Computerkabinett: „Da kommen sie auch von alleine“ (L 528)<br />

Das Computerkabinett wird von allen Besuchergruppen genutzt: „da sind Männer <strong>und</strong><br />

Frauen, also da nimmt sich das nicht viel“ (L 154-155), außerdem Jugendliche <strong>und</strong><br />

Kinder. Das Kreativzentrum führt laut Frau Kiontke das einzige Internetcafé im Stadtteil<br />

Wolfen-Nord, <strong>und</strong> auch im nahe gelegenen Jugendklub steht nur ein einziger Rechner<br />

zur Verfügung. Es „läuft eigentlich sehr gut“(L 155) in den Augen der Leiterin, die Mitarbeiterin<br />

Corinna meinte aber: „Grade beim Internet, (…) da muss man immer drauf<br />

hinweisen, dass sie nicht erst nach Bitterfeld zum <strong>Arbeit</strong>samt müssen, zum Computer,<br />

sondern hier oben eben auch gucken können. Das ist ja nun eigentlich für die Anwohner<br />

günstig. (…) Viele wissen’s auch nicht“ (M 250-254). Die Versorgung mit einer fehlenden<br />

Infrastruktur, dazu die angebotene Unterstützung („<strong>und</strong> wenn ich nicht weiter<br />

weiß, dann hilft mir jemand“ (L 530)) <strong>und</strong> die geringen Gebühren machen das Angebot<br />

attraktiv. Es kommen laut Frau Kiontke auch viele Kinder zum Spielen, „weil´s denen<br />

hier Spaß macht, weil´s denen hier gefällt <strong>und</strong> oben, gerade am Computer, (…) die<br />

kommen im Alter von vier bis vierzehn/ fünfzehn“ (L 433-440). Wir vermuten, dass für<br />

die Jugendlichen beide Aspekte Bedeutung haben, sowohl der Spaß am Spielen (LAN-<br />

Partys) als auch das <strong>Arbeit</strong>smittel Computer bei Ausbildungsplatzsuche <strong>und</strong> Bewerbung.<br />

Insofern stellt das Computerkabinett für das Kreativzentrum in doppelter Hinsicht einen<br />

„Türöffner“ oder „Magneten“ dar: Das Angebot schließt nach unserem Eindruck eine<br />

Bedarfslücke <strong>und</strong> zugleich stellt es den niederschwelligsten Bereich im Kreativzentrum<br />

dar. „Da kommen sie auch von alleine. Weil: ‚ich muss mich ja nicht mit vielen unterhalten’“<br />

(L 528- 529). Außerdem werden Erwachsene erreicht, die über ihre Kinder in Kontakt<br />

kommen: „Sie wollen ja auch wissen, wo ihre Kinder sind, wenn sie den ganzen<br />

Tag weg sind. Dann kommen sie mal gucken <strong>und</strong> dann kommen die auch öfters“ (L<br />

520-524).<br />

89


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

Gruppenangebote: „das ist doch schöner, wenn man in der Gesellschaft ist“ (RD 93)<br />

Unser Gespräch mit der Gruppe der Rentnerinnen gab Einblick in die Anliegen <strong>und</strong><br />

Motive der Frauen für ihre Treffen. Uns interessierte zwar besonders, welche Zusammenhänge<br />

zu dem Angebot der Offenen Werkstätten bestehen, da jedoch unsere Forschungsfrage,<br />

wie die Praxis der Offenen Werkstätten aussieht, den Blick auf die gesamte<br />

Einrichtung in ihrem Umfeld <strong>und</strong> mit allen ihren Angeboten richtet, berichten wir<br />

auch über die Sichtweisen der Frauen, die nicht direkt auf das Werkstattangebot bezogen<br />

sind.<br />

Der Zweck ihrer Treffen bestehe in der „Freizeitbeschäftigung der Rentner“ (RS 4) <strong>und</strong><br />

in der „Geselligkeit. (…) Und so treffen wir uns…“ (RF 5-9), „um mal aus den vier Wänden…“<br />

(RV 69) rauszukommen. Das bedeutet konkret: „Miteinander… Kaffee trinken<br />

…basteln … austauschen … mal einen Witz erzählen, alles, alles vergessen – was zu<br />

Hause ist, ablegen“ (R 70-71). Das „Basteln“ nimmt bei den Treffen einen wichtigen<br />

Raum ein, dann kann man mal „dies <strong>und</strong> jenes, auch mal ein bisschen was Anderes<br />

machen, nicht dass jeder seinen Strickstrumpf mitbringt“ (RD 29-30). Die Treffen sind<br />

„immer lustig“ (RF 84), es geht um den „Spaß an der Freude“ (RE 68). Es gibt auch<br />

gemeinsame Rituale, so wird z. B. jeder „zum Geburtstag geehrt <strong>und</strong> dann wird auch<br />

ein kleiner Umtrunk gemacht“ (RS 126-130).<br />

Ebenso wichtig ist der „Erfahrungsaustausch, dass man eben nicht – weltfremd wird<br />

hier“ (RD 104). „Es gab schon (…) viele Themen, über die wir geredet haben (…).<br />

Hochzeit, (…) Geburtstage. Sogar Beerdigung“ (RZ 96-99) <strong>und</strong> „natürlich…das Politische<br />

<strong>und</strong> alles“ (RZ 103). „Über Patientenverfügung <strong>und</strong> so weiter, da spricht man<br />

dann mal drüber“ (RE 105-106). Hier geben die Frauen sich gegenseitig Rat <strong>und</strong> erfahren<br />

gegenseitige Unterstützung: „Das ist dann schön, wenn einer schon was weiß <strong>und</strong><br />

berät <strong>und</strong> dann – das finden wir dann gut“ (RE 106-108).<br />

Besonders schätzen die Frauen die aufmerksame <strong>und</strong> engagierte Bewirtung durch das<br />

Team des Kreativzentrums, sie kommen „wie in eine Gaststätte“ (RS 195-196). Es ist<br />

für sie etwas Besonderes, sich bewirten lassen zu können <strong>und</strong> „das ist ja das, was uns<br />

hier anzieht. Ja. Nichts zu machen! Das ist schön“ (R 151-163). Sie gönnen sich selbst<br />

etwas <strong>und</strong> erleben den aufmerksamen Service von Seiten der MitarbeiterInnen als<br />

Wertschätzung. RD: „also ganz ganz – alles so – wie soll ich sagen…“ RZ: „so schön!<br />

Doch!“ (R 163-165).<br />

Ein weiteres Kriterium stellt auch für die Rentnerinnen der finanzielle Aspekt dar: „Und<br />

das is einer von den wenigen Räumen, die wer noch in Anspruch nehmen können, wo<br />

wer nich noch Miete zahlen müssen“ (RD 167-168).<br />

90


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

Dass das Gruppentreffen für die Frauen mehr ist, als „so ein ausgesprochener Kaffee-<br />

klatsch“ (RS 184), auch durch die Möglichkeit, die Werkstätten nutzen zu können, wur-<br />

de deutlich, als die Frauen berichteten, wie sie sich auch im Kreativzentrum bei Veranstaltungen<br />

als Gruppe präsentieren: als aktive <strong>und</strong> nach außen offene <strong>und</strong> interessierte<br />

Gruppe, die sich gerne auch engagiert zeigt <strong>und</strong> auch für andere einsetzt. Z. B. wurden<br />

für den nahe gelegenen Kindergarten Puppenkleider angefertigt oder für die Weihnachtsfeier<br />

eines anderen Vereins kleine „Schluckbullis“ (Schnapsfläschchen) verziert.<br />

„Denen (durch Ausstellungen) auch zu sagen: »So, das geht aus unserem Treff hervor’,<br />

nicht dass wir denen so sagen, wir sitzen bloß <strong>und</strong> <strong>und</strong>…gakeln dumm«“ (RD<br />

219-220). Es sieht für uns so aus, als sei dies für das Selbstbild der Frauen von Bedeutung.<br />

3.2.2 Motive <strong>und</strong> Nutzen der MitarbeiterInnen<br />

In diesem Kapitel stehen die MitarbeiterInnen im Fokus. Die Thematik, wie das Kreativzentrum<br />

allein mit ehrenamtlichen Kräften <strong>und</strong> „Maßnahme-Leuten“ geführt werden<br />

kann, nahm einen großen Raum in unseren Interviews ein. Wir erfuhren einiges über<br />

die Motive <strong>und</strong> den Nutzen der ehrenamtlichen Mitarbeit oder der Mitarbeit im Rahmen<br />

einer AGH nach § 16 (3) SGB II.<br />

Es liegt auf der Hand, dass die MitarbeiterInnen daraus einen eigenen Nutzen ziehen,<br />

für den sich ihr Engagement lohnt. Das freiwillige Engagement wird vor dem Hintergr<strong>und</strong><br />

der Perspektivlosigkeit auf dem <strong>Arbeit</strong>smarkt zu einer alternativen, sinnvollen<br />

Beschäftigung. Ein Beispiel von Praktikantinnen der BWSA (Bildungswerk der Wirtschaft<br />

Sachsen-Anhalt) macht dies plastisch: „Obwohl das Jahr vorbei ist. Denen hat<br />

das so gut hier gefallen, die sind arbeitslos, <strong>und</strong> dann haben sie gesagt: »G., wenn du<br />

uns brauchst, ruf bloß an!« Ich brauch gar nicht anrufen, die kommen ganz von alleine“<br />

(L 138-144). Werner, der erst seit 4 Monaten den 1-€-Job macht, erzählt: „… ne Chance<br />

auf’m <strong>Arbeit</strong>smarkt hab ich gar nicht mehr Nee, <strong>und</strong> da kommt mir das grade gelegen“<br />

(M 178-179). Die Situation der Beschäftigungslosigkeit beschreiben die Anleiter<br />

folgendermaßen: F: „Da sitztste vorm Fernseher <strong>und</strong> stehst uff’m Balkon, mehr haste<br />

(...) bloß nicht“. W: „Da kommt der ganze Alkoholkonsum erstmal richtig zum, …zur<br />

Wallung hier“ (M 127-133).<br />

Die Beschreibung der Situation der <strong>Arbeit</strong>slosigkeit nimmt auch in den Ausführungen<br />

der Leiterin einen breiten Raum ein. „Die ersten Jahre war ich wahrscheinlich so wie alle<br />

<strong>Arbeit</strong>slose: »Geh bloß nicht raus. Bleib in deinem Heim <strong>und</strong> da kannste dich verstecken«,<br />

so ungefähr. Und dann hab ich die Maßnahme hier gekriegt <strong>und</strong> (Pause)…ich<br />

hab mich eigentlich völlig gewandelt. Ich könnte gar nicht mehr zu Hause bleiben. Ich<br />

könnte gar nicht sagen…was mach ich denn jetzt den ganzen Tag hier zu Hause. (…)<br />

91


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

Ich brauch das irgendwie, (…) dass man beschäftigt ist. (…) Denn wenn man arbeitslos<br />

ist <strong>und</strong> so lange arbeitslos ist wie ich, kommt man dann ja auf den Standpunkt, wo<br />

man sagt, »für was bist´n eigentlich noch da?« Und hier wird man wirklich gebraucht“<br />

(L 328-339).<br />

Es geht den Menschen um sinnvolle Beschäftigung <strong>und</strong> Tagesstruktur, die <strong>Arbeit</strong> im<br />

Kreativzentrum wird als identitäts- <strong>und</strong> sinnstiftend erlebt. „Also ich hab das von vielen<br />

gehört, dass es denen dann auch Spaß macht, hier zu arbeiten“, obwohl es „auch<br />

manchmal ganz schöner Stress“ ist (L 352-354).<br />

Anerkennung für das Getane zu erfahren, ist für die Leiterin ebenfalls ein starker Motivationsfaktor.<br />

Wenn sie von den Gruppen, die Räume <strong>und</strong> Service in Anspruch nehmen,<br />

hört, dass sie gar nicht mehr weg wollten, „das ist für uns´ne Bestätigung, dass<br />

es ihnen gefällt“ (L 385), oder „wenn wir den Kindergarten hier haben <strong>und</strong> die Augen<br />

von den Kindern, die strahlen, das ist so was Dankbares. (…) also, da freut man sich<br />

drüber! Das motiviert dann wieder!“ (L 388-394).<br />

3.2.3 Ziele <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>sweisen<br />

Wir wollten herausfinden, wie das Kreativzentrum sich selbst als Einrichtung positioniert,<br />

welche Ziele der Verein verfolgt, wen der Verein anspricht, wie die Ziele erreicht<br />

werden sollen <strong>und</strong> worauf bei der <strong>Arbeit</strong> besonderen Wert gelegt wird. Dabei ist zu unterscheiden<br />

zwischen den ursprünglich formulierten Zielen der Stiftung Bauhaus Dessau<br />

<strong>und</strong> der anstiftung einerseits, <strong>und</strong> denen des Vereins heute, andererseits. Wir bleiben<br />

an dieser Stelle bei den Aussagen der Befragten.<br />

Zur Strukturierung haben wir das Kapitel in drei Unterkapitel gegliedert: Ziele <strong>und</strong> Motto,<br />

Zielgruppen <strong>und</strong> Selbstverständnis.<br />

Ziele <strong>und</strong> Motto: „Bist du mal allein zuhaus…“<br />

Wir erfuhren im Gespräch, dass es für die <strong>Arbeit</strong> im Kreativzentrum „direkt ein Motto<br />

eigentlich nicht“ (L 613) gibt. Frau Kiontke erinnerte sich an einen Vers, der eine Zeit<br />

lang ganz gut gewirkt <strong>und</strong> gepasst habe: „Bist du mal allein zu Hause <strong>und</strong> kennst Dich<br />

in der Welt nicht aus, komm ins Kreahaus“ (L 616-617). Aus dem Stehgreif formuliert<br />

sie heute: „Wir sind ne Begegnungsstätte für Jung <strong>und</strong> Alt <strong>und</strong> es kann sich jeder, der<br />

hier reinkommt…wird fre<strong>und</strong>lich bedient <strong>und</strong> wir ja…wir arbeiten miteinander“ (L 622-<br />

625), sehr nah an der Zielformulierung im Text der Homepage (siehe Kap. II 3.1.1). An<br />

anderer Stelle im Gespräch erklärt sie: „Wir haben ´n offenes Haus <strong>und</strong> es sind eigentlich<br />

alle willkommen. (…) Sie können über sich erzählen, wenn sie wollen oder sonst<br />

irgendwas oder wenn sie Probleme haben, die versuchen wir, mit zu lösen“ (L 602-<br />

607). „Offenes Haus“, „Begegnung“, „miteinander“, „willkommen“, „Probleme lösen“:<br />

92


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

Hier wird sehr deutlich, dass als wesentlichstes Element der <strong>Arbeit</strong>, den Menschen im<br />

Stadtteil eine Anlaufstelle für Kontakte gegeben werden soll, ein Angebot der Integration.<br />

„Wenn sie arbeitslos sind, dann sag ich: (…)’Ich kann’s Ihnen nur von meinen Erfahrungen<br />

sagen. Igeln Sie sich nicht ein zu Hause! Kommen Sie mal hierher’“ (L 599-<br />

601).<br />

Hieraus leiten wir auch die folgende Interpretation ab: Ein nur vage ausgesprochenes<br />

Ziel ist es, nicht nur K<strong>und</strong>Innen eine Anlaufstelle zu geben, sondern auch zu ehrenamtlicher<br />

Beschäftigung zu ermuntern oder <strong>Arbeit</strong>sgelegenheiten anzubieten <strong>und</strong> diese für<br />

TeilnehmerInnen möglichst positiv zu gestalten. Uns scheint, dass der Erhalt des Vereins<br />

u. a. auch um der Betätigungsmöglichkeiten <strong>und</strong> Gemeinschaft der MitarbeiterInnen<br />

Willen geschieht.<br />

<strong>Eigenarbeit</strong> steht heute weder begrifflich noch faktisch im Fokus der Ziele. Die Anleiter<br />

in den Holz- <strong>und</strong> Metallwerkstätten sprechen von „Hobby“ <strong>und</strong> „Freizeit“, nicht von <strong>Eigenarbeit</strong>.<br />

Dies ist nur allzu verständlich, da in ihrem Verständnis echte <strong>Arbeit</strong> eben nur<br />

<strong>Erwerbsarbeit</strong> ist, alles andere ist Freizeit. Frau Kiontke ist überzeugt, dass <strong>Eigenarbeit</strong><br />

<strong>und</strong> Hobby das gleiche ist: „Die kommen hier her, die stellen was für sich her, was eigentlich<br />

ein Exponat ist, was es nicht noch mal gibt, machen das in <strong>Eigenarbeit</strong>, machen´s<br />

ja selber. Man nennt´s halt nicht mehr <strong>Eigenarbeit</strong>“ (L 708-711).<br />

Allein die Schulprojekte sind zentral auf die Nutzung der Werkstätten ausgerichtet, sie<br />

können aber nicht als <strong>Eigenarbeit</strong> im ursprünglichen Sinn bezeichnet werden, da sie im<br />

schulischen Rahmen stattfinden.<br />

Aus unserer Sicht stellt sich die Situation folgendermaßen dar: Die vorhandene Infrastruktur<br />

der Werkstätten bietet in diesem „offenen Haus“ eine besondere Ausstattung,<br />

mit der es gelingt, unterschiedliche Zielgruppen ins Haus zu holen <strong>und</strong> ihnen mehr als<br />

„nur“ eine Zusammenkunft anbieten zu können. Man könnte sagen, Förderung der <strong>Eigenarbeit</strong><br />

geschieht gewissermaßen „durch die Hintertür“. Sie ist möglicherweise ein<br />

Nebeneffekt oder eine Dreingabe zu den Gruppenangeboten im Kreativzentrum.<br />

Die Ziele der anstiftung wurden in den Augen der Aktiven sozusagen nur sprachlich an<br />

die Bedingungen <strong>und</strong> Bedürfnisse der Menschen im Stadtteil angepasst. Wir denken,<br />

dass es eine reale, aber nicht bewusste Verschiebung der Ziele gegeben hat (siehe<br />

hierzu auch Kap. II 3.3).<br />

Zielgruppen - jeder ist willkommen<br />

93


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

Aus unseren Gesprächen erschließt sich das folgende Bild: BesucherInnen jeden Alters<br />

werden sehr fre<strong>und</strong>lich <strong>und</strong> offen empfangen, das Motto „jeder ist willkommen“,<br />

egal mit welchem Anliegen er oder sie zunächst kommt, wird scheinbar wirklich gelebt.<br />

Die Aussage, „wir sind schon immer´n Mehrgenerationshaus“ (L 112), wird plausibel<br />

aus den Erzählungen der Leiterin. Wenn z. B. „Rentner aus der Nachbarschaft“ kommen,<br />

„dann setzen wir uns aber erst mal hin, trinken ´ne Tasse Kaffee zusammen <strong>und</strong><br />

dann fangen sie an, über ihr Leben zu erzählen <strong>und</strong> dass sie jetzt wieder ausziehen<br />

müssen…“(L 546-548). „Dann ham die mir ihr Leben erzählt <strong>und</strong> dann gehen die wieder“<br />

(L 537-538). Die Ausgestaltung der Angebotspalette deutet ebenfalls darauf hin,<br />

dass sehr viele unterschiedliche Gruppen vor Ort mit ihren jeweiligen Interessen <strong>und</strong><br />

Bedürfnissen angesprochen werden sollen (Rentnertreff: gemütliches Beisammensein/<br />

Jugendliche: LAN Party).<br />

Für die Kinder „ham wir immer´ne Schüssel mit Bonbons stehen oder sonst was“ (L<br />

448), „denn die können einem ja auch leid tun.“ Die Kinder sind in den Augen der Leiterin<br />

„die Leidtragenden“ der hohen <strong>Arbeit</strong>slosigkeit <strong>und</strong> der schlechten wirtschaftlichen<br />

Situation, denn sie kommen meist aus Familien, die „sehr minderbemittelt sind“ (L 473-<br />

475). Es kommen bereits vierjährige Kinder alleine zum Spielen, hier hat die Leiterin<br />

Zweifel, ob das gut so ist, geht aber von sich aus nicht in Kontakt mit den Eltern. Sie<br />

kümmert sich um die Kinder so lange sie da sind <strong>und</strong> schickt sie zu ihrer Meinung nach<br />

angemessener Zeit nach Hause. Hin <strong>und</strong> wieder werden auch Angebote wie z. B. gemeinsam<br />

Essen kochen durchgeführt, die den Kindern sichtlich gut tun. „…<strong>und</strong> die<br />

freuen sich dann wirklich da drüber“ (L 457). Die Kinder spielen an den Computern,<br />

„weil’s denen Spaß macht“(L 433) <strong>und</strong> dann auf Anweisung im Spielzimmer, „weil allzu<br />

lange sollen sie ja auch nicht an den Computern sitzen“ (L 445).<br />

Wir erkennen in diesem Handeln einen erzieherischen ges<strong>und</strong>en Menschenverstand.<br />

Ein pädagogisches Konzept wird für uns nicht sichtbar. Wir vermuten als Motiv eher<br />

den Wunsch, den Kindern etwas Gutes zu tun, ihnen einen Ort zu geben, wo sie sich<br />

wohlfühlen <strong>und</strong> wo sie in ihren Bedürfnissen angenommen werden.<br />

Die Leiterin wünscht sich, noch mehr „<strong>Arbeit</strong>slose“ (L 427-502) mit dem Angebot anzusprechen,<br />

um ihnen einen Ausweg aus Perspektivlosigkeit <strong>und</strong> Isolation, aufzuzeigen.<br />

Gleichzeitig hat sie aber auch, vor dem Hintergr<strong>und</strong> der eigenen Erfahrungen mit <strong>Arbeit</strong>slosigkeit,<br />

Verständnis dafür, dass diese Personengruppe schwer zu motivieren ist.<br />

Selbstverständnis – „wir wollen ja k<strong>und</strong>enfre<strong>und</strong>lich sein“<br />

94


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

Besucherinnen <strong>und</strong> Besucher, ob einzeln oder als Gruppen, sieht das Team des Kreativzentrums<br />

als „K<strong>und</strong>en“, so wird auch über sie gesprochen. Es herrscht nach unserem<br />

Eindruck eine respektvolle <strong>und</strong> wertschätzende Atmosphäre, die sich auch darin<br />

zeigt, dass jeder mit seinen Bedürfnissen ernst genommen wird <strong>und</strong> auf ihn oder sie<br />

entsprechend eingegangen wird. Die MitarbeiterInnen versuchen, den Wünschen der<br />

K<strong>und</strong>Innen soweit als möglich zu entsprechen, sei es beim Catering, bei der Durchführung<br />

von Aktionen in Einkaufsmärkten oder in den Werkstätten „Weil, wir wollen ja<br />

k<strong>und</strong>enfre<strong>und</strong>lich sein“ (L 221). Die eigene <strong>Arbeit</strong> wird hierbei als Dienstleistung verstanden.<br />

Die K<strong>und</strong>enfre<strong>und</strong>lichkeit geht sogar so weit, dass gelegentlich auf Bestellung<br />

gearbeitet wird. Während wir im Gespräch waren, brachte die Mitarbeiterin der Floristikwerkstatt<br />

ein Gesteck herein, woraufhin wir erfuhren: „Meistens kommt [die K<strong>und</strong>in]<br />

dann selber her <strong>und</strong> bastelt mit selber, aber wenn sie irgendwie sagt, sie ist beschäftigt,<br />

dann machen wir das auch“ (L 490-492). Auch in der Holzwerkstatt packen die<br />

beiden Anleiter schon mal mehr mit an, als nur anzuleiten: „…<strong>und</strong> da schneiden wir<br />

das dann schon zu“ (M 27). Dass man hier die Grenze zur Schwarzarbeit berührt, wird<br />

indirekt von den beiden Männern thematisiert, indem sie betonen, dass sie auf keinen<br />

Fall bereit sind, Lieferdienste zu übernehmen. „Nö, mach ich nicht.“(…) „Das geht gar<br />

nicht“ (M 292-298).<br />

Diese Punkte machen indirekt noch einmal deutlich: <strong>Eigenarbeit</strong> <strong>und</strong> Selbstorganisation<br />

sind Möglichkeiten von vielen im Haus. Den MitarbeiterInnen ist in erster Linie wichtig,<br />

eine Anlaufstelle zu bieten. Zufriedenheit der „K<strong>und</strong>en“ <strong>und</strong> deren Wiederkommen<br />

sind wichtiger als der Ansatz, zum Selber-Tun anzuregen.<br />

3.2.4 Stadtteil aus Sicht der BewohnerInnen<br />

Auf die Erzählaufforderung, etwas über das Leben in ihrem Stadtteil zu berichten, kamen<br />

die in Kap II 3.1.2 aufgezeigten Probleme schnell zur Sprache. Einer der Anleiter<br />

brachte es gleich mit ironisch-sarkastischer Gegenfrage auf den Punkt: „Was, in Armut<br />

oder Reichtum?“ (M 93). Nach Frau Kiontkes spontaner Einschätzung gibt es im Stadtteil<br />

90% <strong>Arbeit</strong>slose, sie relativiert dann: „Na ja, 70, 80% <strong>Arbeit</strong>slose. (…)…die <strong>Arbeit</strong>slosenzahl<br />

wird ja vermindert durch…der macht Umschulung, der macht Umschulung,<br />

der macht ´n 1-€-Job… die kommen alle aus´m <strong>Arbeit</strong>samt raus. Sind aber trotzdem<br />

Familien, die nicht viel haben“ (466-470). Die Rentnerinnen antworten in ähnlicher<br />

Weise: „wie viel Berufstätige gibt’s ’n hier noch in Wolfen-Nord? Also 90% sind Rentner<br />

oder Alte… oder <strong>Arbeit</strong>slose“ (RD 285-288). Der Wegzug der Menschen wird ebenfalls<br />

angesprochen: „’s wern immer weniger…die Rentner bleiben noch“ (RE 287-290).<br />

Auch wenn die offiziellen Zahlen die Situation nicht ganz so drastisch aussehen lassen,<br />

95


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

von den Menschen im Stadtteil wird sie so erlebt. Vielleicht ist der Eindruck etwas verzerrt<br />

dadurch, dass die Bevölkerungsstruktur so gestaltet ist, dass sowieso anteilsmäßig<br />

wenige „Erwerbsfähige“ gezählt werden. Die Einschätzung geschieht vermutlich<br />

auch aufgr<strong>und</strong> der eigenen unmittelbaren oder mindestens mittelbaren Betroffenheit<br />

von <strong>Arbeit</strong>slosigkeit.<br />

Eine Strategie, mit der Problematik umzugehen, ist, die kollektive Erfahrung von „Nichtmehr-gebraucht-werden“<br />

in einer kollektiven Resignation zu kultivieren, vermischt mit<br />

etwas Trotz <strong>und</strong> einem Hauch Heimatverb<strong>und</strong>enheit, die als Begründung für das Dableiben<br />

herhalten muss. So zumindest interpretieren wir den folgenden kurzen Dialog<br />

zwischen den MitarbeiterInnen:<br />

Corinna: „Ich will nich weg <strong>und</strong> ich muss weg, weil sie den Block wegreißen. Ich möchte<br />

schon hier oben bleiben. Bin noch nicht irgendwo gewesen“ (M 99 -106).<br />

Werner: „Heimatverb<strong>und</strong>en, woar? Unsre Wurzeln sind hier. Nee. - . Wo woll’n wer<br />

denn noch hin, uns nimmt doch keener mehr“ (lacht) (M 103- 106).<br />

Für die Rentnerinnen ist ebenfalls klar: „Wir, wir bleiben. Wo sollen wir denn jetzt noch<br />

hin?“ (RE 300-301). „Wir wollen auch hierbleiben“ (RS 302).<br />

Dabei sind die Frauen geteilter Meinung über ihren Stadtteil. Während Frau S. von ihrer<br />

„Warte als alte Frau“(RS 222) ganz zufrieden ist, urteilen Frau F <strong>und</strong> Frau D, es sei<br />

„öde, wenn wir unsre Gärten nicht hätten“( RF 224). „Hier in Wolfen-Nord…da ist ja<br />

nüscht drin. Da is der tote H<strong>und</strong> begraben“ (RD 251-253). Die Mitarbeiter sehen das<br />

genauso: „…aus der Stadt hier könnte man viel mehr machen“ (M 111-112). Im Vergleich<br />

zu Bitterfeld schneidet Wolfen aus ihrer Sicht schlecht ab. „Wenn ich durch die<br />

Leipziger Straße flitze, dann seh’ ich doch grad noch’n Laden. Da gehen halt die Leute<br />

einkaufen…“ (M 115-116). „Und kulturell is auch nich mehr so viel los“ (M 121). Es<br />

klingt an, dass es früher mal anders, besser gewesen sein muss: „Die meisten alten<br />

Läden sind hier zu“ (M 119).<br />

Das Lebensgefühl der Rentnerinnen wird durch einen weiteren Aspekt beeinflusst.<br />

Frau E berichtet, von ihnen ginge ab 8 Uhr abends sowieso keine mehr raus, „s’is so,<br />

dass die Straßen leer sind, weil alle Angst haben“ (RE 254-256). Einige der Frauen<br />

fühlen sich abends nicht sicher, „durch die Kriminalität, durch die Medien… (Durcheinander)<br />

… wegen 10€ oder 5€ …(R 264-265).<br />

Zu diesem Thema liefert ein Mitarbeiter eine plausible Erklärung: „Wird ja immer irgendwas<br />

verschmiert oder randaliert oder sonst was gemacht. Das nutzt gar nichts,<br />

dass mer hier’n bisschen sich schön machen kann. Die Jugendlichen. Langeweile -<br />

hier (macht Trinkbewegung), <strong>und</strong> dann geht’s los. Graffiti. Oder die Zäune werden zer-<br />

96


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

schlagen oder zerkloppt <strong>und</strong> all so was. Oder im Sandkasten war Glas letztens drinne.<br />

Und so geht das peu a peu weiter, da fühlt sich doch keener mehr wohl<br />

…(unverständlich)…die durchdrehen <strong>und</strong> dann Scheiße machen, leider“ (M 345-<br />

364). 57<br />

Frau D hat mit dieser Situation einen Umgang gef<strong>und</strong>en: „Also meines Ermessens,<br />

wenn man den ganzen Tag zu Hause is’, dann brauch man nicht abends um 8 noch<br />

einkaufen gehen. Das muss nich’ sein“ (RD 279-280). Sich einrichten, sich zufrieden<br />

geben <strong>und</strong> die Beschränkungen akzeptieren, sie zur eigenen Normalität machen, ist für<br />

sie ein sinnvolles Bewältigungsverhalten (siehe Kap. I 4.5). In Kap. 5 stellen wir<br />

Über-<br />

legungen<br />

dazu an, wie <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> solche Situationen aufgreifen könnte.<br />

3.2.5 Das Kreativzentrum im Stadtteil<br />

Wir wollten erk<strong>und</strong>en, wie das Kreativzentrum im Stadtteil ankommt <strong>und</strong> welche strukturelle<br />

Bedeutung es erlangt hat. Wir haben dieses Kapitel untergliedert in die Aspekte<br />

Bekanntheit,<br />

Hürden <strong>und</strong> Vernetzung.<br />

Bekanntheit<br />

Obwohl das Kreativzentrum nächstes Jahr bereits das 10-jährige Bestehen feiern kann<br />

<strong>und</strong> täglich, laut der Leiterin, im Schnitt 25 BesucherInnen zählt, wünschen die Verant-<br />

wortlichen sich „mehr K<strong>und</strong>schaft“ (M 358), eine höhere Bekanntheit <strong>und</strong> regeren Besucherverkehr:<br />

„Also mehr hier haben möchte ich immer“ (L 497). Werner berichtet:<br />

„Ich wohn zwar seit 8 Jahren in Wolfen…. Aber’s Krea hab ich nich gekannt“ (M 152-<br />

153). Damit ist er nicht allein, so vermutet seine Kollegin: „Viele wissen’s auch nich’,<br />

ne“ (M 257). So wird versucht, bei Festen in <strong>und</strong> außer Haus möglichst viele Menschen<br />

aktiv anzusprechen <strong>und</strong> aufmerksam zu machen. Man hat bereits die Erfahrung gemacht,<br />

„die Flyer auszuteilen, das bringt nichts“ (L 580). Es scheint harte Überzeugungsarbeit<br />

vonnöten zu sein, um die Neugier oder das Interesse der Menschen zu<br />

wecken, denn „wenn ich jetzt allgemein sage, das Kreativzentrum steht hier…“ (L 584)<br />

zeigt das keinen Erfolg.<br />

Allein über das persönliche Gespräch könne man Menschen<br />

dafür<br />

gewinnen.<br />

Hürden<br />

Was macht dieses Unterfangen so schwierig? Aufschlussreich ist hier, was Corinna berichtet:<br />

„Ich hab jahrelang erst immer auf das Haus geguckt, <strong>und</strong> denn, irgendwann war<br />

57 Siehe auch Anlage 5: Protokolle Kreativzentrum, Spaziergang durch den Stadtteil<br />

97


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

ich da. Schon komisch. Ich hab nie gewusst, was hier drin wirklich passiert, obwohl<br />

ich’s immer geseh’n hab von da oben“ (ihrer Wohnung nebenan) (M 230-235). Irgend-<br />

wann wurde die „Langeweile“ so groß, dass sie die Scheu überwinden konnte. Frau<br />

Kiontke kann die Hemmungen gut nachvollziehen. Sie erzählt von ihrer eigenen Erfahrung:<br />

„Ich kann da bloß von mir ausgehen, <strong>und</strong> ich verstehe da auch viele <strong>Arbeit</strong>slose,<br />

(…) ich bin auch nirgendwo hingegangen. (…) Je länger, umso schlimmer ist das.<br />

(…)man denkt, man ist zu nichts mehr zu gebrauchen, <strong>und</strong> dann geht man aber auch<br />

nicht hierher. Obwohl das dafür da ist“ (L 497-512). Bei ihr selbst, wie auch bei manchen<br />

der Freiwilligen half die „Pflicht“ (L 515), sprich die ABM oder AGH. „Den Punkt<br />

zu überwinden, ich geh jetzt von alleine dahin, das machen wenige“ (L 516).<br />

Gleichzeitig ist bei der Leiterin aber auch die Enttäuschung darüber zu spüren, dass es<br />

nicht besser gelingt, insbesondere mehr arbeitslose Menschen ins Krea zu holen (siehe<br />

auch Kap. II 3.2.3, Zielgruppen): „Sie sind dann wirklich nur zu Hause oder kommen<br />

bis zur Kaufhalle <strong>und</strong> nicht weiter“ (L 593-594). Es werden auch<br />

ambivalente Gefühle<br />

sichtbar, als sie erklärt: „Das ist die Bequemlichkeit“ (M 284).<br />

Die Hürden für den Besuch im Krea werden von den<br />

Aktiven in den inneren, persönli-<br />

chen<br />

Voraussetzungen der Menschen vermutet.<br />

Als einzige mögliche Zugangshürde, die in der Struktur der Institution liegt, klang an,<br />

dass das Angebot der Werkstattarbeit für Unsicherheit bei potenziellen BesucherInnen<br />

sorgen könnte. Die Leiterin betont bei der Kontaktsuche/-aufnahme zu Interessierten:<br />

„‚Wir können auch reden. Sie müssen nicht unbedingt in irgendeiner Werkstatt arbeiten’“<br />

(L 601-602). Leider können wir dies nicht mit Aussagen von Besucherinnen vergleichen<br />

<strong>und</strong> natürlich auch nicht jene befragen, die sich bisher gegen einen Besuch<br />

entschieden haben. Wenn die Vermutung von Frau Kiontke zutrifft, würde das bedeu-<br />

ten, dass das Angebot der Werkstattarbeit sich unter Umständen<br />

hemmend auf den<br />

Zugang<br />

zur Nutzung des Kreativzentrums auswirken kann.<br />

Frau Kiontkes Einschätzung der Bedeutung für diejenigen, die bereits BesucherInnen<br />

des<br />

Krea sind, fällt aus wie folgt: „Denen würde garantiert was fehlen“ (L 374).<br />

Vernetzung<br />

Das Kreativzentrum hat sich in der Struktur der örtlichen Träger einen anerkannten<br />

Platz geschaffen. „Ich muss sagen, wir arbeiten eigentlich mit sehr vielen zusammen“<br />

(L 741). Die Vernetzung der Institutionen geschah einerseits aufgr<strong>und</strong> der räumlichen<br />

Nähe der unterschiedlichen Träger unter einem Dach fast selbstverständlich (Zusam-<br />

98


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

menarbeit mit dem DRK, DGB, Talentklub, die Räume gemietet haben 58 ). Darüber hin-<br />

aus waren die äußeren Strukturen des Familienbündnisses, die erst im Lauf der Zeit<br />

durch das Stadtteilmanagement der EWN (siehe Kap. II 3.1.2) aufgebaut wurden, sehr<br />

hilfreich, um den Kontakt zu anderen Trägern auf- oder auszubauen: „Das ist durch<br />

das Familienbündnis. Das wird ja bei uns zentral geleitet, da sind die Vereine alle drin“<br />

(L 765-766). Die Beteiligung <strong>und</strong> das Programmangebot bei Festen werden abgestimmt<br />

<strong>und</strong> die Träger unterstützen bzw. ergänzen sich gegenseitig durch ihre speziellen<br />

Angebote. So kommen z. B. Angehörige von suchterkrankten Menschen mit einer<br />

Beraterin der DRK ins Kreativzentrum zum Werken, während bei der Suchtberatung<br />

ein Gruppenangebot stattfindet. Eine Konkurrenz unter den Einrichtungen kann die Lei<br />

terin nicht feststellen, da sich das Kreativzentrum eher als Haus für alle sieht, denn<br />

speziell bei den Zielgruppen gibt es kaum Überschneidungen.<br />

Das Stadtteilmanagement selbst spielt nicht nur durch den Aufbau von Kooperationsstrukturen<br />

eine wichtige Rolle, es unterstützt die Träger auch bei der Mittelbeantragung<br />

<strong>und</strong> zeichnet so mitverantwortlich für die Auswahl des Kreativzentrums als Mehrgenerationenhaus.<br />

„Das ist bei uns ein bisschen anders. (…) Das Mehrgenerationenhaus<br />

hat das Städtemanagement<br />

bei uns beantragt (…) <strong>und</strong> wir haben das Haus dafür ge-<br />

geben“ (L 84-87).<br />

Das Thema Kooperation mit anderen Stellen nahm in unserem Gespräch mit der Leiterin<br />

einen breiten Raum ein. Sie betont<br />

immer wieder das gute Gelingen <strong>und</strong> findet: „Da<br />

profitieren alle davon!“ (L 775).<br />

Aus unserer Sicht enthält die Zusammenarbeit abgesehen von dem Nutzen für die<br />

Weiterentwicklung des Vereins ein weiteres Moment: die Anerkennung der Vereinsarbeit<br />

durch „offizielle Stellen“ auf derselben Rangebene wie professionell geführte Einrichtungen.<br />

„Wenn die mit mir zusammenarbeiten wollen, haben sie das Kreativzentrum<br />

erstmal anerkannt. Also, sie sind erstmal auf dem Standpunkt: ‚O.k., da gibt es<br />

noch was, mit dem wir zusammenarbeiten können’“ (L 738-741). Wir denken, dass die<br />

Bestätigung für die MitarbeiterInnen eine umso größere Rolle spielt, da sie auch als<br />

persönliche Anerkennung<br />

für den freiwilligen Einsatz <strong>und</strong> die guten Ergebnisse der Ar-<br />

beit<br />

gewertet wird.<br />

3.3 Ergebnisse der Untersuchung des Kreativzentrums<br />

Bis hierher haben wir die Praxis der offenen Werkstatt im Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

hauptsächlich durch die Aussagen unserer Gesprächspartnerinnen vorgestellt <strong>und</strong> eigene<br />

Interpretationen nur anklingen lassen. Nun wollen wir die Interpretation vertiefen<br />

58 Siehe auch Anlage 5: Protokolle Kreativzentrum, R<strong>und</strong>gang durch das Haus<br />

99


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

<strong>und</strong> mit Hilfe von Theoriebezügen die im Forschungsplan formulierten Fragen aufgreifen:<br />

• Welche Bedeutung hat <strong>Eigenarbeit</strong> für die Menschen im Kreativzentrum <strong>und</strong> in<br />

Wolfen-Nord?<br />

• Welche Bedeutung hat die Einrichtung für die Menschen im Stadtteil?<br />

Wir setzen also bildlich gesprochen die Theoriebrille der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> auf.<br />

Auch auf unsere Hypothesen möchten wir<br />

Bezug nehmen, indem wir die aus dem Material<br />

heraus belangvollen Aspekte aufgreifen <strong>und</strong> die Verknüpfungen zu unseren Vor-<br />

annahmen im Text erkennbar machen.<br />

Die Frage, wie es gelungen ist,<br />

dass in der Region Wolfen-Nord das Kreativzentrum<br />

trotz<br />

schwieriger Ausgangsbedingungen bestehen konnte, wollen wir u. a. im Resümee<br />

dieses Kapitels behandeln.<br />

3.3.1 Armutsstadtteil – <strong>Arbeit</strong>slosigkeit<br />

Lebensweltorientierte <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> sieht den Menschen in seinen sozialen Bezügen,<br />

im jeweiligen Raum in der jeweiligen Zeit. Deshalb beginnen wir dieses Kapitel mit einer<br />

zusammenfassenden Einschätzung der Lebensbedingungen im Stadtteil Wolfen-<br />

Nord. Diese Einschätzung basiert auf den in den vorangegangenen Teilen dieser Ar-<br />

beit dargelegten Gesellschaftsanalysen,<br />

den ermittelten Daten aus dem Stadtteil <strong>und</strong><br />

auf der subjektiv wahrgenommen Lebenswirklichkeit, die sich in den Aussagen der<br />

Menschen ausdrückt.<br />

Im Stadtteil Wolfen-Nord ist <strong>Arbeit</strong>slosigkeit zu einer kollektiven Erfahrung der Menschen<br />

geworden. Das von Rifkin beschworene Ende der <strong>Erwerbsarbeit</strong> scheint hier be-<br />

reits Fakt geworden zu sein. Den Menschen wurde angesichts des fortbestehenden<br />

Mythos der <strong>Erwerbsarbeit</strong> bildlich gesprochen der Boden unter den Füßen weggezogen.<br />

„ Heute, wo die <strong>Arbeit</strong>skräfte verzichtbar sind <strong>und</strong> der industrielle Machtanspruch<br />

obsolet geworden ist, sind Menschen ohne Funktion zurückgeblieben“ (Müller 2003,<br />

S.3).<br />

Was uns die Befragten über das eigene Erleben der <strong>Arbeit</strong>slosigkeit <strong>und</strong> die Entwicklungen<br />

im Stadtteil berichtet haben, erinnert in erschreckender Weise an die Ergebnis<br />

se der Studie zu den Folgen von Massenarbeitslosigkeit von Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld<br />

<strong>und</strong> Hans Zeisel „Die <strong>Arbeit</strong>slosen von Marienthal“ von 1933. Diese Studie<br />

zeigt, dass länger<br />

dauernde <strong>Arbeit</strong>slosigkeit zu einem langsamen, aber stetigen Bruch<br />

der Planungs- <strong>und</strong> Lebensperspektive führt, verb<strong>und</strong>en mit Vereinsamung <strong>und</strong> Depressivität.<br />

Ursachen dafür sind nach Jahoda (vgl. 1982, S 96 f.) neben der Unsicherheit der ökonomischen<br />

Absicherung auch der Wegfall verschiedener anderer Erlebniskategorien,<br />

100


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

mit denen <strong>Arbeit</strong> untrennbar verb<strong>und</strong>en ist: Zeitstruktur, Sinn, Gemeinschaft bzw. kollektive<br />

Zusammenarbeit, Identität <strong>und</strong> Aktivität. Psychologisch ist es nur für einen geringen<br />

Teil der Menschen möglich, diese Kategorien für sich selbst einzusetzen oder<br />

selbst aufrechtzuerhalten, wenn nicht die äußere Institution der <strong>Arbeit</strong> sie dazu zwingt<br />

(ebd.). Die Aussage von Frau Kiontke auf die Frage, was für sie eine Hilfe war, aus der<br />

Isolation herauszukommen, entspricht Jahodas Sichtweise. „Das war die Pflicht.(…)<br />

Aber den Punkt zu überwinden, ’ich geh jetzt von alleine da hin’, das machen wenige“<br />

(L 513-517). Auch weil für das gesellschaftliche Funktionieren in der Industriegesellschaft<br />

die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren <strong>und</strong> für sich selbst zu planen, so wenig<br />

gebraucht wurde, stellt diese unfreiwillig gestellte Bewältigungsaufgabe ein so großes<br />

Problem dar. Persönliche Entfaltung, Eigeninitiative oder Eigensinn wurde eher unterdrückt<br />

als gefordert. Erwerbslosigkeit wird in Wolfen-Nord teilweise als „Entlassung aus<br />

dem Leben“ (vgl. Müller 2003) erfahren. <strong>Arbeit</strong> stellte in der ehemaligen<br />

DDR die integ-<br />

rierende<br />

alltagskulturell dominante Institution der Menschen dar, viel stärker noch als<br />

es in Westdeutschland der Fall war oder ist (siehe Kap. I 1.1.3).<br />

<strong>Arbeit</strong>slosigkeit, Armut, Verlust von sozialen Beziehungen im Nahraum durch massiven<br />

Wegzug, Vandalismus <strong>und</strong> Delinquenz oder die Furcht vor Delinquenz sind Phänome<br />

ne, die die Lebensqualität im Stadtteil beeinträchtigen. In dieser Situation kam es in der<br />

Vergangenheit zu unterschiedlichen Reaktionen auf die Perspektivlosigkeit:<br />

• Wegzug, als die vielfach gelebte Möglichkeit für alle, die hierfür die nötigen<br />

Ressourcen haben<br />

• Entwertung ins Selbstbild integrieren <strong>und</strong> zur Selbstzuschreibung machen <strong>und</strong><br />

mit Rückzug oder Revolte reagieren<br />

• die Entwertung nicht akzeptieren, um mit Jahoda zu sprechen, die verlorenen<br />

Erlebniskategorien in Eigenregie wiederaufzubauen <strong>und</strong> an Aktivitäten im Stadt-<br />

teil für das eigene Selbstbild <strong>und</strong> für die Gestaltung der Zukunft mitzuwirken.<br />

Nach Böhnisch können alle Handlungsstrategien als Bewältigungsverhalten gedeutet<br />

werden,<br />

die dazu dienen, die psychische Balance in den Gr<strong>und</strong>dimensionen zu erhalten<br />

bzw. wieder herzustellen (siehe Kap. I 4.5).<br />

3.3.2 Bedeutung der <strong>Eigenarbeit</strong> im Kreativzentrum <strong>und</strong> in Wolfen-Nor d<br />

Die Vielfalt der Nutzungsmöglichkeiten im Kreativzentrum macht deutlich, dass <strong>Eigenarbeit</strong><br />

nur eine Option unter vielen in der Nutzung des Hauses darstellt.<br />

Die begriffliche Auseinandersetzung, die in Kap. I 2 erfolgt ist, beziehen wir nun auf<br />

das Verständnis dessen, was als <strong>Eigenarbeit</strong> in der Praxis in Wolfen geschieht <strong>und</strong><br />

fragen: Welche Art von <strong>Eigenarbeit</strong> wird hier praktiziert? Auf die Bedeutung der Eigen-<br />

101


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

arbeit für die Menschen in einem von Mangel gekennzeichneten Stadtteil wird im Anschluss<br />

eingegangen.<br />

Adaption des Konzeptes <strong>Eigenarbeit</strong><br />

Der Stifter <strong>und</strong> Gründer der anstiftung Mittelsten Scheid selbst schreibt, er möchte<br />

„Menschen die Möglichkeit bieten, frei <strong>und</strong> selbstbestimmt gestalten zu können –<br />

handwerklich, sozial <strong>und</strong> kulturell. Das ist <strong>Eigenarbeit</strong>“ (anstiftung, Broschüre). Müller<br />

(vgl. 2003, S.1) ergänzt, dass es um gebrauchswertorientierte <strong>Arbeit</strong> für den eigenen<br />

Bedarf geht. Mückenberger (1990, S.197) bezeichnet <strong>Eigenarbeit</strong> als Tätigkeiten, „die<br />

dem Eigensinn von Individuen <strong>und</strong> Gruppen folgen“, er stellt als Kennzeichen heraus,<br />

dass die <strong>Arbeit</strong> „nicht marktvermittelt ist <strong>und</strong> nicht fremdbestimmten Produktionsbedin<br />

gungen unterliegt“.<br />

Der Begriff <strong>Eigenarbeit</strong> existiert in den Wolfener Werkstätten nur als Relikt aus der<br />

Gründungszeit, der als eher hinderlich in Bezug auf die Gewinnung von BesucherInnen<br />

gesehen wird. „Also von <strong>Eigenarbeit</strong> wollten die überhaupt nichts wissen. <strong>Eigenarbeit</strong><br />

durften wir das auch nicht… sollten wir das auch nicht nennen…“ (L 662-664).<br />

Müller (2003, S.6) erklärt die allgemeine Ablehnung der Subsistenz in der Region Wol-<br />

fen-Nord aus soziologischer Perspektive damit, „dass eigenorganisierte, subsistenzorientierte<br />

Strukturen in der öffentlichen Wahrnehmung mit der alten Mangelwirtschaft<br />

verknüpft“ werden. Außerdem habe das „Primat der Lohnarbeit“ (ebd.) zu einer Fixierung<br />

auf den unmittelbaren Gelderwerb geführt. Nur entlohnte Tätigkeiten, sind „wertvolle“<br />

Tätigkeiten. Es herrscht eine ganz klare <strong>Arbeit</strong>sorientierung hin auf <strong>Erwerbsarbeit</strong>.<br />

Eine weitere, eher sozialpsychologische Erklärung liefert Mückenberger (1990, S.200) :<br />

„<strong>Arbeit</strong>slose (…) werden durch ein hohes Maß psychischer, materieller <strong>und</strong> sozialer In-<br />

stabilität daran gehindert, „eigensinniger“ <strong>Arbeit</strong> nachzugehen. Sie drückt der Mangel<br />

an stabiler <strong>Erwerbsarbeit</strong> zu sehr, als daß sie aus der Not der <strong>Arbeit</strong>slosigkeit die Tugend<br />

der <strong>Eigenarbeit</strong> machen könnten.“ Mutz et al. finden dies in ihrer Untersuchung<br />

des Münchner HEi bestätigt. <strong>Eigenarbeit</strong> wird während einer Zeit der <strong>Arbeit</strong>slosigkeit<br />

dann als stützend erlebt, wenn Menschen bereits vorher, während der Erwerbstätigkeit<br />

in dem Bereich tätig waren. „<strong>Eigenarbeit</strong> in der <strong>Arbeit</strong>slosigkeit anzufangen, erfordert<br />

aus Sicht der NutzerInnen (zu) viel Eigeninitiative <strong>und</strong> Selbstvertrauen“ (Mutz et al.<br />

1997, S. 90).<br />

Auf der Homepage unter der Rubrik Werkstätten lädt das Kreativzentrum ein, „durch<br />

<strong>Eigenarbeit</strong> (…) in allen Werkstätten persönliche Geschenke <strong>und</strong> Nutzartikel“ zu kreieren.<br />

In Kap. II 3.2.3 Ziele <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>sweisen haben wir jedoch festgestellt, dass es im<br />

Verständnis des Begriffes <strong>Eigenarbeit</strong> zu<br />

einer unbewussten Verschiebung gekommen<br />

102


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

ist. Eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff, mit Zielen <strong>und</strong> Absichten<br />

scheint nicht stattgef<strong>und</strong>en zu haben.<br />

Aus unserer Sicht ist das, was in den Werkstätten in der offenen Nutzung geschieht<br />

dennoch <strong>Eigenarbeit</strong>, selbstbestimmt (Mittelsten Scheid), nicht marktvermittelt (Mückenberger),<br />

gebrauchswertorientiert <strong>und</strong> für den eigenen Bedarf (Müller). Es ist indessen<br />

nicht das Gleiche wie das, was vielleicht in München oder Kempten geschieht. Den<br />

Maßstäben des Stifters hält diese Praxis nicht stand. Er zieht eine scharfe Grenze zum<br />

Heimwerken <strong>und</strong> schreibt: „<strong>Eigenarbeit</strong> ist das Gegenteil von Konsum. (…) <strong>Eigenarbeit</strong><br />

sucht den eigenen Weg, die individuelle Lösung, konzentriert sich auf die vorhandenen<br />

Fähigkeiten, die eigene Ästhetik, den tatsächlichen Nutzwert. Entscheidend ist, was<br />

der Tätige aus dem Selbermachen lernt“ (anstiftung, Broschüre). In Wolfen-Nord, wo<br />

die meisten Menschen sehr wenig Geld zur Verfügung haben, ist <strong>Eigenarbeit</strong> bezogen<br />

auf den Holz- <strong>und</strong> Metallbereich aus Sicht der Anleiter attraktiv, „weil’s billig is“ (M 249).<br />

Das ist es deshalb, weil die Nutzung der Werkstätten fast gebührenfrei ist. Eine deutli-<br />

che Diskrepanz besteht zu München <strong>und</strong> Kempten, wo aufgr<strong>und</strong> der Raumnutzungs-<br />

<strong>und</strong> AnleiterInnengebühren <strong>Eigenarbeit</strong> häufig teurer ist, als das Kaufen fertiger Produkte.<br />

Eine Eins-zu-Eins<br />

Übertragung des Münchner Konzeptes nach Wolfen-Nord<br />

konnte deshalb nicht gelingen, eine Adaption war unbedingt notwendig für das Fortbestehen<br />

des Projektes.<br />

Eine durch das BMBF geförderte Forschungsgruppe, die „Modellprojekte nachhaltigen<br />

Wirtschaftens“ in der Region, u. a. auch das Kreativzentrum, untersucht hatten, stellte<br />

dies bereits 2002 fest: „Im Kontext der Debatte um die Zukunft der <strong>Arbeit</strong> diskutierte,<br />

„alternative“, <strong>Erwerbsarbeit</strong> ergänzende Formen individueller Existenzsicherung wie<br />

<strong>Eigenarbeit</strong>,<br />

New Work, nichtmonetäre Tauschsysteme, fanden keine positive Reso-<br />

nanz;<br />

entsprechende Versuche waren fragil oder bereits gescheitert“ (Adler et al 2002,<br />

S. 10) .<br />

<strong>Eigenarbeit</strong> im Kontext der Mangelsituation<br />

<strong>Eigenarbeit</strong> geschieht nach unserer Interpretation aus ökonomischen Motiven heraus.<br />

Die politisch-visionäre Dimension des Konzeptes <strong>Eigenarbeit</strong>, also das Ziel der Etablie-<br />

rung <strong>und</strong> Aufwertung anderer Formen von <strong>Arbeit</strong> gegenüber der <strong>Erwerbsarbeit</strong>, spielt<br />

in der heutigen <strong>Arbeit</strong> des Kreativzentrums offensichtlich keine Rolle, es wurde in keiner<br />

Weise von den Befragten angesprochen. Während Jens Mittelsten Scheid sagt,<br />

„umso normierter die Fertigung <strong>und</strong> das Produkt, desto weniger erfährt er oder sie sich<br />

selber“ (ebd.), orientiert man sich in Wolfen-Nord an der Konsumwelt: „Ideen kommen,<br />

wenn ich mir z. B. so’n Prospekt anschau <strong>und</strong> ich seh da dann was Gutes, dat wir sagen,<br />

das werd ich auch nachbasteln“ (M 321-322). Die Kreativität der Menschen ist un-<br />

103


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

serer Meinung nach trotzdem herausgefordert <strong>und</strong> auch die Nachhaltigkeit wird geför<br />

dert, indem „Materialien, die andere nicht brauchen“ (M 313) verwendet werden <strong>und</strong><br />

der Ressourcenmangel dazu zwingt, „anders zu bauen, mit dem was uns zur Verfügung<br />

steht“ (M 324). Wir sehen hier durchaus<br />

Aspekte von gestalterischem Erleben,<br />

wie wir es in der Einleitung zu Kap. II 2 definiert haben. Die Menschen machen eine<br />

produktive <strong>und</strong> schöpferische Erfahrung.<br />

Die soziale Dimension der öffentlichen <strong>Eigenarbeit</strong>, also die mögliche „Begegnung über<br />

das Werkstück“ (Kühnlein 1997, S. 44) <strong>und</strong> die Komponente des „sich gegenseitig Helfen<br />

<strong>und</strong> Unterstützen als Lernfeld für <strong>Soziale</strong> Kompetenz“ (ebd.) wurden in den Gesprächen<br />

kaum thematisiert. Das <strong>handwerkliche</strong> Tun <strong>und</strong> das <strong>Soziale</strong> werden im Krea<br />

tivzentrum nicht in besonderer Weise in Zusammenhang gebracht. Im Gegenteil, im<br />

Absatz „Hürden“ in Kap. II 3.2.5 wurde festgestellt, dass <strong>Eigenarbeit</strong> auch als Zugangshemmnis<br />

zum Kreativzentrum gesehen wird. Das erklärt sich, wenn man die ge-<br />

nerell<br />

eher ablehnende Einstellung zu <strong>Eigenarbeit</strong> in Wolfen-Nord soziologisch <strong>und</strong> so-<br />

zialpsychologisch nachvollzieht,<br />

wie oben geschehen.<br />

Anleitung zur <strong>Eigenarbeit</strong>?<br />

Was die Anleitung bzw. Fachberatung in den Werkstätten angeht, so sind in Wolfen-<br />

Nord deutliche Differenzen zur theoretischen Beschreibung von Kühnlein (1997, S. 44)<br />

festzustellen. Sie führt unter Bedingungen für öffentliche <strong>Eigenarbeit</strong> aus, dass die<br />

fachliche Beratung mit didaktischem Konzept erfolgen soll, das Eigeninitiative <strong>und</strong><br />

Selbstvertrauen fördert. In unserem Gespräch mit den beiden Männern konnten wir<br />

kein didaktisches Konzept erkennen, ein Selbstverständnis <strong>und</strong> Einverständnis, wie die<br />

Anleitung geschehen soll, dagegen wohl. Es geht den beiden in erster Linie um die<br />

fachlich korrekte Beratung <strong>und</strong> Anleitung, das Werkstück soll möglichst gut gelingen.<br />

<strong>Arbeit</strong>sprozess, Erwerb von Kompetenzen <strong>und</strong> Fähigkeiten <strong>und</strong> der eigensinnig arbeitende<br />

Mensch stehen nicht so sehr im Vordergr<strong>und</strong>. „Es gibt natürlich Leute, (…)die<br />

kommen her <strong>und</strong> bringen’s Material mit <strong>und</strong> schneiden das dann selber zu(…)unter un<br />

serer Aufsicht, <strong>und</strong> es gibt natürlich och Leute, die sind natürlich so ne Linkstatzen <strong>und</strong><br />

da schneiden wir das dann schon zu. (…) …wenn wir eh dabei sind, die zwee linke<br />

Pfoten ham oder so“ (M 27-34). Gefördert wird <strong>Eigenarbeit</strong> auf diesem Weg eher bei<br />

den Leuten, die bereits Zugang zu handwerklich-kreativer <strong>Arbeit</strong> hatten, neue zu ermutigen,<br />

erscheint so kaum möglich. Wir sehen zwischen dieser<br />

Haltung <strong>und</strong> der Tatsa-<br />

che,<br />

dass das Geschlechterverhältnis bei der Werkstattnutzung so klar zugeordnet ist,<br />

einen Zusammenhang.<br />

104


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

Wie die Anleitung in Töpferwerkstatt <strong>und</strong> Floristik durchgeführt wird, können wir auf der<br />

Basis unserer Daten nur vermuten. Die Äußerungen der Leiterin deuten darauf hin,<br />

dass es hier mehr ermutigende Begleitung gibt: „Die haben’s für<br />

sich selbst gemacht,<br />

aber sind glücklich, dass sie’s gemacht haben“ (L 722-725). Der Gewinn liegt nicht allein<br />

im Produkt, sondern<br />

auch im <strong>Arbeit</strong>sprozess. Das Erlebnis, etwas selbst hergestellt<br />

zu<br />

haben, erzeugt Gefühle von Selbstwirksamkeit <strong>und</strong> Stolz.<br />

„Die sind so stolz auf die Vase gewesen!<br />

Die steht bei denen in der Wohnung im Mit-<br />

telpunkt“ (L 279-231).<br />

<strong>Eigenarbeit</strong> der MitarbeiterInnen<br />

Die Anleiter stellen auch selbst Gegenstände für das Kreativzentrum her <strong>und</strong> nehmen<br />

Reparaturen im Haus vor: „das is natürlich auch der Vorteil, das wir das alles selber<br />

reparieren können“ (M203-205). Hierbei erleben die beiden Anleiter unserer Ansicht<br />

nach selbst Gefühle von Kompetenz, Handlungsfähigkeit <strong>und</strong> Sinnhaftigkeit. Sie streichen<br />

den Wert ihres Tuns heraus, indem sie auf den ökonomischen Nutzen ihrer Tätigkeit<br />

verweisen, denn daran misst sich für sie der Wert ihrer <strong>Arbeit</strong>.<br />

Wir gehen davon aus, dass die anderen MitarbeiterInnen ähnliche, für sie selbst positi-<br />

ve <strong>und</strong> wichtige Erlebnisse im Kreativzentrum haben. Dafür spricht die bereits erwähn-<br />

te Kontinuität der freiwilligen Mitarbeit nach Beendigung eines Praktikums oder einer<br />

Maßnahme (siehe Kap. II 3.1.1). Das Kreativzentrum stellt eine Institution dar, in der<br />

Erlebniskategorien, die ansonsten im Zusammenhang mit <strong>Erwerbsarbeit</strong> stehen, wie-<br />

derhergestellt<br />

<strong>und</strong> selbst gestaltet werden können. So gesehen ist die Tätigkeit der<br />

MitarbeiterInnen <strong>Eigenarbeit</strong> im weiteren Sinne (siehe Kap. I 2.; vgl. Mückenberger<br />

1990, S. 197/198).<br />

3.3.3 Bedeutung der Einrichtung als Ort der Begegnung im Stadtteil<br />

Auch diese Frage beantworten wir vor dem Hintergr<strong>und</strong> unserer Einschätzung über die<br />

Bedingungen im Stadtteil (siehe Kap. II 3.3.1). Das Kreativzentrum stellt sich selbst als<br />

Begegnungsstätte vor <strong>und</strong> will diese Zielbestimmung in der Zukunft als Mehrgeneratio-<br />

nenhaus<br />

noch mehr in den Mittelpunkt der <strong>Arbeit</strong> stellen. Was hat, umgangssprachlich<br />

formuliert,<br />

der Stadtteil vom Kreativzentrum? Was haben die Menschen von einem Be-<br />

such im Kreativzentrum <strong>und</strong> was<br />

haben die MitarbeiterInnen davon, sich zu engagie-<br />

ren?<br />

„Stadtteilarbeit" ohne Auftrag<br />

Zunächst stellen wir fest, dass seitens des Kreativzentrums <strong>Arbeit</strong> für den Stadtteil <strong>und</strong><br />

die Menschen im Stadtteil geleistet wird. Diese <strong>Arbeit</strong> ist jedoch nicht ohne weitere Er-<br />

105


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

klärungen als „Stadtteilarbeit“ zu bezeichnen. Während der Auswertung der Interviews<br />

hat sich der Eindruck, dass es sich um eine solche handelt, jedoch immer mehr aufge-<br />

drängt.<br />

Die Aktivitäten in die sozialarbeiterische Fachsprache einzuordnen, ist aus zwei<br />

Gründen schwierig.<br />

Der erste Gr<strong>und</strong> ist, dass im Bereich der sozialraumorientierten Konzepte <strong>und</strong> Methoden<br />

eine Vielfalt von Begriffen verwendet wird. Stadtteilarbeit als einer von ihnen wird<br />

in der Fachliteratur nicht eindeutig definiert. t<br />

Es<br />

ndern darum herauszustellen, dass die <strong>Arbeit</strong> des<br />

reativzentrums einige Aspekte von Stadtteilarbeit beinhaltet, jedoch kein Konzept in<br />

59 Am nächsten zur Praxis in Wolfen lieg<br />

das Konzept der Gemeinwesenarbeit als <strong>Arbeit</strong>sfeld (vgl. Oelschlägel 2002, S 382).<br />

geht uns nicht darum, die unterschiedlichen begrifflichen Bedeutungen in der fachlichen<br />

Diskussion aufzuklären, so<br />

K<br />

allen seinen Facetten umsetzt.<br />

Der zweite Gr<strong>und</strong> für die nur zögerliche Verwendung des Begriffes Stadtteilarbeit ist,<br />

dass es sich nicht um professionelle <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> handelt, die im staatlichen Auftrag<br />

mit theoretischer F<strong>und</strong>ierung auf methodisch sachk<strong>und</strong>ige Weise vorgeht. Das Kreativ<br />

zentrum handelt im eigenen Auftrag. Von den ursprünglichen Bestimmungen der Stiftung<br />

Bauhaus Dessau <strong>und</strong> der anstiftung hat man sich nach <strong>und</strong> nach als Verein emanzipiert<br />

<strong>und</strong> gestaltet nun die<br />

<strong>Arbeit</strong> nach eigenen Interessen <strong>und</strong> Vorstellungen.<br />

Sozialpädagogische<br />

Stadtteilarbeit ist selbst bei parteilicher <strong>Arbeit</strong> immer im Zwiespalt<br />

zwischen Hilfe <strong>und</strong> Kontrolle.<br />

Im Folgenden benennen wir die Kennzeichen von Stadtteilarbeit, die uns bei der Aus-<br />

wertung deutlich geworden sind <strong>und</strong> beziehen uns dabei auf den Text von Dieter<br />

Oelschlägel (ebd.). Die entsprechenden Stichworte heben wir durch Unterstreichung<br />

hervor.<br />

In Kap. II 3.2.3 haben wir gesehen, dass das Kreativzentrum allen Menschen im Stadt<br />

teil offensteht: „Wir sind weder’n Jugendklub, noch’n Seniorenklub, noch sonst<br />

irgend-<br />

was. Weil wir haben alle drin“ (L 791-793). Das heißt, es sind unterschiedliche Zielgruppen<br />

angesprochen <strong>und</strong> somit wird für unterschiedliche Gruppen eine<br />

Verbesserung der lebensweltlichen Rahmenbedingungen erreicht. (Kinder haben einen<br />

Ort zum Spielen <strong>und</strong> Basteln, Jugendliche zum Chatten oder im Rahmen der Schulprojekte<br />

zur praktischen Bildung, Erwachsene um sich zu bewerben oder zum Reparieren,<br />

Basteln, Bauen, Ältere ebenfalls zum Werken oder um sich zu treffen).<br />

59 Eine Ordnung <strong>und</strong> Einordnung unternimmt Hinte 2002 in seinem Aufsatz: Von der Gemeinwesenarbeit<br />

über die Stadtteilarbeit zum Quartiermanagement (siehe Literaturliste).<br />

106


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

Dabei wird in unterschiedlicher Weise versucht, den Bedürfnissen der BesucherInnen<br />

gerecht zu werden. Was sich in der Sprache der MitarbeiterInnen des Krea hinter dem<br />

Begriff K<strong>und</strong>enfre<strong>und</strong>lichkeit (siehe ebenfalls Kap. II 3.2.3) verbirgt, könnte man auch<br />

mit Methodenvielfalt übersetzen: Es gibt Angebote für Gruppen <strong>und</strong> Einzelne, Spiel<strong>und</strong><br />

Bastelangebote, Bildungsangebote, Veranstaltungen im Haus <strong>und</strong> im Stadtteil, ein<br />

offenes Ohr der MitarbeiterInnen (Beratung) oder die Möglichkeit der Raumnutzung.<br />

Das Krea steht nicht allein im Stadtteil, es ist vernetzt mit anderen Initiativen, Vereinen<br />

<strong>und</strong> auch mit öffentlichen Stellen. Es wird als Teil der sozialen Infrastruktur wahrgenommen<br />

<strong>und</strong> kann durch übergeordnete Gremien an Gestaltungsprozessen im Stadtteil<br />

mitwirken. Ein weiteres Merkmal von Gemeinwesen- oder Stadtteilarbeit ist die<br />

durch die Vernetzung der Institutionen ermöglichte Kooperation <strong>und</strong> die gemeinsame<br />

Nutzung von Ressourcen im Stadtteil.<br />

Dies geschieht hier, wenn der örtliche Kindergarten<br />

regelmäßig das Außengelände nutzt, in Kooperation mit dem DRK Angehörigenarbeit<br />

(siehe Kap. II 3.2.5) organisiert wird <strong>und</strong> natürlich auch, wenn Schulklassen zu<br />

Projekttagen in die Werkstätten kommen.<br />

Als Fazit dieser Überlegungen möchten wir auf unsere Hypothesen zurückkommen<br />

<strong>und</strong> stellen fest, dass das Kreativzentrum<br />

mit seinen Offenen Werkstätten, aber auch<br />

mit<br />

seinen sonstigen Angeboten <strong>und</strong> Aktivitäten die soziokulturelle Infrastruktur Wolfen-<br />

Nords ergänzt <strong>und</strong> bereichert.<br />

Bedeutungsmomente für BesucherInnen – „was zu Hause ist, ablegen“<br />

Neben dem primären Nutzen, den BesucherInnen des Kreativzentrums für sich aus<br />

dem Angebot ziehen, wie z. B. notwendige Reparaturen günstig vornehmen zu können,<br />

Zugang zu einem Rechner mit Internetanschluss zu haben oder für die nächste<br />

Familienfeier Räume zur Verfügung zu haben <strong>und</strong> evtl. noch günstig schönen Tischschmuck<br />

herstellen zu können, konnten wir feststellen, dass wichtige Erfahrungen im<br />

Kreativzentrum<br />

gemacht werden, die einen sek<strong>und</strong>ären Nutzen für die BesucherInnen<br />

darstellen.<br />

Als erstes sei genannt, dass durch die verschiedenen Angebote Kontaktmöglichkeiten<br />

geschaffen werden. Gleichzeitig wird Geselligkeit von den BesucherInnen als wichtige<br />

Erfahrung eingestuft. Der Stellenwert dieser Erfahrung ist unserer Ansicht nach insbesondere<br />

deshalb hoch, weil sich durch die hohe <strong>Arbeit</strong>slosigkeit <strong>und</strong> die starke Abwanderung<br />

aus dem Stadtteil traditionale Bezüge in Betrieb <strong>und</strong> Familie häufig auflösten.<br />

Dass im Kreativzentrum entstandene oder dort gepflegte außerfamiliäre soziale Beziehungen<br />

zum Teil eine hohe Bedeutung <strong>und</strong> Qualität erlangen, zeigt sich darin,<br />

dass<br />

107


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

hier auch gegenseitige Beratungen stattfinden: „Das ist dann schön, wenn einer schon<br />

was weiß <strong>und</strong> berät <strong>und</strong> dann – das finden wir dann gut“ (RE 106-108).<br />

Eine weitere, unserer Ansicht nach für die BesucherInnen sehr wichtige Erfahrung ist<br />

die, sich im Kreativzentrum wirklich willkommen zu fühlen, sie werden mit ihren jeweili<br />

gen Bedürfnissen angenommen <strong>und</strong> anerkannt. Die Atmosphäre im Haus zeugt nach<br />

unserem Eindruck von einer großen Wertschätzung <strong>und</strong> dem Respekt gegenüber jedem/r<br />

einzelnen BesucherIn. Unserer Ansicht nach ist dies für die Menschen umso<br />

wichtiger, je mehr sie in anderen Lebensbereichen im Kontext der Umbrüche seit der<br />

Wende <strong>und</strong> der Risikogesellschaft ihrer (Selbst-)Sicherheiten beraubt wurden. Das<br />

Kreativzentrum stellt einen Ort dar, an dem sie sich selbst wertvoll fühlen können. Wir<br />

wollen dies noch einmal am Beispiel der Rentnerinnen deutlich machen: Diese genießen<br />

nach eigenen Worten die schöne Bewirtung <strong>und</strong> den aufmerksamen Service besonders.<br />

Vielleicht ist gerade in „schlechten Zeiten“ der Wunsch, sich mal bedienen zu<br />

lassen <strong>und</strong> gut behandelt zu werden, besonders groß. Frau gönnt sich mal was! Aus<br />

sozialarbeiterischer Perspektive ist dieses Bestreben durchaus nachvollziehbar. Zieht<br />

man als Erklärungswissen das Modell der Lebensbewältigung nach Lothar Böhnisch<br />

heran (siehe Kap. I 4.5), dann kann dieses Verhalten als Handeln gedeutet werden,<br />

das<br />

dem Selbstwertverlust der Personen entgegenwirkt <strong>und</strong> das den sozialen Rückhalt<br />

sichert. Diesen Bedürfnissen wird im Kreativzentrum offenbar entsprochen.<br />

Bedeutungsmomente für Mitarbeiterinnen - wie´ne große Familie<br />

Wir haben festgestellt, dass es für die MitarbeiterInnen einen eigenen Nutzen <strong>und</strong> eigene<br />

Motive gibt <strong>und</strong> diese in Kap. II 3.2.2 behandelt. Welche Qualitäten erleben die<br />

MitarbeiterInnen des Kreativzentrums <strong>und</strong> was macht die <strong>Arbeit</strong> des Kreativzentrums<br />

für sie sinn- <strong>und</strong> wertvoll?<br />

Die <strong>Arbeit</strong> des Vereins <strong>und</strong> die <strong>Arbeit</strong> im oder für den Verein hat für die MitarbeiterInnen<br />

in unseren Augen einen starken Selbsthilfecharakter, auch wenn sie selbst dies so<br />

nicht benennen. Selbsthilfe heißt, eigene Probleme aus eigener Kraft bzw. gemeinsame<br />

Probleme mit gemeinsamer Anstrengung zu bearbeiten (vgl. Pankoke, 2002). Fast<br />

alle MitarbeiterInnen sind von <strong>Arbeit</strong>slosigkeit im Verein bietet<br />

eines <strong>Erwerbsarbeit</strong>splatzes sehr ähnlich ist. Es wird von Montag bis Freitag von 9-18<br />

60 betroffen. Die Mitarbeit<br />

Ersatz für die fehlenden Erlebniskategorien der <strong>Erwerbsarbeit</strong>. Die Selbsthilfe läuft dabei<br />

auf zwei Ebenen ab, auf einer strukturellen <strong>und</strong> einer inhaltlichen.<br />

Auf der strukturellen Ebene schafft der Verein einen Beschäftigungsrahmen, der dem<br />

60 Es gibt auch wenige Ehrenamtliche, die einen <strong>Arbeit</strong>splatz haben, einige, die früher ehrenamtlich<br />

tätig waren <strong>und</strong> jetzt einen <strong>Arbeit</strong>splatz haben, arbeiten inzwischen nicht mehr mit.<br />

108


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

Uhr <strong>und</strong> Samstag von 9-14 Uhr gearbeitet, es gibt feste Aufgaben <strong>und</strong> man ist fest eingeplant,<br />

man wird gebraucht. Zeitstruktur, Sinn, Aktivität <strong>und</strong> Identität können (wieder)<br />

erlebt werden (siehe Kap. II 3.3.1).<br />

Die zweite, inhaltliche Ebene ist durch die besondere Qualität der Zusammenarbeit des<br />

Teams gegeben. Jeden Morgen wird bei einem gemeinsamen Frühstück die Tagesplanung<br />

vorgenommen, genauso ist hier aber auch Raum, um die Zukunft zu planen,<br />

Ideen zu besprechen <strong>und</strong> zu entwickeln. Alle Mitarbeiter sitzen dann zusammen <strong>und</strong><br />

diskutieren ebenbürtig. Die Beteiligungsmöglichkeiten der Einzelnen sind dabei ganz<br />

unmittelbar <strong>und</strong> unkompliziert. Das „Miteinander“ wird im häufig gebrauchten Wörtchen<br />

„Wir“ in seiner Bedeutung hervorgehoben. „Wir machen zwar um 9 auf…, selbst wenn<br />

wir bis halb zehn frühstücken… es ist ja nicht bloß, dass wir essen <strong>und</strong> Kaffee trinken,<br />

sondern wir reden da wirklich drüber: Was können wir jetzt machen, was können wir<br />

aus´m Mehrgenerationshaus mehr machen <strong>und</strong> das alles. Und da kommen uns die Ideen…“(L<br />

939-944). Mehrfach wird betont: „Alle. Alle. Wir planen“ (L 283). Diese Sitzung<br />

ist nach unserem Ermessen mehr als eine Lagebesprechung für die Mitarbeite<br />

rInnen. „Da gucken wir auch nicht auf die Uhr“ (L 938). Sie ist ein Ritual einer<br />

Gemeinschaft, in der alle Anerkennung<br />

finden, jedeR ernst- <strong>und</strong> wahrgenommen wird,<br />

jedeR sich einbringen kann.<br />

Wertschätzung <strong>und</strong> Anerkennung für das Engagement werden von der Leiterin sehr<br />

bewusst den MitarbeiterInnen gespiegelt: „Ich kann am Tag zehn mal sagen: ‚Das ist<br />

toll, was du machst’ <strong>und</strong> alles drum <strong>und</strong> dran… ist ja doch nicht so, als wenn sie auch<br />

mal wirklich´ne Belohnung kriegen, wa? Und wenn ich bloß mal´n Blumenstrauß<br />

mitbring, da freuen die sich so“ (L 205-209). Für uns stellt es sich so dar, dass es eine<br />

Kultur<br />

der Anerkennung gibt.<br />

Das Miteinander empfinden die AkteurInnen als sehr familiär: „Wir sind im Großen <strong>und</strong><br />

Ganzen wie´ne große Familie hier – die Freiwilligen <strong>und</strong> wenn die 1-€-Jobber da sind,<br />

dann werden die einfach miteinbezogen“ (L 345-347). Die MitarbeiterInnen geben sich<br />

gegenseitig auch Rat, Halt, <strong>und</strong> Unterstützung. „Wir lösen auch gegenseitig Probleme,<br />

muss ich sagen. Wenn wirklich jetzt mal jemand was hat, dann setzen wir uns an den<br />

Tisch <strong>und</strong> sagen: ‚O.k., da reden wir drüber’ <strong>und</strong> das ist dann für viele auch befreiend“<br />

(L 342-345). Einer der Mitarbeiter, der erst kurz dabei ist, betont: „S’is w<strong>und</strong>erbar. Auch<br />

noch ne feine Truppe“ (M 180). Wir sind der Meinung, dass die MitarbeiterInnen ihre<br />

<strong>Arbeit</strong> im Krea<br />

als identitätsstiftend erfahren. Sie fühlen sich zugehörig <strong>und</strong> erleben In-<br />

tegration.<br />

109


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

Und noch ein weiteres Element, das in unserer Wahrnehmung auch die Atmosphäre<br />

des Gesprächs mit den MitarbeiterInnen kennzeichnete, spielt für das <strong>Arbeit</strong>sklima <strong>und</strong><br />

die Motivation eine wichtige Rolle: der Humor.<br />

(Frau K: „Weil es so lustig ist bei uns.“<br />

W:<br />

„Das is wohl wahr!“ (M 80-81)). Es gibt einen Ort <strong>und</strong> Menschen, mit denen man<br />

auch in schwierigen Zeiten lachen kann.<br />

ne Selbstde-<br />

,<br />

ätiung<br />

auch eine Kompensation von Bedürfnissen in einer von Mangel gekennzeichneten<br />

Lebenslage erfolgen soll. Dies trifft für Wolfen-Nord unseres Erachtens zu. 62<br />

Wir wollen noch mal darauf zurückkommen, dass die Betrachtungsweise „Selbsthilfe“<br />

eine Fremdzuschreibung von uns an die MitarbeiterInnen in Wolfen ist, kei<br />

finition. Diese würden ihre <strong>Arbeit</strong> vermutlich eher als Freiwilligenarbeit 61 bezeichnen<br />

von der die Menschen im Stadtteil in unterschiedlicher Weise profitieren.<br />

In den unterschiedlichen Perspektiven liegt nicht unbedingt ein Gegensatz. Ronald<br />

Blaschke stellt fest: „Das öffentliche Engagement <strong>und</strong> die Engagementbereitschaft Armer<br />

<strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>sloser orientieren sich vorwiegend auf die sozialen (Nah-)Bereiche <strong>und</strong><br />

auf den Selbsthilfebereich“ (2003, S. 47). Er fasst dieses Engagement unter die Kategorie<br />

„kompensatorisches öffentliches Engagement“ <strong>und</strong> sagt, dass durch die Bet<br />

g<br />

3.4 Resümee<br />

Die Idee, ein Zentrum für <strong>handwerkliche</strong> <strong>Eigenarbeit</strong> in Wolfen-Nord einzurichten, kam<br />

von Akteuren außerhalb des Stadtteils. Ziel war, eine Auseinandersetzung über die<br />

Rolle verschiedener Formen von <strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> Existenzsicherung anzuregen <strong>und</strong> das<br />

Konzept der <strong>Eigenarbeit</strong> in den neuen B<strong>und</strong>esländern zu erproben. Von den Initiatoren<br />

wurden im Rahmen von ABM Menschen beschäftigt, um das Projekt aufzubauen.<br />

Seit ca. fünf Jahren wird das Kreativzentrum allein in der Regie des Vereins geführt. Es<br />

versteht sich heute als Begegnungsstätte für die Menschen im Stadtteil. Über unterschiedliche<br />

Aktivitäten <strong>und</strong> Angebote werden verschiedenste Zielgruppen angespro<br />

chen.<br />

Die Einrichtung schafft ein offenes <strong>und</strong> vielfältiges Angebot in einem Stadtteil,<br />

der ansonsten wenig an sozialer <strong>und</strong> kultureller Infrastruktur zu bieten hat.<br />

Wir sehen die Bedeutung des Kreativzentrums darin, dass den Menschen ein Ort im<br />

sozialen Nahraum gegeben wird,<br />

61<br />

Hier müsste man korrekter Weise die 1-€-JobberInnen ausnehmen, die ja nicht „freiwillig“ <strong>und</strong><br />

unentgeltlich arbeiten, da aber die Übergänge fließend zu sein scheinen <strong>und</strong> ehemalige MaßnahmeteilnehmerInnen<br />

häufig weiter aktiv bleiben, unterscheiden wir im Text nicht formal. Wir<br />

gehen davon aus, dass im inneren Engagement kaum Unterschiede bestehen.<br />

62<br />

Wir möchten betonen, dass hiermit keine Bewertung des Engagements vorgenommen werden<br />

soll.<br />

110


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

• an dem sie eine attraktive Infrastruktur vorfinden (vielseitig nutzbare Räumlichkeiten,<br />

Serviceangebote, Unterstützungsangebote, ein offenes Ohr, Anregung, Computer,<br />

Maschinen…)<br />

• an dem sie sich willkommen <strong>und</strong> wertgeschätzt fühlen<br />

• an dem sie ihre Zeit nach eigenen Plänen gestalten können<br />

• an dem sie sich einbringen können, aber nicht müssen<br />

Indem es äußere Handlungsspielräume vergrößert, erweitern sich die Möglichkeiten<br />

<strong>und</strong> Chancen zur Lebensbewältigung <strong>und</strong> zur Interessenentfaltung. Aufgr<strong>und</strong> der von<br />

Mangel gekennzeichneten Lebenslage stellt das Angebot in vielen Punkten einen Versorgungsspielraum<br />

dar (siehe Konzept der Lebenslage <strong>und</strong> Lebensbewältigung Kap. I<br />

4.5). Das schließen wir aus der Betonung des finanziellen Aspekts durch unsere GesprächspartnerInnen<br />

in den unterschiedlichsten Zusammenhängen.<br />

Die <strong>Arbeit</strong>slosigkeit stellt den Hintergr<strong>und</strong> dar, vor dem sich die spezifische Struktur der<br />

<strong>Arbeit</strong> des Vereins herausgebildet hat. Die <strong>Arbeit</strong> wird ausschließlich von Ehrenamtlichen<br />

<strong>und</strong> 1-€-Jobbern geleistet, die Freiwilligenarbeit geschieht häufig aus der mangelnden<br />

Verfügbarkeit von <strong>Erwerbsarbeit</strong>splätzen heraus. Wir fanden die folgenden<br />

Kennzeichen:<br />

• familiärer Charakter<br />

• tägliche Öffnung zu üblichen Geschäftszeiten<br />

• kompensatorisches Engagement<br />

• große Bedeutung von Anerkennung <strong>und</strong> Wertschätzung<br />

• <strong>Arbeit</strong>sverständis von Dienstleistungsgedanke geprägt<br />

• hoher Stellenwert der <strong>Arbeit</strong> für die Identität der MitarbeiterInnen<br />

Über die Jahre hat sich ein immer eigenständigeres <strong>und</strong> stabileres Projekt entwickelt,<br />

das heute eine wichtige <strong>und</strong> anerkannte Rolle in der Infrastruktur des Stadtteils innehat.<br />

Das Werkstattangebot ist dabei „nur noch“ eines von vielen. Das Konzept der <strong>Eigenarbeit</strong><br />

kam bei den Verantwortlichen vor Ort nicht im ursprünglichen Verständnis<br />

an. Obwohl gerade in Wolfen-Nord die Erwerbsgesellschaft an ihr Ende gekommen zu<br />

sein scheint, spielt die politische Dimension des Begriffs im Kreativzentrum heute keine<br />

Rolle. Man hat ein eigenes, verändertes <strong>und</strong> an die Bedürfnisse <strong>und</strong> Bedingungen der<br />

MitarbeiterInnen <strong>und</strong> AdressatInnen vor Ort angepasstes, Verständnis von <strong>Eigenarbeit</strong><br />

etabliert. <strong>Eigenarbeit</strong> bleibt für die Menschen in der Sphäre des Hobbys oder der Freizeitbeschäftigung<br />

verortet. Sie wird häufig aus finanziellen Motiven heraus betrieben<br />

111


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

<strong>und</strong> hat damit einen Versorgungsaspekt. Der Prozessnutzen wird zwar auch wahrgenommen,<br />

steht aber nicht im Vordergr<strong>und</strong>.<br />

Wir erkennen mehrere Gründe dafür, dass der Verein trotz schwieriger Bedingungen<br />

bestehen konnte. Ein Gr<strong>und</strong> ist unserer Einschätzung nach, dass man im Kreativzentrum<br />

sich bietende Ressourcen <strong>und</strong> Chancen annimmt <strong>und</strong> diese, manchmal vielleicht<br />

eher zufällig, in die eigenen Vorstellungen von einem „Kreativzentrum“ integriert:<br />

darunter z. B. Werkstattausstattung, Computerausstattung, Unterstützung durch ABM<br />

oder AGH <strong>und</strong>, als neuestes Element, die Förderung als Mehrgenerationenhaus. Man<br />

arbeitet mit dem, was zur Verfügung steht <strong>und</strong> macht das Beste daraus.<br />

Wir nehmen zweitens an, dass der erwähnte Selbsthilfecharakter der Tätigkeit im Verein<br />

<strong>und</strong> als ehrenamtlicheR HelferIn eine wichtige Rolle spielt. Die Betätigung hilft bei<br />

Bewältigung der Situation der Erwerbslosigkeit <strong>und</strong> hat als solche einen Eigenwert für<br />

die Menschen.<br />

Es ist unserer Ansicht nach drittens zu großem Anteil das Verdienst von Frau Kiontke,<br />

der Vereinsvorsitzenden <strong>und</strong> Leiterin des Krea, die, so denken wir, sich dem Projekt<br />

<strong>und</strong> Verein verschrieben hat. Die eigene biografische Erfahrung der <strong>Arbeit</strong>slosigkeit<br />

<strong>und</strong> der Wunsch, Vorbild für andere zu sein <strong>und</strong> diese Situation durch Aktivität zu bewältigen,<br />

sind in unseren Augen die Antriebsfeder für das große <strong>und</strong> dauerhafte Enga-<br />

gement. 63<br />

Zum Abschluss dieses Kapitels wollen wir nochmals verstärkt die ressourcenorientierte<br />

Blickrichtung der lebensweltorientierten <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> einnehmen. Dabei nehmen wir<br />

Umdeutungen von Begriffen vor, die zwar wieder zu Unschärfe führen, den Blick auf<br />

die Stärken <strong>und</strong> Fähigkeiten aber erst richtig offenlegen:<br />

Fasst man den Begriff <strong>Eigenarbeit</strong> weiter, wie Mückenberger (1990, S. 197) als „Tätigkeiten,<br />

die dem Eigensinn von Individuen <strong>und</strong> Gruppen folgen“, so kann man durchaus<br />

sagen, dass die Verantwortlichen des Kreativzentrums <strong>Eigenarbeit</strong> ausüben. Sie haben<br />

das Konzept an ihrer eigenen Lebenswirklichkeit ausgerichtet <strong>und</strong> folgen ihrem eigenen<br />

Sinn.<br />

Für die MitarbeiterInnen trifft auch unsere erweiterte Definition von gestalterischem Erleben<br />

zu. Sie nehmen das eigene Leben <strong>und</strong> die eigenen Lebensumstände ein Stück<br />

weit selbst in die Hand, gestalten ihren Alltag selbst. Dabei sind sie in hohem Maße<br />

kreativ <strong>und</strong> flexibel bei der Entwicklung von (Über-)Lebensstrategien was den Verein<br />

63 Natürlich tragen <strong>und</strong> trugen viele andere Menschen zum Bestehen des Projektes bei, für die<br />

Kontinuität (in der vorhandenen Struktur) war eine zentrale Figur nach unserem Eindruck bedeutend.<br />

112


Das Kreativzentrum Wolfen-Nord<br />

betrifft, denn die Bewältigung des Alltags geschieht in der erwähnten von Mangel gekennzeichneten<br />

Situation.<br />

Wir halten also mit Überzeugung fest, dass das Kreativzentrum für MitarbeiterInnen<br />

<strong>und</strong> BesucherInnen ein Ort gestalterischen <strong>und</strong> sozialen Erlebens ist. Allerdings ist an<br />

diesem Ort das <strong>handwerkliche</strong> Tun nicht so sehr auf einer unmittelbaren Ebene mit<br />

dem <strong>Soziale</strong>n Erleben verknüpft, wie wir zuvor angenommen hatten.<br />

113


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

4. Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

Dieses Kapitel befasst sich mit der Fragestellung, wie die gelebte Praxis des Kempodi-<br />

um aussieht <strong>und</strong> welche Bedeutungen sie für die Menschen vor Ort hat.<br />

Dafür erfolgt zu Beginn eine kurze Beschreibung der Stadt bzw. der Region Kempten<br />

(Kap. II 4.1.1) <strong>und</strong> des Kempodium selbst (Kap. II 4.1.2).<br />

Informationsgr<strong>und</strong>lage sind dabei verschiedene Textmaterialien (Dokumente des<br />

Kempodium <strong>und</strong> der anstiftung, Zeitungsartikel) sowie Informationen aus dem Internet<br />

(Homepage des Kempodium, Stadt Kempten). Eigene Eindrücke <strong>und</strong> ausgewählte<br />

Aussagen von Befragten in unseren Gesprächen (insbesondere sachlicher Art) ergänzen<br />

die Darstellung. In einem weiteren Schritt haben wir kurze Portraits der befragten<br />

Personen <strong>und</strong> der Gesprächsatmosphäre angefertigt (Kap II 4.1.3), die den Übergang<br />

zum Hauptteil dieses Kapitels, den Interview-Auswertungen Kap II 4.2), bilden. Auch<br />

hier kann ein im Anhang angefügtes Besuchsprotokoll mit einigen Fotos eine zusätzliche<br />

plastischere Darstellung vermitteln (Anlage 6).<br />

Am Ende des Kapitels (II 4.3) steht eine Zusammenfassung der Ergebnisse in Hinblick<br />

auf die Fragestellungen <strong>und</strong> unsere Hypothesen.<br />

Interviewzitate werden folgendermaßen gekennzeichnet: MS steht für den Geschäftsführer<br />

Martin Slavicek, Zitate der BesucherInnen sind mit den Kürzeln S, G, M, W gekennzeichnet.<br />

Die Nummern entsprechen den Zeilenzahlen der Transkription.<br />

4.1 Vorstellung von Region, Einrichtung <strong>und</strong> Befragten<br />

Zu Beginn erfolgt eine kurze Beschreibung der Stadt bzw. der Region Kempten <strong>und</strong><br />

des Kempodium. Darauf folgen kurze Portraits der befragten Personen <strong>und</strong> der Gesprächsatmosphäre.<br />

Auch hier kann ein im Anhang angefügtes Besuchsprotokoll mit<br />

einigen Fotos eine zusätzliche plastischere Darstellung vermitteln.<br />

4.1.1 Portrait von Stadt <strong>und</strong> Region Kempten<br />

Kempten ist eine gewachsene kreisfreie Stadt in ländlicher, touristisch geprägter Region,<br />

ein so genannten Oberzentrum (Schul-, Verwaltungs- <strong>und</strong> Handelszentrum) im Allgäu<br />

mit ca. 65 000 EinwohnerInnen <strong>und</strong> einem großen Einzugsbereich umliegender<br />

Gemeinden (ca. 500 000 Menschen).<br />

Die Landschaft bietet ein breites Spektrum zur Naherholung <strong>und</strong> ermöglicht eine abwechslungsreiche<br />

Freizeitgestaltung (z. B. Wandern, Baden, Radfahren, Golfen <strong>und</strong><br />

Langlaufen). Das kulturelle Angebot der Stadt <strong>und</strong> im Umland ist vielfältig: Es gibt verschiedene<br />

Museen, eine Kunsthalle, den archäologischen Park Cambodunum sowie<br />

114


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

die alte Residenz Kempten, zudem verschiedene Theater, Kinos <strong>und</strong> das ganze Jahr<br />

über wechselnde Veranstaltungen (www.kempten.de/Touristen_Hauptseite.html). Darüber<br />

hinaus bestehen unzählige Vereine, Initiativen <strong>und</strong> Einrichtungen.<br />

Traditionell ist diese Region geprägt von Landwirtschaft. Bereits im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert etablierte<br />

sich Kempten als Zentrum der Allgäuer Milchwirtschaft. Daneben sind die<br />

wichtigsten Wirtschaftszweige Chemie <strong>und</strong> Umwelttechnik, Druck- <strong>und</strong> Verlagswesen,<br />

Elektrotechnik, Kunststoff- <strong>und</strong> Verpackungsindustrie sowie Maschinenbau (vgl. Redler<br />

2001, S.24).<br />

Kempten ist die zentrale Schul- <strong>und</strong> Hochschulstadt des Allgäus. Zahlreiche Schulen<br />

(darunter allgemein bildende, Fachakademien, Fachschulen, Berufsschulen <strong>und</strong> mehrere<br />

Berufsbildungszentren) ermöglichen ein breit gefächertes Bildungsangebot. Die<br />

Fachhochschule Kempten bietet die Studiengänge Betriebswirtschaft, Tourismusmanagement,<br />

Sozialwirtschaft, Elektronik & Informatik <strong>und</strong> Maschinenbau an <strong>und</strong> fasst ca.<br />

3000 Studierende (vgl. www.fh-kempten.de/).<br />

Die <strong>Arbeit</strong>slosenquote lag im August 2007 bei ca. 6 % (www.kempten.de/). Das verfügbare<br />

Pro-Kopf-Einkommen der privaten Haushalte in Kempten wies im Jahr 2004<br />

eine durchschnittliche Höhe von 18 894 € (vgl. Kohlhuber 2006, S. 314) 64 auf.<br />

Der Stadtteil Thingers war von 2001-2006 Programmgebiet des B<strong>und</strong>-Länder-<br />

Programmes „<strong>Soziale</strong> Stadt“ 65 . Geprägt durch dichte Bebauung sowie einer Reihe von<br />

Hochhäusern, deren Belegung hauptsächlich der Sozialbindung unterliegt, weist er mit<br />

ca. 5.000 EinwohnerInnen einen sehr hohen Anteil an Zuwanderern <strong>und</strong> AussiedlerInnen<br />

aus, der sich wiederum auf den Bereich Thingers-Nord konzentriert (vgl. Difu<br />

2007). Die unausgewogene Bevölkerungsstruktur bringt eine unzureichende Entwicklung<br />

der Sozialstruktur <strong>und</strong> als Folge Konfliktpotenzial mit sich (vgl.<br />

http://www.kempten.de./buerger_soziale_stadt_thingers_hauptseite.html).<br />

64 Das verfügbare Einkommen der privaten Haushalte ergibt sich laut Kohlhuber (ebd.) aus den<br />

empfangenen Primäreinkommen nach Abzug der geleisteten <strong>und</strong> nach Hinzufügen der empfangenen<br />

laufenden Transfers. Es kann als der Betrag verstanden werden, der für Konsum-<br />

oder Sparzwecke zur Verfügung steht <strong>und</strong> stellt somit einen Indikator für den Wohlstand einer<br />

Bevölkerung oder Region dar. Allerdings sagt ein solcher Durchschnittswert nichts darüber aus,<br />

wie dieses Geld innerhalb der Bevölkerung verteilt ist.<br />

65 Das B<strong>und</strong>-Länder-Programm „<strong>Soziale</strong> Stadt“ ist ein seit 1999 existierendes Förderprogramm<br />

für Stadtteile mit so genannten „besonderem Entwicklungsbedarf“. Ziel des Programms ist u. a.,<br />

Tendenzen der Segregation in Stadtteilen entgegenzuwirken, „um der drohenden sozialen Polarisierung<br />

in den Städten Einhalt zu gebieten“ (Difu, 2005b). Dabei soll eine nachhaltige Entwicklung<br />

in Stadt- <strong>und</strong> Ortsteilen mit besonderen sozialen, wirtschaftlichen <strong>und</strong> städtebaulichen<br />

Problemen gefördert werden (vgl. ebd.). Die Förderung beinhaltet zum einen investive bauliche<br />

Maßnahmen <strong>und</strong> verknüpft diese mit sozialen Aspekten der Stadtteilplanung. Das kann mitunter<br />

eine Unterstützung von Strukturen sein, die Bürgermitwirkung <strong>und</strong> ein aktives Stadtteilleben<br />

möglich machen (z. B. in Form von Quartierszentren oder Stadteilbüros), ein weiteres Ziel ist<br />

die soziale Integration der im Stadtteil lebenden Menschen, aber auch Bereiche wie lokale Wirtschaft,<br />

<strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> Beschäftigung sollen in den Blick genommen werden.<br />

115


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

„Auch Kempten ist von Problemen wie Drogen, erodierenden Familienstrukturen <strong>und</strong><br />

<strong>Arbeit</strong>slosigkeit berührt, doch im Vergleich zu vielen anderen Städten sind diese hier<br />

milde ausgeprägt“ – so die zusammenfassende Einschätzung der anstiftung (Redler<br />

2001, S. 25).<br />

Die Region zeichnet sich insgesamt als verhältnismäßig wohlhabend aus. Wir sind uns<br />

bewusst, dass die hier angerissenen Informationen über Kempten nur einzelne Schlaglichter<br />

darstellen. Für einen dezidierten Blick wäre eine sozioökonomische Analyse der<br />

Region erforderlich, was in diesem Rahmen nicht möglich ist.<br />

4.1.2 Portrait des Kempodium<br />

Die Entstehungsgeschichte des Kempodium bis zur Eröffnung im September 2000 ist<br />

eng mit dem Forschungs- <strong>und</strong> Entwicklungsinteresse der anstiftung verknüpft, die 1996<br />

ein Bürgerzentrum initiieren wollte, in dem das Tätig-werden <strong>und</strong> dadurch die Wiederaneignung<br />

der eigenen schöpferischen Kräfte <strong>und</strong> Fähigkeiten im Mittelpunkt steht (vgl.<br />

Redler 2001, S. 2).<br />

Die Ziele, die die anstiftung in bisherigen Projekten erprobte (z. B. mit dem Fokus der<br />

<strong>Eigenarbeit</strong> vornehmlich im HEi München) sollten im Kempodium erweitert werden<br />

durch eine ökonomisch-ökologische Dimension. Dabei wird der Begriff der <strong>Eigenarbeit</strong><br />

erweitert in Richtung Eigenversorgung, wobei laut Jens Mittelsten Scheid unter Eigenversorgung<br />

alle Aktivitäten zusammengefasst werden sollen, „die darauf abzielen, lokale<br />

oder regionale Ressourcen zu heben, um Bedürfnisse vor Ort statt durch Kauf durch<br />

eigenes Tun unmittelbar zu befriedigen“ (vgl. Redler 2001, S. 3).<br />

Eine dem zugr<strong>und</strong>e liegende Annahme dabei ist, dass vor allem in regionalen Bezügen,<br />

in der Nähe, im Alltag die Wiedererlangung verloren gegangener Kompetenzen<br />

möglich wird (vgl. Redler 2001, S. 3) 66 .<br />

Die anstiftung suchte in ihrer Planungsphase nach geeigneten Kooperationspartnern<br />

für ein Projekt in einer mittelgroßen Stadt, die im ländlichen Raum eingebettet ist. Von<br />

Bedeutung war für sie eine enge Zusammenarbeit mit Akteuren vor Ort, um größtmögliche<br />

Synergien zwischen vorhandenen Ressourcen, Ideen <strong>und</strong> Aktivitäten <strong>und</strong> denen<br />

der anstiftung zu erreichen. Dabei waren die öffentliche Hand ebenso wichtig wie Initiativgruppen,<br />

Vereine, Verbände, soziale Einrichtungen <strong>und</strong> Unternehmen (vgl. Redler<br />

2001, S. 19).<br />

Für Kempten als Standort entschied man sich (1999) nach vielen Sondierungsgesprächen<br />

u. a. deshalb, weil dort im Rahmen der lokalen Agenda 21 67 Ideen entwickelt<br />

66 Dieser kurze Abschnitt kann das Forschungsinteresse <strong>und</strong> die dahinterstehenden Annahmen,<br />

Visionen <strong>und</strong> Ziele der anstiftung nur bruchstückhaft darstellen. Näheres zur <strong>Arbeit</strong> der anstiftung<br />

<strong>und</strong> ihrer Projekte findet sich unter http://www.anstiftung.de/<br />

116


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

worden waren, die mit denen der anstiftung weitgehend übereinstimmten (Redler 2001,<br />

S.16). Nach Aussagen des Geschäftsführers Martin Slavicek hatten sich damals Projektgruppen<br />

<strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>skreise entwickelt, die das Haus gemeinsam vorbereitet <strong>und</strong> geplant<br />

haben. Diese haben z. B. auch aktiv an der Gebäudeauswahl <strong>und</strong> den konkreten<br />

Planungen im Gebäude mitgewirkt. Dabei ist alles auf „ehrenamtlicher Basis mit Aktiven<br />

aus der Agenda 21, aber auch mit allen anderen Kemptener Bürgern, die Interesse<br />

gehabt haben an der Geschichte, geplant worden“ (MS 15-16). Der Stadtteil Eich, in<br />

dem das Kempodium angesiedelt ist, zeichnet sich als reine Wohngegend aus. Dort<br />

leben viele Familien mit Kindern, z. T. mit Migrationshintergr<strong>und</strong>. Außer einem Kindergarten<br />

gibt es keine Infrastruktur mit Angeboten für Kultur, Freizeit <strong>und</strong> Bildung, auch<br />

keine Gastronomie wie z. B. ein Café (vgl. Difu 2005a). Zur Eröffnung kam es schließlich<br />

Ende September 2000.<br />

In den ersten 2 - 2½ Jahren ist das Kempodium „unter Regie der anstiftung geführt<br />

worden, da gab´s keinen eigenständigen Verein“ (MS 31). Dieser wurde erst im März<br />

2002 gegründet, mit dem Ziel, das Kempodium in Kempten zu verankern <strong>und</strong> zu verwurzeln.<br />

Den Verein unterstützen aktuell 112 Mitglieder <strong>und</strong> Förderer 68 (Allgäuer Zeitung,<br />

24.3.07). Der Vorstand besteht aus fünf Mitgliedern, darunter Jens Mittelsten-<br />

Scheid.<br />

Die Ziele des Kempodium sind sehr vielfältig <strong>und</strong> umfassend. Sie sind sowohl auf der<br />

Homepage (www.kempodium.de/ Ziele 69 ) als auch in der Kempodium-Broschüre, in<br />

einem internen Leitbild <strong>und</strong> in verschiedenen Dokumenten der anstiftung formuliert. An<br />

den verschiedenen F<strong>und</strong>orten werden die Ziele teilweise unterschiedlich akzentuiert.<br />

Wir werden versuchen, eine Zusammenfassung aus Homepage, Leitbild <strong>und</strong> Kempodium-Broschüre<br />

zu erstellen, wobei naturgemäß nicht alle Aspekte berücksichtigt<br />

werden können.<br />

Das Kempodium möchte die individuelle Eigenständigkeit <strong>und</strong> die soziale Kommunikation<br />

von Menschen fördern sowie die regionale Identität stärken. Damit sollen im weitesten<br />

Sinn ein Beitrag zur Bewusstseinsbildung um die ökologische <strong>und</strong> soziale Ver-<br />

67 Die Agenda 21 kann als weltweites Handlungsprogramm für das 21. Jahrh<strong>und</strong>ert bezeichnet<br />

werden. Von Nord- <strong>und</strong> Südländern auf einer UN-Konferenz gemeinsam erarbeitet, wurde sie<br />

1992 verabschiedet. Zentrale Anliegen sind ein nachhaltigerer Umgang mit Rohstoffen <strong>und</strong> eine<br />

globale soziale Gerechtigkeit. Die entwickelten Handlungsempfehlungen der Agenda 21 sollen<br />

von Staaten, Städten <strong>und</strong> Kommunen entsprechend ihren Möglichkeiten, Gegebenheiten <strong>und</strong><br />

Prioritäten umgesetzt werden. In Kempten entstanden 1997 die ersten lokalen Agenda-<br />

<strong>Arbeit</strong>skreise (vgl. www.kempten.de/Bildungsstaetten.html).<br />

68 Neben einer ordentlichen Mitgliedschaft mit Stimmrecht bei Vereinsversammlungen gibt es<br />

die Möglichkeit, den Verein als so genannten „Hausfre<strong>und</strong>“ mit einer reinen Fördermitgliedschaft<br />

„finanziell <strong>und</strong> ideell“ (MS 318) zu unterstützen.<br />

69 Im weiteren Verlauf wird die Internetseite des Kempodium mit „Homepage“ angegeben. Zur<br />

besseren Verortung der F<strong>und</strong>stelle wird zusätzlich jeweils der „Ordner“ angegeben, aus dem<br />

die Information stammt.<br />

117


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

antwortung des Einzelnen in der Gesellschaft geleistet <strong>und</strong> Wege aus der einseitigen<br />

Konsum- <strong>und</strong> Erwerbsorientierung aufgezeigt <strong>und</strong> erfahrbar gemacht werden (vgl. Homepage/<br />

Ziele). Es versteht sich dabei als Bürgerzentrum der besonderen Art (vgl.<br />

Kempodium-Broschüre), das für alle Menschen – ob Mann oder Frau, Alt oder Jung,<br />

Arm oder Vermögend – offen sein möchte. Neben diesem primär zielübergreifenden<br />

Auftrag sollen aber auch spezielle Zielgruppen angesprochen werden, z. B. Kinder,<br />

Schulklassen, Initiativen/Vereine, Familien etc. (vgl. Difu 2005a). Die Besonderheit des<br />

Kempodium besteht darin, dass Eigeninitiative <strong>und</strong> Tätigwerden im weitesten Sinne im<br />

Zentrum stehen – dazu zählen z. B. <strong>handwerkliche</strong>, soziale <strong>und</strong> künstlerisch-kulturelle<br />

Aktivitäten. Bürgerschaftliches Engagement stellt dabei eine tragende Säule des Hauses<br />

dar: Das Kempodium möchte als Plattform für Interessen <strong>und</strong> Ideen verschiedenster<br />

Art zur Verfügung stehen <strong>und</strong> durch die Bereitstellung einer Infrastruktur Menschen<br />

die Möglichkeit bieten, sich auszuprobieren.<br />

Die Stärkung der regionalen Identität zählt ebenso zu den Zielen wie der Wunsch,<br />

nachhaltige Wirtschafts- <strong>und</strong> Lebensstile zu fördern. Durch eine zunehmende Vernetzung<br />

mit regionalen Partnern <strong>und</strong> Einrichtungen sollen das gesellschaftliche Leben in<br />

der Region bereichert <strong>und</strong> regionale Wirtschaftskreisläufe unterstützt werden. Zu den<br />

Kooperationspartnern zählen Verbände (z. B. der Zweckverb<strong>und</strong> für Abfallwirtschaft),<br />

Unternehmen (z. B. die Lebensmittelfirma Feneberg <strong>und</strong> Handwerksbetriebe der Umgebung)<br />

<strong>und</strong> Vereine (siehe auch Kap II 4.2.4).<br />

Aber auch mit öffentlichen Einrichtungen wie Schulen, kirchlichen <strong>und</strong> sozialen Einrichtungen<br />

(z. B. die Stadtjugendarbeit, Kinderschutzb<strong>und</strong> u. a.) sowie Einzelpersonen wird<br />

bewusst zusammengearbeitet (vgl. Homepage/ Kooperation). Eine besondere Zielsetzung<br />

im Bereich des <strong>handwerkliche</strong>n <strong>Arbeit</strong>ens soll dabei durch „das Erlebnis Werkstatt“<br />

(Homepage/ Ziele) gefördert werden.<br />

Zum Kempodium gehören das Hauptgebäude sowie das „Kempodium Kaufhaus Allerhand“,<br />

direkt gegenüber. 70 „Man muss mindestens fünf mal herkommen <strong>und</strong> verschiedene<br />

Projekte mitgemacht haben, bis man weiß, was alles im Kempodium möglich ist“<br />

(MS 496-498). Dieses Zitat des Geschäftsführers Herrn Slavicek verdeutlicht die breite<br />

Angebots- <strong>und</strong> Nutzungspalette, die das Kempodium bietet. Das Angebot ist sowohl<br />

über die professionell gestaltete Homepage des Kempodium (s.o.), als auch über halbjährlich<br />

erscheinende Programmhefte, wechselnde Flyer <strong>und</strong> über einen vierteljährlich<br />

70 Das Kempodium Kaufhaus Allerhand (ein Secondhand-Kaufhaus) wurde 2006 eröffnet <strong>und</strong><br />

hat sich aus dem Vorläufer brauchBar weiterentwickelt. Näheres zu beiden Häusern <strong>und</strong> deren<br />

Ausstattung ist über die Homepage zu erfahren, auf der zwei anschauliche Videoclips einen virtuellen<br />

Einblick ermöglichen.<br />

118


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

erscheinenden Newsletter 71 für InteressentInnen ersichtlich. Zudem werden regelmä-<br />

ßige Mitteilungen in der Tagespresse veröffentlicht. An dieser Stelle kann wegen der<br />

Fülle der Angebote nur eine Auswahl möglicher Aktivitäten wiedergegeben werden.<br />

Das so genannten Werkstatt-Bistro inklusive einer kleinen Küchenzeile, die zu Selbstbedienungszwecken<br />

angelegt ist, steht allen offen, ob sie nun in den Werkstätten tätig<br />

sind oder sich „einfach so“ treffen möchten.<br />

„Weil Selbermachen Spaß macht“ – so wird auf der Homepage des Kempodium das<br />

Angebot der Werkstattnutzung eingeleitet. Die Werkstätten sind professionell ausgestattet,<br />

u. a. mit Werkbänken samt Werkzeugen <strong>und</strong> verschiedenen Maschinen (vgl.<br />

Kempodium-Broschüre). Dort sind „Laien wie auch Geübte willkommen“ (ebd.). Während<br />

der Öffnungszeiten kann die Möglichkeit einer Fachberatung in Anspruch genommen<br />

werden.<br />

Die offene Werkstattnutzung ist in verschiedenen Werkstattbereichen möglich: Holz-,<br />

Metall-, Ton-, Fahrradreparatur. Die Nutzung ist Mi – Fr, 17.00 - 20.30 Uhr, sowie Sa<br />

12.00 - 16.00 Uhr möglich. In einigen Bereichen (z. B. Metall- <strong>und</strong> Fahrradwerkstatt) ist<br />

das Angebot der Fachberatung auf einzelne Tage beschränkt oder kann auf Anfrage<br />

vereinbart werden (Polster-, Ton- <strong>und</strong> Nähwerkstatt). Zusätzlich gibt es eine spezielle<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendwerkstatt (Ton, Filzen, Holz) sowie eine Kochwerkstatt. Hier finden<br />

u. a. Kurse, Workshops <strong>und</strong> Veranstaltungen statt (Homepage/ Werkstatt).<br />

Diese Werkstattbereiche können sowohl von Einzelpersonen für die Verwirklichung eigener<br />

Vorhaben als auch von Gruppen genutzt werden. Das ist vor allem im Rahmen<br />

von Kursen (s.u.) oder Projekten der Fall. Durchgeführt werden z. B. einmalige Projekte<br />

wie für eine Gruppe aus einem Seniorenheim, die „für ihre Parkanlage Bänke gebaut<br />

[hat]“ (W 364) oder das Projekt „Backen <strong>und</strong> Sägen“ für ganze Schulklassen, wobei<br />

„die Schulklasse gesplittet wird, ein Teil arbeitet dann in der Werkstatt unter fachlicher<br />

Anleitung, der andere Teil kocht unten. Gemeinsam wird´s verspeist, die erste Hälfte,<br />

<strong>und</strong> die zweite Hälfte geht als Pausenverpflegung an dem nächsten Tag zur Schule“<br />

(W 745-748). Es gibt aber auch Projekte in Zusammenarbeit mit anderen Bildungsträgern,<br />

z. B. Qualifizierungsmaßnahmen für Menschen ohne <strong>Erwerbsarbeit</strong>, die über die<br />

Arge bzw. über Bildung <strong>und</strong> Beruf 72 finanziert werden. Ebenso fanden im Rahmen des<br />

<strong>Soziale</strong>-Stadt-Programms schon verschiedene LOS-Projekte mit Jugendlichen <strong>und</strong><br />

Kindern statt, wie z. B. „Wir möbeln unsere Ausbildungschancen auf“ (anstiftung<br />

2005b, S.3).<br />

71 Der Newsletter kann auf Wunsch über die Homepage abonniert werden. Er enthält neben einem<br />

informativen Rückblick auf das vorige Quartal immer auch einen Ausblick auf im nächsten<br />

Quartal stattfindende <strong>und</strong> geplante Aktionen, Veranstaltungen <strong>und</strong> Angebote.<br />

72 BILDUNG <strong>und</strong> BERUF GmbH in Kempten ist ein Bildungsträger vor Ort, der Lehrgänge,<br />

Schulungen <strong>und</strong> Qualifizierungsmaßnahmen für Erwachsene <strong>und</strong> Jugendliche anbietet <strong>und</strong> dabei<br />

u. a. von der Arge, den Sozialämtern <strong>und</strong> den Europäischen Sozialfonds gefördert wird.<br />

119


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

Neben der offenen Werkstattnutzung gibt es ein vielfältiges Kursangebot. Dieses besteht<br />

zum einen aus Ferienprogrammen <strong>und</strong> speziellen Kursen für Kinder, des Weiteren<br />

aus Angeboten in den Werkstattbereichen Holz, Metall, Ton, Filzen, Nähen <strong>und</strong><br />

Polstern, Begegnung (z. B. Tai Chi), Malen, Kochen, Bildhauen, (Speck-)Stein, Fahrrad<br />

(vgl. Kempodium-Programme).<br />

Einen breiten Rahmen nehmen auch die vielseitigen Veranstaltungen <strong>und</strong> Feste ein.<br />

Diese reichen vom jährlichen „Tag der Regionen“ über verschiedene Märkte <strong>und</strong> Basare<br />

(z. B. Garten- <strong>und</strong> Pflanzenmarkt, Flohmärkte, Tauschbasar, Fahrrad- <strong>und</strong> Bücherbasar,<br />

Kunst- <strong>und</strong> Kulturmarkt), Discos, Chor- <strong>und</strong> Musikveranstaltungen sowie Vorträge,<br />

Kulturreihen (z. B. „Pioniere der Region“) <strong>und</strong> Podiumsdiskussionen zu<br />

verschiedensten Themen (Ernährung, Ges<strong>und</strong>heit, nachhaltige Entwicklung…). Außerdem<br />

gibt es diverse separate Veranstaltungen, wie z. B. den Girl´s Day, Talent-<br />

Werkstatt, Literatur-Café (vgl. Homepage/ Chronologie). Zusätzlich besteht sowohl für<br />

Privatpersonen als auch für andere Vereine <strong>und</strong> Initiativen (z. B. Tauschring, Lokale<br />

Agenda 21, BioRing Allgäu) die Möglichkeit, Räume zu mieten.<br />

Neben den vom Haus organisierten Angeboten werden Interessierte auf der Homepage<br />

eingeladen, eigene Ideen zu verwirklichen, sich in einem außergewöhnlichen Projekt<br />

zu engagieren <strong>und</strong> dabei nette Leute kennen zu lernen (vgl. Homepage/ mitMachen).<br />

Das kann in Projektgruppen geschehen (momentan sind aufgeführt „Unser<br />

Garten“, Kochwerkstatt, Discoteam, Kultur, Regionale Ressourcen) oder durch Mitwirken<br />

an einzelnen Aktionen bzw. Veranstaltungen.<br />

Im Jahr 2006 stellte das Kempodium 35 Aktionen <strong>und</strong> Veranstaltungen auf die Beine<br />

(Allgäuer Zeitung, 24.3.07) <strong>und</strong> konnte insgesamt ca. 40 000 BesucherInnen verzeichnen<br />

(Kreisbote Allgäu, 20.12.06).<br />

In unserem Gespräch mit Herrn Slavicek erfuhren wir, dass die Organisation als Verein<br />

formal hierarchisch strukturiert ist. Dennoch sind, wie aus den Zielen hervorgeht, Ideen<br />

<strong>und</strong> Vorschläge engagierter <strong>und</strong> interessierter Menschen innerhalb dieser Struktur<br />

möglich <strong>und</strong> gewollt (mehr dazu in Kap. II 4.2.3).<br />

Die Stelle als Geschäftsführer übt Herr Slavicek seit Februar 2007 aus. Aktuell sind<br />

seine Aufgaben „die Gesamtorganisation des Hauses. Auch die gesamte Öffentlichkeitsarbeit,<br />

Personal-, Kursplanung <strong>und</strong> so weiter“ (MS 49-51).<br />

Insgesamt sind im Kempodium 13 MitarbeiterInnen beschäftigt, sieben davon im<br />

Kempodium selbst <strong>und</strong> weitere sechs im Kaufhaus. Außer der Geschäftsführungs- <strong>und</strong><br />

der Kaufhausleiterstelle sind das vor allem Teilzeit-, Mini- <strong>und</strong> Midi-Stellenanteile. Diese<br />

decken zum Teil den Organisations-, Büro-, Hausmeister-, Verkaufs-, Werkstattleitungs-<br />

<strong>und</strong> Empfangsbereich ab. Hinzu kommen wechselnde Honorarkräfte in den<br />

120


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

Werkstätten. Außerdem gibt es insgesamt neun MitarbeiterInnen, die einer <strong>Arbeit</strong>sgelegenheit<br />

nach § 16 (3) SGB II nachgehen, so genannten 1,50-€-Jobber. Herr Slavicek<br />

berichtete uns, dass diese flexibel eingesetzt werden, z. B. in der Büroorganisation,<br />

beim Möbeltransport, unterstützend bei Werbemaßnahmen oder im Werkstatt- oder<br />

Hausmeisterbereich – je nach Bedarf <strong>und</strong> Fähigkeiten der Menschen. Hier besteht allerdings<br />

aufgr<strong>und</strong> struktureller Bedingungen eine „hohe Fluktuation, [denn] die Leute<br />

werden uns immer nur für zwei Monate oder drei Monate zugewiesen“ (MS 88-89). 73<br />

Aufgr<strong>und</strong> dieser kurzen Dauer können diese MitarbeiterInnen auch nur in Bereichen<br />

eingesetzt werden, in welchen sie nicht aufwändig eingearbeitet werden müssen.<br />

Ehrenamtliche MitarbeiterInnen wirken an verschiedenen Stellen mit, im Verein, u. a.<br />

bei Veranstaltungen „wie letzte Woche ‚Tag der Regionen’ (…) an dem Tag [ist] die <strong>Arbeit</strong><br />

ja fast zu 100% ehrenamtlich.“ (MS 113). Ebenso gibt es „ehrenamtliche Helfer, die<br />

im Bereich von ´ner Kinderbetreuung oder Kinderbastelangeboten mitmachen im Ferienprogramm<br />

<strong>und</strong> Ähnliches“ (MS 117-119).<br />

Ein zentrales Thema, das Verein <strong>und</strong> Geschäftsführer aktuell beschäftigt ist „die Finanzierung<br />

auf mittelfristige Sicht hin. Das ist das, was wichtig ist bei uns gerade <strong>und</strong> sehr<br />

im Vordergr<strong>und</strong> steht (…). Nachdem wir ja etliche Jahre von der anstiftung sozusagen<br />

mitgetragen worden sind, das Defizit getragen worden ist, ist das ja ab heuer nicht<br />

mehr der Fall“ (MS 294-297). Ende 2006 wurde die reguläre finanzielle Förderung<br />

durch die anstiftung beendet.<br />

Die Herausforderung der baldigen finanziellen Eigenständigkeit hat zur Entwicklung<br />

verschiedener Ansätze geführt, z. B. indem versucht wird, die Unterstützung aus der<br />

Region zu stärken – sei es durch vermehrte Sponsoren direkt aus Kempten oder der<br />

Umgebung, durch öffentliche (Projekt-)Gelder oder durch ein verstärktes Bemühen um<br />

mehr Vereins- <strong>und</strong> Fördermitglieder. Dafür sind neben dem Geschäftsführer u. a. die<br />

Vorstandsmitglieder zuständig. Auch die oben schon genannte AG-F<strong>und</strong>raising widmet<br />

sich verstärkt dieser Aufgabe.<br />

Die Eigenfinanzierung von momentan 67% (Allgäuer Zeitung, 20.6.06) kommt durch<br />

eine Mischung verschiedener Quellen zustande: Hausfre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Fördermitglieder,<br />

Spenden, Sponsoring durch verschiedene regional ansässige Firmen sowie öffentliche<br />

Kommunal- <strong>und</strong> Landesmittel (z. B. Allgäuer Überlandwerk, Sozialbau Kempten, ZAK –<br />

Zweckverband für Abfallwirtschaft, Stadt Kempten, BSG Allgäu, Sozial-Wirtschaftswerk<br />

des Landkreises Oberallgäu), außerdem durch Projekt- <strong>und</strong> Stiftungsgelder. Auch Eigeneinnahmen,<br />

wie z. B. Verkaufserlöse des Kaufhauses Allerhand, Mieteinnahmen,<br />

73 Nach Auskunft von Herrn Slavicek beträgt die Dauer der AGH´s in Bayern 1-2 Monate, eine<br />

Verlängerung für weitere 1-2 Monate ist unter Umständen möglich.<br />

121


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

Kurs- <strong>und</strong> Werkstatt-Nutzungsgebühren stellen eine wichtige Finanzierungsquelle dar.<br />

Die Preise bezüglich der Werkstattnutzung sind sozial gestaffelt (SchülerInnen, Studierende,<br />

RentnerInnen, Sozialhilfeempfänger sowie Kinder in der Kinderwerkstatt zahlen<br />

weniger). Sie betragen zwischen 4,50 € <strong>und</strong> 6,60 € pro Werkstattst<strong>und</strong>e. Für alle<br />

Preiskategorien gibt es zusätzlich vergünstigte Zehnerkarten.<br />

Herr Slavicek berichtete uns, auch im Kaufhaus Allerhand gebe es eine Ermäßigung<br />

für finanziell schwächer gestellte Menschen, denn neben der Einnahmeseite sei auch<br />

ein Anliegen, die Preise möglichst sozial verträglich zu gestalten. In dieser Richtung<br />

wäre noch mehr finanzieller Spielraum erstrebenswert, so dass es regelmäßig möglich<br />

wäre, eine Art Fond einzurichten, der Unterstützung ermöglicht, z. B. „wenn jemand<br />

sagt, ich bräuchte dieses oder jenes, will mir das selber machen, aber kann mir das<br />

nicht leisten“ (MS 512-513).<br />

Für die Zukunft wünscht sich Herr Slavicek noch mehr kreative Köpfe, Menschen, die<br />

eigene Initiativen einbringen <strong>und</strong> das Haus kulturell beleben – wie z. B. mit Ausstellungen<br />

oder Veranstaltungen.<br />

4.1.3 InterviewpartnerInnen <strong>und</strong> Interviewsituation<br />

Herr Slavicek ist seit Februar 2007 Geschäftsführer im Kempodium. Er ist durch sein<br />

eigenes Engagement in einem der Kemptener Agenda-21-<strong>Arbeit</strong>skreise aber schon<br />

seit Beginn mit der Idee <strong>und</strong> der Entstehung des Kempodium vertraut. Als die anstiftung<br />

hauptamtliche MitarbeiterInnen für das Projekt suchte, habe er sich damals um<br />

eine Stelle beworben, die Koordination in der Region, Kontaktpflege, Öffentlichkeitsarbeit<br />

<strong>und</strong> Veranstaltungsorganisation beinhaltete. Seine Aufgaben haben sich seitdem<br />

immer wieder gewandelt. Z. B. war er zunächst für den Vorläufer des 2006 eröffneten<br />

Kaufhauses „Allerhand“, die so genannten „brauchBar“ verantwortlich.<br />

Das Gespräch mit Herrn Slavicek fand im ersten Stock etwas abseits in einem ruhigen<br />

Raum statt. Ein Teil der Räume in dieser Etage sind schon an den BioRing Allgäu vermietet,<br />

für einen weiteren Teil werden noch Mieter gesucht. Die Gesprächsatmosphäre<br />

haben wir als sehr konzentriert, aber nicht angespannt erlebt. Auf einige Fragen mussten<br />

aus Zeitgründen verzichtet werden. Herr Slavicek hatte gleich im Anschluss einen<br />

weiteren Termin.<br />

Nach einem kurzen Besuch des Kempodium Kaufhauses Allerhand konnten wir das<br />

gemeinsame Gruppengespräch beginnen. Auf unsere Bitte hin hatte Herr Slavicek im<br />

Vorfeld unseres Besuches von uns erstellte Flyer mit einer Einladung an BesucherInnen<br />

des Kempodium verteilt. Er berichtete uns, es hätten sich zwei Nutzer <strong>und</strong> eine<br />

Nutzerin bereit erklärt, zu kommen.<br />

122


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

Wir beschlossen, das Gespräch im Werkstattbistro zu führen, zum einem, weil es dadurch<br />

für die TeilnehmerInnen einen offenen Charakter bekommen sollte <strong>und</strong> zum anderen,<br />

weil dadurch für uns selber das Geschehen in den Werkstätten durch die Glasfront<br />

aus nächster Nähe erlebbar wurde.<br />

Wir hatten es leider versäumt, Herrn Slavicek zu fragen, was er mit den BesucherInnen<br />

bezüglich des „gegenseitigen Erkennens“ ausgemacht hatte. Aus diesem Gr<strong>und</strong> war<br />

der Gesprächsbeginn ein wenig „zerpflückt“: Frau S stieß ein wenig später hinzu. Herr<br />

M kam erst in der Mitte des Gesprächs dazu. Er verabschiedete sich nach einer Weile<br />

auch wieder, weil er in den Werkstätten aktiv war <strong>und</strong> sein Werkstück weiter bearbeiten<br />

wollte. Insgesamt war die Atmosphäre locker, stellenweise ernst <strong>und</strong> sehr konzentriert,<br />

immer wieder wurde auch herzlich gelacht.<br />

Im Nachhinein ist uns an verschiedenen kleinen Äußerungen aufgefallen, dass unsere<br />

GesprächspartnerInnen wohl mit der Vorannahme in das Gespräch gingen, uns würde<br />

„nur“ der Werkstattbereich interessieren. Dieser Eindruck wurde möglicherweise dadurch<br />

verstärkt, dass wir bei unserer eigenen Vorstellung erwähnten, uns interessiere<br />

u. a. aufgr<strong>und</strong> unserer <strong>handwerkliche</strong>n Ausbildung insbesondere die Verknüpfung zwischen<br />

<strong>handwerkliche</strong>m <strong>Arbeit</strong>en <strong>und</strong> <strong>Soziale</strong>r <strong>Arbeit</strong>. So lässt sich erklären, dass der<br />

Fokus in diesem Gespräch vor allem auf die Werkstätten <strong>und</strong> deren Nutzen gerichtet<br />

war.<br />

Herr G, 52 Jahre, war als erster anwesend. Er erzählte uns, er habe schon in verschiedenen<br />

Berufsfeldern gearbeitet (u. a. <strong>handwerkliche</strong> <strong>und</strong> pflegerische Tätigkeiten). Seit<br />

einem Jahr sei er dabei, sich im <strong>handwerkliche</strong>n Dienstleistungsbereich selbstständig<br />

zu machen. Er bezeichnete sich selbst als Tagelöhner. Im Allgäu ist er seit 1996, ursprünglich<br />

stammt er aus der Nähe von Heilbronn. Die Werkstätten nutzte er in der<br />

Vergangenheit zeitweise sehr intensiv, momentan kommt er nach eigenen Aussagen<br />

im Durchschnitt etwa 14-tägig.<br />

Herrn W, 65 Jahre, waren wir schon beim ersten R<strong>und</strong>gang durch das Kempodium begegnet,<br />

wo er in der Werkstatt mit einem eigenen Werkstück beschäftigt war. Nachdem<br />

Herr Slavicek uns mit ihm bekannt gemacht hatte, bot er uns an, dass wir ihn auch mit<br />

in das Gespräch einbeziehen könnten, denn er sei in verschiedenen „Funktionen“ im<br />

Kempodium tätig: als Fachanleiter im Metallbereich, als scheidender Hausmeister<br />

(Rente), als Ehrenamtlicher <strong>und</strong> als Rentner, der auch für den Eigenbedarf die Werkstätten<br />

nutzt. Er ist seit 27 Jahren selbstständig tätig, „17 Jahre in der ehemaligen DDR<br />

<strong>und</strong> 10 Jahre hier“ (W 129).<br />

Frau S, 50 Jahre, kam etwas später zu dem Gespräch dazu. Sie hat eine Zeit lang die<br />

Holzwerkstatt intensiv für ein bestimmtes Vorhaben genutzt. Zurzeit kommt sie ins<br />

123


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

Kempodium, weil sie dort abends die Büroräume nutzt, um für zwei andere Vereine in<br />

denen sie tätig ist, Büroarbeiten zu erledigen. Sie ist vollzeitbeschäftigt.<br />

Herr M, (Alter unbekannt, schätzungsweise Mitte 30) war voller Tatendrang in der<br />

Werkstatt aktiv. Nach eigenen Aussagen kommt er häufig ins Kempodium <strong>und</strong> macht<br />

dort „alles, was im Haushalt anfällt“ (M 477). Beruflich ist er als Programmierer beschäftigt.<br />

Nachdem wir uns vorgestellt <strong>und</strong> die Einwilligung zum Aufnehmen eingeholt hatten,<br />

schalteten wir das Band an.<br />

Nach dem Ende des Interviews kamen wir noch mit einer Mitarbeiterin ins Gespräch,<br />

die abends auf 400 € Basis den Empfang betreut. Sie hatte zunächst als Putzhilfe im<br />

Kempodium begonnen <strong>und</strong> da sie ganz in der Nähe wohnt, hat es sich ergeben, dass<br />

sie sich abends um das Haus <strong>und</strong> den Empfang kümmert. Sie kann bei Abendvermietungen<br />

zwischendurch nach Hause gehen <strong>und</strong> kommt dann nach Bedarf, um abzuschließen.<br />

4.2 Auswertung der Interviews<br />

In der folgenden Auswertung wird unser Hauptaugenmerk auf den Interviewbeiträgen<br />

liegen. Dabei wurden die Aussagen in Kategorien geordnet. Ähnlich wie in Kap. II 3.3<br />

ist die thematische Strukturierung an die Ordnung der thematischen Blöcke im Interviewleitfaden<br />

nur grob angelehnt. Einige Informationen, hauptsächlich sachliche Aspekte<br />

betreffend, wurden bereits in die Portraits eingeb<strong>und</strong>en. Es wurden ebenfalls Aspekte<br />

mit aufgenommen, die sich aufgr<strong>und</strong> der Offenheit im Forschungsprozess erst<br />

bei der Auswertung als wesentlich herausstellten, z. B. Ehrenamt <strong>und</strong> Engagement.<br />

Verschiedene Kategorien, wie z. B. die Kategorie <strong>Eigenarbeit</strong>, werden in der Gesamtauswertung<br />

(II 4.3) behandelt.<br />

4.2.1 Anliegen, Motive <strong>und</strong> Bedeutung für die NutzerInnen<br />

Anknüpfend an die kurze Vorstellung der TeilnehmerInnen des Gruppeninterviews wird<br />

nun versucht, ein Bild über Anliegen, Motive <strong>und</strong> Bedeutung der Möglichkeiten des<br />

Kempodium für unsere GesprächspartnerInnen zu skizzieren. Dabei liegt der Fokus in<br />

diesem Kapitel primär auf Aussagen der befragten NutzerInnen im Gruppengespräch,<br />

die allesamt in erster Linie NutzerInnen der Holzwerkstatt sind. Herr W, der wie schon<br />

erwähnt, im Kempodium verschiedene Rollen einnimmt, ermöglicht eine „Perspektiven-<br />

Mischung“ aus eigenen Beweggründen <strong>und</strong> einer etwas übergeordneten Sichtweise,<br />

welche, wie die Einschätzungen des Geschäftsführers Herrn Slavicek, vor allem in<br />

124


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

Kap. II 4.2.2 Eingang finden wird.<br />

In der folgenden Darstellung werden die genannten Gesichtspunkte thematisch geordnet.<br />

Dies bietet den Vorteil, für uns zentrale Gesichtspunkte übersichtlich zu machen,<br />

birgt jedoch die Gefahr, das gesamte Zusammenwirken einzelner Faktoren (z. B. in<br />

biografischer Hinsicht) <strong>und</strong> deren gegenseitige Bedingtheit aus dem Blick zu verlieren.<br />

In der Gesamtauswertung wird daher versucht, diesen Bogen wieder zu spannen.<br />

ANLÄSSE UND MOTIVE<br />

Werkstätten als infrastrukturelles Angebot: „Werkstatt, Maschinen <strong>und</strong> Platz“<br />

Ein Anlass für die NutzerInnen betrifft sowohl die individuelle als auch (übergeordnet)<br />

eine strukturelle Ebene: Drei der befragten NutzerInnen äußerten im Gespräch, in den<br />

Werkstätten des Kempodium Möglichkeiten vorzufinden, die zu Hause im privaten Bereich<br />

nicht zur Verfügung stehen. So erzählte Herr M: „Ich hab mich beklagt: zu Hause<br />

kannsch gar nix machen <strong>und</strong> einen Keller, wo ich werkeln darf <strong>und</strong> kann, hab ich nicht.“<br />

(M 502-503). Ähnliches äußerten auch die anderen GesprächspartnerInnen: die Möglichkeiten<br />

der Werkstatt- <strong>und</strong> Maschinennutzung sowie den zur Verfügung stehenden<br />

Platz erlebten sie „hier [als] das Ideale“ (S 108). Ein anderer Besucher äußerte „wenn i<br />

d´Werkstatt net g´habt hätt: ich hätt mir den [Tisch] allein net baue könne“ (G 318).<br />

Die Bedeutung der Werkstücke: „die Sachen, die mir gefallen <strong>und</strong> die i brauch“<br />

In Bezug auf die erstellten Werkstücke nimmt für die befragten NutzerInnen zum einen<br />

deren Passgenauigkeit einen großen Stellenwert ein. Dazu gehört z. B., ein Objekt<br />

herstellen zu können, das dem eigenen Bedarf entspricht, also „genau auf die Ecke<br />

zugeschnitten [ist], wo´s reingehört, (…) also dass ich alles unterbring, was ich will.“ (S<br />

102). Mit der Erfüllung eines solchen Bedarfes kann die Tätigkeit in den Werkstätten<br />

auch beendet sein: „aktuell mach i nix mehr hier. Ich muss ja sagen, dass mei Wohnung<br />

voll is“ (S 122). In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, das Design<br />

der Werkstücke den eigenen Vorstellungen entsprechend gestalten zu können, z. B.<br />

einen Bezug für die Lautsprecherboxen einer Fre<strong>und</strong>in auszuwählen, der „genau zum<br />

Ton ihrer Einrichtung im Wohnzimmer“ (M 520) passt.<br />

Ein weiterer wichtiger Aspekt zeigt sich damit in der Einzigartigkeit der Werkstücke, also<br />

„dass net alles so gleich aussieht“ (G 186), etwas Individuelles, ganz besonderes<br />

erschaffen zu haben, von dem man sagen kann: „so was hat niemand!“ (M 512).<br />

Ausgleich: „Umschalten!“<br />

Für Herrn M liegt ein Schwerpunkt (neben den Werkstücken) in der Tätigkeit selbst:<br />

125


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

„Wenn man dann die Bretter <strong>und</strong> den Lack <strong>und</strong> die Schleifmaschine in der Hand hat,<br />

dann denkt man, man muss konzentriert arbeiten, man muss sich irgendwie nach den<br />

Zeichnungen richten <strong>und</strong> (…) man wird völlig abgelenkt. Und das ist der notwendige<br />

Ausgleich für mich“ (M 494-498). Diesen Ausgleich verknüpft er im Zusammenhang mit<br />

seiner beruflichen Tätigkeit als Programmierer: „das war wirklich so als… kann man<br />

sagen als Therapie. Ich hab vor fünf Jahren ein Projekt gehabt, wo ich so eingeb<strong>und</strong>en<br />

war, dass ich nachts schon davon träumte. (…) irgendwann hab ich gesagt: ich muss<br />

irgendwas am Abend machen, um einfach umzuschalten. Weil egal, wenn ich spazieren<br />

gegangen bin, hab ich weiter an die <strong>Arbeit</strong> gedacht. Und dann hab ich gesagt: hier,<br />

jetzt mach ich was.“ (M 489-494). Wichtig war ihm dabei die Präzision des Umschaltens:<br />

Der Ausgleich erfolgt für ihn nicht durch Nichts-Tun oder Entspannung, sondern<br />

über eine Konzentration auf eine andere Tätigkeit in Verbindung mit einer persönlichen<br />

Leidenschaft. Er setzt die beiden <strong>Arbeit</strong>sbereiche folgendermaßen in Beziehung: „Ich<br />

bin gerne Handwerker, weil ich beruflich Programmierer bin“ (M 477).<br />

Die Art zu arbeiten: „Da gibt´s keinen Erfolgsdruck, keinen Termindruck“<br />

Die Art des <strong>Arbeit</strong>ens in den Werkstätten beschrieben die BesucherInnen sehr eindrücklich.<br />

Auf die Frage, was für sie das <strong>Arbeit</strong>en von der <strong>Erwerbsarbeit</strong> unterscheidet,<br />

wurde dabei zum einen der Lustaspekt benannt: „Das macht man, wenn man gerade<br />

Lust dazu hat“ (M 626). Dieser Lustaspekt wurde mehrfach durch den Begriff Hobby<br />

präzisiert: „Andre Leut gehen zum Skifahren <strong>und</strong> ham sonst´n Hobby <strong>und</strong> ich bin halt in<br />

der Zeit, wo ich das gemacht habe, hier reingegangen, <strong>und</strong> das war wie´n Hobby“ (S<br />

205-206). Dabei wird deutlich, dass die Entscheidung, in den Werkstätten zu arbeiten,<br />

von den Befragten sehr bewusst getroffen wurde, als eine Alternative unter möglichen<br />

anderen. Das Wechseln in eine andere Welt, die Hobbywelt, ist damit verknüpft,<br />

„gr<strong>und</strong>sätzlich auch was ganz andres [zu tun], als man auch beruflich macht“ (S 547-<br />

548). Dieses gr<strong>und</strong>sätzlich Andere weist teilweise aber durchaus Bezüge zu nicht gelebten<br />

oder realisierten Ideen bzw. Plänen auf: Frau S z. B. berichtete, Schreinern sei<br />

„mal ein Berufswunsch“ (S 119) von ihr gewesen.<br />

Ein solches <strong>Arbeit</strong>en ist gleichzeitig auch losgelöst von Belastungen, die im <strong>Erwerbsarbeit</strong>sleben<br />

bestehen: „Da gibt´s keinen Erfolgsdruck, keinen Termindruck“ (M 626).<br />

Dabei spielen sowohl die Tätigkeit selbst als auch die eigene Zeit eine bedeutende<br />

Rolle. Das <strong>Arbeit</strong>en in den Werkstätten ist für alle Befragte vom „sich Zeit lassen können“<br />

(S 198) gekennzeichnet, während des Tätigseins „keine Hetze“ (S 530) zu haben<br />

<strong>und</strong> dem eigenen Rhythmus nachgehen zu können.<br />

Vor allem Herr G betonte in diesem Zusammenhang jedoch mehrfach, dass dies auch<br />

eine finanzielle Sache sei, denn: „Die Uhr läuft“ (G 70). Das Sich-Zeit-lassen ist also<br />

126


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

ein gewisser Luxus, für den man sich bewusst entscheidet <strong>und</strong> für den die Mittel vorhanden<br />

sein müssen (siehe dazu auch Kap. II 4.2.4).<br />

Die <strong>Arbeit</strong>sweise variiert <strong>und</strong> ist von den Personen eigens gestaltbar. Für Herrn G z. B.<br />

ist wichtig, dass er während des <strong>Arbeit</strong>sprozesses sich Dinge entwickeln lassen kann –<br />

er betonte: „ich schaff gr<strong>und</strong>sätzlich ohne Zeichnung. Wie des im Kopf is, so… vor meinem<br />

geistigen Auge, so wird das <strong>und</strong> dann kann ich [das] während dem <strong>Arbeit</strong>en noch<br />

weiterentwickeln oder noch verbessern oder umändern“ (G 47-50). Im <strong>Arbeit</strong>sverlauf<br />

haben somit Kreativität, Flexibilität <strong>und</strong> Eigensinn ihren Platz. In diesem Kontext ist<br />

auch der Aspekt der Selbstbestimmung des <strong>Arbeit</strong>sprozesses zu nennen: Selbst entscheiden<br />

zu können, wie das Objekt in Art <strong>und</strong> Beschaffenheit gestaltet wird, selbst<br />

steuern zu können: „genau so wird das“ (G, 698).<br />

WIRKUNGEN<br />

Verb<strong>und</strong>enheit mit den Objekten, Wertschätzung <strong>und</strong> Stolz: „des is richtig stimmig!“<br />

Alle Interviewten äußerten eine besondere Verb<strong>und</strong>enheit mit den hergestellten<br />

Werkstücken. Herr G formulierte dies so: „Ich bin da jetzt in mein Bett verliebt, i möchte´s<br />

nimmer hergeben. Des is (…) richtig stimmig!“ (G 681-691). Die anderen äußerten<br />

sich ähnlich: dies sei „der größte Gewinn!“ (M 692) <strong>und</strong> „das, was das Kempodium ausmacht“<br />

(W 697).<br />

Mehrmals wurde von den Befragten geäußert, dass der Stolz über das selbst erschaffene<br />

Objekt sowohl für sie selbst als auch für beschenkte Menschen einen besonderen<br />

Stellenwert einnimmt <strong>und</strong> eine außergewöhnliche Verbindung herstellt: „Aber es ist<br />

dann auch schön, wenn man dann so was geschafft hat! Also…das Möbel, was ich<br />

meiner Enkelin gemacht hab, des wird immer noch sehr geschätzt. Da is sie dann ganz<br />

stolz drauf: des is von meiner Oma!“ (S 338-340). Herr M betonte mehrmals: „die<br />

[Fre<strong>und</strong>in] war so mächtig stolz (…) die ist immer noch mächtig stolz“ (M 510-521). So<br />

findet Wertschätzung <strong>und</strong> Anerkennung auch von dritten Personen statt.<br />

Bewältigung <strong>und</strong> Selbstvertrauen „dass man halt auch sieht: man kann´s <strong>und</strong> man<br />

bringt´s fertig“<br />

Frau S beschreibt sehr anschaulich den Prozess der Herausforderung, der mit ihrer<br />

<strong>Arbeit</strong> in der Holzwerkstatt verb<strong>und</strong>en war: „wenn man das bespricht <strong>und</strong> auf einmal,<br />

wenn man sieht: mein Gott, was sind das für ein Haufen <strong>Arbeit</strong>sschritte, was muss da<br />

alles gemacht werden, was muss man alles bedenken - das weiß man ja alles als Laie<br />

vorher gar nicht. Man nimmt sich da was vor, weil das schön ausschaut <strong>und</strong> weiß die<br />

127


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

Maße <strong>und</strong> so <strong>und</strong> dann geht’s aber dran, des zu machen, gell. Und i hab ja au vorher,<br />

also in der Größenordnung eben au keine Erfahrung gehabt damit“ (S 534-539). Die<br />

Herstellung ihres Werkstückes ist für sie mit einem Zugewinn, einer Erweiterung ihrer<br />

Fähigkeiten verb<strong>und</strong>en. Als persönlich wichtiges Erlebnis beschreibt sie dabei den Erfolg<br />

des Bewältigens: „dass ich g´sehn hab, ich kann des (…) man kann´s <strong>und</strong> man<br />

bringt´s fertig“ (S 527-533). Dabei ist für sie zentral: „Dieses selber machen ist einfach<br />

auch ganz ausschlaggebend <strong>und</strong> das ist auch einfach etwas sehr Befriedigendes“ (S<br />

542-543).<br />

Herr W veranschaulicht am Beispiel einer Seniorengruppe im Kempodium, wie sich<br />

das Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten durch praktisches Tun bei den Menschen<br />

erweitert hat: „Am ersten Tag war das sehr zurückhaltend von den Leuten, weil<br />

sie begrenzte Möglichkeiten hatten <strong>und</strong> so. Am zweiten <strong>und</strong> dritten Tag war das recht<br />

aufgelöst, war das locker. Die sind mit den Bänken nach Hause: die waren superbegeistert“<br />

(W 365-367).<br />

Innerhalb eines solchen Prozesses spielt dabei für einige der Befragten die Unterstützung<br />

sowie die gesamte Atmosphäre eine entscheidende Rolle:<br />

DER RAHMEN<br />

Unterstützung: „immer eine fachlich helfende Hand zur Seite“<br />

Unterstützung durch die FachberaterInnen als Teil des institutionellen Rahmens ist<br />

ebenso erklärtes Motiv der BesucherInnen; teilweise primär, teilweise sek<strong>und</strong>är. Die<br />

Art der Anleitung ist dabei abhängig von dem mitgebrachten persönlichen Kenntnisstand.<br />

Insofern wird sie unterschiedlich intensiv genutzt <strong>und</strong> bekommt für die Personen<br />

dementsprechend eine anders gewichtete Bedeutung.<br />

Ein Besucher erwähnte sie nicht explizit. Er sagt aber auch über sich selber: „basteln tu<br />

ich eigentlich seit meinem zehnten Lebensjahr, war Schiffsmodellbauer als Kind… Das<br />

heißt, ich kann mit allen Maschinen umgehen“ (M 479-481).<br />

Unterstützung durch die anwesenden FachberaterInnen im Sinne von Rückhalt zu erleben,<br />

wurde vor allem von zwei GesprächspartnerInnen hervorgehoben. Aus der Warte<br />

von Frau S ermöglicht diese ein angstfreies <strong>Arbeit</strong>en <strong>und</strong> gibt Sicherheit, denn „hier<br />

isch immer ´n Meister da, der einem dann erstens mal hilft bei der Planung, bei den<br />

Maßen <strong>und</strong> dann natürlich auch bei der Verarbeitung. Der einem sagt, was man Schritt<br />

für Schritt machen muss. Also man kann praktisch nichts kaputt machen. Es geht nix<br />

daneben.“ (S 106-114). Damit spricht sie eine durch die Beratung vermittelte Sicherheit<br />

an, zum einen in Bezug auf das Gelingen des Werkstücks, zum anderen in Bezug auf<br />

das Herantrauen. Sie habe keine Hemmschwelle empf<strong>und</strong>en, denn: „Ich hab ja gewusst,<br />

dass Fachberater da sind <strong>und</strong> hab dann gedacht: da verlass i mich jetzt auf<br />

128


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

die… (Lachen) “ (S 401-402). Besonders schätzt sie auch, dass die FachanleiterInnen<br />

sich Zeit nehmen. Für Herrn W, zum Teil selbst als Fachanleiter tätig, lässt sich die Unterstützung<br />

aus seiner Sicht so kennzeichnen: „wenn man sich nicht befähigt fühlt, [hat<br />

man] immer eine fachlich helfende Hand zur Seite hat. Das ist wichtig (W 143-144).<br />

Auch für Herrn G ist die Beratung wichtig, allerdings weniger in Bezug auf eine „helfende<br />

Hand im Hintergr<strong>und</strong>“, sondern im Hinblick auf die Materialauswahl. Durch die qualifizierte<br />

Fachberatung können die eigenen Bedürfnisse auf die Materialauswahl abgestimmt<br />

<strong>und</strong> optimiert werden: „Was ist Ihnen wichtig? (…) es gibt Schweine- <strong>und</strong> es<br />

gibt Rinderfilet (…) wollen se bisschen was Schickes oder wollen se Standard.“ (G<br />

921-932). Damit ist ein Punkt angesprochen, der sich auf die Qualitätssteigerung des<br />

Werkstückes bezieht.<br />

Laut der gewonnenen Eindrücke ist die Beratung aus unserer Sicht so konzipiert, dass<br />

sie an den unterschiedlichen Bedürfnissen der Anwesenden anknüpfen kann.<br />

Atmosphäre <strong>und</strong> Wohlfühlen: „<strong>und</strong> einfach halt das Drumherum auch“<br />

Sehr wichtig für das Gesamterleben ist neben der Unterstützung vor allem für Frau S<br />

„die Atmosphäre hier einfach auch (…): Einfach zum Wohlfühlen!“ (S 199-202). Sie beschreibt<br />

das Kempodium als „ein[en] Ort, wo man auch wirklich gern hingegangen ist<br />

<strong>und</strong> wo also auch nicht nur das <strong>Arbeit</strong>en im Vordergr<strong>und</strong> stand“, sondern „zwischendurch<br />

macht man mal´ne Pause, setzt sich hier ins Café…“ (S 202-203). Dabei betont<br />

sie mehrmals: „des andre Drumherum, des war au schön!“ (S 207-208). Diese angenehme<br />

Atmosphäre ist ausschlaggebend dafür, dass sie trotz ihres beendeten Vorhabens<br />

in den Werkstätten, die Räumlichkeiten des Kempodium für Feste <strong>und</strong> Geburtstage<br />

weiter nutzt. Sie schätzt dabei: „Erstens einmal, der große Raum <strong>und</strong> alles<br />

drum herum <strong>und</strong> dann alles sehr viel preiswerter als irgendein Service dann <strong>und</strong> man<br />

ist trotzdem für sich – als ob man ein großes Wohnzimmer hätte. Also, die Sachen, die<br />

jetzt so zusätzlich drum herum sind, find ich auch gut. (…) Wenn ´ne größere Gruppe<br />

ist, ein größerer Kreis, dann geht man halt hier her“ (S 252-256 <strong>und</strong> 387).<br />

Herr W stimmt ihr zu: auch er erlebt die Atmosphäre als „super!“ (W 200). Er fühlt sich<br />

im Kempodium sehr wohl. Für ihn ist das bestimmt durch „die Art hier, etwas selbst zu<br />

tun, sich selbst zu helfen (…), etwas dazuzulernen“ (W 134). Besonders wichtig ist für<br />

ihn dabei, dass im Kempodium „so´n bisschen das <strong>Soziale</strong> mit dem Tätigen verknüpft<br />

wird“ (W 774). Nach Ansicht der Befragten wird die Atmosphäre auch von anderen BesucherInnen<br />

als etwas Besonderes eingeschätzt.<br />

Herr G artikulierte eine etwas andere Komponente bezüglich der Atmosphäre im<br />

Kempodium <strong>und</strong> zwar im Zusammenhang mit seiner Lebensplanung. An mehreren<br />

Stellen im Gespräch deutete er eine Vision vom Wohnen im Alter an. Dabei plant er,<br />

129


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

eine Immobilie mit anderen Menschen in Eigenregie selbst umzubauen, zu etwas „Besonderem“<br />

(„dann wird des´n Projekt: so was gibt’s noch net!“, G 76). Dies deutet darauf<br />

hin, dass das Kempodium ein Ort für ihn ist, an dem er Menschen sucht, die möglicherweise<br />

ähnliche „ausgefallene“ Ideen haben, Gleichgesinnte, die er für ein solches<br />

Vorhaben begeistern kann: „<strong>und</strong> deshalb such ich erst die Leute, weil: die Chemie<br />

muss stimmen“ (G 79). Die Atmosphäre im Kempodium wird also auch als Treffpunkt<br />

für Menschen erlebt, die außergewöhnliche Vorhaben denken.<br />

Rahmenbedingungen<br />

Die Öffnungszeiten werden unterschiedlich bewertet: „Und die Öffnungszeiten gefallen<br />

mir auch. Die sind auf Berufstätige auch zugeschnitten“ (S 256). Dem <strong>Arbeit</strong>sstil von<br />

Herrn G würden teilweise andere Zeiten entsprechen, Übereinstimmung herrschte aber<br />

darin, dass man diesbezüglich einen Mittelweg gehen muss.<br />

4.2.2 Ziele, Selbstverständnis <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>sweisen<br />

Im folgenden Kapitel wird versucht, Aussagen zu bündeln, die vor allem aus Expertensicht<br />

über das Kempodium getroffen wurden – dazu gehören in erster Linie Aussagen<br />

des Geschäftsführers Herrn Slavicek, aber auch Einschätzungen des Fachanleiters<br />

Herrn W. Uns interessierte dabei insbesondere, welche Ziele, neben den auf der Homepage<br />

<strong>und</strong> in anderen Dokumenten formulierten, aktuell einen besonderen Stellenwert<br />

im Kempodium haben <strong>und</strong> wie diese umgesetzt werden.<br />

Ziele: „selbst aktiv werden“<br />

Als wichtigstes übergeordnetes Ziel beschreibt Herr Slavicek das „selbst aktiv werden,<br />

selbst Hand anzulegen, die Leute in ihren Talenten oder Möglichkeiten zu fördern (…)<br />

<strong>und</strong> das ist ja jetzt nicht nur unbedingt auf <strong>handwerkliche</strong> Tätigkeiten, sondern eben bis<br />

hin zum Thema Ernährung oder Kulturangebot gedacht“ (MS 334-337).<br />

Der Betrieb der Werkstätten sowie das Kursangebot <strong>und</strong> unzählige Projekte mit Kindern<br />

<strong>und</strong> Jugendlichen seien diesen Zielen gemäß konzipiert <strong>und</strong> ausgerichtet. Dabei<br />

wird stets angestrebt, dieses Angebot so interessant <strong>und</strong> attraktiv wie möglich zu gestalten.<br />

Die MitarbeiterInnen des Kempodium sind laut Herrn W stets bemüht, positive wie negative<br />

Erfahrungen <strong>und</strong> Einschätzungen der BesucherInnen im Hinblick auf eine Verbesserung<br />

des Angebots mit einzubeziehen: „Deshalb legt man eben sehr viel Wert<br />

darauf, zu erfahren, was kommt bei den Leuten an oder was kommt nicht an. Was<br />

kann man verändern“ (W 611-617). In der Vergangenheit gab es dafür einen Kummerkasten,<br />

der sich aber nicht sehr bewährt habe. Aktuell wird versucht, mittels verteilter<br />

130


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

„Nutzer-Karten“ ein Feedback zu bekommen. Allerdings würden diese nicht allzu häufig<br />

ausgefüllt. Qualitätssicherung ist somit Bestandteil des Alltagsablaufes, es klingt aber<br />

heraus, dass die Bereitschaft zur Rückmeldung seitens der BesucherInnen stark variiert.<br />

Herr Slavicek berichtete, einen Handlungsleitfaden für die MitarbeiterInnen oder Ähnliches<br />

gäbe es nicht, als Leitlinie im Haus lebe aber der Gr<strong>und</strong>satz, dass „Leute, die hier<br />

was tun, (…) lernen oder erkennen können, was sie alles können“ (MS 372). Gleichzeitig<br />

sollen sie „das sozusagen aber auch von Gr<strong>und</strong> auf machen“ (MS 374). Dieser<br />

Gr<strong>und</strong>satz schlägt sich u. a. auch in der Kursplanung nieder. Herr Slavicek berichtete<br />

von einem Beispiel, das die Umsetzung der Ziele auf praktischer Ebene verdeutlicht:<br />

„Also was ich versuch zu vermeiden, dass es z. B. Kurse gibt, wo man ne Art Bausatz<br />

vorlegt <strong>und</strong> die Leute dann nur noch nach Zahlen irgendwas zusammensetzen <strong>und</strong><br />

dann links <strong>und</strong> rechts ne Schraube eindrehen“ (MS 374-377). Darüber gebe es immer<br />

wieder Diskussionen – z. B. mit KursleiterInnen, die als Honorarkräfte neu einsteigen.<br />

Im aktuellen Kursangebot gebe es einen Kurs „Bau von Vogelhäuschen“. Herr Slavicek<br />

sei davon ausgegangen, der Anleiter fertige das „vom Brett bis zum fertigen Teil“ (MS<br />

380) mit den TeilnehmerInnen, dieser jedoch hatte geplant, die Werkstoffe vorab schon<br />

so vorzubereiten <strong>und</strong> zuzuschneiden, dass der Kurs mit 12 TeilnehmerInnen hätte<br />

stattfinden können. Dies sei aber laut Herrn Slavicek gerade „nicht Sinn <strong>und</strong> Zweck des<br />

Hauses“ (MS 389). Die Menschen sollten „alles ein bisschen mitkriegen <strong>und</strong> ihre Fähigkeiten<br />

ausprobieren können, also wirklich auch zu sägen <strong>und</strong> (…) nicht nur einen<br />

Bausatz kriegen“ (MS 383-385). Das habe allerdings zur Konsequenz gehabt, dass der<br />

Kurs nur mit fünf Personen geplant wurde „weil die ja dann auch alle an die Säge müssen<br />

<strong>und</strong> nicht quasi des schon zugesägt (…) auf die Werkbank gelegt bekommen.“<br />

(MS 393-394).<br />

An solchen Punkten zeigt sich das Spannungsfeld zwischen ideellen <strong>und</strong> finanziellen<br />

Zielen. Denn als aktuell vordergründigstes Ziel im Kempodium bezeichnet Herr Slavicek,<br />

wie schon im Portrait formuliert, die Finanzierung auf mittelfristige Sicht hin: Das<br />

„steht momentan sehr stark im Vordergr<strong>und</strong> gegenüber anderen, vielleicht auch gegenüber<br />

den ideellen Zielen“ (MS 300-301). Die Herausforderung, den finanziellen Zielen<br />

gerecht zu werden, welche die Basis für die übergeordneten Ziele bilden, nimmt<br />

viel Raum in Anspruch. Diese beiden Ziele konkurrieren häufig miteinander <strong>und</strong> erfordern<br />

ein Ringen – wie an oben beschriebenem Beispiel deutlich wird, denn je kleiner<br />

die Anzahl der KursteilnehmerInnen, desto weniger finanzieller Spielraum ergibt sich<br />

für das Haus. Herr Slavicek bezeichnet das als „immer ne gewisse Gratwanderung“<br />

(MS 398). Diese wirke sich auch auf den sozialen Aspekt im Kempodium aus. Denn ein<br />

weiteres Ziel ist – wie auch im Leitbild formuliert, „dass es jeder machen könnte oder<br />

131


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

(…) nutzen kann“ (MS 403). Trotz diesem Anliegen müssen Preise verlangt werden<br />

„die das Haus tragen, so dass auch da immer ein Spagat (…) zwischen sozialen Preisen<br />

oder Preisen für alle sind <strong>und</strong> dem, was wir eigentlich brauchen, um das Haus zu<br />

finanzieren“ (MS 404-407).<br />

Dieser „soziale Anspruch“ (MS 403) ist neben der „Nachhaltigkeit, Wiedernutzung von<br />

Gegenständen“ (MS 422) auch ein Hintergr<strong>und</strong> des Kaufhauses Allerhand. Menschen<br />

mit wenig finanziellen Mitteln haben dort die Möglichkeit, sich günstig einzurichten.<br />

Herr W thematisierte im Gruppengespräch ebenso das Bemühen <strong>und</strong> gleichzeitig die<br />

Schwierigkeit im Kempodium, finanziell „den Leuten ´n bisschen entgegenzukommen“<br />

(W 842) – z. B. mit den Sondertarifen bei der Werkstattnutzung. „Also man nimmt da<br />

auch Rücksicht, geht auf die Leute ein, aber irgendwie sind da gewisse Grenzen gesetzt.“<br />

(W 870-871). Seiner Einschätzung nach hat der finanzielle Druck der Einrichtung<br />

zwangsläufig Vorrang: „Ich glaube manchmal, der Gedanke wäre schon da, den<br />

Leuten in der Form zu helfen, dass man sagt, sie können das hier umsonst benutzen,<br />

aber es geht nicht“ (W 844-849).<br />

<strong>Soziale</strong> Gesichtspunkte bedeuten im Kempodium aber nicht nur, Angebote für „Bedürftige“<br />

zu schaffen, sondern auch „gemeinsames Tun oder sich gegenseitig auch unterstützen,<br />

wenn man jetzt in Projekten arbeitet, die in der Werkstatt stattfinden“ (MS 427-<br />

428). Ebenso „wenn wir uns mit unserer Werkstatt anbieten für Maßnahmen, die jetzt<br />

Berufsfördermaßnahmen sind oder Berufsvorbereitungsmaßnahmen“ (MS 429-430).<br />

Dazu zählen sowohl die Schulprojekte als auch Projekte, die im Rahmen <strong>Soziale</strong> Stadt<br />

im Stadtteil Thingers ausgeführt wurden.<br />

Eine weitere Zielrichtung wird an den durchgeführten Qualifizierungsmaßnahmen 74 für<br />

Menschen ohne <strong>Erwerbsarbeit</strong> deutlich. Herr W berichtete: „Das sind junge Leute. Das<br />

sind aber auch Spätaussiedler“ (W 946). Den Menschen sollen dort Gr<strong>und</strong>kenntnisse<br />

vermittelt werden, „die ihnen vielleicht später bei der Berufsfindung oder bei Tätigkeiten,<br />

die sie ausüben, dann zugute kommen“. (W 942-944). Auf diesem Weg erworbene<br />

Kenntnisse können laut Herrn W dazu beitragen, „Leute zu fördern <strong>und</strong> irgendwo in <strong>Arbeit</strong><br />

zu vermitteln. (…) sie (…) können zumindest so´n kleines Zertifikat vorlegen, dann<br />

spricht das ja schon für sie, <strong>und</strong> die Wahrscheinlichkeit, dass sie ´ne Tätigkeit bekom-<br />

74 Jene Qualifizierungsmaßnahmen (vgl. auch Portrait) sind laut Herrn W auf eine Dauer von 10<br />

Wochen ausgelegt, innerhalb derer die TeilnehmerInnen Gr<strong>und</strong>fertigkeiten im Holz-, Metall- <strong>und</strong><br />

Elektrobereich erlangen können. Durchgeführt werden sie von FachanleiterInnen des Kempodium.<br />

Zusätzlich gibt es aber auch so genannten Berufsfördermaßnahmen, die laut Herrn Slavicek<br />

von den Bildungsträgern selbst durchgeführt werden – diese nutzen die Infrastruktur des<br />

Kempodium.<br />

132


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

men, ist ja dann größer“ (W 964-965). Zusätzlich würden solche Maßnahmen ja auch<br />

die Sprachfähigkeiten fördern.<br />

Selbstverständnis: „wo das <strong>Soziale</strong> mit dem Tätigen verknüpft wird“<br />

Herr W hat das Selbstverständnis des Kempodium an verschiedenen Stellen im Gespräch<br />

formuliert. Aus seiner Sicht ist das Kempodium „eine Werkstatt, wo man selber<br />

tun kann <strong>und</strong> wenn man sich nicht befähigt fühlt, immer eine fachlich helfende Hand<br />

zur Seite hat. Das ist wichtig. Und wo man auch seine eigenen Fähigkeiten, seinen eigenen<br />

Horizont erweitern kann“ (W 143-146). Hiermit spricht er Entwicklungs-, Bewältigungs-<br />

<strong>und</strong> Bildungsaspekte auf der persönlichen Ebene an.<br />

Diese finden aus seiner Sicht z. B. in der <strong>Arbeit</strong> mit Kindern statt (Kinderwerkstatt <strong>und</strong><br />

-geburtstage sowie Schulprojekte). Frau S berichtete, wie beeindruckt sie manchmal<br />

war, wenn sie die <strong>Arbeit</strong> in der Kinderwerkstatt beobachtet habe: „Erstens, was sie<br />

gemacht haben <strong>und</strong> dann, wie die schon gelernt haben mit der Säge umzugehen <strong>und</strong><br />

alles, mit der Bandsäge <strong>und</strong> allem, mit den kleineren Sachen oder mit der Handsäge<br />

ham sie auch schon was g´macht, also ich find des für die Kinder ganz toll, dass sie<br />

auf die Weise da mal erstens selber was machen <strong>und</strong> sich des dann zutrauen <strong>und</strong><br />

dann vielleicht einmal als Hobby machen (…) oder zumindest eine Fertigkeit, <strong>handwerkliche</strong><br />

Fertigkeit entwickeln. Des is irgendwie sinnvoll“ (S 232-238). Neben der Erweiterung<br />

von Fertigkeiten kommen aber laut Herrn W auch Aspekte zum Tragen, die<br />

wir als soziales Lernen übersetzen: Die Kinder können in der gemeinschaftlichen Projektarbeit<br />

lernen „aufeinander Rücksicht zu nehmen. (…) Und es ist schön, wenn Kinder<br />

das üben. (…) Das ist auch erzieherisch ´ne sehr gute Sache, wenn die Kinder das<br />

lernen. Das wird ja hier auch vermittelt“ (W 243-248).<br />

Die gemeinschaftliche Komponente im Kempodium beschreibt er folgendermaßen:<br />

„Aber es ist ja auch nicht nur ´ne Werkstatt des Tuns, des Machens, sondern auch ´ne<br />

Werkstatt oder sagen wir mal ´ne Stätte des Zusammenfindens. Mit Festlichkeiten, mit<br />

Vermietungen…“ (W 209-211).<br />

Für Herrn W liegt ein weiterer Fokus auf dem „Selbst basteln. Selbst etwas tun. Nicht<br />

hingehen zum Handel, kaufen, sondern selbst etwas tun“ (W 188-189). Damit spricht er<br />

eine ideelle Seite an, nämlich dass das Kempodium eine bewusste Alternative zum<br />

Konsum bieten möchte.<br />

<strong>Arbeit</strong>sweise: „probier’s mal“<br />

Die Ziele <strong>und</strong> das Selbstverständnis des Kempodium spiegeln sich in der uns geschilderten<br />

<strong>Arbeit</strong>sweise der FachanleiterInnen besonders deutlich: es wird Wert darauf ge-<br />

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Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

legt, die Menschen zum selbst Tun zu ermutigen <strong>und</strong> anzuregen. Herr Slavicek schilderte:<br />

„(…) viele meinen ja auch, wir machen Auftragsarbeiten <strong>und</strong> kommen dann <strong>und</strong><br />

sagen ‚ich bräuchte dieses Schränkchen’ <strong>und</strong> dann sagen wir ‚ja nee, muss man natürlich<br />

hier bei uns selber machen, also wir nehmen da keine Aufträge entgegen.’ Und die<br />

dann sagen ‚ja, aber ich trau mich nicht, diese Maschine anzufassen <strong>und</strong> ich hab zwei<br />

linke Hände’ oder so was, des kommt relativ häufig. Und wenn man die Leute aber sozusagen<br />

überzeugen kann ‚probier´s mal, sprich mal mit unserem Fachberater’ (…) s’<br />

gibt Menschen, die dann ja wirklich die halbe Wohnungseinrichtung gemacht haben,<br />

die also wirklich (…) da das Talent zum Schreinern entdeckt haben oder einfach sich<br />

da ihrer Fähigkeiten (…)bewusst geworden sind: ‚Ich kann was selber machen, selbst<br />

auf die Beine stellen.’ Also das ist, denk ich, schon das, was funktioniert“ (MS 550-<br />

562).<br />

Diese Einschätzung zur <strong>Arbeit</strong>sweise ist im Kempodium verb<strong>und</strong>en mit dem Begriff der<br />

<strong>Eigenarbeit</strong>. Martin Slavicek umschreibt ihn mit „selber aktiv werden, selber Hand anlegen,<br />

eigene Talente entdecken“ (MS 540). Auf die Frage, welche Wirkungen durch<br />

<strong>Eigenarbeit</strong> bei den Menschen zu beobachten sind, antwortet er: „Dass sie wirklich –<br />

ja, auch wenn sie’s nicht vorher hatten, dass sie ein gewisses Selbstvertrauen, oder<br />

Zutrauen bekommen.“ (MS 547-549). Dies sei z. B. bei Jugendlichen, die im Rahmen<br />

von Schulprojekten in den Werkstätten tätig seien, häufig zu beobachten. Immer wieder<br />

käme es vor, dass einzelne Jugendliche „merken, nur das Lernen <strong>und</strong> die Theorie<br />

ist nicht alles oder die halt in der Klasse schlecht sind, schlechte Noten haben, (…)<br />

dann aber plötzlich vor den anderen glänzen können, weil sie einfach ein Verständnis<br />

für Holz haben <strong>und</strong> das beste Werkstück herstellen können, weil einfach im praktischen<br />

Tun ihre Talente liegen“ (MS, 562-568). Für ihn ist das eine schöne Bestätigung,<br />

dass „durch das Tun, das Selbermachen irgendwie ein Mensch wachsen oder reifen“<br />

(MS 570) kann.<br />

Dabei entstand für uns der Eindruck, dass die Beratung neben der Ermutigung freilassend,<br />

also nicht bevorm<strong>und</strong>end ist. Die BeraterInnen sind im Hintergr<strong>und</strong> anwesend,<br />

geben bei Bedarf Tipps, wie das Werkstück aus ihrer Sicht am besten gelingt, respektieren<br />

aber dennoch den Eigensinn der NutzerInnen.<br />

<strong>Arbeit</strong>sweise <strong>und</strong> Gender: „Also offensichtlich ist es nicht unbedingt Männerdomäne“<br />

Von Herrn M in die R<strong>und</strong>e gebracht wurde der Genderaspekt in den Kempodium-<br />

Werkstätten, insbesondere bezogen auf die Holzwerkstatt: „…was mich hier fasziniert<br />

hat, dass es erstaunlich viele Frauen gibt. Die reinkommen <strong>und</strong> so voller Elan da irgendwo<br />

an der Kreissäge da was sägen <strong>und</strong> was basteln. Also das war für mich persönlich<br />

´ne Überraschung. (…) (lacht) also das ist bemerkenswert! Das hat mich sehr<br />

134


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

positiv überrascht“ (M 550-555). Er folgert: „Also offensichtlich ist es nicht unbedingt<br />

Männerdomäne, da irgendwo an der Kreissäge sich einen Schrank oder Tisch oder ein<br />

Nachtkästchen zusammenzubauen“ (M 558-560). Ausgeglichen sei die Verteilung<br />

nicht, aber unerwartet hoch. Auf die Frage, worauf die anderen GesprächspartnerInnen<br />

zurückführen, dass in den Werkstätten mehr Frauen auftauchen als erwartet, vermutete<br />

Herr W, dass die von den FachanleiterInnen vermittelte Unterstützung <strong>und</strong> Ermutigung<br />

dafür ausschlaggebend sei: „Ich glaube, es ist die Unterstützung. Man weiß, im<br />

Hintergr<strong>und</strong>, da ist jemand dabei, der einem, wenn ´ne Situation eintritt, die (…) heikel<br />

ist, dass da jemand sagt: Das machen wir jetzt so. Nicht: Das machst du jetzt so, sondern:<br />

Das machen wir jetzt so. Und das ist das, was die Person bestärkt, ob Männlein<br />

oder Weiblein: das kann ich! Da ist ja jemand, wenn´s wirklich schlimm wird, wenn´s<br />

nicht ganz so gut ist, der greift dann ein <strong>und</strong> sagt: (…) so wird´s am besten. So wird<br />

das Ergebnis am besten… das ist, glaub ich, auch das, was bei den Frauen auch irgendwie<br />

Anspruch findet. Zuspruch“ (G 600-601).<br />

Eine weitere Rolle kann dabei auch spielen, dass zum einen in einer typischen „Männerdomäne“<br />

wie dem Holzbereich auch eine Fachanleiterin tätig ist (die im Übrigen zudem<br />

für die Werkstattleitung zuständig ist) <strong>und</strong> umgekehrt in einer üblichen „Frauendomäne“,<br />

nämlich der Kochwerkstatt, auch Kurse von einem Mann angeboten werden.<br />

In unseren Gesprächen konnten wir leider aus Zeitmangel nicht tiefer in die Zusammenhänge<br />

zwischen <strong>Arbeit</strong>sweise <strong>und</strong> Geschlecht einsteigen. Interessant wären z. B.<br />

Vermutungen darüber gewesen, was Männer gezielt anspricht, um die gewohnten Geschlechtergrenzen<br />

zu überschreiten. Inwieweit dieser Bereich im Kempodium bewusst<br />

thematisiert wird, können wir also nicht beurteilen. Wir vermuten allerdings – u. a. über<br />

die Betrachtung verschiedener Dokumente – dass der Genderaspekt eine Bedeutung<br />

hat. 75<br />

75 Dafür sprechen z. B. eine überwiegend geschlechtersensible Sprache in den Programmheften,<br />

der Kempodium-Broschüre, sowie so genannten geschlechtsspezifische Werbung in Form<br />

von Plakaten (siehe anstiftung 2005a <strong>und</strong> anstiftung, Broschüre). Interessant ist für uns hier das<br />

Erleben der BesucherInnen. Tatsächlich ausgeglichen (im Sinne 50%) ist die Werkstattnutzung<br />

nach einer NutzerInnenbefragung (Redler 2005, S.43) nicht; in den Werkstätten ist eine Tendenz<br />

zur geschlechtstypischen Nutzung erkennbar. Diese bewegt sich aus unserer Sicht jedoch<br />

erstaunlich aufeinander zu. Ein Beispiel: die Holzwerkstatt wurde im befragten Zeitraum von<br />

54% der Männer häufig <strong>und</strong> ab <strong>und</strong> zu genutzt, von Frauen zu 38,3%, in der Kochwerkstatt lag<br />

die Nutzung von Männern bei 10%, die von Frauen bei 18,8%).<br />

135


4.2.3 Engagement <strong>und</strong> Ehrenamt<br />

Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

Im Portrait des Kempodium wurde bereits erwähnt, dass ehrenamtliches Engage-<br />

ment 76 eine wichtige Säule des Hauses <strong>und</strong> ein konzeptionelles Ziel darstellt. Wir grei-<br />

fen dieses Thema auf, da es in unseren Gesprächen mehrfach auftauchte. Dabei beschäftigen<br />

wir uns zum einen damit, wie die Art des Engagements im Kempodium<br />

beschaffen ist <strong>und</strong> welche Motive für die Menschen möglicherweise dahinterstehen.<br />

Zum anderen nehmen wir den Stellenwert der Freiwilligenarbeit für das Haus in den<br />

Blick.<br />

Art <strong>und</strong> Motive ehrenamtlicher Tätigkeiten<br />

In unserem Gruppengespräch beschrieb Herr W begeistert, im Kempodium engagierten<br />

sich sehr viele Menschen – auch schon über einen langen Zeitraum – mehr oder<br />

weniger regelmäßig <strong>und</strong> sind dort aktiv: „Also es sind sehr, sehr viele, die die vielen<br />

Jahre schon kommen <strong>und</strong> das find ich so toll!“ (W 824). Es gäbe zwar schon eine<br />

„Fluktuation, dass Leute kommen, zweimal, dreimal <strong>und</strong> beim vierten Mal erscheinen<br />

sie nicht wieder, aber (…) es gibt einen sehr großen Teil, die wirklich bei fast allen Veranstaltungen<br />

hier ehrenamtlich tätig sind. Einige St<strong>und</strong>en oder viele St<strong>und</strong>en“ (W 796-<br />

798). Zu solchen Veranstaltungen <strong>und</strong> Festlichkeiten zählen z. B. der „Tag der Regionen“.<br />

Herr Slavicek erwähnte u. a. die zweimonatlich stattfindende Disco, die ganz in<br />

ehrenamtlichen Händen liegt: „Die Leute können sich da als DJ ausprobieren <strong>und</strong> ma-<br />

chen das dann auch zum Teil Jahre weiter“ (MS 684-686). Menschen mit gemeinsamen<br />

Interessen können sich also in einem Zeithorizont treffen <strong>und</strong> dann wieder ausei-<br />

nandergehen.<br />

Sein eigenes Engagement begründete Herr W damit, dass sein Beruf als Handwerksmeister<br />

vom Aussterben bedroht war: „Aus dem Gr<strong>und</strong>e hab ich mich von Anfang an<br />

im Kempodium engagiert, ehrenamtlich, als das Kempodium am Entstehen war. Danach<br />

bin ich hier Teilzeit beschäftigt worden, was mir sehr viel Spaß jemacht<br />

hat <strong>und</strong><br />

jetzt bau ich so ganz allmählich ab, da ich Rentner bin“ (W 129-134).<br />

Ausgehend von der Bedeutung, die das Kempodium für ihn selbst hat, nämlich dass er<br />

dort „so´n bisschen Heimat gef<strong>und</strong>en“ (W 770) habe, lässt sich die starke Identifikation<br />

<strong>und</strong> Verb<strong>und</strong>enheit erklären: sie wurde von einem Menschen zum Ausdruck gebracht,<br />

der eine Zeit lang hauptamtlich beschäftigt war <strong>und</strong> aktuell immer noch eine Mischung<br />

aus Honorar- <strong>und</strong> ehrenamtlicher Tätigkeit im Kempodium ausübt. Dabei spielt auch<br />

das eigene Wohlbefinden eine Rolle: „Mir geht´s hier sehr gut, mir macht´s Spaß (…)<br />

76 Zur Begrifflichkeit: Ehrenamt, (bürgerschaftliches) Engagement, Freiwilligenarbeit werden<br />

nachfolgend synonym verwendet. Auf historische Wurzeln wird an dieser Stelle nicht eingegangen,<br />

diese sind z. B. im Bericht der Enquete-Kommission (2002, S. 32 f.) beschrieben.<br />

136


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

es hat so´n bisschen ´nen sozialen Touch. Und das liegt mir irgendwie. Vielleicht ist<br />

das so´n bisschen so dem DDR-Bürger anhaftend“ (W 771-777).<br />

Nicht explizit als Motiv benannt, aber in vielen Äußerungen spürbar, ist zudem seine<br />

Faszination <strong>und</strong> Überzeugung für das, was im Haus alles passiert – von den Werkstattangeboten<br />

über die Art in den Werkstätten, mit vielen verschiedenen Menschen zu<br />

arbeiten, bis hin zu den Feierlichkeiten. Diese Überzeugung für das Haus <strong>und</strong> seine<br />

Atmosphäre insgesamt oder für bestimmte Aspekte bzw.<br />

Teilbereiche ist seiner Ein-<br />

schätzung nach auch für andere Engagierte das Motiv dafür, aktiv etwas beizutragen<br />

zu einer <strong>Arbeit</strong>, die als unterstützenswert erlebt wird.<br />

Eine weitere geäußerte Vermutung ging in die Richtung, für viele Ehrenamtliche sei<br />

auch das Gemeinschaftsgefühl eine Motivationsquelle für ihr Engagement, denn das<br />

Haus ermögliche „so´n gewissen Verknüpfungspunkt“ (W 804-805) <strong>und</strong> über die Jahre<br />

hinweg hätten sich in diesem Rahmen viele ja auch schon näher kennen gelernt.<br />

Das Kempodium nimmt aus den erworbenen Blickwinkeln für manche Ehrenamtliche<br />

die Funktion eines Ortes ein, an dem zeitweise Gemeinschaft gelebt <strong>und</strong> zelebriert<br />

wird, es bietet einen Rahmen, der Menschen ermöglicht „unter die Leute zu kommen“,<br />

<strong>Soziale</strong>s zu erleben. Dabei kommt der Gemeinschaft in erster Linie nicht der Stellen-<br />

wert etwas alltäglich Gelebtem, sondern etwas Außergewöhnlichem nahe (besondere<br />

Anlässe, Feste…).<br />

Ein zusätzlicher Beweggr<strong>und</strong> sei „wirklich, was zu tun, nicht nur in der Ecke zu sitzen<br />

<strong>und</strong> zu schimpfen, sondern etwas zu bewegen, das ist es eigentlich schon“ (W 827-<br />

828). Dabei geht es um ein aktives Einbringen der eigenen Fähigkeiten, „weil man was<br />

tun will“ (S 809). Frau S beschreibt die Möglichkeiten im Kempodium aus ihrer Warte<br />

so: „wenn man unter d´Leut kommen will oder st<strong>und</strong>enweise sich eben beschäftigen<br />

will, dann denk ich, dass man hier gut aufgehoben ist, wenn man hier mitarbeiten<br />

möchte. Ich mein, was man halt einbringen kann“ (S 855-858). Die Gelegenheit, sich<br />

partiell im Kempodium zu beschäftigen, ist für die Befragten davon geprägt, an eigenen<br />

Möglichkeiten anknüpfen zu können <strong>und</strong> beizutragen, was man gerne macht; ebenso<br />

sich auszuprobieren <strong>und</strong> neue Dinge zu<br />

tun. Was <strong>und</strong> wie viel man dabei einbringt,<br />

wird als selbstbestimmt erlebt. Somit können sich die Menschen ihren Interessen <strong>und</strong><br />

Ressourcen entsprechend beteiligen.<br />

Aus Herrn Slaviceks Erfahrung ist bei den meisten Menschen vor allem eine Bereitschaft<br />

für zeitlich begrenzte Vorhaben, Aufgaben <strong>und</strong> Projekte vorhanden, also „dass<br />

Leute sich gern mit einem gewissen Zeithorizont festlegen <strong>und</strong> sagen o.k., das ist ein<br />

Projekt, ich weiß, dass das im Oktober beendet ist <strong>und</strong> mach da mit, (…) aber ich will<br />

mich jetzt nicht verpflichten, hier über Jahre irgendwie dabei zu sein“ (MS 257-260).<br />

137


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

In der Vergangenheit <strong>und</strong> auch gegenwärtig gebe es in bestimmten Bereichen zwar<br />

immer wieder einmal längerfristiges Engagement mit mehr Verantwortungsübernahme,<br />

z. B. dass einzelne Tage im Empfangsbereich ehrenamtlich besetzt waren oder im Ferienprogramm<br />

Kurse für Kinder angeboten werden, aber dauerhaft sei es bisher nicht<br />

gelungen. Gründe dafür seien z. B. berufliche Veränderungen,<br />

wie bei einer Frau am<br />

Empfang, „die vorher halbtags gearbeitet hat, das zusätzlich gemacht hat <strong>und</strong> einfach<br />

jetzt einen dreiviertel oder fast Vollzeitjob hat <strong>und</strong> das einfach nicht mehr geht, das ist<br />

klar. Das wechselt dann auch“ (MS 141-144).<br />

Ein anderer Besucher, der an einigen Stellen verschiedene Verbesserungsideen anmerkte,<br />

ist selbst nicht ehrenamtlich aktiv: „Sammer mal so: wenn ich mehr Zeit hät-<br />

te…“ (G 438). Das bringt sein Ziel, die berufliche Selbstständigkeit weiter auszubauen<br />

mit sich: „I kann net da mein Laden aufbaue <strong>und</strong>… wie will man da leben davon?“ (G<br />

450-451).<br />

Hierbei<br />

zeigt sich die Priorität der <strong>Erwerbsarbeit</strong>: In bestimmten Lebenssituationen<br />

kann Ehrenamt ins Alltagsgefüge<br />

passen, <strong>Erwerbsarbeit</strong> <strong>und</strong> Lebensgr<strong>und</strong>lage sind<br />

letztlich aber immer wichtiger.<br />

Ehrenamt <strong>und</strong> Organisation<br />

Aus dem Blickwinkel des Geschäftsführers würde sich Herr Slavicek mehr regelmäßige<br />

Verantwortungsübernahme im Alltagsablauf wünschen: „dass sich also z. B. jemand<br />

findet, der Schreiner in Rente ist <strong>und</strong> der Spaß dran hat, hier sich um die Werkstatt zu<br />

kümmern. Maschinen zu pflegen, zu schauen, dass alles<br />

soweit in Ordnung ist, dass<br />

die Nutzer hinter sich aufräumen, also so ne Art guter Geist in der Werkstatt“ (MS 122-<br />

127). Diesbezüglich habe „man sich auch in der Planung des Hauses <strong>und</strong> so im Betrieb<br />

mehr erhofft oder auch mehr erwartet“ (MS 121).<br />

Die hier angesprochene Erwartung ist zum Teil sicher finanziell begründet. Gr<strong>und</strong>sätz-<br />

lich ist das Bestreben da, im Haus so viel wie möglich ehrenamtlich abzudecken. Wenn<br />

dies nicht gelingt, „muss man dann halt sozusagen jemand nehmen, der das gegen<br />

Honorar macht“<br />

(lachen) (MS 152-153). Dabei taucht – nicht unerwartet – unter Um-<br />

ständen auch die Schwierigkeit auf, dass gleiche oder ähnliche <strong>Arbeit</strong>en von bezahlten<br />

Honorarkräften (18 €/ St<strong>und</strong>e) <strong>und</strong> unentgeltlich arbeitenden Ehrenamtlichen verrichtet<br />

werden.<br />

Gleichzeitig wird hier aber auch das Ziel des Kempodium sichtbar, das „Selber-in-die-<br />

Hand-nehmen“ bei Menschen zu fördern <strong>und</strong> anzustoßen. Im täglichen Ablauf der Organisation<br />

ist dies wohl nicht so einfach umzusetzen.<br />

138


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

In diesem Zusammenhang haben wir uns gefragt, wie die Möglichkeiten zur Beteiligung<br />

<strong>und</strong> Einbindung im Kempodium strukturiert sind. Zum Teil sind wir darauf schon<br />

im Portrait eingegangen <strong>und</strong> knüpfen daran an.<br />

In unserem Gespräch berichtete uns Herr Slavicek, Ziele <strong>und</strong> Richtlinien des Kempodium<br />

würden im Vereinsvorstand entwickelt. Das alltägliche Geschehen sei davon nicht<br />

beeinflusst, aber „die oberste Entscheidungsbefugnis hat der Vorstand. Ich bin quasi<br />

als Geschäftsführer dann dem Vorstand unterstellt <strong>und</strong> hab das sozusagen durchzuführen<br />

(…), was der Vorstand vorgegeben hat“ (MS 182-191). Auf der MitarbeiterInnen-Ebene<br />

werden in 14-tägig stattfindenden Teambesprechungen Beschlüsse gefällt,<br />

die das Tagesgeschäft betreffen oder auch strategisch längerfristige Themen betreffen.<br />

Dort können Anregungen formuliert werden, die weiter an den Vorstand gehen.<br />

Über eine Vereinsmitgliedschaft kann innerhalb der Mitgliederversammlung Einflussnahme<br />

erfolgen. Darüber hinaus gibt es bisher kein regelmäßiges Gremium zur Beteili<br />

gung ehrenamtlich Engagierter. Dieser Punkt wird laut Herrn Slavicek allerdings immer<br />

wieder diskutiert, <strong>und</strong> es wird mit unterschiedlichen<br />

Beteiligungsformen experimentiert.<br />

So gingen z. B. Anfang des Jahres aus einem Perspektivworkshop für Ehrenamtliche<br />

verschiedene Projektgruppen (z. B. die <strong>Arbeit</strong>sgemeinschaften F<strong>und</strong>raising, Raumpla-<br />

nung, Kultur etc.) hervor, die in ausgewählten Bereichen Anregungen, Perspektiven<br />

<strong>und</strong> Verbesserungsvorschläge erarbeiten, welche dann als Empfehlung wiederum in<br />

Team <strong>und</strong> Vorstand einfließen.<br />

ung, bessere bzw. feste Strukturen zu schaffen, z. B. in Form von <strong>Arbeit</strong>sverträ-<br />

-<br />

cht<br />

-<br />

77<br />

Weitere Überlegungen zu den Rahmenbedingungen für Ehrenamtliche gehen in die<br />

Richt<br />

gen oder <strong>Arbeit</strong>szeugnissen. Momentan sind Anreize von Seiten des Hauses Vergüns<br />

tigungen bei der Raummiete <strong>und</strong> die Möglichkeit, Fahrtkosten abzurechnen – ein richtiges<br />

Belobigungssystem oder Aufwandsentschädigungen allerdings gibt es nicht. Ni<br />

erwähnt wurde in unserem Gespräch, ob es eine Anerkennungskultur im Kempodium<br />

gibt.<br />

Herr Slavicek betonte, dass die Akquise von Freiwilligen von Seiten der Organisation<br />

ein wiederholtes stetiges Bemühen erfordert. In der Vergangenheit gab es etliche Anläufe<br />

in dieser Richtung – von Ehrenamtsbörsen, über Zeitungsanzeigen <strong>und</strong> R<strong>und</strong>schreiben.<br />

In der Anfangszeit gab es sogar eine „Stabsstelle für die Betreuung des Ehrenamtes“<br />

(233). Mittlerweile gibt es eine Art Ehrenamtlichen-Pool, bestehend aus<br />

einer Kartei, in die Menschen aufgenommen werden, die Interesse geäußert haben,<br />

sich zu beteiligen. „Wenn sich jemand neu meldet, dann kommt er auch erstmal hier ir<br />

gendwie aufs Haus zu <strong>und</strong> dann wird von mir oder von der Kollegin eingeladen zu nem<br />

77 Die <strong>Arbeit</strong>sgemeinschaft F<strong>und</strong>raising z. B. entwickelte dieses Jahr das Leitbild des Kempodium,<br />

welches daraufhin gemeinsam mit Vorstand <strong>und</strong> Team beschlossen wurde.<br />

139


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

kurzen Gespräch“ (MS 239-240). Dabei werden gemeinsam die Ideen <strong>und</strong> Vorstellungen<br />

der Person besprochen, <strong>und</strong> es wird zusammen überlegt, wie sich diese an das<br />

Haus andocken lassen. Dabei kann es vorkommen, dass die angebotenen Fähigkeiten<br />

einzelner Personen erst einmal „in den Pool wandern“ <strong>und</strong> bei Bedarf abgerufen werden<br />

können (wie etwa die Mithilfe bei Veranstaltungen) oder dass sie gleich in die Planung<br />

mit einfließen, wie z. B. das Angebot<br />

eines Fachanleiters für das Kinderferienprogramm:<br />

„er ist als Kursleiter im Kursprogramm mit dabei, obwohl er das alles auch auf<br />

ehrenamtlicher Basis macht….wird er halt dann in den normalen Ablauf sozusagen<br />

schon mit integriert“ (MS 245-250). Bei einer solchen Einbindung wird unseres Erach-<br />

tens sehr individuell auf die Kapazitäten, Fähigkeiten <strong>und</strong> Vorstellungen der ehrenamt-<br />

lichen AnbieterInnen eingegangen.<br />

Obiges Beispiel greift die Tatsache auf, die auch schon im Portrait deutlich wurde,<br />

nämlich dass im Kempodium verschiedene <strong>Arbeit</strong>sformen nebeneinander existieren –<br />

Hauptamtliche in Voll- <strong>und</strong> Teilzeit sowie Mini- <strong>und</strong> Midi-Jobs, Honorarkräfte, Ehrenamtliche<br />

<strong>und</strong> 1-€-Jobber. Dies ist laut Herrn Slavicek im Leitbild verankert<br />

<strong>und</strong> in den<br />

Gr<strong>und</strong>lagen des Hauses ganz bewusst so gewollt <strong>und</strong> ihm ist wichtig, diese <strong>Arbeit</strong>sformen<br />

alle gleichberechtigt zu sehen <strong>und</strong> zu behandeln. Dennoch ist die Umsetzung<br />

nicht immer ganz einfach, <strong>und</strong> es ist eine organisatorisch anspruchsvolle sowie sensib-<br />

le Aufgabe, zu überlegen, „wie passen<br />

die zusammen“ (MS 609). Momentan ist dieses<br />

Thema<br />

im Haus allerdings nicht explizit Diskussionsgegenstand.<br />

In welcher Form die Aufgaben- <strong>und</strong> Rollenverteilung zwischen Haupt- <strong>und</strong> Ehrenamtlichen<br />

organisiert ist bzw. wie das Selbstverständnis von Seiten der Hauptamtlichen<br />

diesbezüglich aussieht, wurde im Gespräch nicht eingehender thematisiert, weshalb<br />

diese Frage offenbleiben muss.<br />

wischen den Tendenzen im Ehrenamt, die sich in diesem Kapitel herauskristallisiert<br />

haben 78 Z<br />

<strong>und</strong> den Bedürfnissen Organisation zeichnet sich unseres Erachtens ein<br />

Spannungsverhältnis ab. In diesem bewegen<br />

sich Motive <strong>und</strong> Ressourcen der Ehren-<br />

amtlichen selbst, Formen der Beteiligung sowie Organisations- <strong>und</strong> Finanzierungsfra<br />

gen.<br />

78 Sowohl die hier vorgef<strong>und</strong>enen Beweggründe für ehrenamtliches Engagement, als auch die<br />

Tendenz von Menschen, sich eher in einem zeitlich begrenzten Rahmen einzulassen, sind nicht<br />

außergewöhnlich. Sie spiegeln einen so genannten Strukturwandel im Ehrenamt, den die Enquete-Kommission<br />

zur Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements (2002, S. 49 f.) charakterisiert<br />

als „Individualisierung des bürgerschaftlichen Engagements“.<br />

140


4.2.4 Das Kempodium in der Region<br />

Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

Im folgenden Kapitel beginnen wir damit, die gefühlte Lebensqualität unserer GesprächspartnerInnen<br />

in Bezug auf die Region zu skizzieren. Des Weiteren wird unter<br />

den Aspekten Bekanntheit, Zugang <strong>und</strong> Hürden sowie Vernetzung <strong>und</strong> Kooperation<br />

betrachtet, welche strukturelle Bedeutung das Kempodium in den Augen der Befragten<br />

erlangt hat.<br />

Kempten <strong>und</strong> die Region aus Sicht der BewohnerInnen<br />

Allzu viel erfuhren wir von unseren GesprächspartnerInnen nicht über ihre Einschätzung<br />

der Region – das Thema nahm in unserem Interview einen verhältnismäßig kleinen<br />

Raum ein.<br />

Das Leben in Kempten beschrieben die BesucherInnen als „gemütlich. Ich find´s hier<br />

gemütlich. Nicht zu groß“ (S 753-754). Von Bedeutung scheint auch die Erreichbarkeit<br />

zu sein – zum einen in Bezug auf zentrale Punkte innerhalb der Stadt, zum anderen zu<br />

Orten in der Natur, die Naherholung bieten: „Man ist gleich in der Stadt, wenn man was<br />

braucht <strong>und</strong> (…) ´n paar Schritte <strong>und</strong> dann bin i draußen. Also bin i auch<br />

in der Natur<br />

draußen<br />

<strong>und</strong> wir ham ja auch den Wald (…) da kann man spazieren gehen <strong>und</strong> alles.<br />

Also man hat beides. Man muss nicht weiß Gott wie weit rausfahren <strong>und</strong> das schätz<br />

ich. Also in ´ner größeren Stadt möchte ich gar net leben“ (S 758-763). Das Leben in<br />

der mittelgroßen, überschaubaren Stadt wird als lebenswert <strong>und</strong> angenehm empf<strong>und</strong>en,<br />

wenngleich es auch dort Anonymität gibt „Also die Erfahrung hab ich in der Stadt<br />

schon gemacht: An den Hochhäusern in Kempten, (…) da kennt der eine den anderen<br />

nicht, außer vielleicht vom Namen her vom Briefkasten“ (G 810-813).<br />

Bekanntheit Kempodium<br />

Über die allgemeine Bekanntheit des Kempodium können wir natürlich auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

der Gespräche keine Aussagen treffen. Insbesondere ein Besucher war der<br />

An-<br />

sicht „viele kennen´s Kempodium nicht“ (G 157). Er folgerte daraus mehrfach, aus seiner<br />

Sicht müsse mehr Werbung betrieben werden. Seine Ideen dazu gingen von<br />

„einfach ´n bissle fotografier[en]“ (G 700) <strong>und</strong> einen „Katalog anlege“ (G 465) bis zu<br />

„Briefkastenwerbung“ (G 700) verteilen. Ausgehend davon entwickelte sich eine Diskussion<br />

über Werbung. Herr W berichtete, es seien in der Vergangenheit viele Anstrengungen<br />

unternommen <strong>und</strong> viel Geld für Werbung ausgegeben worden. Er persön<br />

lich war allerdings der Ansicht, der Knackpunkt läge woanders: „Die Leute sind<br />

übersättigt. Übersättigt von Werbung. Und das ist doch<br />

so, wollen wir ganz ehrlich sein:<br />

wer macht morgens den Briefkasten auf <strong>und</strong> liest alles, was dort drin steht. Sondern es<br />

wird von vorne rein selektiert (…) Die Leute sind, oder wir sind übersättigt, nicht ‚die<br />

141


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

Leute’, sondern ‚wir’“ (W 704-712). Seiner Ansicht nach stumpfe die Bevölkerung ab:<br />

„Es strömen eben zu viele Dinge täglich auf einen ein – wichtige <strong>und</strong> unwichtige – <strong>und</strong><br />

mitunter fällt es sogar schwer, beides zu unterscheiden, was ist für mich jetzt wichtig…weil<br />

es eben zu viel ist“ (W 728-734). Die anderen TeilnehmerInnen stimmten zu,<br />

dass hier die Notwendigkeit zur Selektion bestehe.<br />

Eine Form von Werbung hat dazu geführt, dass Herr G den Weg ins Kempodium ge-<br />

f<strong>und</strong>en hat: „ein Anleiter, der Sepp Geiger,<br />

der hat mal Reklame gemacht beim Praktiker.<br />

Und da hab ich mich mit´m unterhalten vor vielen Jahren – sechs Jahren oder so –<br />

<strong>und</strong> dann bin ich halt mal daher kommen“ (G 59-61).<br />

Die Verbreitung der Angebote <strong>und</strong> Möglichkeiten im Kempodium erfolgt laut Aussage<br />

der BesucherInnen vor allem über persönliche Kontakte <strong>und</strong> Empfehlungen – wie z. B.<br />

über Fre<strong>und</strong>Innen, Bekannte „durch ´ne Fre<strong>und</strong>in hab ich des erfahren“ (S 116) oder<br />

etwa als<br />

Folge der Kinderangebote, das sei häufig ein „Umkehrschluss, dass die Eltern<br />

dann<br />

auch mal kommen“ (W 218-219).<br />

Aufgr<strong>und</strong> verschiedener<br />

Zeitungsartikel, die wir im Vorfeld von Herrn Slavicek erhalten<br />

hatten, entstand aus unserer Außenperspektive der Eindruck, dass Aktionen, Veranstaltungen<br />

<strong>und</strong> Angebote in der Tagespresse insgesamt sehr präsent sind. Allein die<br />

enormen BesucherInnenzahlen (etwa<br />

40 000, siehe auch Kap. II 4.1.2) bestätigen,<br />

dass das Kempodium einen Nerv in der Region getroffen hat <strong>und</strong> einen Bedarf aufgreift.<br />

Zugang <strong>und</strong> Hürden<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich möchte das Kempodium, wie anfangs aus dem Leitbild zitiert, für alle<br />

Menschen offen sein. Uns interessierte, welche Menschen tatsächlich angesprochen<br />

werden <strong>und</strong> welche nicht kommen.<br />

Direkte Einschätzungen darüber, welche Personengruppen durch das Angebot im<br />

Kempodium besonders angesprochen werden, haben wir in unseren Gesprächen nicht<br />

bekommen. Allerdings erfuhren wir, dass im Rahmen vereinzelter Projekte <strong>und</strong> besonderer<br />

Aktionen Schulklassen sowie Kinder <strong>und</strong> Jugendliche, vereinzelt auch SeniorInnen<br />

<strong>und</strong> im Rahmen von Maßnahmen besondere Personengruppen wie z. B. Spätaus-<br />

siedler das Kempodium nutzen.<br />

Deutlichere Annahmen haben wir darüber erhalten, weshalb Menschen nicht kommen.<br />

Die Einschätzung unserer GesprächspartnerInnen im Gruppeninterview war, dass eine<br />

Hürde in erster Linie der finanzielle Aspekt darstellt:<br />

„Das ist der finanzielle Gr<strong>und</strong>. Ich<br />

glaube, da gibt´s keine andere Hemmschwelle. Da spielt das Geld die Rolle.“ (W 853-<br />

854). Einig waren sich alle darüber, dass durch das Selbermachen zwar ganz beson-<br />

dere, nach eigenen Wünschen gestaltete Stücke entstehen, diese jedoch insgesamt<br />

142


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

teurer sind: „also wenn ich das Bett jetzt komplett selber bestellt hätte, es wäre viel-<br />

leicht nicht so vornehm ausgeführt, das wäre aber billiger… Das wäre mit Sicherheit<br />

billiger“ (M 678-680). Sie betonten aber auch, dass es ihnen das – in Verbindung mit<br />

dem persönlichen Gewinn (siehe 4.2.1) – wert ist.<br />

Herr W äußerte zudem: „Also ich glaube, wer hier rein kommt, ganz egal, ob in die Me<br />

tallwerkstatt<br />

oder in die Holzwerkstatt <strong>und</strong> stellt von vorne herein ´ne finanzielle Berechnung<br />

auf, der is hier fehl am Platz…bin ich h<strong>und</strong>ert Prozent überzeugt. Der, der<br />

hier herkommt, sich etwas zu fertigen nach seinen Gedanken, nach seinen Maßen, der<br />

ist hier gut aufgehoben, <strong>und</strong> der muss allerdings in Kauf nehmen, dass es ´n klein wenig<br />

teurer werden kann. Es is leider so. Aber dafür hat er das Stück, was er sich vorge-<br />

stellt hat, vom Material, von den Maßen, <strong>und</strong> er hat etwas mitgenommen von ´ner<br />

<strong>handwerkliche</strong>n Fähigkeit, er hat etwas dazugelernt. (…) Sein Wissen erweitert“ (W<br />

664-676).<br />

Die hier geäußerte finanzielle<br />

Komponente impliziert, dass BesucherInnen es sich leis-<br />

ten können müssen, zu Beginn keine Berechnung aufzustellen. Daneben zeigt sich für<br />

uns ein weiterer Aspekt, nämlich die bewusste Entscheidung <strong>und</strong> das Wissen um den<br />

zusätzlichen Wert <strong>und</strong> Nutzen, der durch das selbst Fertigen erwachsen kann, zumin-<br />

dest aber eine Ahnung oder die Neugierde, sich darauf einzulassen. Menschen, denen<br />

diese Gr<strong>und</strong>lage fehlt bzw. die die Erfahrung um einen solchen Mehrwert noch nicht<br />

gemacht haben oder in deren Alltag sie keine Priorität einnehmen kann, ist somit der<br />

Zugang erschwert.<br />

Weitere Vermutungen, weshalb Menschen nicht oder weniger ins Kempodium kommen,<br />

waren auf gesamtgesellschaftliche Faktoren bezogen: „Also die Bevölkerung ist<br />

durch viele politische Entscheidungen irgendwie verunsichert <strong>und</strong> durch Steuererhöhungen<br />

<strong>und</strong> sonst was. Und jeder macht sich Gedanken: Wie kann ich denn später le-<br />

ben. Also versucht man, zur rechten Zeit,<br />

irgendwie auf die Bremse zu treten <strong>und</strong> zu<br />

sagen: Wir können gewisse Einschränkungen machen. Ich weiß nicht, ob das eine Fol<br />

ge davon ist. Jedenfalls in der Nutzung ist es auch etwas weniger geworden“ (W 288-<br />

293). Die Annahme geht dahingehend weiter, dass sich manche Menschen isolieren<br />

<strong>und</strong> mit strukturell bedingten Schwierigkeiten nicht nach außen treten: „Ich nehme an,<br />

die<br />

wirtschaftliche Entwicklung, die ganze Situation so, die Unruhe in der Bevölkerung<br />

(…) ich glaube, das trägt dazu bei, dass in gewisser Weise so ein ganz kleiner Rück-<br />

zug stattgef<strong>und</strong>en hat“ (W 299-302).<br />

Ein anderer Besucher mutmaßt „Vielleicht isch aber au nach Feierabend zu viel“ (G<br />

311) <strong>und</strong> spricht damit Belastungen an, die aus dem <strong>Erwerbsarbeit</strong>s-Alltag erwachsen:<br />

persönliche Ressourcen wie Energie, Kraft<br />

<strong>und</strong> Zeit stehen nur begrenzt zur Verfügung<br />

<strong>und</strong> müssen vorrangig für den Job eingesetzt werden.<br />

143


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

Kooperation <strong>und</strong> Vernetzung:<br />

Kooperation <strong>und</strong> Vernetzung sind ein wichtiges Thema im Kempodium. „Es ist schon,<br />

denk ich, für viele Leute auch zu so nem Anlaufpunkt geworden“ (MS 677-678), so<br />

Herrn Slaviceks Einschätzung. Das bezieht unterschiedliche Personengruppen sowie<br />

andere Träger <strong>und</strong> Initiativen mit ein.<br />

Als insgesamt sehr wichtig, insbesondere aber auch auf das Werkstattangebot bezogen,<br />

bezeichnet er „die verschiedensten Schulen, das Schulamt, die städtischen Jugendämter<br />

oder auch diese LOS-Koordinationsstelle“ (MS 666-667) sowie „verschiedene<br />

freie Bildungsträger, wie Berufsförderzentrum <strong>und</strong> Ähnliche, die ja z. B. so<br />

Berufsfördermaßnahmen übertragen bekommen<br />

<strong>und</strong> dann wieder die Werkstatt nutzen<br />

mit ihrem Klientel“ (MS 668-671). Das Kempodium hat sich durch unzählige Projekte<br />

<strong>und</strong> Formen der Zusammenarbeit einen Namen in der Region gemacht. Aus Herrn Sla<br />

viceks Sicht wird es insbesondere von Seiten verschiedener Initiativen, die sich für die<br />

Stärkung regionaler Identität einsetzen, als „Mitstreiter“ <strong>und</strong> „Ideengeber“ gesehen <strong>und</strong><br />

„in verschiedene Prozesse oder Aktionen auch miteinbezogen“ <strong>und</strong> „durchaus als interessanter<br />

Partner gesehen“ (MS 623-624).<br />

Darin sehen wir eine politische Dimension der <strong>Arbeit</strong> des Kempodium. Diese ist laut<br />

Herrn Slaviceks Einschätzung zwar nicht so geartet, dass sie<br />

direkt „bis in politische<br />

Gremien ihren Niederhall findet“ (MS 583). Allerdings bietet das Kempodium durch die<br />

Kooperationen <strong>und</strong> spezifischen Angebote eine Plattform, auf der eine Stück weit Gesellschaft<br />

diskutiert <strong>und</strong> gestaltet werden kann. Herr Slavicek nennt als Beispiel die enge<br />

Zusammenarbeit mit dem Tauschring Cambodunum<br />

78) sowie andere Initiativen<br />

dukten“<br />

92-595) Inhalte, die regelmäßig thematisiert würden – „unterstützt aus den eigenen<br />

Reihen <strong>und</strong> auch von der anstiftungs-Seite“ (MS 596).<br />

Dabei seien Zusammenarbeit <strong>und</strong> Austausch mit der lokalen Regionalentwicklungsstel-<br />

80<br />

in Kempten besonders gewinnbringend. Die Kulturreihe „Pioniere der Region“ ist<br />

79 , „die ja sozusagen auch das<br />

Tun <strong>und</strong> das gegenseitige Helfen zum Ziel haben“ (MS 5<br />

wie die lokale Agenda 21-Bewegung (siehe auch Portrait).<br />

Des Weiteren seien die Veranstaltungen <strong>und</strong> (Podiums-)Diskussionen im Kempodium<br />

zu Themen wie nachhaltiges Wirtschaften <strong>und</strong> insbesondere „die regionalen Bezüge<br />

oder Netzwerke <strong>und</strong> die Vorteile von regionalen Kooperationen, regionalen Pro<br />

(5<br />

le<br />

79<br />

Tauschringe gibt es in ca. 200 Städten deutschlandweit. Sie haben zum Ziel, bargeldlosen<br />

Austausch von Waren, Dienstleistungen <strong>und</strong> Fähigkeiten unter den Menschen anzuregen bzw.<br />

wiederaufleben zu lassen <strong>und</strong> soziale Kontakte, Vertrauen, Gemeinschaftssinn <strong>und</strong> Autonomie<br />

zu fördern. Näheres z. B. unter Heinze/ Offe (1990b) oder www.tauschring.de/home.htm<br />

80<br />

Die Regionalentwicklungsstelle Altusried-Oberallgäu wird aus Projektmitteln der EU im Rahmen<br />

von „Leader+“ gefördert. Sie koordiniert, vernetzt <strong>und</strong> unterstützt Projekte <strong>und</strong> Vorhaben<br />

kleiner<br />

Gemeinden, wie z. B. die verstärkte Vermarktung regionaler Produkte. Obwohl Kempten<br />

144


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

ein aktuelles Beispiel der Kooperation zwischen Kempodium, dem Amt für Landwirt-<br />

schaft <strong>und</strong> Forst in Kempten, Regionalentwicklungsstelle <strong>und</strong> lokaler Agenda.<br />

4.3 Ergebnisse der Untersuchung des Kempodium<br />

Aufbauend auf die Auswertungen der Gespräche, werden wir nachfolgend unsere In-<br />

terpretationsansätze vertiefen <strong>und</strong> mit Hilfe von Theoriebezügen die im Forschungsplan<br />

formulierten Fragen aufgreifen:<br />

• Welche Bedeutung hat <strong>Eigenarbeit</strong> für die Menschen im Kempodium?<br />

• Welche Bedeutung hat die Einrichtung für die Menschen in der Region?<br />

Wieder setzen wir also die „Theoriebrille der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong>“ auf <strong>und</strong> nehmen ebenso<br />

Bezug zu unseren Hypothesen.<br />

4.3.1 Bedeutung der <strong>Eigenarbeit</strong> im Kempodium<br />

Den Begriff der <strong>Eigenarbeit</strong> haben wir in der Auswertung der Interviews bislang be-<br />

wusst nur dort verwendet, wo er im Gespräch auch gebraucht wurde. Herr Slavicek berichtete<br />

uns, die MitarbeiterInnen umschreiben <strong>Eigenarbeit</strong> in der Regel mit „selber aktiv<br />

werden“, „selber Hand anlegen“, „eigene Talente entdecken“, „um das sozusagen<br />

runterzubrechen<br />

auf das, was allgemein verständlich ist“ (MS 540).<br />

Um<br />

herauszufinden, welche Art von <strong>Eigenarbeit</strong> im Kempodium praktiziert wird, stellen<br />

wir im Folgenden Bezüge zur begrifflichen Auseinandersetzung mit <strong>Eigenarbeit</strong> (Kap. I<br />

2) her <strong>und</strong> fragen in einem zweiten Schritt nach Voraussetzungen <strong>und</strong> Zugängen.<br />

<strong>Eigenarbeit</strong> <strong>und</strong> gestalterisches Erleben:<br />

Die BesucherInnen nutzen die offenen Werkstätten im Kempodium, um besondere<br />

Dinge herzustellen, die sie im Alltag brauchen <strong>und</strong> die passgenau, für sie stimmig <strong>und</strong><br />

ästhetisch-individuell gestaltet sind. Neben dem Gebrauchswert der Stücke im Alltag<br />

stellt für sie die Art zu arbeiten einen zentralen<br />

Motivationsfaktor dar: Im Alltag werden<br />

Tätigkeiten in den Werkstätten als etwas eingeordnet, das Spaß macht <strong>und</strong> Wohlbefin-<br />

den spendet, aber auch herausfordert. In den Werkstätten wird die <strong>Arbeit</strong> zur Leidenschaft,<br />

sie bringt Freude <strong>und</strong> ist von freien Entscheidungen geprägt. Eigene Zeit, eigener<br />

Rhythmus können gelebt werden.<br />

als kreisfreie Stadt als Fördergebiet ausgenommen ist, gibt es eine enge Zusammenarbeit<br />

mit<br />

dem Kempodium.<br />

145


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

Es wurde deutlich, dass die Tätigkeiten in Kempodium-Werkstätten mit einer klaren<br />

Abgrenzung zum Beruf verb<strong>und</strong>en sind: die BesucherInnen bezeichnen sie als Hobby<br />

<strong>und</strong> Freizeit. Teilweise<br />

werden sie zum entlastenden Moment im Alltag <strong>und</strong> nehmen für<br />

manche NutzerInnen ausgleichende <strong>und</strong> therapeutische Funktionen ein. Es werden<br />

Momente gestalterischen Erlebens möglich, für die sonst<br />

keine Gelegenheit besteht.<br />

Stolz<br />

<strong>und</strong> Wertschätzung über die eigens gestalteten Werkstücke sowie Anerkennung<br />

durch außenstehende Personen stellen eine zentrale Wirkung der Tätigkeit dar.<br />

Daneben führt das Bewältigen einer Herausforderung<br />

zu einer Stärkung des Selbstver-<br />

trauens in die eigenen Fähigkeiten <strong>und</strong> zu einer Stärkung des persönlichen Entwicklungspotenzials.<br />

Erfahrungen dieser Art sind für die NutzerInnen bedeutsam, teils als einmalige, abgeschlossene,<br />

teils als regelmäßige Erfahrung im Alltag.<br />

Aufgr<strong>und</strong> obiger Zusammenfassung entspricht das <strong>handwerkliche</strong> Tätigsein im Kemp<br />

odium <strong>Eigenarbeit</strong><br />

im Sinne der anstiftung:<br />

Die Werkstatt-NutzerInnen sind „im eigenen Auftrag, mit den eigenen Kräften“ tätig <strong>und</strong><br />

sie tun dies „nach eigenem Konzept <strong>und</strong> für sich selbst“ (Mittelsten Scheid 1995, S.57) .<br />

Die Umsetzung ihrer Vorhaben sind von eigensinnigen Wegen, „individuellen Lösungen“<br />

geprägt, sie ermöglichen eine Konzentration „auf die vorhandenen Fähigkeiten,<br />

die eigene Ästhetik, den eigenen Nutzwert“ (vgl. anstiftung, Broschüre). Und ebenso<br />

„entscheidend ist, was der Tätige aus dem Selbermachen für <strong>und</strong> über sich selbst<br />

lernt“ (ebd.).<br />

Auf den ersten Blick sind Differenzen hinsichtlich der Bezeichnung der Tätigkeiten vorhanden:<br />

Die BesucherInnen benennen diese selbst eindeutig als Hobby <strong>und</strong> Freizeit,<br />

wohingegen die anstiftung eine deutliche Abgrenzung zu Freizeitaktivitäten vornimmt<br />

(siehe Kap. I 2). Diese Differenz ist aus unserer Sicht sprachlicher <strong>und</strong> erlebter Natur.<br />

Aus theoretischem Blickwinkel ist das, was die BesucherInnen in den Werkstätten tun,<br />

<strong>Eigenarbeit</strong>: denn auch wenn <strong>Arbeit</strong>sprozess <strong>und</strong> Sinn-Nutzen des Tätigseins als herausragendes<br />

Motiv erwähnt wurde, sind die Tätigkeiten dennoch keine „reine konsumptive<br />

Freizeitnutzung“ (nach Heinze/ Offe 1990a, S. 9); die Zielgerichtetheit der Ar-<br />

beit <strong>und</strong> der Produktbezug waren bei unseren GesprächspartnerInnen gleichwohl<br />

vorhanden. Dass sie ihr Tätigsein dennoch als Freizeit bezeichnen, kann damit zusammenhängen,<br />

dass der Begriff <strong>Eigenarbeit</strong> <strong>und</strong> die damit verknüpften Ideen wohl<br />

umgangssprachlich nicht geläufig sind. Es kann aber auch Ausdruck dafür sein, dass<br />

im persönlichen Erleben mit dem Begriff <strong>Arbeit</strong> hinlänglich <strong>Erwerbsarbeit</strong><br />

verb<strong>und</strong>en<br />

wird. Insofern ist nicht erkennbar, ob eine politisch-visionäre Dimension des Konzeptes<br />

<strong>Eigenarbeit</strong> hinsichtlich eines erweiterten <strong>Arbeit</strong>sbegriffs, der die Etablierung <strong>und</strong> Auf-<br />

146


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

wertung verschiedener <strong>Arbeit</strong>sformen nebeneinander anstrebt, für die BesucherInnen<br />

von Bedeutung ist. In den Zielen des Hauses ist diese Dimension verankert, allerdings<br />

kein aktuell diskutiertes Thema. Daher kann die Frage danach, ob <strong>und</strong> in welcher Wei<br />

se innerhalb eines solchen Rahmens tatsächlich ein verändertes Erleben unterschiedlicher<br />

<strong>Arbeit</strong>sformen stattfindet, nicht beantwortet werden.<br />

Nicht direkt von den BesucherInnen thematisiert wurde die Dimension von <strong>Eigenarbeit</strong>,<br />

die ein verändertes Verhältnis zum Konsum vermutet. Allerdings wurden die besondere<br />

Wertschätzung <strong>und</strong> der Bezug zu den selbst geschaffenen Werkstücken mehrfach her<br />

vorgehoben. Ebenso wurde deutlich, dass die Befragten sich bewusst für den Wert des<br />

Selber-Herstellens<br />

entscheiden, auch wenn es ein „klein wenig teurer“ (W 670) ist.<br />

Hiervon<br />

ausgehend kann also durchaus eine veränderte Perspektive des Lebensstils,<br />

ausgelöst oder hervorgerufen durch <strong>Eigenarbeit</strong> im Sinne von „besser leben, statt mehr<br />

haben“ (Horz 1997, S. 53) vermutet werden. Welche Reichweite diese Perspektive hat,<br />

also ob die Anerkennung eines solchen Wertes in einem über die Werkstücke hinausgehenden<br />

Sinn zu einem bewussteren Umgang mit Ressourcen bzw. zu einem kritischen<br />

Umgang mit Konsum <strong>und</strong> Überfluss führt, können wir hieraus aber nicht schließen.<br />

Unsere Vorannahme, dass <strong>Eigenarbeit</strong> selbstbestimmtes <strong>und</strong> ganzheitliches <strong>Arbeit</strong>en<br />

erfahrbar machen kann, trifft auf der Basis unserer Interviews im Kempodium<br />

eindeutig<br />

zu. Ebenso sind die in Kap. I 3.2 beschriebenen Annahmen zur Wirkungsweise <strong>handwerkliche</strong>n<br />

<strong>Arbeit</strong>ens bezüglich persönlichkeitsstärkender Elemente (wie z. B. der Stei<br />

gerung des Zutrauens in die eigenen Fähigkeiten) deutlich erkennbar. Gestalterische<br />

Kompetenzerweiterung sehen wir auf der handwerklich-praktischen Ebene.<br />

Knüpft man hier an das Konzept der Lebenslage (siehe Kap. I 4.5) an, so ist auf der<br />

Ebene des gestalterischen Erlebens von <strong>Eigenarbeit</strong><br />

eine Erweiterung von Lern- <strong>und</strong><br />

Erfahrungs-<br />

sowie Dispositions- <strong>und</strong> Partizipationsspielräumen möglich.<br />

Darüber hinaus stellt das Angebot der <strong>Eigenarbeit</strong> im Kempodium für uns aber auch<br />

eine Möglichkeit dar, auf einer übergeordneten Ebene Gestaltungskompetenzen zu<br />

erweitern: Dies wird deutlich am Beispiel des Besuchers, der <strong>Eigenarbeit</strong> als aktive<br />

Bewältigung zum Umgang mit beruflichen Stressfaktoren (einseitige <strong>Arbeit</strong>sprozesse<br />

<strong>und</strong> zunehmender Druck) betreibt. Die Option zur <strong>Eigenarbeit</strong> ermöglicht somit auch<br />

einen Spielraum für Muße <strong>und</strong> Regeneration.<br />

<strong>Eigenarbeit</strong> <strong>und</strong> soziales Erleben:<br />

Auf der Basis unserer Gespräche im Kempodium haben wir erfahren, dass soziales Er-<br />

leben in Verbindung mit <strong>Eigenarbeit</strong> insbesondere in den Kinder- <strong>und</strong> Jugend- bzw.<br />

147


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

Schulprojekten stattfindet. Dort wird gemeinsames Tätigsein in der Gruppe erfahrbar<br />

<strong>und</strong> ermöglicht ein Lernfeld für soziale Kompetenz, das von gegenseitigem Helfen <strong>und</strong><br />

Unterstützen (im Sinne von Kühnlein 1997, S. 44) geprägt ist.<br />

Darüber, ob in der offenen Werkstattnutzung „Begegnungen über das Werkstück“<br />

(ebd.) erfolgen, ob <strong>handwerkliche</strong>s <strong>Arbeit</strong>en eine Kommunikationsbrücke zwischen<br />

Menschen herstellt, haben wir keine spezifischen Aussagen erhalten. Erwähnt wurde<br />

diesbezüglich nur die Begeisterung darüber, was in der Kinderwerkstatt passiert.<br />

Wir halten dennoch an unserer Annahme fest. Dazu veranlasst uns zum einen unser<br />

kurzer persönlicher Einblick in die Werkstätten (zur Erinnerung: das Gruppengespräch<br />

fand im Werkstattbistro mit Blick in die Holzwerkstatt statt). Wir haben zwar keine empi-<br />

rische Beobachtung nach<br />

wissenschaftlichen Kriterien durchgeführt, hatten aber den<br />

Eindruck, dass dort sehr rege kommuniziert wurde. Zudem spricht die mehrfach als<br />

sehr angenehm beschriebene Atmosphäre im Kempodium dafür, dass die Menschen<br />

nicht einfach nur isoliert „nebeneinander vor sich hinarbeiten“. Welcher Qualität allerdings<br />

die zwischenmenschlichen Kontakte sind, welche Bedeutung sie für den oder die<br />

Einzelne/n haben, muss offenbleiben.<br />

<strong>Eigenarbeit</strong> für alle?<br />

Ausgehend von unseren Gesprächen kommen wir zu der Vermutung, dass <strong>Eigenarbeit</strong><br />

im Kempodium überwiegend in Ergänzung zur <strong>Erwerbsarbeit</strong> geschieht.<br />

Zwar wurde auch das Beispiel eines Sozialhilfeempfängers genannt, der die<br />

Werkstät-<br />

ten<br />

eine Weile genutzt hat. Dieser „hat dann auch ´ne Latte Schulden hier aufgebaut,<br />

aber er war auch hinterher da <strong>und</strong> hat die Schulden wieder abgebaut“ (W 866). Dieses<br />

Beispiel scheint aber eher eine Ausnahme darzustellen – was hinsichtlich der finanziel-<br />

len (<strong>und</strong> möglicherweise folgenden psychischen) Belastung auch nicht verw<strong>und</strong>erlich<br />

ist. Es bestätigt die Vermutungen der BesucherInnen, insbesondere der finanzielle As<br />

pekt stelle für Menschen mit wenig Geld eine Zugangshürde dar (siehe auch Kap. II<br />

4.2.4). Daneben wurden begrenzte Zeit- <strong>und</strong> Energieressourcen erwähnt.<br />

Dass <strong>Eigenarbeit</strong> nicht voraussetzungslos durchgeführt werden kann, haben wir bereits<br />

in Kap. I 2 festgestellt. Neben der dort genannten Hintergr<strong>und</strong>sicherheit, schätzen wir<br />

auf individueller Ebene die persönliche Lebenssituation der Befragten, unter Einbezug<br />

von<br />

Lebenslage <strong>und</strong> sich daraus ergebender Handlungsspielräume (vgl. Kap. I 4.5)<br />

sowie dem biografischen „Geworden-sein“, als entscheidend ein. Ihre Vorgeschichte,<br />

ihre Interessen, (Vor-) Erfahrungen <strong>und</strong> persönlichen Neigungen haben den NutzerInnen<br />

des Kempodium den Zugang zur <strong>Eigenarbeit</strong> erleichtert: zwei Teilnehmer haben<br />

zeitweise selber beruflich handwerklich gearbeitet, die beiden anderen erwähnten ei-<br />

148


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

nen ehemaligen Berufswunsch <strong>und</strong> positive Erfahrungen mit <strong>handwerkliche</strong>n Tätigkeiten<br />

aus der Kindheit.<br />

Neben individuellen spielen aber auch strukturelle Voraussetzungen eine Rolle dafür,<br />

wie<br />

der Zugang zu <strong>Eigenarbeit</strong> in einem offenen Rahmen gestaltet ist. Der finanzielle<br />

Aspekt stellt dabei einen Gesichtspunkt dar. Kühnlein (1997, S. 44) benennt als eine<br />

Bedingung dafür, dass öffentliche <strong>Eigenarbeit</strong> allen Interessierten offensteht, sozial ge-<br />

staffelte Preise <strong>und</strong> fordert in diesem Zusammenhang öffentliche Subventionierung. Im<br />

Kempodium gibt es zwar eine solche Preisstaffelung, dennoch wünschen sich die beiden<br />

Mitarbeiter noch mehr Möglichkeiten, Menschen mit geringem finanziellem Spielraum<br />

entgegenzukommen.<br />

Als weitere Bedingung nennt Kühnlein (vgl. ebd.) ein nutzerorientiertes Beratungsangebot<br />

mit didaktischem Konzept, das Eigeninitiative <strong>und</strong> Selbstvertrauen fördert.<br />

Ein<br />

solches professionelles <strong>Arbeit</strong>sverständnis ist im Kempodium sehr ausgeprägt vorhanden.<br />

Dieses baut auf einer ressourcenorientierten Haltung auf: die FachanleiterInnen<br />

setzten bewusst an den Fähigkeiten der BesucherInnen an <strong>und</strong> ermutigen dazu, sich<br />

auf den <strong>Arbeit</strong>sprozess einzulassen <strong>und</strong> die Umsetzung eines <strong>handwerkliche</strong>n Vorha<br />

bens in die Hand zu nehmen. Von den NutzerInnen wird dieses Angebot als unterstützend<br />

erlebt, es bietet Rückhalt <strong>und</strong> trägt zur qualitativen Verbesserung der <strong>Arbeit</strong>svor-<br />

haben bei. Eigene gestalterische Potenziale können erweitert werden. Die<br />

Sensibilisierung <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>sweise der MitarbeiterInnen trägt zudem dazu bei, dass tra-<br />

ditionelle Geschlechtergrenzen im Werkstattbereich überschritten werden können. Hier<br />

sind für uns deutliche Parallelen zum Empowerment-Ansatz vorhanden,<br />

in dem die<br />

Selbstbefähigung des Menschen im Zentrum steht (siehe dazu auch Kap. II 5.2).<br />

Konzeptionell wird im Kempodium Wert auf eine konsequente Umsetzung der Ziele gelegt:<br />

die Menschen sollen ihre Fähigkeiten von Gr<strong>und</strong> auf erfahren. Dabei wird eine<br />

Abgrenzung zur normierten Fertigung von Gegenständen nach „Bausatz-Prinzip“ vorgenommen.<br />

Dies beinhaltet einen hohen Anspruch – für MitarbeiterInnen, aber auch<br />

für BesucherInnen. Wir vermuten, dass dieser Anspruch, so sehr er bestimmten Personengruppen<br />

entgegenkommt, möglicherweise andere abschreckt.<br />

Insgesamt schätzen wir das Angebot der Werkstattnutzung aus eigener Initiative insofern<br />

als relativ hochschwellig ein. Es spricht – so unsere Vermutung – eine bestimmte<br />

Gruppe von Menschen an, die einen Zugang zu <strong>und</strong> einen Bedarf nach <strong>Eigenarbeit</strong><br />

sowie finanzielle Mittel mitbringen. Eine Studie im Münchner Haus der <strong>Eigenarbeit</strong> hat<br />

Ähnliches ergeben: die NutzerInnen dort sind „überwiegend gut ausgebildet, meist berufstätig<br />

<strong>und</strong> finanziell gut gestellt“ (Mutz et al. 1997, S. 26). Die Äußerung des Wun-<br />

149


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

sches von Herrn W, „dass man alle Schichten der Bevölkerung einbindet“ (W 373), legt<br />

die Vermutung nahe, dass dies bislang nicht immer gelingt. Durch gezielte Projekte wie<br />

z.<br />

B. Jugendprojekte im Rahmen des <strong>Soziale</strong>-Stadt-Programms werden zwar zusätzli-<br />

che Personengruppen ins Haus geholt, die man sonst vielleicht nicht erreichen würde.<br />

Allerdings tauchen diese „an sich dann kaum in der normalen Werkstattnutzung auf“<br />

(MS 454), so Herr Slavicek. Durch die Schulprojekte, die beiden Mitarbeitern sehr am<br />

Herzen liegen, ermöglicht das Kempodium wiederum einen breiten Zugang: jedes Kind<br />

bekommt durch dieses Angebot die Möglichkeit einer Erfahrungserweiterung.<br />

4.3.2 Bedeutung des Kempodium als be sonderes infrastrukturelles Angebot<br />

Im Portrait haben wir anklingen lassen, dass das Kempodium in einer Region platziert<br />

ist, die neben dem Oberzentrum Kempten ländliche Gemeinden umfasst.<br />

Die Einrich-<br />

tung<br />

selbst stellt sich als Bürgerzentrum der besonderen Art vor (Kempodium-<br />

Broschüre). Das Kempodium stellt aus unserer Sicht, neben vielen anderen Angeboten<br />

in der Region, eine spezifische Möglichkeit dar, öffentliche Infrastrukturen für sich zu<br />

nutzen.<br />

Wir möchten nun die Bedeutung in den Blick nehmen, die das Kempodium als infrastrukturelles<br />

Angebot für die Menschen in der Region einnimmt.<br />

Ähnlich wie in Wolfen-Nord, sehen wir auch in der <strong>Arbeit</strong> des Kempodium Aspekte von<br />

Gemeinwesenarbeit (GWA). Diese sind jedoch ganz anderer Art <strong>und</strong> decken sehr<br />

un-<br />

terschiedliche Bedarfe ab. Bevor<br />

wir die gef<strong>und</strong>enen Gesichtspunkte erläutern, nehmen<br />

wir jedoch zunächst eine gr<strong>und</strong>legende Abgrenzung vor, denn das Angebot des<br />

Kempodium insgesamt als GWA zu bezeichnen, wäre nicht passend.<br />

ier liegt ein zentraler Unterschied: Das Kempodium möchte zwar u. a. eine Lücke im<br />

Stadtteil Eich schließen, in dem es angesiedelt ist (vgl. Difu 2005), ist aber nicht zuständig<br />

für „alle Belange“ dieses Stadtteils, wie es z. B. die Stadtteilarbeit in Thingers-<br />

81<br />

GWA zielt als sozialräumliche Strategie auf die Verbesserungen der Lebensbedingungen<br />

von Menschen ab. Darin enthalten ist eine Verschiebung von der Orientierung auf<br />

einzelne Individuen („Fall“) hin zu einer sozialräumlichen Einheit („Feld“) 82 (vgl.<br />

Oelschlägel 2001, S. 653).<br />

H<br />

81<br />

Diese Abgrenzung soll <strong>und</strong> kann keine Vollständigkeit bieten: es geht nicht darum, aufzuzei-<br />

gen, was alles nicht GWA<br />

ist.<br />

82<br />

Hinsichtlich Bestimmung <strong>und</strong> Abgrenzung eines Sozialraumes gibt es unterschiedliche Ansätze.<br />

Sozialraum kann dabei bspw. als „von außen“ festgelegte Planungs- <strong>und</strong> Handlungseinheit<br />

oder als subjektiv-lebensweltlicher Raumbegriff verstanden werden<br />

kann (vgl. dazu Ga-<br />

luske<br />

2007, S. 278).<br />

150


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

Nord ist. 83 Ziel des Kempodium ist nicht, primär innerhalb eines Gemeinwesens im Sin-<br />

ne eines Stadtteils oder Quartiers zu agieren, sondern es möchte mit seiner ideellen<br />

Zielsetzung ein Ort für besondere<br />

Bedarfe innerhalb einer Region sein.<br />

Die nachfolgenden in der Auswertung vorgef<strong>und</strong>enen Parallelen zur Gemeinwesenarbeit<br />

(unter Bezugnahme auf Oelschlägel 2001, S. 654) heben wir im Folgenden wieder<br />

mit Unterstreichung hervor.<br />

Das Kempodium stellt für die Menschen in der Region nützliche Dienstleistungen <strong>und</strong><br />

Ressourcen zur Verfügung: In Kap. II 4.2.1 haben wir erfahren, dass die befragten<br />

NutzerInnen angaben, sie hätten ihre Vorhaben ohne die Kempodium-Werkstätten<br />

nicht verwirklichen können – sowohl aufgr<strong>und</strong> mangelnder Maschinen- <strong>und</strong> Werkzeugausstattung<br />

als auch aufgr<strong>und</strong> fehlenden Platzes im privaten Haushalt. Ebenso stellt<br />

die Hausnutzung für private Feste <strong>und</strong> Zusammenkünfte einen privaten Bedarf im Ge-<br />

meinwesen dar. Im Kaufhaus Allerhand können Menschen günstig Gebrauchsgegenstände<br />

erwerben.<br />

Durch die Bereitstellung einer Infrastruktur deckt das Kempodium so-<br />

mit<br />

in einem öffentlich zugänglichen Raum ausgewählte private Bedarfe ab <strong>und</strong> knüpft<br />

dabei an die Lebenswelt bestimmter Personengruppen an.<br />

Gleichzeitig werden diese Ressourcen auch von anderen Einrichtungen genutzt (z. B.<br />

Schulen).<br />

Als gesellschaftlicher Ort leistet das Kempodium Kulturarbeit <strong>und</strong> fördert Eigentätigkeit<br />

<strong>und</strong> Genuss. Oelschlägel (ebd.) schreibt: „Wir gehen davon aus, dass Menschen aller<br />

Schichten kulturelle Aneignungs- <strong>und</strong> Ausdrucksbedürfnisse haben. (…) Kultur ist kein<br />

vom Alltag getrenntes Phänomen, sie gehört in den Zusammenhang der Gestaltung<br />

von Lebensverhältnissen, zu einem „guten Leben“ (…). Das betrifft sowohl den Konsum<br />

von Kultur als auch die eigene schöpferische kulturelle Tätigkeit. Für beides stellt<br />

GWA Ermöglichungsräume zur Verfügung. Ihr Ziel ist ein anregungsreiches kulturelles<br />

Milieu im Stadtteil.“<br />

Wir sehen im Kempodium einen Möglichkeitsraum, der die soziokulturelle Infrastruktur<br />

bereichert. Er stellt ein „Probierfeld“ (MS 686) dar, innerhalb<br />

dessen Menschen „selber<br />

aktiv werden“ (MS 683) <strong>und</strong> etwas für sich <strong>und</strong> ihr Wohlbefinden tun können. Herr Slavicek<br />

beschreibt beispielhaft „Ich versuch mich mal in dem Bereich oder ich kann mal<br />

83<br />

Dort entstand bspw. im Rahmen des <strong>Soziale</strong>-Stadt-Programms der „Bürgertreff in Thingers“,<br />

eine Anlaufstelle<br />

für die BewohnerInnen direkt im Wohnviertel vor Ort mit Veranstaltungen, der<br />

Möglichkeit zur Raummiete,<br />

einem Stadtteilbüro etc. (vgl. Difu 2007).<br />

151


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

hier zum Schweißen kommen <strong>und</strong> schauen, macht mir das Spaß (…) ohne dass da<br />

jetzt irgendein Zeugnis ausgestellt wird“ (MS 686-689).<br />

Vielfältige Möglichkeiten, sich ehrenamtlich zu engagieren, bieten zudem die Chance,<br />

den kulturellen Nahraum (mit) zu gestalten, ganz nach dem Motto, „da wo ich wohne,<br />

da mach ich was für mich“ (MS 681). Hierbei können eigene Interessen mit anderen<br />

Menschen geteilt <strong>und</strong> verknüpft werden <strong>und</strong> davon ausgehend etwas auf die Beine gestellt<br />

werden, das der Gemeinschaft zu Gute kommt (wie z. B. Feste, Veranstaltungen,<br />

Disco).<br />

Wenn man Politik im weitesten Sinne als Gestaltung menschlichen Zusammenlebens<br />

versteht, liegt für uns die Vermutung nahe, dass im Kempodium durch seine ausgesprochen<br />

ideelle Zielsetzung – wie z. B. die Suche nach regionalen Lösungen für glo-<br />

bal bedingte gesellschaftliche Herausforderungen – die bewusste Auseinandersetzung<br />

mit bestimmten Themen<br />

<strong>und</strong> Sinnfragen möglich ist (vgl. die Aussage von Herrn W zu<br />

gesellschaftlich bedingten Zugangshürden in Kap. II 4.2.4). Inwieweit dies im kleinen<br />

Rahmen relevant ist bzw. gelebt wird, also ob sich z. B. in der offenen Werkstattnutzung,<br />

im Bistro oder bei Festen politische Gespräche entwickeln, können wir nicht einschätzen.<br />

Spezielle Veranstaltungen<br />

wie die Reihe „Pioniere der Region“ ermöglichen<br />

aber<br />

gezielt derartige Begegnungen <strong>und</strong> Diskussionen. Die Einrichtung stellt einen An-<br />

lauf- <strong>und</strong> Treffpunkt für einzelne Menschen <strong>und</strong> Initiativen dar, an dem Ideen zur gesellschaftlichen<br />

Gestaltung bewegt werden; im weitesten Sinne findet somit politische<br />

Willensbildung statt.<br />

Hierzu trägt insbesondere auch die in Kap. II 4.2.4 beschriebene Vernetzung <strong>und</strong> Kooperation<br />

mit verschiedenen Initiativen, Vereinen <strong>und</strong> Bildungsträgern bei. Diese macht<br />

darüber hinaus neben gemeinsamer Nutzung von Ressourcen in der Region auch gemeinsame<br />

Projekte möglich.<br />

Wir möchten nun noch einmal auf unsere Hypothesen zurückkommen. Dafür werfen<br />

wir zunächst einen Blick darauf, welche Personengruppen das Kempodium nutzen.<br />

Wir haben bereits erwähnt, dass das Kempodium möglichst viele Zielgruppen errei<br />

chen möchte – sowohl Menschen aus „stabileren“ Lebensverhältnissen wie auch Menschen<br />

aus bildungsferneren Milieus. Im Zusammenhang mit <strong>Eigenarbeit</strong> <strong>und</strong> dem<br />

Werkstattangebot haben wir unsere Einschätzung bezüglich<br />

des Zuganges schon geschildert:<br />

Dieses Angebot scheint eher die Mitte der Gesellschaft anzusprechen.<br />

Wir nehmen an, dass es sich beim ehrenamtlichen Engagement ähnlich verhält.<br />

Darüber hinaus haben wir erfahren, dass dagegen die Feste, das Angebot zur Raummiete<br />

<strong>und</strong> das Kaufhaus Allerhand von den unterschiedlichsten Personengruppen in<br />

152


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

Anspruch genommen werden. Oben erwähnte Projekte (<strong>Soziale</strong> Stadt, Qualifizierungsmaßnahmen)<br />

scheinen dabei durchaus eine Brücke zum Haus darzustellen. Herr<br />

Slavicek berichtete: „Wir haben eher dann andere Hausnutzungen durch diese Projekte,<br />

was sich dann sozusagen rumspricht“<br />

(MS 456).<br />

Begegnungen <strong>und</strong> soziales Erleben finden im Kempodium aufgr<strong>und</strong> unserer Gespräche<br />

insbesondere bei Festen <strong>und</strong> kulturellen Veranstaltungen sowie in separaten Pro-<br />

jekten statt. Des Weiteren wurde die Bedeutung gemeinschaftlichen Erlebens im Zusammenhang<br />

mit ehrenamtlichem Engagement deutlich. Dieses wurde in Kap. II 4.2.3<br />

als tendenziell zeitlich begrenzt charakterisiert. Insofern haben Gemeinschaft <strong>und</strong> Begegnung<br />

im Kempodium nicht in erster Linie den Stellenwert von etwas alltäglich Ge-<br />

lebtem<br />

wie im Kreativzentrum, sondern sind etwas, das bei außergewöhnlichen Anlässen<br />

erfahren, also partiell gelebt wird.<br />

Inwieweit sich Personengruppen<br />

mit „unterschiedlichen Hintergr<strong>und</strong>“ (z. B. Milieu) tref-<br />

fen <strong>und</strong> begegnen, ist nur ansatzweise angeklungen. Ob z. B. TeilnehmerInnen der<br />

Qualifizierungsmaßnahmen Kontakte zu den WerkstattnutzerInnen „in eigener Sache“<br />

knüpfen oder in welcher Form interkulturelle oder generationsübergreifende Begegnungen<br />

stattfinden, können wir mangels Aussagen nicht einschätzen, weshalb diese<br />

Annahme offenbleiben muss.<br />

4.4 Resümee<br />

Die anstiftung suchte in der Gründungsphase des Kempodium gezielt nach<br />

einem Ort,<br />

an<br />

dem sie – von einem Bedarf <strong>und</strong> einer Vision ausgehend – an lokale Initiativen <strong>und</strong><br />

vorhandenes Potenzial anknüpfen konnte. In Kempten fand sie einen Standort, an dem<br />

vielfältige kulturelle <strong>und</strong> soziale Ressourcen aufgegriffen werden konnten. Die Region<br />

kann als durch einen relativen<br />

wirtschaftlichen Wohlstand geprägt bezeichnet werden.<br />

Die Projektidee stieß dort auf große Resonanz, <strong>und</strong> viele engagierte Menschen vor<br />

Ort<br />

trugen dazu bei, dass das Kempodium mittlerweile einen festen Platz in Stadt <strong>und</strong> Region<br />

eingenommen<br />

hat. In der regionalen Struktur stellt das Kempodium ein Angebot<br />

neben vielen anderen dar, das von einem besonderen<br />

Profil geprägt ist.<br />

Das Kempodium ist aus unserer Sicht ein Ort, an dem Menschen<br />

eine besondere Ge-<br />

legenheitsstruktur zur Verfügung gestellt wird, die bei Bedarf genutzt werden kann.<br />

Dabei wird die Einrichtung<br />

•<br />

zum Vernetzungspunkt für spezielle Interessen, Einrichtungen <strong>und</strong> Verbände<br />

• zum Probierfeld <strong>und</strong> Möglichkeitsraum für eigene Fähigkeiten <strong>und</strong> verschiedenste<br />

Aktivitäten<br />

• zur Begegnungsstätte für besondere Anlässe<br />

153


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

• zu einer Bildungseinrichtung im weitesten Sinn, die von unterschiedlichen Men-<br />

schen, Gruppen <strong>und</strong> auch anderen Trägern genutzt wird<br />

Durch die Bereitstellung eines infrastrukturellen Angebotes erweitert die Einrichtung<br />

verschiedene Handlungsspielräume für die NutzerInnen.<br />

Handwerkliche<br />

<strong>Eigenarbeit</strong> stellt im Kempodium ein zentrales Angebot dar, das die Be-<br />

sucherInnen nutzen, um<br />

• passgenaue, individuelle Dinge herzustellen <strong>und</strong> zu gestalten<br />

• unterstützende Fachberatung bei ihren Vorhaben zu erhalten<br />

• eine <strong>Arbeit</strong>sweise zu leben, die dem eigenen Rhythmus entspricht<br />

• <strong>Arbeit</strong>sformen zu erleben, die Spaß machen <strong>und</strong> Wohlbefinden spenden<br />

• einen entlastenden Ausgleich zu <strong>Erwerbsarbeit</strong> erfahren<br />

Dabei können sie wertvolle Erfahrungen machen, die sich stärkend auf ihre Persönlichkeit<br />

auswirken: sie erfahren, Herausforderungen zu bewältigen <strong>und</strong> in ihrem Tätigsein<br />

Einfluss nehmen zu können; sie erleben ebenso eine Erweiterung ihrer Fähigkei-<br />

ten, Kompetenzen <strong>und</strong> Talente sowie<br />

Stolz <strong>und</strong> Wertschätzung.<br />

Aufgr<strong>und</strong><br />

unserer Befragung vermuten wir, dass <strong>handwerkliche</strong> <strong>Eigenarbeit</strong> als offenes<br />

Angebot innerhalb der Werkstätten vornehmlich von ganz bestimmten Personengruppen<br />

in Ergänzung zur <strong>Erwerbsarbeit</strong> angenommen wird. Insgesamt ist der Zugang aus<br />

eigener Initiative als relativ hochschwellig einzuschätzen.<br />

In verschiedenen Projekten wird <strong>handwerkliche</strong>s Tätigsein als Erfahrungserweiterung<br />

für zusätzliche Personengruppen in vorstrukturierter Form (Schulprojekte, Qualifizie-<br />

rungsmaßnahmen…) angeboten.<br />

Daneben<br />

finden ehrenamtlich engagierte Menschen im Kempodium Möglichkeiten vor,<br />

kulturell, sozial <strong>und</strong> gestalterisch aktiv zu werden. Sie können eigene Interessen mit<br />

denen anderer verknüpfen <strong>und</strong> davon ausgehend etwas auf die Beine stellen, das dem<br />

Gemeinwesen zu Gute kommt (z. B. die Disco). Sie können sich <strong>und</strong> ihre Fähigkeiten<br />

im weitesten Sinn ausprobieren. Dabei schätzen sie vor allem die Möglichkeit, Gemeinschaft<br />

zu leben, etwas zu bewegen <strong>und</strong> (mit) zu gestalten <strong>und</strong> ihre Überzeugungen<br />

in konkretes Handeln umzusetzen.<br />

Wir sehen Ähnlichkeiten bezüglich <strong>Eigenarbeit</strong> <strong>und</strong> ehrenamtlichem Engagement. Bei-<br />

des sind Sphären jenseits der <strong>Erwerbsarbeit</strong>.<br />

In beiden Bereichen wird etwas freiwillig<br />

<strong>und</strong><br />

selbstbestimmt getan: bei der <strong>Eigenarbeit</strong> primär für den eigenen Gebrauch, im<br />

Ehrenamt vordergründig mit einem gemeinwohlorientierten Ziel. Wir haben festgestellt,<br />

154


Das Kempodium e. V. – Allgäuer Zentrum für Eigenversorgung<br />

dass beide Sphären für die BesucherInnen in Ergänzung zur <strong>Erwerbsarbeit</strong> in ihrem<br />

Alltag eine wichtige Bedeutung besitzen <strong>und</strong> dass das Kempodium als Ermöglichungs-<br />

raum zu einer Umsetzung beiträgt. Dabei fanden wir unsere Vermutung bestätigt, dass<br />

beide Sphären hinter der <strong>Erwerbsarbeit</strong> rangieren. Im Erleben der NutzerInnen<br />

bleibt<br />

<strong>Eigenarbeit</strong><br />

Hobby <strong>und</strong> Freizeitgestaltung.<br />

Zusammenfassend halten wir fest, dass das Kempodium in seiner spezifischen Ausprägung<br />

eine Bereicherung für die soziokulturelle Infrastruktur von Stadt <strong>und</strong> Region<br />

Kempten<br />

darstellt. Entsprechend der regionalen Bedarfslage findet im Kempodium auf<br />

verschiedenen Ebenen soziales <strong>und</strong> gestalterisches Erleben statt.<br />

Für uns haben sich aus den Einblicken, die wir durch die Betrachtung<br />

der gelebten<br />

Praxis erhalten haben, weiterführende Fragen aufgetan, die zu vertiefen interessant<br />

wäre.<br />

Welche Entwicklungen können sich aus dem angedeuteten Spannungsverhältnis zwischen<br />

aktuellen Tendenzen im Ehrenamtlichen Engagement <strong>und</strong> den organisatorischen<br />

<strong>und</strong> finanziellen Anforderungen<br />

des Kempodium ergeben?<br />

Inwiefern bietet das Kempodium seinen ehrenamtlichen MitarbeiterInnen Partizipationsoptionen<br />

im Hinblick auf eine nicht-formelle, spontane <strong>und</strong> damit leicht zugängliche<br />

Einflussnahme auf die Gestaltung des Geschehens in der Einrichtung?<br />

Wie sind nähere Zusammenhänge zwischen verschiedenen Nutzergruppen, deren Hintergr<strong>und</strong><br />

<strong>und</strong> der Ausgestaltung der Angebote zu deuten? Welche Gruppen erreicht<br />

man mit welchen Angeboten?<br />

155


Offene Werkstätten – ein Modell für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>?<br />

5. Offene Werkstätten – ein Modell für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>?<br />

Versteht sich <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> als Integrationsprofession mit Inklusionsaufgabe, dann<br />

muss sie in der Zweiten Moderne ihr Profil daraufhin schärfen, dass sie auf die veränderte<br />

Situation im Bereich der <strong>Arbeit</strong> eingeht. „Die Bedeutung von <strong>Arbeit</strong> wird sich ebenso<br />

verändern wie das Verhältnis von <strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> Nicht-<strong>Arbeit</strong>: mit allen Konsequenzen<br />

für die Veränderung von Lebensmustern <strong>und</strong> für das Verhältnis von Integration <strong>und</strong><br />

Desintegration in der Gesellschaft“ (Füssenhäusser/ Thiersch 2001, S. 1897). Die Autoren<br />

folgern weiter: „Auch die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> ist hier gefordert, flexibel nach alternativen<br />

Handlungsstrategien zu fragen, bzw. diese in ihrem Kontext <strong>und</strong> innerhalb ihrer<br />

Möglichkeiten einzufordern (ebd. S. 1898).<br />

Werner Thole (2002, S. 47) konkretisiert: „Infolge der Verschiebung bisher gültiger gesellschaftlicher<br />

Gr<strong>und</strong>konstanten kann die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> ihr Angebotsprofil keineswegs<br />

mehr konzentrisch <strong>und</strong> ausschließlich auf soziale Probleme fixieren. Die Verallgemeinerung<br />

der Problemfälle hält die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> an, sich zu einem ‚normalisierten’, quasi<br />

‚veralltäglichten’, im Alltag allseits präsenten, lebensweltorientierten <strong>und</strong> unterstützenden<br />

Hilfs-, Unterstützungs-, Bildungsangebot sowie zu einer Begleiterin, Initiatorin <strong>und</strong><br />

Unterstützerin von Bildungsprozessen zu erweitern.“<br />

Ausgehend von unseren Forschungsergebnissen werden wir nun auf unsere Ausgangsfrage<br />

zurückkommen: Könnte nicht, vor dem Hintergr<strong>und</strong> der Risiken <strong>und</strong><br />

Schwierigkeiten in der Zweiten Moderne, das Modell der Offenen Werkstätten wertvolle<br />

Ansatzpunkte für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> liefern? Stellt ein Bürgerhaus mit offenen Werkstätten<br />

für <strong>Eigenarbeit</strong> eine geeignete Handlungsstrategie dar? Könnte eine derartige Einrichtung<br />

ein Hilfs-, Unterstützungs- <strong>und</strong> Bildungsangebot sein, das zur Stärkung von<br />

Kompetenzen <strong>und</strong> zur Inszenierung belastbarer Infrastrukturen beiträgt?<br />

Dass es Anknüpfungspunkte zur <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> gibt <strong>und</strong> dass diese auch bereits genutzt<br />

werden, zeigt die Praxis in beiden Einrichtungen. Es gibt zahlreiche Angebotsbereiche,<br />

die klar Überschneidungen zur <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> aufweisen. Im Kempodium z. B.<br />

das Jugendprojekt „Wir möbeln unsere Ausbildungschancen auf“, in Wolfen-Nord z. B.<br />

das niederschwellige Computerangebot oder die <strong>Arbeit</strong> mit Angehörigen von Suchtkranken.<br />

An beiden Orten wird das Tätige mit dem <strong>Soziale</strong>n verb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> uns wurde<br />

geschildert, dass Menschen wegen des sozialen <strong>und</strong>/ oder gestalterischen Erlebens<br />

die Einrichtung gerne besuchen bzw. sich dort engagieren. Obwohl das Kempodium<br />

<strong>und</strong> das Kreativzentrum keine Einrichtungen der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> sind, stellen sie für<br />

156


Offene Werkstätten – ein Modell für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>?<br />

uns jedoch konkrete Modelle dar, anhand derer wir erwägen, welche Potenziale sich<br />

für <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> daraus ergeben. Wie ließe sich ein solches Konzept in sozialarbeiterischer<br />

Zielsetzung weiterentwickeln? Dabei bewegen wir uns zwischen der konkreten<br />

Ebene des Vorgef<strong>und</strong>enen <strong>und</strong> einer abstrakten Ebene der theoretischen Diskussion<br />

eines innovativen Projektes der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong>.<br />

Zur Übersicht beginnen wir mit einer tabellarischen Gegenüberstellung der Ergebnisse<br />

aus den beiden Einrichtungen. Im Anschluss knüpfen wir an die von Thiersch formulierten<br />

Ziele der lebensweltorientierten <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> an (siehe Kap. I 4), d. h. wir nehmen<br />

die Chancen für eine Stärkung persönlicher Kompetenzen <strong>und</strong> für die Gestaltung<br />

der Verhältnisse in den Blick. Anschließend diskutieren wir Grenzen <strong>und</strong> Risiken unseres<br />

Entwurfs.<br />

5.1 Gegenüberstellung Kreativzentrum <strong>und</strong> Kempodium<br />

Die beiden vorangegangenen Kapitel (II 3. <strong>und</strong> II 4.) haben sich intensiv mit den beiden<br />

Einrichtungen <strong>und</strong> den Bedingungen <strong>und</strong> Gegebenheiten vor Ort beschäftigt. Nun<br />

möchten wir unsere Untersuchungsergebnisse aus Kreativzentrum <strong>und</strong> Kempodium<br />

konzentriert gegenüberstellen. Diese Tabelle kann <strong>und</strong> soll dabei keine Vollständigkeit<br />

bieten, die Stichworte sind sozusagen als „Auffrischung“ der Ergebnisse in den untersuchten<br />

Fragekategorien anzusehen.<br />

Gleichzeitig gibt sie einen Überblick darüber, unter welchen Rahmenbedingungen <strong>und</strong><br />

lokalen Gegebenheiten die Einrichtungen arbeiten <strong>und</strong> welche Bandbreite an Sichtweisen<br />

<strong>und</strong> Deutungen wir insgesamt vorgef<strong>und</strong>en haben. Parallelen zeigen dabei auf,<br />

welche Elemente scheinbar ortsunabhängig bedeutungsvoll sind, <strong>und</strong> Abweichungen<br />

können im Licht der unterschiedlichen regionalen Bedingungen gesehen werden. Auf<br />

dieser Gr<strong>und</strong>lage können wir die Ergebnisse aus einem sozialräumlich sensiblen<br />

Blickwinkel besprechen.<br />

157


Kreativzentrum Kempodium<br />

Region<br />

• Stadtteil Wolfen-Nord mit zurzeit ca.17.000<br />

Ew., ehem. Industriearbeitersiedlung<br />

• seit der Wende Wegzug von ca. 18.000 Menschen,<br />

Trend anhaltend<br />

• hohe <strong>Arbeit</strong>slosenquote<br />

• Überalterung der Bevölkerung<br />

• kaum soziale <strong>und</strong> kulturelle Angebote<br />

Gefühlte Lebensqualität der Befragten in der Region<br />

• Bleiben in der Region trotz schlechter Perspektiven<br />

Entstehung<br />

• die anstiftung reagiert auf Anfrage der Stiftung<br />

Bauhaus Dessau <strong>und</strong> ABM-<br />

Trägergesellschaft GÖS (Mitte 90er Jahre)<br />

mit der Idee, ein dem HEi vergleichbares<br />

Zentrum für <strong>Eigenarbeit</strong> einzurichten. Gründung<br />

des Vereins <strong>und</strong> Eröffnung: 1998<br />

Rahmenbedingungen<br />

• keine hauptamtlich Beschäftigten<br />

• 15 Ehrenamtliche (sechs davon kommen<br />

täglich)<br />

• neun 1-€-JobberInnen<br />

• FachanleiterInnen sind 1-€-Jobber bzw. Ehrenamtliche<br />

• Öffnungszeiten Mo-Sa, nahezu ganztägig<br />

• Werkstattnutzung nahezu kostenlos<br />

• vielseitige Angebotspalette über das Werkstattangebot<br />

hinaus<br />

Ziele der Einrichtung<br />

• Begegnungs-, Kontakt- <strong>und</strong> Anlaufstelle für<br />

die Menschen im Stadtteil, soziale, integrative<br />

Aktivitäten vordergründig<br />

• Menschen aus der Isolation in die Gemeinschaft<br />

holen, Beschäftigungsmöglichkeiten<br />

bieten<br />

• Verankerung in der Region <strong>und</strong> Vernetzung<br />

durch vielfältige Kooperationen<br />

Zielgruppen<br />

• Angebot richtet sich an alle BewohnerInnen<br />

des Stadtteils <strong>und</strong> der Umgebung<br />

• Jeder ist willkommen<br />

• spezielle Projekte binden Gruppen wie<br />

SchülerInnen, Jugendliche, Kindergartenkinder<br />

ein<br />

Offene Werkstätten – ein Modell für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>?<br />

• Stadt Kempten mit 65.000 Ew.<br />

• gewachsene Stadt, regionales Zentrum in<br />

landwirtschaftlich <strong>und</strong> touristisch geprägter<br />

Region<br />

• niedrige <strong>Arbeit</strong>slosenquote (ca. 6%).<br />

• Altersstruktur durchschnittlich für BRD<br />

• vielfältiges soziales <strong>und</strong> kulturelles Angebot<br />

• Wohlfühlen, Region bietet viel (Natur, Kultur,<br />

Infrastruktur), „gemütlich“<br />

• die anstiftung sucht 1996 nach geeigneten<br />

Kooperationspartnern für ein Projekt im<br />

ländlichen Raum <strong>und</strong> findet in Kempten eine<br />

Stadt mit Anknüpfungspunkten <strong>und</strong> regen,<br />

interessierten BürgerInnen-Initiativen.<br />

Gründung des Vereins <strong>und</strong> Eröffnung: 2000<br />

• 13 hauptamtlich Beschäftigte (Kempodium:<br />

7, Kaufhaus: 6), Geschäftsführer (100%),<br />

sonst Teilzeitkräfte<br />

• + verschiedene Honorarkräfte<br />

• + wechselnde Ehrenamtliche<br />

• neun 1,50-€-JobberInnen<br />

• FachanleiterInnen sind Honorarkräfte, 1,50-€-<br />

Jobber üben eher Hilfstätigkeiten aus<br />

• Öffnungszeiten Mi-Sa, auf Berufstätige zugeschnitten<br />

• Werkstattnutzung 4,50-6,60 € pro Std.<br />

• vielseitige Angebotspalette in der Werkstatt<br />

(Kurse) <strong>und</strong> über das Werkstattangebot hinaus<br />

• Infrastruktur <strong>und</strong> einen gemeinschaftlichen<br />

Ort in der Region bieten, an dem Menschen<br />

aktiv werden können<br />

• Menschen die Möglichkeit geben, sich auszuprobieren<br />

<strong>und</strong> selbst zu verwirklichen, eigene<br />

Fähigkeiten zu erweitern, nachhaltige<br />

Lebensstile zu fördern<br />

• Verankerung in der Region <strong>und</strong> Vernetzung<br />

durch vielfältige Kooperationen<br />

• Angebot richtet sich an alle Menschen in<br />

der Region, die sich ausprobieren, engagieren<br />

<strong>und</strong> einbringen möchten<br />

• spezielle Projekte binden Gruppen wie<br />

SchülerInnen, Jugendliche oder RentnerInnen<br />

ein<br />

158


Kreativzentrum Kempodium<br />

Selbstverständnis <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>sweise<br />

• K<strong>und</strong>enfre<strong>und</strong>lichkeit, bedürfnisorientiert<br />

• Unterstützung wird teilweise als Entlastung<br />

im Sinne von „für jemanden etwas tun“ verstanden<br />

(„da schneiden wir das dann schon<br />

zu“)<br />

Engagement <strong>und</strong> Ehrenamt<br />

• Menschen engagieren sich tendenziell regelmäßig<br />

im Alltagsgeschäft<br />

• Gewinnen ehrenamtlicher MitarbeiterInnen<br />

häufig über 1-€-Jobs, einige bleiben nach<br />

der Maßnahme dabei<br />

• Partizipation der Ehrenamtlichen beim täglichen<br />

Besprechungsfrühstück – spontan <strong>und</strong><br />

niederschwellig<br />

• Motive Einrichtung: Ehrenamtliche halten<br />

den Betrieb am laufen, ohne sie gäbe es<br />

das Krea nicht<br />

• Menschen ein Betätigungsfeld in der <strong>Arbeit</strong>slosigkeit<br />

erschließen<br />

• Motive Ehrenamtliche: Sinn <strong>und</strong> Identitätsstiftung,<br />

Tagesstruktur, Anerkennung, Wertschätzung,<br />

Gemeinschaft („große Familie“),<br />

Spaß <strong>und</strong> Humor, Wohlfühlen, etwas für den<br />

Stadtteil tun<br />

Anliegen <strong>und</strong> Motive der NutzerInnen<br />

• reparieren, günstig herstellen<br />

• Freizeitgestaltung<br />

• Nutzung der Infrastruktur<br />

• Inanspruchnahme von Serviceangeboten<br />

• Geselligkeit <strong>und</strong> Gemeinschaft, Spaß <strong>und</strong><br />

Humor, Wohlfühlen, Belastungen vergessen<br />

<strong>Eigenarbeit</strong><br />

• <strong>Eigenarbeit</strong> als Begriff nicht im Alltagsgebrauch<br />

• Von NutzerInnen als Freizeit/ Hobby bezeichnet<br />

• Stellenwert unter den Angeboten im Krea<br />

eher nachgeordnet<br />

• Motive/ Gewinn: Nutzung der Infrastruktur<br />

(Raum, Maschinen <strong>und</strong> Anleitung)<br />

• finanzielle Ersparnis (s.o. Motive u. Anliegen)<br />

• Freizeitgestaltung, schöne Dinge herstellen<br />

• teilweise als „Extra“ zu Gruppenangeboten<br />

Gender-Aspekt<br />

• traditionelle Geschlechterverteilung in den<br />

Werkstattbereichen<br />

Offene Werkstätten – ein Modell für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>?<br />

• Ermöglichen von „Tätig sein“<br />

• Unterstützung wird in erster Linie als Ermutigung<br />

zum Selbsttun verstanden („probier´s<br />

mal“)<br />

• Menschen engagieren sich tendenziell im<br />

Rahmen einer absehbaren Projektdauer<br />

• Einladung zum ehrenamtlichen Engagement<br />

auf unterschiedlichsten Wegen<br />

• Partizipation der Ehrenamtlichen z. B. über<br />

<strong>Arbeit</strong>skreise oder Vereinsmitgliedschaft<br />

möglich – nicht spontan, sondern über institutionelle<br />

Strukturen<br />

• Motive Einrichtung: Plattform bieten, Engagement<br />

fördern als konzeptioneller Bestandteil,<br />

MitarbeiterInnen für Projekte oder<br />

Unterstützung für den laufenden Betrieb<br />

gewinnen<br />

• Motive Ehrenamtliche: sich für etwas einsetzen,<br />

von dem man überzeugt ist, ideelle<br />

Werte <strong>und</strong> Ziele verfolgen <strong>und</strong> leben, gemeinsam<br />

Feste <strong>und</strong> Veranstaltungen organisieren<br />

<strong>und</strong> feiern, etwas selbst gestalten,<br />

von dem auch andere profitieren<br />

• <strong>Eigenarbeit</strong> machen, etwas Besonderes<br />

selbst herstellen<br />

• Nutzung der Infrastruktur<br />

• Teilnahme an Kursangeboten, Veranstaltungen<br />

• Aktiv sein, Wohlfühlen, Gemeinschaft<br />

• <strong>Eigenarbeit</strong> als Begriff nicht im Alltagsgebrauch,<br />

Umschreibung: „selber aktiv werden“<br />

• Von NutzerInnen als Freizeit/ Hobby bezeichnet<br />

• Zentrales Angebot, hoher Stellenwert<br />

• Motive/ Gewinn: Nutzung der Infrastruktur<br />

(Raum, Maschinen <strong>und</strong> Anleitung)<br />

• wertvolle Erfahrung, eigene Fähigkeiten erproben/<br />

erweitern, sich neu erfahren, Ausgleich<br />

zu <strong>Erwerbsarbeit</strong>, etwas Stimmiges<br />

herstellen, Wohlfühlen<br />

• Sensibilisierung <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>sweise der MitarbeiterInnen<br />

trägt dazu bei, dass traditionelle<br />

Geschlechtergrenzen im Werkstattbereich<br />

teilweise überschritten werden<br />

159


Offene Werkstätten – ein Modell für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>?<br />

Eine Beobachtung möchten wir der Erörterung der Potenziale <strong>und</strong> Grenzen noch voranstellen,<br />

denn sie verdeutlicht die Aktualität unserer Fragestellung einmal meHerr<br />

Die Eindrücke von unseren Besuchen <strong>und</strong> Gesprächen in Sachsen-Anhalt <strong>und</strong> im Allgäu<br />

veranlassen uns zu der Aussage, dass die Spaltung der Gesellschaft an den beiden<br />

Orten <strong>und</strong> in den beiden Einrichtungen sichtbar wird. Der mächtige Einfluss des<br />

Faktors <strong>Erwerbsarbeit</strong> wird erkennbar, denn soziale Segregation, sei sie klein- oder<br />

großräumig, steht in engem Zusammenhang zur Verteilung der bezahlten <strong>Arbeit</strong>. Das<br />

Szenario von einer sich vertiefenden Kluft zwischen <strong>Arbeit</strong>splatzbesitzern <strong>und</strong> Nichtbesitzern<br />

von Wolfgang Bonß (siehe Kap. I 1.2.3) wird hier in seinen sozialen Folgen erkennbar.<br />

5.2 Stärkung persönlicher Kompetenzen der Lebensbewältigung<br />

In Kap. I 1.2 wurden Charakteristika der <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft in der Zweiten Moderne<br />

beschrieben sowie die daraus erwachsene zentrale Aufgabe für Individuen, die eigene<br />

Gestaltung der Lebensbiografie zu bewerkstelligen.<br />

Diese Gestaltungsaufgabe verlangt den einzelnen Menschen enorme Eigenkräfte ab,<br />

insbesondere, da Lebensverhältnisse immer pluralisierter strukturiert sind <strong>und</strong> kollektive<br />

Orientierungsmuster zunehmend wegbrechen.<br />

Ein eigenes Gefühl von Selbstwirksamkeit <strong>und</strong> Handlungsfähigkeit, Vertrauen in die eigene<br />

Gestaltbarkeit, das Gefühl des einer Lage gewachsen Seins (vgl. Böhnisch 1997,<br />

S. 54) wird für Menschen vor dieser Kulisse umso bedeutender. Hier schließt das von<br />

Thiersch formulierte Ziel <strong>Soziale</strong>r <strong>Arbeit</strong> an, nämlich Menschen darin zu unterstützen,<br />

„angstfreie <strong>und</strong> stabile Kompetenzen der Lebensbewältigung“ (Thiersch 2001, S. 50)<br />

zu entwickeln.<br />

<strong>Soziale</strong>r <strong>Arbeit</strong> kommt insofern die Aufgabe zu, unterstützende Angebote zu schaffen,<br />

welche die Selbstkräfte der Menschen aktivieren <strong>und</strong> (wieder-)herstellen.<br />

Im Konzept Offene Werkstätten sehen wir Potenziale, die auf subjektiv biografischer<br />

Ebene Menschen stärken <strong>und</strong> somit dazu beitragen können, Lebensbewältigungskompetenzen<br />

zu erweitern. Das Ansetzen an den Stärken <strong>und</strong> Ressourcen deckt verschüttete<br />

oder verkümmerte Fähigkeiten auf.<br />

In beiden Einrichtungen haben wir gesehen, dass solche Prozesse in unterschiedlicher<br />

Ausprägung stattfinden.<br />

160


Offene Werkstätten – ein Modell für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>?<br />

Wir möchten im Folgenden einige Elemente beispielhaft anhand des Lebensbewältigungskonzeptes<br />

von Böhnisch (siehe auch Kap. I 4.5) verdeutlichen 84 .<br />

An beiden Orten wurde der Stolz über handwerklich selbst geschaffene Werkstücke<br />

<strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene Anerkennung <strong>und</strong> Wertschätzung durch Dritte beschrieben.<br />

Auch oder gerade weil das Tätigsein hier im wahrsten Sinne des Wortes gemeint ist,<br />

können Menschen ihre Stärken erfahren, ihre Selbstwirksamkeit erproben. Die in Kap. I<br />

3 getroffenen Aussagen zu <strong>handwerkliche</strong>m <strong>Arbeit</strong>en <strong>und</strong> seiner Wirkungsweise haben<br />

sich in unserer Befragung bestätigt.<br />

Insbesondere im Kempodium trägt das Gefühl, sich komplexe <strong>Arbeit</strong>sprozesse zuzutrauen<br />

<strong>und</strong> zu bewältigen, auf positive Weise zur Steigerung des Selbstwertgefühls bei.<br />

Die Ergebnisse des eigenen Tuns werden im <strong>Arbeit</strong>en sicht- <strong>und</strong> fühlbar – auch für<br />

Außenstehende – <strong>und</strong> können somit eine nachhaltige Wirkung des Gefühls der eigenen<br />

Fähigkeiten erzeugen.<br />

Der <strong>Arbeit</strong>sprozess, also das faktische Tätigsein mit Kopf, Herz <strong>und</strong> Hand spielt dabei<br />

ebenfalls eine wichtige Rolle. Diese Art der <strong>Arbeit</strong> fordert den ganzen Menschen in all<br />

seinen Fähigkeiten. Ein Ergebnis aus Kempten ist, dass <strong>handwerkliche</strong>s <strong>Arbeit</strong>en als<br />

Ausgleich zu einseitigen <strong>und</strong> teilweise belastenden Anforderungen im Beruf erfahren<br />

wird. Es stellt eine Ressource dar, um innerhalb der veränderten Anforderungen der<br />

flexiblen <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft handlungsfähig zu bleiben.<br />

Offene Werkstätten ermöglichen auch über soziale oder kulturelle Tätigkeiten Erfahrungen<br />

beim Aufbau von Selbstwert. Dabei ist aus unserer Sicht der prinzipiell offene<br />

Zugang wichtig dafür, dass diese Erfahrungen nicht an defizitäre Voraussetzungen gekoppelt<br />

sind. Menschen müssen sich nicht als bedürftig definieren, es muss nicht erst<br />

eine Diagnose vorliegen, um die Angebote in Anspruch zu nehmen. An diesem Punkt<br />

wird das ges<strong>und</strong>heitsfördernde Potenzial (siehe auch Kap. I 3.2) Offener Werkstätten<br />

deutlich.<br />

Aber auch Erfahrungen des Selbstwertverlustes können aufgegriffen werden: Am Beispiel<br />

Wolfen wurde sichtbar, wie eng das Selbstbild von Menschen durch die normativen<br />

Vorgaben der <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft beeinflusst wird. <strong>Arbeit</strong>slosigkeit <strong>und</strong> mangelnde<br />

Perspektiven, das nicht mehr „Mithalten-Können“, schlagen sich in der subjektiven Befindlichkeit<br />

nieder. Das Gefühl, nutzlos <strong>und</strong> überflüssig zu sein, verb<strong>und</strong>en mit Rückzug<br />

<strong>und</strong> Depressionen, prägt den Alltag vieler Menschen. Im Rahmen Offener Werkstätten<br />

84 Uns ist dabei bewusst, dass diese Elemente auch im „Licht“ des Bildungsbegriffes betrachtet<br />

werden können. Non-formale Bildung, Selbstbildung, praktisches oder ganzheitliches Lernen<br />

sind Stichworte der Bildungs-Terminologie, anhand derer ebenso argumentiert werden kann. Im<br />

weiteren Verlauf werden diese auch hin <strong>und</strong> wieder fallen, weshalb wir an dieser Stelle auf die<br />

inhaltliche Verknüpfung hinweisen möchten.<br />

161


Offene Werkstätten – ein Modell für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>?<br />

kann zur Überwindung eines z. B. so gearteten Selbstwertverlustes beigetragen werden.<br />

Das Kreativzentrum ist für die MitarbeiterInnen ein Raum, in dem sie für sich einen<br />

„normalen Alltag“ aufrechterhalten (Normalisierungshandeln). Sie werden in ihrem Tun<br />

anerkannt <strong>und</strong> wertgeschätzt, die <strong>Arbeit</strong> bietet Gr<strong>und</strong>lage zur persönlichen Identifikation.<br />

Damit trägt es zur Bewältigung der <strong>Arbeit</strong>slosigkeit bei <strong>und</strong> wirkt dem Selbstwertverlust<br />

entgegen.<br />

Ebenso können Offene Werkstätten Menschen einen Orientierungsrahmen in Fragen<br />

des Lebensstils, der Auseinandersetzung mit Themen wie z. B. dem lokalen Umgang<br />

mit globalen Herausforderungen bieten, wie es im Kempodium geschieht. Dabei besteht<br />

die Möglichkeit, privat Erlebtes (z. B. die Unzufriedenheit mit spezifischen gesellschaftlichen<br />

Entwicklungen <strong>und</strong> der Wunsch, etwas konstruktiv verändern oder bewegen<br />

zu wollen) an einem öffentlichen Ort einzubringen. Man kann dort mit anderen<br />

Menschen diskutieren, sich durch aktives Engagement beteiligen oder indirekt, z. B.<br />

durch Beobachtung einfach nur mitbekommen, wie andere Menschen ihr Leben gestalten.<br />

<strong>Soziale</strong>s Eingeb<strong>und</strong>ensein findet an beiden Orten in unterschiedlicher Form statt: Zum<br />

einen durch die vielen Feste <strong>und</strong> Veranstaltungen, die Geselligkeit, Kontakt <strong>und</strong> Gemeinschaft<br />

für BesucherInnen <strong>und</strong> Ehrenamtliche ermöglichen.<br />

Auch über freiwillige Betätigung kann soziales Eingeb<strong>und</strong>ensein erfahren werden. Die<br />

Intensität, mit der Menschen sich einbringen möchten, wird von ihnen selbst bestimmt<br />

<strong>und</strong> das Wohlfühlen ist dabei eine wichtige Komponente. In Kempten engagieren sich<br />

viele Ehrenamtliche zwar nur zu bestimmten Anlässen, kommen aber immer wieder<br />

wegen der Kontakte <strong>und</strong> des Gemeinschaftsgefühls – so die Vermutung eines Gesprächspartners.<br />

<strong>Soziale</strong>s Eingeb<strong>und</strong>ensein spielt dagegen in Wolfen eine zentralere<br />

Rolle für die Ehrenamtlichen (siehe oben).<br />

Wir haben zudem beobachtet, dass in der Gemeinschaft sozialer Rückhalt durch andere<br />

Menschen gegeben wird. In der RentnerInnengruppe in Wolfen findet niederschwellige<br />

Beratung statt <strong>und</strong> es entsteht ein soziales Netz.<br />

Wir möchten nun noch einmal darauf zurückkommen, in welcher Form aus sozialarbeiterischer<br />

Sicht die beschriebenen Potenziale aufgegriffen bzw. umgesetzt werden können.<br />

162


Offene Werkstätten – ein Modell für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>?<br />

Der Empowerment-Ansatz folgt dem Ziel, Hilfeprozesse so zu gestalten, dass sie zur<br />

größeren Autonomie <strong>und</strong> zum Ausbau von Handlungsmöglichkeiten der AdressatInnen<br />

beitragen. Die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> nutzt ihn in den unterschiedlichsten <strong>Arbeit</strong>sfeldern dort,<br />

wo es um die Stärkung der Eigenkräfte geht. AdressatInnen bleiben auch im Hilfeprozess<br />

stets GestalterIn. Die Aufgabe der Professionellen besteht darin, Prozesse zu ermöglichen<br />

<strong>und</strong> anzustoßen, durch die AdressatInnen Ressourcen erhalten, die sie im<br />

weitesten Sinn befähigen, größere Kontrolle über ihr eigenes Leben auszuüben (vgl.<br />

Stark 1996, S. 118 f).<br />

Indem zur Erprobung von Selbstgestaltungskräften ermutigt wird, finden im Kempodium<br />

solche Erfahrungen statt. Auf die Fachberatung in den Werkstätten, die bei Bedarf<br />

unterstützend, aber nicht bevorm<strong>und</strong>end durchgeführt wird, können die BesucherInnen<br />

zurückgreifen. Dies konnten wir in unserer Auswertung der Gespräche zeigen.<br />

Aus unserer Sicht eignet sich das Medium Handwerk zur Gestaltung derartiger Bildungsprozesse<br />

gut, weil der Erfolg des Prozesses unmittelbar sichtbar wird.<br />

Zusammenfassend können Offene Werkstätten für BesucherInnen dazu beitragen,<br />

Selbstwert <strong>und</strong> das Zutrauen in die Gestaltbarkeit eigener Aufgaben zu verstärken.<br />

Sie bieten die Möglichkeit, Stolz, Wohlfühlen <strong>und</strong> Zufriedenheit im Tun, einen Ausgleich<br />

zu belastenden Verhältnissen zu erfahren, Dinge zu tun, die Freude bereiten.<br />

Darüber hinaus ermöglichen sie verschiedene Formen von Gemeinschaft. Insgesamt<br />

können sie somit zur Stärkung der Persönlichkeit beitragen <strong>und</strong> einen gelingenderen<br />

Alltag ermöglichen.<br />

Offene Werkstätten stellen also ein Setting für Bildungs- <strong>und</strong> Bewältigungsprozesse<br />

dar, in dem prinzipiell auf Bedürfnisse <strong>und</strong> Bedarfslagen unterschiedlicher Personengruppen<br />

eingegangen werden kann.<br />

Aus sozialarbeiterischer Sicht ist dazu jedoch in Bezug auf die Menschen, die es ansprechen<br />

möchte, eine sensible Umsetzung des Konzeptes nötig. Dabei sollte unbedingt<br />

darauf geachtet werden, innerhalb des offenen Rahmens individuelle Bedarfe <strong>und</strong><br />

Zugangswege unterschiedlicher Personen im Blick zu haben <strong>und</strong> die Ausgestaltung<br />

des Angebotes gezielt darauf auszurichten.<br />

163


5.3 Gestaltung der Verhältnisse<br />

Offene Werkstätten – ein Modell für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>?<br />

Nimmt man die Aufforderung zur Inszenierung des <strong>Soziale</strong>n in den Verhältnissen der<br />

Menschen ernst, dann muss man unseres Erachtens Sozialraumorientierung u. a. auch<br />

als <strong>Arbeit</strong>sfeld verstehen. 85 Das bedeutet, Menschen sollten in ihrer Stadt oder Gemeinde<br />

Orte vorfinden, die für die Umsetzung eigener Ideen offenstehen, <strong>und</strong> wo sie<br />

sowohl zu offenen Angeboten als auch zu spezifischen Hilfs- <strong>und</strong> Beratungsformen<br />

Zugang finden können. Das Programm „<strong>Soziale</strong> Stadt“ knüpft bereits seit 1999 an die<br />

Tradition der Gemeinwesenarbeit an, <strong>und</strong> Quartiersmanagement wird in immer mehr<br />

Städten als Instrument zur Entwicklung in benachteiligten Stadtteilen eingesetzt. Auch<br />

das Programm der Mehrgenerationenhäuser liegt auf dieser Linie – es zeigt sich ein<br />

deutlicher Trend zu sozialräumlich orientierten Angeboten in der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> (vgl.<br />

Galuske 2007).<br />

Möglichkeitsräume<br />

Zur Diskussion der Verbesserung von Lebensverhältnissen eignet sich ebenfalls das<br />

Theoriekonstrukt der Lebensbewältigung von Böhnisch (siehe auch Kap I 4.5). Es differenziert<br />

einzelne Handlungsspielräume, die die Lebenslage von Menschen kennzeichnen.<br />

Für die Nutzung spielen sowohl personale Voraussetzungen eine Rolle als auch<br />

objektive Bedingungen. Die Gestaltung der Verhältnisse kann auch über die Gestaltung<br />

<strong>und</strong> Ausweitung einzelner Spielräume der Menschen erreicht werden. Ein öffentlicher<br />

Ort erweitert die objektiven Bedingungen. Die Frage der Ausstattung <strong>und</strong> Ausgestaltung<br />

des Miteinanders an diesem Ort ist entscheidend dafür, ob bei den Menschen<br />

auch die personalen <strong>und</strong> individuellen Voraussetzungen für die Nutzung der Spielräume<br />

auf- <strong>und</strong> ausgebaut werden <strong>und</strong> ob durch die Rahmenbedingungen Selbstbestimmung<br />

<strong>und</strong> Aktivität gefördert werden.<br />

Wir haben zwei Einrichtungen vorgef<strong>und</strong>en, deren Angebote sich an die BewohnerInnen<br />

des Stadtteils oder der Stadt bzw. der Umgebung richten. Ihr Zugang ist offen<br />

(zumindest formal). Das Kempodium bezeichnet sich selbst als Bürgerzentrum der besonderen<br />

Art (vgl. Kempodium-Broschüre), das Kreativzentrum nennt sich Begegnungsstätte<br />

<strong>und</strong> ist als Mehrgenerationenhaus ausgewählt worden. Wir haben das<br />

85 Zur Geschichte der Sozialraumorientierten <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong>: Hinte, Wolfgang (2002): Von der<br />

Gemeinwesenarbeit über die Stadtteilarbeit zum Quartiermanagement.<br />

164


Offene Werkstätten – ein Modell für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>?<br />

Merkmal des offenen <strong>und</strong> voraussetzungslosen Zugangs zu den Einrichtungen in unserer<br />

Einleitung selbst mit dem Wort Bürgerhauscharakter 86 umschrieben.<br />

Beide Häuser stellen eine Bereicherung der Infrastruktur vor Ort dar. Dies gilt in Bezug<br />

auf einzelne Menschen wie auch für Gruppen. Es werden Möglichkeitsräume zur Verfügung<br />

gestellt, die von den BesucherInnen als bereichernd <strong>und</strong> positiv bewertet werden.<br />

Offene Werkstätten können als Erweiterung von Spielräumen in den Verhältnissen der<br />

Menschen im Sinne von Böhnisch/ Nahnsen (siehe Kap. I 4.5) gedeutet werden.<br />

86 „Bürgerhaus“ ist in der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> kein definierter Fachbegriff. Er wird häufig für Einrichtungen<br />

verwendet, die soziokulturelle bzw. soziale Aktivitäten in einem Gemeinwesen ermöglichen<br />

oder unterstützen. Häufig liegt die Trägerschaft bei Vereinen. Der Begriff wird aber teils<br />

auch für öffentliche Gebäude verwendet, die mehr einer Stadthalle gleichen oder für kommunal<br />

verwaltete Kulturzentren oder für Stadtteileinrichtungen, die in der Regie des örtlichen Sozial-<br />

oder Jugendamtes geführt werden. Wir verwenden ihn daher auf die im Text bestimmte Weise.<br />

165


Offene Werkstätten – ein Modell für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>?<br />

Möglichkeit Ort Spielraum<br />

Die zur Verfügung gestellten Räume ermöglichen<br />

Begegnung, die in engen Privatwohnungen so<br />

nicht stattfinden könnte, sie ermöglichen auf diese<br />

Weise niederschwellige Beratung, Selbsthilfe<br />

Die Computerausstattung ermöglicht den Zugang<br />

zu diesem Medium, ermöglicht den Zugang ins Internet,<br />

der in vielen Privathaushalten nicht vorhanden<br />

ist<br />

Das Kaufhaus Allerhand stellt einen Ort dar, an<br />

dem günstig Gegenstände erworben werden können<br />

Die große Spielwiese <strong>und</strong> das Spielzimmer ermöglichen<br />

Kindern, miteinander zu toben <strong>und</strong> zu<br />

spielen, wo ansonsten die Straße zum Spielen zur<br />

Verfügung steht<br />

Zahlreiche Feste <strong>und</strong> Feiern laden zum Mitmachen<br />

<strong>und</strong> Mitfeiern ein<br />

Die Werkstätten ermöglichen eine Art der kreativen<br />

<strong>und</strong> tätigen Freizeitgestaltung, die sonst nicht<br />

umgesetzt werden könnte<br />

Die Räume <strong>und</strong> Maschinen ermöglichen die Reparatur<br />

oder das günstige Herstellen von nützlichen<br />

Gegenständen…<br />

vorw. Wolfen Versorgungsspielraum<br />

Kontakt- <strong>und</strong> Kooperationsspielraum<br />

Wolfen Versorgungsspielraum<br />

Dispositions- <strong>und</strong> Partizipationsspielraum<br />

Kempten Versorgungsspielraum<br />

vorw. Wolfen Muße <strong>und</strong> Regenerationsspielraum<br />

Lern- <strong>und</strong> Erfahrungsspielraum<br />

Wolfen <strong>und</strong><br />

Kempten<br />

Wolfen <strong>und</strong><br />

Kempten<br />

oder schönen Dingen… Wolfen <strong>und</strong><br />

Kempten<br />

oder „eigen-sinnigen“ Werkstücken vorw. Kempten<br />

Die Anleitung ermöglicht den Menschen, Projekte Wolfen <strong>und</strong><br />

zu wagen, die sie allein nicht angehen würden, sie Kempten<br />

ermöglicht zu lernen <strong>und</strong> Erfahrungen zu sammeln<br />

Die spezielle Infrastruktur ermöglicht einen spezifischen<br />

Ausgleich zur <strong>Erwerbsarbeit</strong><br />

Das Angebot, als ehrenamtliche/r HelferIn mitzuwirken,<br />

ermöglicht, sich für eine sinnvolle Sache<br />

einzusetzen…<br />

<strong>und</strong>/ oder den eigenen Tag zu strukturieren <strong>und</strong><br />

Beschäftigung zu haben<br />

Kontakt- <strong>und</strong> Kooperationsspielraum<br />

sowie Muße<br />

<strong>und</strong> Regenerationsspiel-<br />

raum<br />

Muße- <strong>und</strong> Regenerationsspielraum,<br />

sowie Lern-<br />

<strong>und</strong> Erfahrungsspielraum<br />

vorw. Wolfen Versorgungsspielraum<br />

Dispositions- <strong>und</strong> Partizipationsspielraum<br />

Dispositions- <strong>und</strong> Partizipationsspielraum<br />

Lern- <strong>und</strong> Erfahrungsspielraum<br />

Kempten Muße <strong>und</strong> Regenerationsspielraum<br />

Wolfen <strong>und</strong><br />

Kempten<br />

Dispositions- <strong>und</strong> Partizipationsspielraum<br />

Wolfen Dispositions- <strong>und</strong> Partizipationsspielraum<br />

Aufgr<strong>und</strong> der Verschiedenheit der Sozialräume stellen dabei die einzelnen Aspekte<br />

teilweise unterschiedliche Spielräume dar, bzw. sind die beiden Einrichtungen in ihren<br />

Schwerpunkten an den unterschiedlichen Bedürfnissen orientiert. Dabei erfüllt das<br />

Kreativzentrum gr<strong>und</strong>legendere Bedürfnisse. Das Kempodium stellt, neben vielen an-<br />

166


Offene Werkstätten – ein Modell für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>?<br />

deren Angeboten in der Region, eine spezifische Möglichkeit dar, öffentliche Infrastruk-<br />

turen für sich zu nutzen.<br />

Wir meinen, dass sich Menschen, ohne Berücksichtigung ihrer vorrangigen Motive (finanzielle,<br />

kreative…), in den Werkstätten oder in anderen Nutzungsbereichen als<br />

handlungsfähige Subjekte erleben können. Die konkrete Ausgestaltung von Öffnungszeiten,<br />

Gebühren, Anleitung etc. entscheidet dabei mit darüber, welche Menschen Zugang<br />

zum Angebot finden.<br />

Vernetzung <strong>und</strong> Kooperation<br />

Netzwerken kommt nach Böhnisch/ Schröer bei der Gestaltung der Verhältnisse eine<br />

wichtige Bedeutung zu. Ein Netzwerk aufeinander bezogener Institutionen stellt eine<br />

Anregungs- <strong>und</strong> Ermunterungsstruktur dar (vgl. Böhnisch/ Schröer 2001, S. 191). Es<br />

erschließt unterschiedliche Lernorte. In einer Offenen Werkstatt können in unseren Augen<br />

Begabungen (wieder)entdeckt <strong>und</strong> (weiter)entwickelt werden.<br />

Beide Häuser, Kreativzentrum <strong>und</strong> Kempodium, sind in der örtlichen Struktur mit anderen<br />

Trägern <strong>und</strong> Institutionen kooperativ vernetzt. Dadurch werden unterschiedlichste<br />

Bevölkerungsgruppen ins Haus geholt. Was zunächst in der Logik der Einrichtungen<br />

lag, nämlich die Auslastung der Werkstätten <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene Erschließung<br />

finanzieller Ressourcen zu erreichen, wird gleichzeitig dem Interesse der Menschen<br />

<strong>und</strong> der städtischen Verwaltungen gerecht. Die spezifische Ausstattung der Einrichtungen<br />

macht sie zu einem besonderen <strong>handwerkliche</strong>n, kulturellen <strong>und</strong> sozialen Lernort<br />

<strong>und</strong> ermöglicht ganzheitliche Bildungserfahrungen. Durch die Vernetzung erlangen<br />

mehr <strong>und</strong> unterschiedlichere Gruppen Zugang zu dem Angebot, es wird für sie in ihren<br />

persönlichen Spielräumen erschließbar. So werden z. B. in beiden Einrichtungen Projekte<br />

mit SchülerInnen durchgeführt. Die Schilderung des Anleiters in Kempten zeigt,<br />

dass hier mancheR glänzen kann, der/die in der Schule nicht so „leistungsstark“ ist.<br />

Mit sozialarbeiterischer Phantasie sind noch weitere Kooperationen <strong>und</strong> Projekte vorstellbar,<br />

so z. B. ein Freizeitangebot in Zusammenarbeit mit Tagesstätten für psy<br />

chisch erkrankte Menschen oder ein Projekt „Mädchenwerkstatt zur Erweiterung des<br />

Berufswahlspektrums“ in Partnerschaft mit der Jugendberufshilfe oder ein Kulturprojekt<br />

für Deutsche <strong>und</strong> AusländerInnen in Zusammenarbeit mit der Ausländerbehörde etc.<br />

Offene Werkstätten, eingebettet in das Netz von Institutionen der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong>, können<br />

darüber hinaus weitere Partnerschaften <strong>und</strong> Kooperationen mit Hilfs- <strong>und</strong> Beratungsangeboten<br />

aus diesem Feld aufbauen: In Wolfen-Nord sind die Suchtberatung,<br />

die Schwangerenberatung <strong>und</strong> die Straffälligenhilfe unter einem Dach angesiedelt. So<br />

167


Offene Werkstätten – ein Modell für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>?<br />

ist denkbar, in Anlehnung an das Konzept der Jugendhilfestationen 87 oder eines Stadt-<br />

teilbüros, Offene Werkstätten in eine Haus- <strong>und</strong> Bürogemeinschaft mit unterschiedlichen<br />

<strong>Soziale</strong>n Diensten zu integrieren oder enger in ein Netzwerk einzubinden. In einer<br />

solchen institutionellen Konstruktion wären Offene Werkstätten ein alltagsnaher Ort, an<br />

dem eine niederschwellige Anlaufstelle für Menschen in sozialen Konfliktlagen vorzufinden<br />

ist.<br />

Aktive Mitwirkung<br />

Bürgerhäuser können auch Orte darstellen, die vielfältige Beteiligungs- <strong>und</strong> Mitgestaltungsoptionen<br />

in einer Gemeinde eröffnen. In einem solchen Rahmen können Menschen<br />

ermutigt werden, selbst Initiative zu ergreifen, ihre Interessen wahrzunehmen<br />

<strong>und</strong> umzusetzen. Das Bürgerhaus <strong>und</strong> die MitarbeiterInnen stellen zu diesem Zweck<br />

Ressourcen <strong>und</strong> Unterstützung zur Verfügung.<br />

An der konkreten Praxis in Wolfen-Nord kann dies erläutert werden:<br />

Lebensweltorientierte <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> will Widersprüche im Alltag der Menschen, die in<br />

deren eigener bornierter 88 Sichtweise verdeckt bleiben, aufdecken <strong>und</strong> aufmerksam<br />

<strong>und</strong> respektvoll nach Ressourcen, Potenzialen <strong>und</strong> Ansätzen der Selbsttätigkeit suchen.<br />

Als Beispiel möchten wir hier anführen, dass die Rentnerinnen das Gefühl der<br />

Bedrohung auf den Straßen des Stadtteils am Abend in der Weise in ihre Sichtweisen<br />

integriert haben, dass sie sagen, „was hat auch eine Rentnerin noch abends auf der<br />

Straße zu suchen“ (siehe auch Kap. II 3.2.5). Sie begreifen dieses Gefühl nicht (mehr)<br />

als Einschränkung ihrer eigenen Freiheit, sondern richten ihren Alltag an der Einschränkung<br />

aus. An diesem Widerspruch könnte <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> im Verständnis einer<br />

Konfliktorientierung ansetzen (vgl. Bitzan 2000, S.343 ff.), die Sichtweisen der Rentnerinnen<br />

im stetigen Gespräch hinterfragen, zur Dekonstruktion beitragen <strong>und</strong> eventuell<br />

bei der Planung <strong>und</strong> Durchführung von Aktivitäten zur Veränderung der Verhältnisse<br />

87 In der Jugendhilfe, dem traditionell größten Bereich der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong>, wurde der Trend der<br />

Sozialraumorientierung durch flexible Gestaltung von Hilfeprozessen umgesetzt. Im Modellprojekt<br />

„Integra“ erprobte man die Gestaltung integrierter <strong>und</strong> durchlässiger Hilfen. Ziel war es,<br />

Hilfsangebote am subjektiven Bedarf auszurichten statt an der Logik der Institution oder des Katalogs<br />

der Hilfen. Der Umbau der Organisationen <strong>und</strong> die Neuausrichtung der vorhandenen Hilfen<br />

<strong>und</strong> Träger zueinander bedingte dies, es entstanden so genannte Jugendhilfestationen in<br />

Stadtteilen. Sozialraumorientierung wird hier als <strong>Arbeit</strong>sprinzip verstanden <strong>und</strong> nicht allein als<br />

<strong>Arbeit</strong>sfeld. Sozialraumorientierung spielt sich auf drei Ebenen ab: Sie umfasst erstens fallspezifische<br />

<strong>Arbeit</strong>, zweitens fallübergreifende <strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> drittens fallunspezifische <strong>Arbeit</strong> (Galuske<br />

2007, S. 281/282).<br />

88 Der Begriff wird in Anlehnung an Thiersch verwendet, der von „bornierter Pragmatik“ spricht,<br />

wo Menschen gegebene, auch negative Zustände tabuisieren <strong>und</strong> dadurch für Entlastung <strong>und</strong><br />

Sicherheit in Alltagsroutinen sorgen, gleichzeitig aber der Blick auf gelingendere Verhältnisse<br />

verstellt bleibt (vgl. Thiersch/ Grunwald/ Köngeter 2002, S. 170).<br />

168


Offene Werkstätten – ein Modell für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>?<br />

unterstützend wirken. So könnte unseres Erachtens sozialpädagogisches Handeln in<br />

diesem Kontext aussehen.<br />

Als weitere Beispiele in der Ausnutzung des „Spielraums Werkstatt“ wären denkbar,<br />

dass in gemeinsamer <strong>handwerkliche</strong>r <strong>Arbeit</strong> von einer Elterngruppe Geräte für einen<br />

Spielplatz gebaut werden oder dass die Umgestaltung der Räume eines Jugendhauses<br />

von Jugendlichen selbst ausgeführt <strong>und</strong> in den Offenen Werkstätten angeleitet <strong>und</strong> begleitet<br />

wird.<br />

Ehrenamtliches Engagement zählt ebenfalls zur aktiven Mitwirkung. Wir verstehen<br />

hierunter die partizipative Gestaltung des Gemeinwesens durch die BürgerInnen des<br />

Stadtteils. Einbindung von Freiwilligen sollte unserer Ansicht nach in offener Aushandlung<br />

geschehen.<br />

Die Förderung des Ehrenamts erlebt in den letzten Jahren im aktivierenden Sozialstaat<br />

eine Konjunktur. Die Eigenaktivität der Bürger im Stadtteil wird betont, <strong>und</strong> es wird verstärkt<br />

auf die Vernetzung der Bürger im Stadtteil gesetzt, damit diese gemeinsam ihre<br />

Bedarfslagen in den Blick <strong>und</strong> in Angriff nehmen (vgl. Galuske 2007, S.277). Dort, wo<br />

Ehrenamt jedoch vorrangig im finanziellen Interesse der Gemeinden oder auch von Institutionen<br />

der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> gefördert <strong>und</strong> eingesetzt wird, kristallisiert sich ein<br />

Spannungsfeld heraus. Die doppelte Besetzung des Begriffs „aktivierend“, zwischen<br />

Selbstzuständigkeit einerseits <strong>und</strong> Sparinteressen andererseits, verlangt Sensibilität<br />

bei der Einbindung von ehrenamtlicher Tätigkeit. Außerdem ist eine politische Einmischung<br />

vor allem dort vonnöten, wo sich der Staat aus der Verantwortung zieht.<br />

In diesem Spannungsfeld bewegen sich auch Kreativzentrum <strong>und</strong> Kempodium. Am<br />

Beispiel des Kreativzentrums wollen wir dies konkret ausführen. Der Konflikt ist hier<br />

gr<strong>und</strong>sätzlicher Art: Ohne die <strong>Arbeit</strong> der Ehrenamtlichen müsste das Kreativzentrum<br />

schließen. In der bestehenden Struktur – eine mit Fachpersonal <strong>und</strong> Geld ausgestattete<br />

kommunale Organisation (EWN) auf der einen Seite <strong>und</strong> eine zu 100% ehrenamtlich<br />

geleistete, nicht mit Fach- <strong>und</strong> Methodenwissen ausgestattete Vereinsarbeit auf der<br />

anderen Seite – liegt das Risiko, dass das Quartiersmanagement die <strong>Arbeit</strong> des Kreativzentrums<br />

sozusagen als bürgerschaftliche Ressource im Stadtteil ansieht <strong>und</strong> als<br />

„Erfüllungsgehilfe“ für die eigenen Ziele vereinnahmt. Nichtsdestotrotz profitiert das<br />

Kreativzentrum auch von dieser Struktur, da durch sie dem Verein notwendige praktische<br />

Unterstützung <strong>und</strong> Anerkennung zuteil wird. Hinte (2002, S. 544) merkt hierzu an:<br />

„Nichts ist sortiert nach Gut <strong>und</strong> Böse. (…) Es gibt sehr komplexe, nicht immer durchschaubare,<br />

irgendwie miteinander (aber dann doch wieder nicht) verwobene Interessen<br />

innerhalb einer Lebenswelt. Ein Stadtteil funktioniert irgendwie, aber keiner kann genau<br />

sagen, wie denn wirklich.“<br />

169


Offene Werkstätten – ein Modell für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>?<br />

Inwieweit die Verantwortlichen des Kreativzentrums ihre <strong>Arbeit</strong> auch politisch verstehen,<br />

wie es Stadtteilarbeit in der Tradition der Gemeinwesenarbeit vorsieht, können wir<br />

nicht beurteilen. Letztendlich können nur die Betroffenen selbst beurteilen, wie für sie<br />

ihre Bilanz von Einmischung, Mitwirkung <strong>und</strong> persönlichem Nutzen zu kostenlosem<br />

Anbieten der eigenen <strong>Arbeit</strong>skraft aussieht.<br />

Experimentierraum<br />

Wir kommen auf die Gestaltungsspielräume zurück, die in charakteristischer Weise<br />

durch das Werkstattangebot eröffnet werden. Dabei wurde ein wichtiger Aspekt bisher<br />

nicht besprochen: Diese besondere Infrastruktur stellt einen Experimentierraum bereit,<br />

der gerade in der Zeit unsicherer Biografien <strong>und</strong> unter den Belastungen schwieriger<br />

Normalität wertvoll sein kann.<br />

Das Experimentieren kann hierbei auf zwei Ebenen gesehen werden. In der ersten Ebene<br />

sind es die Individuen, die die besondere Formen des Tätig-Seins für sich erproben<br />

<strong>und</strong> dabei die in Kap. II 5.2 <strong>und</strong> in Kap I 3 beschriebenen Erfahrungsmomente <strong>und</strong><br />

Selbstbildungsprozesse erleben können.<br />

Experimentieren können Menschen auch in Fragen des persönlichen Lebensstils <strong>und</strong><br />

der Lebensführung, sie haben die Möglichkeit, der <strong>handwerkliche</strong>n <strong>Arbeit</strong> in ihrem Leben<br />

einen Stellenwert einzuräumen, der über den Status eines Hobbys hinausgeht.<br />

Die zweite Ebene des Experimentierens sehen wir auf der institutionellen Ebene eines<br />

innovativen Projektes der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong>. Angesichts der fragwürdig gewordenen Erreichbarkeit<br />

dauerhafter Erwerbstätigkeit muss sich die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> nicht nur zum<br />

Strukturwandel der <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft, sondern genauso zur Zukunft <strong>und</strong> zum Umbau<br />

des Sozialstaates verhalten (vgl. Böhnisch 2002, S. 206). Im Rahmen eines solchen<br />

Projektes kann eine <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> erprobt werden, die die Veränderungen der <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft<br />

reflektiert. Die <strong>Arbeit</strong>smarktbezogenheit, die sie, der Normalisierungsthese<br />

folgend (siehe auch Kap. I 4.4), in vielen <strong>Arbeit</strong>sfeldern pflegt, könnte ein Stück weit<br />

aufgelockert oder partiell aufgehoben werden. Offene Werkstätten könnten ein normalisiertes,<br />

im Alltag präsentes, lebensweltorientiertes Hilfs-, Unterstützungs-, <strong>und</strong> Bildungsangebot<br />

sein (vgl. Thole 2002, S. 47).<br />

Für uns bedeutet das, dass sich <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> für die Aufdeckung der strukturellen Anteile<br />

des Konflikts in der Erwerbslosigkeit einsetzt <strong>und</strong> zwar sowohl in der Selbstaufklärung<br />

der Subjekte als auch als politische Einmischung. Dadurch könnte sie – durch die<br />

Herauslösung des Verständnisses von <strong>Erwerbsarbeit</strong> aus dem moralisch-ideologischen<br />

Zerrbild – die sozialpolitische Akzeptanz der sozialen Rolle „<strong>Erwerbsarbeit</strong>slose/r“ vergrößern.<br />

170


Offene Werkstätten – ein Modell für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>?<br />

Es geht dabei nicht darum, <strong>Eigenarbeit</strong> als Alternative zu <strong>Erwerbsarbeit</strong> als Ideal zu stilisieren<br />

oder Erwerbslosigkeit einseitig als Chance darzustellen. Hintergr<strong>und</strong> ist vielmehr,<br />

dass die Akzeptanz einer sozialen Rolle in der Gesellschaft entscheidend ist für<br />

das Selbst- <strong>und</strong> Fremdbild einer Person. Die Akzeptanz der Rolle ist mit dafür verantwortlich,<br />

wie ein Mensch in seiner Lebenslage Probleme bewältigen <strong>und</strong> Lebensperspektiven<br />

gestalten kann (siehe Kap. I 4 5).<br />

Indem alternative Beschäftigungsformen (Ehrenamt <strong>und</strong> <strong>Eigenarbeit</strong>) durch ein Projekt<br />

der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> an einem öffentlichen Ort ermöglicht werden, wird signalisiert, dass<br />

diese Tätigkeiten sozialpolitische Akzeptanz erfahren. Wenn ein Möglichkeitsraum für<br />

alternative, als sinnvoll erlebte Beschäftigungen offen steht, können Menschen neben<br />

einer <strong>Erwerbsarbeit</strong> oder auch für Zeiten von Nichterwerbstätigkeit, in Umbruchs- oder<br />

Übergangsphasen, an einem solchen Ort zu einem gelingenderen Alltag finden. 89<br />

<strong>Arbeit</strong>sgesellschaftlich reflexive <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> umsetzen<br />

Wir wollen, bevor wir die Grenzen <strong>und</strong> Risiken eines solchen Konzeptes betrachten,<br />

den Ansatz am Beispiel der Jugendberufshilfe noch etwas konkreter ausformen. Wir<br />

beziehen uns nochmals auf Thiersch, der schreibt, dass sich Jugendberufshilfemaßnahmen<br />

„angesichts der Realität heutiger Anforderungen des <strong>Arbeit</strong>smarkts <strong>und</strong> heutiger<br />

offener Jugendbiographien“ zunächst an der gegebenen primären Bedeutung des<br />

Normal-<strong>Arbeit</strong>sverhältnisses orientieren sollen. Sie sollen aber auch „eingebettet sein<br />

in die Aufgaben, die sich zwischen klassischen <strong>Arbeit</strong>sverhältnissen <strong>und</strong> Beschäftigungen<br />

ergeben, in Aufgaben einer Lebensbewältigung zwischen Lernen, Umlernen, Neulernen,<br />

zwischen <strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> Nicht-<strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> vielfältigen Formen von Beschäftigung, in<br />

Aufgaben, die sich (…) nur in neuen, gegen harte Traditionen durchzusetzenden Orientierungs-<br />

<strong>und</strong> Zuständigkeitsmuster realisieren lässt“ (2002, S. 43 f).<br />

Berufsorientierungsprojekte, die in Offenen Werkstätten stattfinden, können die Thematik<br />

unsicherer Berufsbiografien aufgreifen, die aktuelle Realität stärker wahrnehmen<br />

<strong>und</strong> traditionelle Orientierungen hinterfragen. Der Vorteil, der sich im Kontext einer „Institution<br />

Offene Werkstatt“ ergibt, ist, dass die Fähigkeiten, die im Rahmen einer Maßnahme<br />

eingeübt werden, in ihrer Ausrichtung nicht vorrangig auf die Integration in den<br />

<strong>Arbeit</strong>smarkt abzielen müssen. Schulprojekte, wie sie in Kempten <strong>und</strong> Wolfen durchgeführt<br />

werden, können als Teil eines ganzheitlichen pädagogischen Bildungsangebotes<br />

gesehen werden, als Hinführen zur Berufsarbeit oder auch zur <strong>Eigenarbeit</strong>. Als allgemeinere<br />

Kompetenzen vermittelt, können die Erfahrungen auch dazu dienen, erwerbsarbeitsfreie<br />

Zeiten persönlich sinnvoll zu gestalten.<br />

89 Mutz et al. kamen in einer Studie im HEi München u. a. zu dem Ergebnis, dass die Bewältigung<br />

von <strong>Erwerbsarbeit</strong>slosigkeit erleichtert werden kann, wenn bereits während einer Zeit der<br />

Erwerbstätigkeit Erfahrungen mit <strong>Eigenarbeit</strong> gesammelt wurden (1997, S.89 f.).<br />

171


Offene Werkstätten – ein Modell für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>?<br />

Andere Menschen, die als „<strong>Eigenarbeit</strong>erInnen“ in Offenen Werkstätten freie Zeiten tätig<br />

gestalten <strong>und</strong> dadurch Anerkennung <strong>und</strong> Zufriedenheit erfahren, können als Vorbild<br />

dienen. Ein Austausch zwischen den Gruppen wäre zu inszenieren, z. B. nach dem<br />

Muster eines Jobcafés 90 , wo durch authentisches Erzählen eine Option der Lebensführung<br />

für die TeilnehmerInnen plastisch wird. Menschen brauchen Bewältigungsmodelle<br />

<strong>und</strong> -hilfen für das Erreichen einer biographischen Integrität, die nicht mehr linear, sondern<br />

eher nach dem Muster des Patchwork aufgebaut ist (vgl. Böhnisch/ Schröer 1999,<br />

S. 192).<br />

Vielleicht könnte es gelingen, dass freie Zeiten im Lebenslauf etwas weniger als Bedrohung<br />

<strong>und</strong> etwas mehr als Chance aufgefasst werden. Innerhalb eines Projektes Offene<br />

Werkstätten könnten unterschiedliche Formen von <strong>Arbeit</strong> als gleichberechtigt nebeneinander<br />

gesehen werden. Vielleicht könnte es auch gelingen, durch aktive<br />

Öffentlichkeits- <strong>und</strong> Gremienarbeit zur Aufdeckung der strukturellen Konfliktebene von<br />

<strong>Arbeit</strong>slosigkeit beizutragen.<br />

5.4 Grenzen <strong>und</strong> Risiken<br />

Abschließend möchten wir unsere Ergebnisse mit einem kritischen Blick betrachten.<br />

Dabei gehen wir auf Punkte ein, an denen das vorgeschlagene Modell an Grenzen<br />

stößt oder wo es Risiken birgt. In diesem Zusammenhang thematisieren wir auch Lücken<br />

in den Erkenntnissen unserer Forschungsarbeit.<br />

Medium Handwerk<br />

Eine Grenze des Konzeptes liegt im Medium Handwerk selbst. Wir sind uns bewusst,<br />

dass <strong>handwerkliche</strong>s Tun nicht als das pädagogische Medium schlechthin angesehen<br />

werden kann, das für alle Menschen in ähnlicher Weise als bereichernd <strong>und</strong> erfüllend<br />

erlebt wird. Die Interessen, persönlichen Voraussetzungen <strong>und</strong> Neigungen der Menschen<br />

spielen für den Zugang eine wichtige Rolle, das haben unsere Befragungen in<br />

Kempten ergeben. Die Leiterin des Kreativzentrums nimmt ebenfalls wahr, dass das<br />

Werkstattangebot auch unter Umständen eine Hürde darstellen kann, Zugang zum<br />

Haus zu finden, da hiermit vielleicht Ängste verb<strong>und</strong>en sind. Für viele Menschen sind<br />

andere Formen der Betätigung <strong>und</strong> des Kontaktaufbaus passender (Sport, Theater,<br />

90 Jobcafé war ein 2002 durchgeführtes Projekt des Kreisjugendamtes im Rems-Murr Kreis, in<br />

dem die Methode des Erzählcafés in der <strong>Arbeit</strong> mit Mädchen aus Einrichtungen der Jugendarbeit<br />

im Übergang Schule-Beruf eingesetzt wurde. Durch „lebhafte, biografische Geschichten<br />

<strong>und</strong> Erzählungen soll[te] der persönliche Berufsfindungsprozess der Mädchen angeregt werden.<br />

(…) Die Erzählerinnen soll[t]en die Mädchen anhand ihrer eigenen Berufswahl <strong>und</strong> Biografie bei<br />

ihren Entscheidungen ermutigen, sowie ihnen Perspektiven <strong>und</strong> Möglichkeiten der Lebensplanung<br />

aufzeigen“ (Jobcafé (Broschüre), S.8)<br />

172


Offene Werkstätten – ein Modell für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>?<br />

Geschichtswerkstatt etc.). Deshalb muss man davon ausgehen, dass ein solches Angebot<br />

nicht für alle Menschen gleichermaßen eine Erweiterung ihrer Spielräume bedeutet.<br />

Der Außenauftritt eines Bürgerhauses mit Offenen Werkstätten in der Öffentlichkeit<br />

müsste demnach mit großer Sensibilität gestaltet werden. Eine Vielfalt an<br />

unterschiedlichen Angeboten erleichtert dabei sicher zusätzlich den Weg in die Einrichtung.<br />

Mit dem Medium Handwerk verbindet sich auch die Aufgabe, den Geschlechter-Aspekt<br />

in besonderer Weise zu berücksichtigen. Handwerk, je nach Gewerk eine traditionell<br />

eher männliche (Schreinern) oder eher weibliche (Töpfern) Betätigungsdomäne, kann<br />

zu einer Hürde für das jeweils andere Geschlecht werden. <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>, die traditionelle<br />

Rollen hinterfragt <strong>und</strong> die Interessen <strong>und</strong> Stärken des Subjektes unabhängig von<br />

Geschlechterrollen freilegen möchte, muss darauf bedacht sein, dass Hemmungen <strong>und</strong><br />

Ängste abgebaut werden. Sie soll ermutigend auf diejenigen wirken, die die Grenzen<br />

der traditionellen Rollen überschreiten. Dann wird aus dem ursprünglichen Risiko eine<br />

Chance. Durch Vorbilder, gleichgeschlechtliche AnleiterInnen <strong>und</strong> sensibles Vorgehen<br />

in der Öffentlichkeitsarbeit, in Kursen <strong>und</strong> bei der Fachanleitung kann dies gelingen.<br />

Wir vermuten, dass die deutliche Diskrepanz zwischen Kreativzentrum <strong>und</strong> Kempodium<br />

in diesem Punkt u. a. auch am unterschiedlichen Bewusstsein der FachanleiterInnen<br />

bezüglich dieser Thematik liegt.<br />

Es ist bedauerlich, dass wir in der Frage der Bewertung des Werkstattangebotes keine<br />

Aussagen von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen zu den Einrichtungen bekommen haben. Sie<br />

sind in beiden Einrichtungen Zielgruppe <strong>und</strong> hätten Sichtweisen aus einem ganz anderen<br />

Blickwinkel eingebracht. Inwieweit die Werkstätten für Kinder einen offenen Experimentierraum<br />

darstellen, in dem sie ihren eigenen Interessen folgen können, wäre eine<br />

interessante Frage.<br />

Handwerk <strong>und</strong> <strong>Soziale</strong>s Erleben<br />

Wir gingen in unseren Hypothesen davon aus, dass Offene Werkstätten Orte sein können,<br />

an denen sich Menschen mit unterschiedlichem Hintergr<strong>und</strong> begegnen können<br />

(siehe Kap. II 1.2). Dieses trifft wohl zu, die Orte selbst konnten wir dabei als Orte sozialen<br />

Erlebens bezeichnen. Wir schlossen in dieser Hypothese aber auch mit ein, dass<br />

eine Begegnung über das Werkstück stattfinden könnte, dass das gemeinsame Interesse<br />

am <strong>handwerkliche</strong>n Tun eine Brücke zwischen Menschen unterschiedlicher sozialer<br />

Herkunft aufbauen kann. Diese Aussage fanden wir weder bestätigt noch widerlegt.<br />

In Kempten nutzen sehr unterschiedliche Menschen die Werkstätten, es ergeben<br />

173


Offene Werkstätten – ein Modell für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>?<br />

sich auch Bekanntschaften <strong>und</strong> es herrscht eine angenehme Atmosphäre. Wir können<br />

aber keine Aussage darüber treffen, ob diese Kontakte auch in den Alltag der Menschen<br />

hineinwirken. Vermutlich könnte dieser Effekt dann eintreten, wenn Menschen<br />

sich über einen langen Zeitraum immer wieder begegnen oder ein spezielles gemeinsames<br />

Interesse teilen. In Wolfen fehlten uns die GesprächspartnerInnen aus den<br />

Werkstätten; dort trat der Aspekt des sozialen Erlebens stärker in der Gemeinschaft<br />

der MitarbeiterInnen <strong>und</strong> in den Gruppenangeboten hervor.<br />

Reale Gegebenheiten<br />

Mit dem Gedanken des Experimentierens im Bereich der Aufwertung anderer Tätigkeitsformen<br />

folgen wir der These der anstiftung <strong>und</strong> der Stiftung Bauhaus Dessau, die<br />

besagt, dass die Akzeptanz anderer Tätigkeiten als <strong>Erwerbsarbeit</strong> durch die Praxis <strong>und</strong><br />

durch das Vorleben wachsen könnte. Dass diese These sich bisher nicht bestätigt hat,<br />

zeigte sich für Wolfen-Nord bereits in der Untersuchung des BMBF aus dem Jahr 2002<br />

(Adler et al.). Wir kamen in unseren Befragungen zu demselben Ergebnis (siehe auch<br />

Kap. II 3.3.2 <strong>und</strong> II 3.3.4). Im Fall von Kempten hat sich ebenso herausgestellt, dass<br />

sowohl <strong>Eigenarbeit</strong> als auch Bürgerschaftliches Engagement in ihrer Bedeutung für die<br />

Menschen hinter der <strong>Erwerbsarbeit</strong> rangieren (siehe Kap. II 4.3).<br />

Weshalb also experimentieren wir gedanklich in dieser Richtung, wenn doch scheinbar<br />

die Orientierungen der Menschen dadurch nicht verändert werden können? Das aktuelle,<br />

in den Strukturen der <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft <strong>und</strong> in den Auffassungen der Menschen<br />

verfestigte sozialpolitische System lässt andere Lebensweisen nur sehr eingeschränkt<br />

zu. Es „bestraft“ jene, die sich aus dem System der Erwerbstätigkeit herausbewegen,<br />

oder die herausgedrängt werden. Ihnen wird eine sozialpolitisch <strong>und</strong> kulturell wenig akzeptierte<br />

Rolle zugeschrieben. Unter diesen Bedingungen können alle Versuche, subjektive<br />

Deutungs- <strong>und</strong> Verhaltensmuster zu verändern, nur sehr begrenzt gelingen. Solange<br />

es nicht andere Formen der Existenzsicherung sowie andere Sphären für<br />

Anerkennung <strong>und</strong> Status gibt, haben Formen von <strong>Arbeit</strong>, die nicht <strong>Erwerbsarbeit</strong> sind,<br />

unseres Erachtens wenig Aussicht auf einen realen Bedeutungsgewinn.<br />

Eine sprachliche Aufwertung durch die Bezeichnung <strong>Eigenarbeit</strong>, bleibt unseres Erachtens<br />

angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten ein Appell. Es verw<strong>und</strong>ert<br />

daher nicht, dass die NutzerInnen selbst bei der Bezeichnung Hobby bleiben.<br />

Nur unter der Bedingung, dass es auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen zu<br />

Veränderungen kommt, kann eine reale Aufwertung erreicht werden.<br />

174


Innerhalb der Widersprüche<br />

Offene Werkstätten – ein Modell für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>?<br />

Jedes institutionelle Angebot der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> bewegt sich selbst auch innerhalb der<br />

gegebenen Strukturen, muss sich mit systemimmanenten Widersprüchen auseinandersetzen<br />

<strong>und</strong> stößt dadurch selbst an die Grenzen der Umsetzbarkeit <strong>und</strong> Machbarkeit.<br />

<strong>Eigenarbeit</strong> <strong>und</strong> Bürgerschaftliches Engagement können in benachteiligten Stadtteilen<br />

durchaus zur Steigerung der Lebensqualität beitragen, wie wir in Wolfen-Nord<br />

gesehen haben. Diese Tätigkeiten können, was die psychosoziale Seite betrifft, durchaus<br />

stützend wirken. Das haben wir am Beispiel der Ehrenamtlichen des Kreativzentrums<br />

dargelegt. <strong>Eigenarbeit</strong> oder Ehrenamt als Hilfe bei der Bewältigung von <strong>Erwerbsarbeit</strong>slosigkeit<br />

zu propagieren, unterschlägt aber einen Teil der Realität der<br />

betroffenen Menschen. Denn solange finanzielle Sicherheit <strong>und</strong> damit auch Statusgewinn<br />

ausschließlich über <strong>Erwerbsarbeit</strong> erfolgen, bleiben andere Beschäftigungsformen,<br />

sofern sie als Ersatz dienen sollen, ein bitteres „Trostpflaster“. Fehlende <strong>Erwerbsarbeit</strong><br />

kann definitiv nicht durch <strong>Eigenarbeit</strong> ersetzt werden (vgl. Kühnlein, S. 43).<br />

Im Klima der aktivierenden Sozialpolitik muss die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> kritisch mit ihrem Auftrag<br />

umgehen <strong>und</strong> auf dem schmalen Grad zwischen Funktionalisierung <strong>und</strong> Fachlichkeit<br />

ihren eigenen Weg finden, denn sie läuft hier Gefahr, zur Managerin der Spaltung<br />

zu werden.<br />

175


Schlussbetrachtung<br />

Schlussbetrachtung<br />

In dieser <strong>Arbeit</strong> haben wir uns damit auseinander gesetzt, welche Ansatzpunkte das<br />

Modell der Offenen Werkstätten für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> in der heutigen Zeit liefert.<br />

Hierzu haben wir in zwei Einrichtungen Praxiserk<strong>und</strong>ungen durchgeführt <strong>und</strong> unsere<br />

Ergebnisse vor dem Hintergr<strong>und</strong> unserer theoretischen Auseinandersetzung in den<br />

Themenfeldern <strong>Arbeit</strong>, <strong>Eigenarbeit</strong>, Handwerk <strong>und</strong> <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> diskutiert.<br />

Unser Ausgangspunkt war die Verknüpfung von Handwerk <strong>und</strong> <strong>Soziale</strong>r <strong>Arbeit</strong>. Im Zuge<br />

unserer Auseinandersetzung nahmen wir eine Verschiebung des Schwerpunktes in<br />

Richtung <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> im Kontext der <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft vor. Handwerk sehen wir in<br />

diesem Rahmen als ein, durchaus in vielen Punkten geeignetes <strong>und</strong> überzeugendes,<br />

Medium unter vielen, das ein Tätigkeitsfeld jenseits oder neben der <strong>Erwerbsarbeit</strong> erschließen<br />

kann.<br />

Unser Exkurs in die Geschichte der <strong>Arbeit</strong> schärft das Bewusstsein dahingehend, dass<br />

die Verengung des <strong>Arbeit</strong>sbegriffs auf die <strong>Erwerbsarbeit</strong> eine recht kurze Tradition hat.<br />

Es wird deutlich, dass die vorherrschende <strong>Arbeit</strong>smoral eine kulturhistorische <strong>und</strong> nicht<br />

eine vermeintlich natürlich-anthropologische Wurzel hat.<br />

Wir stellen fest, dass die Anforderungen der <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft Individuen heute in<br />

Widersprüche bringen. Das Bild der Normalbiografie ist von der <strong>Erwerbsarbeit</strong> als zentralem<br />

Element für Einkommen <strong>und</strong> Identität gekennzeichnet. Gleichzeitig wird der Zugang<br />

zu Ausbildung <strong>und</strong> zu dauerhafter Beschäftigung, zum angestrebten Normalarbeitsverhältnis<br />

immer schwieriger. Berufsbiografien werden brüchiger <strong>und</strong> sind von<br />

Unsicherheit geprägt. Immer mehr Menschen bleiben dauerhaft von <strong>Erwerbsarbeit</strong><br />

ausgeschlossen.<br />

Global ausgerichtete Wirtschaftsstrukturen zwingen Unternehmen zu einem Höchstmaß<br />

an Flexibilität, das diese ebenso von ihren MitarbeiterInnen einfordern. Der Charakter<br />

der <strong>Erwerbsarbeit</strong> verändert sich <strong>und</strong> verlangt einen Typus eines <strong>Arbeit</strong>skraftunternehmers.<br />

In der so genannten flexiblen <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft entsteht eine neue Art<br />

der Entfremdung.<br />

Alle angeführten Phänomene führen zu neuartigen Bewältigungsaufgaben für die Menschen.<br />

Angesichts dieser Erkenntnisse gewinnen Szenarien einer immer tieferen Spaltung<br />

der Gesellschaft entlang der Linie <strong>Erwerbsarbeit</strong> – keine <strong>Erwerbsarbeit</strong> an Plausibilität.<br />

176


Schlussbetrachtung<br />

Viele Anstrengungen der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> sind auf die (Wieder-)Eingliederung der Subjekte<br />

in den <strong>Arbeit</strong>smarkt ausgerichtet, da genau hierin die Hilfe zur Selbsthilfe gesehen<br />

wird. In der gegebenen sozialpolitischen Struktur wird dies als „Königsweg zur Integration“<br />

angesehen (vgl. Galuske 2002, S. 156).<br />

Die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> kann aber das Strukturproblem des <strong>Arbeit</strong>smarktes nicht lösen <strong>und</strong><br />

richtet sich mit ihren Maßnahmen vorrangig auf die Verbesserung der Ausgangsposition<br />

einzelner Individuen. Dort, wo Integration in <strong>Arbeit</strong> langfristig nicht gelingt, wird die<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> immer häufiger zur Verwalterin der gesellschaftlichen Spaltung.<br />

Unseres Erachtens muss die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> die Krisen der Menschen in der <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft<br />

stärker als strukturellen Konflikt zur Kenntnis nehmen. Daraus ergibt sich die<br />

Aufgabe für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>, sich mit eigenen Positionen in einen Diskurs um die zukünftige<br />

Gestaltung von sozialpolitischen Rahmenbedingungen der Existenzsicherung<br />

<strong>und</strong> der Beschäftigung einzubringen. Dies hilft den Menschen aber nur mittelbar. Unmittelbar<br />

kann sie den Tatbestand sinkenden <strong>Erwerbsarbeit</strong>svolumens <strong>und</strong> die Aussicht<br />

auf unsichere Erwerbsbiografien in der Ausgestaltung ihrer Angebote berücksichtigen.<br />

Wird der Bewertungsmaßstab für Tätigkeiten nicht an der Lohnarbeitsskala geeicht,<br />

dann kann man sich darauf besinnen, dass es eine Vielfalt anderer nützlicher, sinnstiftender<br />

<strong>und</strong> erfüllender menschlicher Tätigkeiten gibt. Insofern sehen wir einen Weg der<br />

Unterstützung in den Bewältigungsaufgaben in der Anerkennung <strong>und</strong> Förderung anderer<br />

Beschäftigungsformen.<br />

Offene Werkstätten als innovatives Projekt der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> sind bestimmt von der<br />

Idee der Förderung <strong>und</strong> Schaffung von Ressourcen sozialer Selbstgestaltung, der Zugang<br />

ist offen. Eingeb<strong>und</strong>en in ein Netzwerk von anderen Institutionen können sie zu<br />

einem außergewöhnlichen Lernort werden. Sie ermöglichen <strong>und</strong> fördern ganzheitliche<br />

Unterstützungs-, Bildungs- <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>sprozesse, die angesichts der pluralen, entstandardisierten<br />

Verhältnisse in Bezug auf die Bewältigung des Alltags immer wichtiger<br />

werden. Wertvoll ist dabei der Erwerb von Kompetenzen, die das Handwerk als eingesetztes<br />

Medium erschließen kann. Ebenso viel versprechend ist die Aussicht darauf,<br />

dass diese Form der Betätigung in biografischen Umbruchphasen als Tätigkeitsfeld<br />

wieder „entdeckt“ werden kann <strong>und</strong> dann stützende Wirkung entfaltet.<br />

Bürgerhäuser mit Offenen Werkstätten stellen Möglichkeitsräume zur Verfügung <strong>und</strong><br />

entsprechen somit den Anforderungen einer individualisierten Gesellschaft nach einer<br />

bedürfnisorientierten Lebensgestaltung. Auf einen regionalen Zuschnitt des Konzeptes<br />

muss geachtet werden, dann kann es in unterschiedlichsten Sozialräumen die Verhältnisse<br />

in positiver Weise mitgestalten. Offene Werkstätten stellen einen konkreten Ge-<br />

177


Schlussbetrachtung<br />

genvorschlag zur sozialpolitischen, sozialarbeiterischen <strong>und</strong> individuellen Ausrichtung<br />

auf <strong>Erwerbsarbeit</strong> dar.<br />

Mit der Erörterung <strong>und</strong> der Bearbeitung der untersuchten Fragestellung werden zahlreiche<br />

andere Themen berührt, wie etwa der Entwurf einer Ökonomie, die den Menschen<br />

in den Mittelpunkt stellt oder Fragen nach Lebensstilen in der Moderne. Gleichfalls<br />

interessant stellen sich Visionen von zukünftiger <strong>Erwerbsarbeit</strong> oder Ansätze einer<br />

Umverteilung der gesamten <strong>Arbeit</strong>, einschließlich Haus- <strong>und</strong> Versorgungsarbeit dar.<br />

Dabei werden auch Fragen nach einer Neuorganisation der materiellen Absicherung<br />

durch Gr<strong>und</strong>einkommen berührt. Ein gr<strong>und</strong>legendes Diskussionsfeld ist außerdem die<br />

Thematik, welches Leitbild von Gerechtigkeit in der Gesellschaft gelten soll.<br />

Auch die Herausforderung der konkreten Praxisumsetzung kann im Rahmen unserer<br />

theoretischen Abhandlung nur angerissen werden. Wie kann dem Anspruch der arbeitsgesellschaftlichen<br />

Reflexivität in den gegebenen Rahmenbedingungen zukunftsweisend<br />

Rechnung getragen werden? Wie steht es um die Finanzierung möglicher<br />

Projekte? Wie wird der Balanceakt zwischen Funktionalisierung <strong>und</strong> Fachlichkeit ausgestaltet?<br />

Wie kann das Verhältnis von Ehrenamt zu Hauptamt in einer Einrichtung mit<br />

Offenen Werkstätten aussehen?<br />

All diese Fragen sind aktuelle Themen, deren Vertiefung für die Weiterentwicklung der<br />

<strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> in der Zweiten Moderne aus unserer Sicht spannend <strong>und</strong> lohnend wäre.<br />

Wir sind uns durchaus der utopischen Anteile unseres Vorschlags bewusst, denn die<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> kann nur innerhalb ihrer Grenzen wirken <strong>und</strong> sich nicht einfach eine<br />

neue Gesellschaft erfinden (vgl. Galuske 2002, 351). Wir haben in dieser <strong>Arbeit</strong> versucht,<br />

die Utopie einer pluralen Tätigkeitsgesellschaft in einen praktischen Vorschlag<br />

für die <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> einfließen zu lassen. Die von der anstiftung mit gegründeten Einrichtungen<br />

in Sachsen-Anhalt <strong>und</strong> im Allgäu standen dabei Modell.<br />

Sozialpolitisch reflexive <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> bedeutet für uns nicht nur, auf Verbesserung in<br />

der Zukunft hinzuarbeiten, <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> muss auch in den gegebenen Verhältnissen<br />

positive Wirkungen für die Individuen entfalten, denn Menschen wollen ihren Alltag<br />

heute glücklich <strong>und</strong> gelingend erleben (vgl. ebd.).<br />

Es würde uns freuen, wenn die bestehenden Offenen Werkstätten ihre Koalitionen mit<br />

der <strong>Soziale</strong>n <strong>Arbeit</strong> ausbauen <strong>und</strong> weitere Projekte möglich würden.<br />

178


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184


Protokolle des Besuchs im Kreativzentrum Anlage<br />

Protokolle des Besuchs im Kreativzentrum in Wolfen-Nord<br />

Zur Unterstützung des Forschungsprozesses haben wir jeweils zeitnah zu unseren<br />

Ortsterminen in Wolfen <strong>und</strong> Kempten Gedächtnisprotokolle angefertigt. Sie dienten in erster<br />

Linie der eigenen Gedächtnisstütze in Bezug auf die Eindrücke <strong>und</strong> Erlebnisse <strong>und</strong> bilden<br />

ein Puzzlestück in unserem Bemühen um Verständnis. Dabei wissen wir wohl, dass unsere<br />

jeweils fünfstündigen Aufenthalte in Wolfen-Nord <strong>und</strong> Kempten nur eine höchst lückenhafte,<br />

subjektive Beschreibung der Situation im Stadtteil zulassen. Gewiss färbt unsere subjektive<br />

Sichtweise aber auch unsere Interpretation der Aussagen der Befragten, weshalb wir uns<br />

entschlossen haben, diese Protokolle aus Gründen der Transparenz des<br />

Forschungsprozesses der Diplomarbeit anzuhängen.<br />

Der Spaziergang durch den Stadtteil in Wolfen <strong>und</strong> die R<strong>und</strong>gänge durch das<br />

Kreativzentrum <strong>und</strong> das Kempodium können die Einrichtungen in der Vorstellung der<br />

interessierten Leser <strong>und</strong> Leserinnen außerdem plastischer werden lassen.<br />

Spaziergang durch Wolfen-Nord<br />

Wir reisten mit dem Zug von Leipzig nach Wolfen-Nord an, Haltestelle ist Jeßnitz (Anhalt),<br />

der Bahnhof einer kleinen Gemeinde, die von Wolfen aus jenseits der Bahnlinie liegt. Von<br />

dort gingen wir zu Fuß nach Wolfen-Nord hinein, wir hatten etwas Zeit eingeplant um einen<br />

Eindruck vom Stadtteil gewinnen zu können. Am Bahnhof war ein riesiger, aber leerer<br />

Parkplatz, die Straßen waren neu, breit <strong>und</strong> fast leer. Die Wohnviertel bestehen aus<br />

Mietshäusern im Stil der 50er Jahre, die Fassaden relativ neu, dazwischen großzügige<br />

Grünflächen <strong>und</strong> Fußgängerwege. Fast nirgends waren Menschen zu sehen. Alles wirkte<br />

sehr gepflegt <strong>und</strong> ruhig. Um unsere Suche nach einem Café zu beschleunigen, fragten wir<br />

im ersten Laden, den wir sahen. Es handelte sich um ein Sozialkaufhaus, das, wie ein Schild<br />

verriet, erst kürzlich eröffnet hatte. Die MitarbeiterInnen dort waren sehr hilfsbereit,<br />

diskutierten erst über den besten Tipp <strong>und</strong> zeigten uns dann den Weg. Eine von ihnen<br />

begleitete uns sogar ein kurzes Stück <strong>und</strong> schickte uns mit den Worten: „immer gerade aus<br />

bis auf die Platte“ auf den Weg. Wieder wanderten wir auf Fußgängerwegen zwischen<br />

Grünanlagen an leeren Parkbänken, einem großen Discounter mit ebenfalls großem<br />

Parkplatz <strong>und</strong> wenigen Autos vorbei <strong>und</strong> steuerten auf ein kleines Einkaufszentrum mit<br />

Schreibwarenladen, einigen kleinen Geschäften <strong>und</strong> Eisdiele zu. Wir überquerten eine breite<br />

neu geteerte Straße, die überdimensioniert wirkte. Hinter der „Nord Passage Wolfen“<br />

erkannten wir die „Platte“. Die Plattenbauten sind farbig gestrichen <strong>und</strong> so breit, dass ihre<br />

Höhe gar nicht mehr so sehr auffällt. Wir setzten uns, immerhin hier war noch ein weiterer<br />

Tisch belegt. Nach <strong>und</strong> nach wurde uns klar, dass wir uns im „Zentrum“ von Wolfen-Nord<br />

befanden! Der Postkartenkauf bestätigte es mit dem einzigen Motiv des selben Gebäudes<br />

aus mehreren Perspektiven aufgenommen: Es gibt hier einfach sonst nichts Sehenswertes.<br />

1


Protokolle des Besuchs im Kreativzentrum Anlage 1<br />

Postkarte Wolfen<br />

Noch ein Blick auf den Stadtplan, um den letzten Teil des Weges abzuschätzen: Straße der<br />

Chemiearbeiter, Straße der Republik, Ring der Bauarbeiter, Straße der Völkerfre<strong>und</strong>schaft –<br />

Namen, die an eine stolze sozialistische <strong>Arbeit</strong>erkultur erinnern <strong>und</strong> heute für einen bitteren<br />

Beigeschmack angesichts der versprochenen blühenden Landschaften in der<br />

kapitalistischen Gesellschaft sorgen. Wir machten uns auf den Weg zum Kreativzentrum in<br />

der Straße der Jugend, die von hier aus nicht mehr weit war.<br />

Auf unserem Rückweg nach unserem Besuch nahmen wir den selben Weg zurück zum<br />

Bahnhof. Wir brachen um ca.17:30 Uhr auf, auch jetzt war es nicht belebter auf den Straßen<br />

<strong>und</strong> Wegen als um die Mittagszeit. In einer Anlage wurde der Rasen gemäht, auf einer<br />

Parkbank saßen zwei Jugendliche, die je eine Bier <strong>und</strong> eine Weinflasche öffneten. Am<br />

Bahnhof hatten wir eine Begegnung mit vier Personen, eine ältere Frau, eine jüngere mit<br />

Fahrrad <strong>und</strong> zwei jüngere Männer, von denen der eine offenbar eine Behinderung hatte. Die<br />

Gruppe gehörte offensichtlich zusammen (Mutter mit Tochter, Sohn <strong>und</strong> Schwiegersohn?).<br />

Der nicht behinderte Mann sprach uns an, um uns zu sagen, dass wir kein Geld in den<br />

Fahrkartenautomaten stecken sollten, er sei kaputt, es käme nichts mehr heraus. Weiter<br />

sprachen erst er <strong>und</strong> dann auch die jüngere <strong>und</strong> die ältere Frau darüber, dass am Bahnhof alles<br />

kaputtgeschlagen wurde, von den Banden von Jugendlichen (es war wirklich alles kaputt,<br />

was kaputt gehen kann). Es habe auch schon mehrmals in einem kleinen unbewohnten<br />

2


Protokolle des Besuchs im Kreativzentrum Anlage 1<br />

Gebäude neben dem Bahnhof gebrannt. Er wüsste das, weil er bei der freiwilligen<br />

Feuerwehr sei. Man könne sich abends auf keinen Fall alleine hertrauen, das sei viel zu<br />

gefährlich. Die junge Frau sagte, es sei gut sich mit Pfefferspray zu schützen. Die Polizei<br />

würde auch nicht kommen, die seien nur in Bitterfeld aber nie in Jeßnitz, sie würden sich<br />

auch nicht hertrauen. Die ganze Gruppe sah sehr ärmlich aus, die ältere Frau hatte große<br />

Zahnlücken <strong>und</strong> war sehr schlecht zu verstehen. Es stellte sich dann heraus, dass nur die<br />

junge Frau in den Zug stieg, die anderen hatten sie wohl nur begleitet. (Zum Schutz?).<br />

Es ist uns bewusst, dass dies nur ein Blitzlicht ist, der Eindruck, den wir in der kurzen Zeit<br />

gewannen, ist jedoch der, dass mit einigem Geld viel kosmetische <strong>Arbeit</strong> im Stadtteil<br />

geleistet wird, um einem „Verkommen“ (einer Ghettoisierung) entgegen zu wirken. Hier ist<br />

die EWN mit ihrem Abriss- <strong>und</strong> Aufwertungsleitbild <strong>und</strong> einem Stadtteilservice als<br />

ausführendem Organ sicherlich maßgeblich beteiligt. Den massiven sozialen Problemen<br />

hinter neuen Fassaden <strong>und</strong> in weitläufigen Grünanlagen, die von <strong>Arbeit</strong>s- <strong>und</strong><br />

Perspektivlosigkeit herrühren, konnte bisher erst wenig entgegengesetzt werden <strong>und</strong><br />

deshalb brodelt es unter der Oberfläche.<br />

3


Protokolle des Besuchs im Kreativzentrum Anlage 1<br />

R<strong>und</strong>gang um <strong>und</strong> durch das Haus<br />

Bei unserem Besuch im Kreativzentrum Wolfen wurden wir von Frau Kiontke, der<br />

Vereinsvorstandsvorsitzenden <strong>und</strong> Leiterin des Kreativzentrums e.V. (im Folgenden auch<br />

Krea genannt, da dies die Bezeichnung der MitarbeiterInnen dort ist) fre<strong>und</strong>lich begrüßt.<br />

Beschilderung Kreativzentrum Eingang zum Kreativzentrum<br />

Nachdem wir ein Wasser angeboten bekommen hatten, überreichte uns Frau Kiontke die<br />

versprochenen Dokumente. Viel sei nicht vorhanden, außer einem Flyer, der im<br />

Wesentlichen Teile der Inhalte der Homepage wiedergibt. Weiter bekamen wir je einen Flyer<br />

des lokalen Bündnis für Familie im Landkreis Bitterfeld <strong>und</strong> einen der Koordinierungsstelle<br />

des Modellprogramms LOS (Lokales Kapital für soziale Zwecke) im Landkreis. Im lokalen<br />

Bündnis für Familie sei das Kreativzentrum Mitglied, durch LOS bekomme es Förderung <strong>und</strong><br />

mit der LOS Koordinierungsstelle gebe es eine gute Zusammenarbeit. Der Flyer, den wir zur<br />

Verfügung gestellt bekamen, ist die Einladung zu einem Fachaustausch über LOS Projekte,<br />

der im Mehrgenerationenhaus Kreativzentrum- Wolfen im Juni diesen Jahres stattfand.<br />

Wir besprachen dann die Vorgehensweise für unseren Besuch. Frau Kiontke war der<br />

Meinung, dass es besser sei, spontan eine Gruppe von BesucherInnen<br />

zusammenzutrommeln <strong>und</strong> diese nicht vorher um Teilnahme zu bitten, da diese sonst Sorge<br />

haben könnten, ausgefragt zu werden. Aus diesem Gr<strong>und</strong> ergab sich dann folgende<br />

Situation: Da keine BesucherInnen in den Werkstätten <strong>und</strong> im Café an diesem Nachmittag<br />

anwesend waren, plante Frau Kiontke für uns ein Gespräch mit MitarbeiterInnen <strong>und</strong> eines<br />

mit der Gruppe des regelmäßigen Rentnertreffs ein. Mit unseren „Vorahnungen“ bezüglich<br />

der Ungewissheit das Gruppeninterview betreffend, lagen wir in diesem Fall also richtig <strong>und</strong><br />

es erwies sich als hilfreich, klar strukturierte Leitfäden vorbereitet zu haben.<br />

4


Protokolle des Besuchs im Kreativzentrum Anlage 1<br />

Nachdem dies beschlossen war, führte uns Frau Kiontke durch das Haus, wobei wir bereits e<br />

iniges über die Aktivitäten, die MitarbeiterInnen <strong>und</strong> die NutzerInnen erfuhren. …. Da wir<br />

von diesen Gesprächen keine Aufzeichnungen gemacht haben, fertigten wir zeitnah im<br />

Anschluss das folgende Verlaufsprotokoll aus dem Gedächtnis an.<br />

Den R<strong>und</strong>gang begannen wir im Café, einem großen Raum mit Theke <strong>und</strong> dahinter<br />

liegender Küche. Es befindet sich dort ein großer langer Tisch, an dem morgens alle<br />

gemeinsam 1 den Tag mit einem Frühstück beginnen. Dieses dient gleichzeitig zur<br />

Lagebesprechung, dann werden auch Aufgaben verteilt, Pläne geschmiedet <strong>und</strong> Ideen<br />

(weiter)entwickelt. Weitere Tische sind an die Wand geschoben, teilweise sind selbst<br />

angefertigte Gestecke <strong>und</strong> Töpfersachen darauf ausgestellt. In der Mitte des Raumes ist eine<br />

große freie Fläche.<br />

Im Café des Kreativzentrums<br />

Vom Café führt eine große Fensterfront mit einer geöffneten Glastür auf die Terrasse <strong>und</strong> in<br />

den großen Garten hinaus. Hierhin kommen regelmäßig jede Woche zwei Mal vormittags die<br />

Kinder eines nahe gelegenen Kindergartens, um das große Außengelände zu nutzen. Zum<br />

Kindergarten selbst gehört offenbar keine adäquate Außenfläche. Es stehen auch ein paar<br />

ältere Spielgeräte dort, aus der der Zeit, als das Gebäude selbst ein Kindergarten war (bis<br />

1996). Frau Kiontke sagte, die Kinder könnten sich hier mal richtig austoben, was sie sonst<br />

nicht so könnten. Hier finden auch bei gutem Wetter die Feste mit Grill, Kaffee <strong>und</strong> Kuchen<br />

statt, die das Kreativzentrum für Schulklassen, Vereine, etc. ausrichtet, meist stehen sie<br />

unter einem Motto, z.B. Indianer,Eisenbahn….<br />

1 alle ehrenamtlichen Mitarbeiter, Mitglieder <strong>und</strong> Ein Euro-Jobber, Frau Kiontke sprach von „Wir“<br />

5


Protokolle des Besuchs im Kreativzentrum Anlage 1<br />

Außengelände/ Garten Computerkabinett<br />

Die nächste Station unseres R<strong>und</strong>gangs war das im oberen Stockwerk gelegene<br />

Computerkabinett. Dort stehen im vorderen Raum zehn Rechner mit Internetanschluss. Es<br />

waren eine Anleiterin, aber keine BesucherInnen anwesend. Sie sagte,<br />

vormittags seien bereits einige da gewesen. Die Benutzung der Computer ist fast kostenlos,<br />

man bekommt Unterstützung bei Stellenrecherche <strong>und</strong> Bewerbungsschreiben. Frau Kiontke<br />

informierte uns, dass dies das einzige Internetcafé in Wolfen sei, man müsse sonst nach<br />

Bitterfeld in die Agentur zur <strong>Arbeit</strong> gehen, um nach Stellen recherchieren zu können. Auch<br />

der Jugendclub in der Nähe habe nur einen Rechner zur Verfügung, weshalb die<br />

Jugendlichen oft herkämen. Im daneben gelegenen, kleineren Raum befinden sich weitere<br />

sechs Computer, die hauptsächlich den Kindern zum Spielen zur Verfügung gestellt werden.<br />

Diese sind seit kurzem vernetzt. Es wäre immer eine Aufsicht da, <strong>und</strong> es würden keine<br />

Gewaltspiele zugelassen.<br />

Außerdem befinden sich in dieser Etage noch das Büro <strong>und</strong> Tonstudio der Talentförderung<br />

Wolfen <strong>und</strong> eine Kampfsportschule. Diese haben die Räume vom Kreativzentrum auf<br />

Betriebskostenbasis gemietet. Im Vorraum ist zur Zeit eine Miniatureisenbahnanlage<br />

aufgebaut, die ein Vereinsmitglied dem Krea zur Verfügung stellt.<br />

Modelleisenbahn Gruppenraum im Erdgeschoss<br />

6


Protokolle des Besuchs im Kreativzentrum Anlage 1<br />

Weiter ging es wieder im Erdgeschoss, wo gegenüber des Cafés zwei im Haus zentral<br />

gelegene Räume sind. Diese waren gerade leer geräumt, da für das kommende<br />

Wochenende geplant war, die Trennwand herauszunehmen, um einen großen Raum für die<br />

Kinderfeste zur Verfügung zu haben. Die Umbauarbeiten würden „Wir“. (siehe Fußnote) alle<br />

gemeinsam machen, alle würden mit anpacken, so sagte uns Frau Kiontke.<br />

Von hier führt ein Gang zu drei weiteren Räumen. Rechts liegt ein Gruppenraum mit Tischen<br />

<strong>und</strong> Stühlen, der an verschiedene Gruppen vergeben wird. Während unseres Besuches fand<br />

dort das 14-tägige Treffen einer Gruppe von Rentnerinnen statt, die dort Kaffee tranken <strong>und</strong> sich<br />

unterhielten. Mit ihnen hatten wir später Gelegenheit ein ausführliches Gespräch zu führen.<br />

Links im Gang befindet sich der Eingang zur Floristik- bzw. Bastelwerkstatt <strong>und</strong> zur Töpferei.<br />

In der Bastelwerkstatt stellte eine Mitarbeiterin gerade eine große Schaffnerfigur her, als<br />

Dekoration für das Eisenbahnfest. Dort gibt es bis zur Decke mit Bastelmaterial <strong>und</strong> fertig<br />

gestellten Sachen gefüllte Regale <strong>und</strong> in der Mitte des nicht allzu großen Raumes einen<br />

großen Tisch. In einer Ecke steht auch ein kleiner Brennofen für Ton. Im Töpferraum selbst<br />

befindet sich ebenfalls in der Mitte ein großer Tisch, der mit fertiggestellten Töpfersachen<br />

vollstand. Da zur Zeit keine gelernte Töpferin mitarbeitet, wird hauptsächlich in<br />

Aufbautechnik gearbeitet <strong>und</strong> meist mit Abdruckverfahren (Spitzendecken, Blätter aus der<br />

Natur) Effekt erzielt. Hier kommen auch die Kinder aus den Kindergärten hin, stellen etwas<br />

her, das dann von den Mitarbeiterinnen gebrannt <strong>und</strong> glasiert wird.<br />

Bastelwerkstatt <strong>und</strong> Floristik Modell für Bastelangebot: Spongebob<br />

Den Gang weiter geradeaus nach hinten liegt ein weiterer großer Raum, der für die<br />

Kinderbetreuung zur Verfügung steht. Dort gibt es ein Sofa, eine Schrankwand mit vielen<br />

Spielsachen, die gespendet wurden <strong>und</strong> ansonsten viel Platz. Auch hier war eine<br />

Mitarbeiterin anwesend, Kinder waren gerade keine da. Frau Kiontke erklärte uns,<br />

dass Mütter jederzeit während der Öffnungszeiten, wenn sie in den Werkstätten etwas<br />

machen wollen, ihre Kinder dort betreuen lassen könnten.<br />

7


Protokolle des Besuchs im Kreativzentrum Anlage 1<br />

Von hier aus gingen wir in die im Souterrain liegenden Werkstätten. Neben einem kleinen<br />

Raum, der an eine Privatperson vermietet ist <strong>und</strong> als Atelier genutzt wird, gibt es hier die<br />

Metallwerkstatt <strong>und</strong> die Holzwerkstatt. In der Holzwerkstatt waren zwei Mitarbeiter anwesend<br />

<strong>und</strong> ein Besucher. Sie arbeiteten gemeinsam an der Kreissäge <strong>und</strong> berieten sich über die<br />

weitere Vorgehensweise.<br />

In der Metallwerkstatt war zu dem Zeitpunkt niemand. Frau Kiontke erzählte uns, dass diese<br />

in der Anfangszeit noch stärker genutzt worden war, heute bis auf das Schweißen weniger<br />

dort gearbeitet würde. Zum Material Holz hätten doch mehr Menschen Zugang als zum<br />

Material Metall.<br />

Metallwerkstatt<br />

Holzwerkstatt<br />

Zuletzt gingen wir außen herum in einen anderen Teil des Gebäudes. Das zweistöckige<br />

Haus ist umgeben von den deutlich höheren Wohnanlagen der Plattenbausiedlung, so dass<br />

es relativ versteckt in dem Viertel liegt. Eine ganze Häuserreihe gegenüber steht leer <strong>und</strong><br />

soll in Kürze abgerissen werden (Maßnahme der EWN im Rahmen des Programms zum<br />

Stadtumbau). Frau Kiontke hofft, dass das Krea dadurch an BesucherInnen gewinnen wird,<br />

da es dann vom Einkaufszentrum her sichtbarer wird. Die Außenwände des großen<br />

Gebäudes sind fast überall voll mit Graffitis, einige sind wohl erst kürzlich hinzugekommen,<br />

worüber sich Frau Kiontke mit der Mitarbeiterin des DRK unterhielt. Sie hat deswegen auch<br />

schon mehrmals die Polizei verständigt, doch das nütze überhaupt nichts.<br />

8


Protokolle des Besuchs im Kreativzentrum Anlage 1<br />

Kreativzentrum von Außen 1 Kreativzentrum von Außen 2<br />

In den Räumen der anderen Haushälfte ist das Kreativzentrum e.V. ebenfalls der<br />

Hauptmieter, dort sind jedoch der Spielmannszug Wolfen, der DGB Wolfen <strong>und</strong> die<br />

Straffälligenhilfe des DGB sowie die Suchtberatungsstelle <strong>und</strong> die<br />

Schwangerenberatungsstelle des DRK untergebracht.<br />

Von hier aus kehrten wir zurück ins Café <strong>und</strong> führten dort unsere Interviews.<br />

9


Protokoll des Besuchs im Kempodium Anlage 2<br />

Ankunft im Kempodium<br />

Das Kempodium liegt im Kemptener Stadtteil Eich, einem vornehmlichen Wohngebiet. Zwischen<br />

der Eicher Straße <strong>und</strong> der Innenstadt verlaufen eine Bahnlinie <strong>und</strong> ein großer „Autoring“<br />

(Schuhmacherring), so dass sich das Kempodium zwar zentral (10 Gehminuten zum Bahnhof),<br />

aber dennoch außerhalb des Stadtzentrums befindet.<br />

Wenn man in die Eicher Str. einbiegt, liegt umgeben von Bäumen linkerhand das Gebäude<br />

der ehemaligen brauchBar, welchem sich das Kempodium anschließt. Direkt gegenüber befindet<br />

sich auf der rechten Seite das Gebäude des Kempodium-Kaufhauses Allerhand, vor<br />

dem sich ein großer Parkplatz befindet. Das Kempodium selbst ist ein großes, weiß gestrichenes<br />

Gebäude, das mit einem großen Namenszug, der im Dunkeln beleuchtet ist, auf seine<br />

Nutzung aufmerksam macht. Neben der Tür befindet sich das Logo, in dem die Giebelform<br />

der Außenfassade aufgegriffen wurde.<br />

Gebäude der ehemaligen brauchBar Das Kempodium von außen,<br />

Blick vom Kaufhaus Allerhand<br />

Das Kempodium ist in einer ehemaligen Schreinerei untergebracht, welche die Werkhalle<br />

erst drei Jahre vor Einzug des Kempodiums neu gebaut hatte. Das Gebäude ist somit relativ<br />

neu <strong>und</strong> architektonisch so angelegt, dass lichtdurchflutete hohe Räume, verarbeitet mit<br />

hochwertigen Materialien – vornehmlich Holz - eine angenehme, einladende Atmosphäre<br />

schaffen.<br />

Beim Betreten des Kempodiums kann man sich im Eingangsbereich über verschiedene Angebote<br />

informieren. Dort stehen ein Flyerregal <strong>und</strong> zwei kleine Tischchen, auf denen Informationen<br />

zum Kempodium selbst ausliegen (Veranstaltungshinweise, Flyer, besondere Aktionen…),<br />

aber auch Flyer zu anderen kulturellen Angeboten in der Region.<br />

Von dort stößt man automatisch auf die Empfangstheke, die zur Begrüßung, Anmeldung, Abrechnung<br />

usw. genutzt wird.<br />

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Protokoll des Besuchs im Kempodium Anlage 2<br />

Links davon liegt das offene MitarbeiterInnen-Büro; dieses kann durch eine große Schiebetüre<br />

abgetrennt werden. Rechts von der Empfangstheke liegt das Werkstattbistro inklusive einer<br />

kleinen Küchenzeile, die zu Selbstbedienungszwecken angelegt ist. Dort können verschiedene<br />

Getränke <strong>und</strong> kleine Snacks erworben werden. Eine Tafel informiert über die<br />

Preise, bezahlt wird an der Theke in eine kleine Geldkassette, die auch offen ist, wenn am<br />

Empfang gerade niemand sitzt, was darauf hindeutet, dass man den Menschen vertraut. In<br />

dem Cafébereich stehen mehrere kleine einladende Tischgruppen zum Hinsetzen. Eine<br />

Glasvitrine lädt zum Begutachten verschiedener Werkstücke ein, ebenso ein an der Wand<br />

angebrachtes Regal <strong>und</strong> die tiefen Fensterbänke, die mit ausgewählten Exponaten bestückt<br />

sind. Dort liegt auch ein Fotoalbum mit diversen im Kempodium entstandenen <strong>Arbeit</strong>en aus.<br />

Werkstattbistro Ausstellungsstücke im Café<br />

Begrüßungsschild<br />

Ein aufgehängtes Begrüßungsschild im<br />

Werkstattcafé, von welchem aus man Einblick in die<br />

Holzwerkstatt hat, informiert die BesucherInnen<br />

über die Möglichkeiten im Kempodium.<br />

Unseren R<strong>und</strong>gang mit Herrn Slavicek starteten wir<br />

im Empfangs- <strong>und</strong> Cafébereich.<br />

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Protokoll des Besuchs im Kempodium Anlage 2<br />

Von dort aus ging es weiter in den Kern- <strong>und</strong> Herzbereich des Kempodiums – die große<br />

Werkstatt, in der sowohl Holz- <strong>und</strong> Metallverarbeitung, als auch die Kinderwerkstatt untergebracht<br />

sind. Dort sorgen hohe Decken <strong>und</strong> viel Licht für ein großzügiges weites Raumempfinden.<br />

Zwischen den großen professionellen Maschinen (ein Großteil wurde von der Schreinerei<br />

übernommen) stehen an verschiedenen Stellen im Raum Werkstücke in<br />

unterschiedlichen Fertigungsstadien. Der Holzbereich ist zentral, nimmt den meisten Platz in<br />

Anspruch <strong>und</strong> wird auch nach Aussagen von Herrn Slavicek am häufigsten genutzt. Dort waren<br />

nachmittags gerade zwei Männer am arbeiten, einer davon Herr W, der auch im späteren<br />

Interview zugegen war. Herr Slavicek berichtete uns, dass NutzerInnen in der Regel die<br />

Werkstattzeiten, in denen auch FachanleiterInnen zugegen sind, zum <strong>Arbeit</strong>en nutzen. Wenn<br />

sie sich allerdings schon gut auskennen, können sie auch außerhalb dieser Zeiten selbstständig<br />

etwas tun, große Maschinen allerdings können nur in Anwesenheit der FachanleiterInnen<br />

genutzt werden.<br />

Blick in die Holzwerkstatt Objekte der Metallwerkstatt<br />

Räumlich etwas abgetrennt befindet sich auf der linken Seite der Metallbereich. Von dort aus<br />

kann man in einen kleinen anliegenden Extraraum gelangen, in welchem Schweißarbeiten<br />

durchgeführt werden können. Nach Aussagen von Herrn Slavicek wird der Metallbereich eher<br />

selten genutzt. Er führt das darauf zurück, dass die meisten Menschen einen besseren<br />

Zugang zum Material Holz <strong>und</strong> dessen Verarbeitung hätten. Speziell angebotene Kurse<br />

(„Schweißen für Nieten“ „Schweißen für Frauen“) würden wohl schon recht gut besucht, die<br />

offene Werkstattnutzung hingegen weniger, weshalb die Präsenzzeit für FachanleiterInnen<br />

dort aufgr<strong>und</strong> finanzieller Aspekte auf einen Abend reduziert wurde. Auf Anfrage jedoch können<br />

in Absprache mit den FachanleiterInnen auch zusätzliche Extra-Termine vereinbart werden.<br />

Auch in diesem Werkstattbereich standen fertig geschweißte Figuren zum Betrachten.<br />

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Protokoll des Besuchs im Kempodium Anlage 2<br />

Die Kinder- <strong>und</strong> Jugendwerkstatt befindet sich angrenzend an den Metallbereich in einem<br />

Extraraum. Eine große Glasfront vermittelt den Eindruck, dass dieser Teil der Werkstatt aber<br />

nicht separiert, sondern nur akustisch abgeschirmt ist. Dort fand während unseres Besuches<br />

gerade ein Kindergeburtstag statt.<br />

Hinter der Werkstatt liegt das zum Kempodium gehörende Außengelände bzw. der „Garten“.<br />

Dorthin gelangt man von der Werkstatt aus über einen „Hinterausgang“ <strong>und</strong> ein paar Stufen,<br />

es ist aber auch möglich, ihn über das nach hinten heraus ebenerdige Untergeschoß zu erreichen<br />

oder um das Gebäude außen herum zu gehen. Es standen dort einige Steinfiguren<br />

eines Handwerkers <strong>und</strong> Künstlers, für die nahe Zukunft geplant sind auch Steinmetz-Kurse.<br />

Durch eine Tür rechter Hand in der Werkstatt gelangt man in den großen Veranstaltungsraum,<br />

der sowohl für vereinsinterne Veranstaltungen als auch für Aktionen wie Discos etc.<br />

<strong>und</strong> Vermietungen genutzt wird. Hier stand die Tür zur Straße hin auf, es war jedoch niemand<br />

zugegen.<br />

Außengelände mit Garten Veranstaltungsraum<br />

Wieder zurück in der Holzwerkstatt, gingen wir von dort aus ins Untergeschoss, in dem sich<br />

die Küche <strong>und</strong> ein angrenzender Raum befinden, welche auf Gartenebene liegen, diese sind<br />

also ebenfalls mit Tageslicht ausgestattet. Die Küche ist mit insgesamt vier Herden plus Backofen<br />

sowie mehreren <strong>Arbeit</strong>sflächen auf die Nutzung von größeren Gruppen ausgelegt. Dort<br />

finden Projekte mit Schulklassen statt, die Räume werden aber auch vermietet, sowohl an<br />

private Leute als auch an die VHS oder andere Kursanbieter. Herr Slavicek teilte uns mit,<br />

dass die Küchen-Vermietungen besonders gut genutzt werden.<br />

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Protokoll des Besuchs im Kempodium Anlage 2<br />

Kochwerkstatt Tonwerkstatt<br />

Gegenüber der Küche befindet sich auch die kleine<br />

Töpferei mit zwei <strong>Arbeit</strong>stischen, einem Brennofen <strong>und</strong><br />

mehreren Regalen an der Wand. Des Weiteren befinden<br />

sich im Gartengeschoss noch zwei weitere<br />

Räume, die zu unterschiedlichsten Zwecken genutzt<br />

werden (Ferien-Kinderbetreuung, VHS-Yogakurse,<br />

Trommelkurs....).<br />

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Protokoll des Besuchs im Kempodium Anlage 2<br />

Besuch im Kaufhaus Allerhand<br />

Zwischen unseren beiden Interviews besuchten<br />

wir das gegenüber liegende Secondhand-<br />

Kaufhaus Allerhand. Auf einer sehr großen<br />

<strong>und</strong> hellen Fläche werden in zwei Räumen im<br />

Obergeschoss <strong>und</strong> einem Raum im Keller die<br />

Waren präsentiert. Alles war sehr gut sortiert,<br />

sauber <strong>und</strong> gepflegt. Auch hier waren wir<br />

überrascht, wie viel räumliche Fläche dort zur<br />

Verfügung steht. Der Schwerpunkt der<br />

Das Kempodium Kaufhaus Allerhand<br />

angebotenen Waren liegt auf Möbeln <strong>und</strong><br />

Hausrat aller Art, es gibt aber auch Bücher <strong>und</strong> Spielsachen. Kleidung wird so gut wie kaum<br />

angeboten, stattdessen wird auf den örtlichen Diakonie-Laden verwiesen. An verschiedenen<br />

Stellen wird mit kleinen Schildern darauf hingewiesen, dass die gegenüberliegenden Werkstätten<br />

im Kempodium die Möglichkeit zu Reparaturarbeiten bieten.<br />

Und zum Schluss noch ein „Erinnerungsfoto“ an unsere kleinen (natürlich in <strong>Eigenarbeit</strong> erstellten)<br />

Geschenkbüchlein als Dankeschön für die GesprächsteilnehmerInnen.<br />

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