Zu viel Bürokratie - Caritas NRW
Zu viel Bürokratie - Caritas NRW
Zu viel Bürokratie - Caritas NRW
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Alltagsgeschichte<br />
Die Würde der Behörden ist unantastbar<br />
Von Theodor Weißenborn<br />
Im Fernsehen wurde über eine Musikerin, eine Violinistin,<br />
berichtet, die, hochbetagt, ihre Wohnung hatte<br />
räumen sollen und nach einer temperamentvollen<br />
Auseinandersetzung mit ihrem Hauswirt laut gerichtsbeschluss<br />
als „tobsüchtig“ in die Psychiatrie<br />
eingewiesen worden war.<br />
Die Behördenangestellten, die mit der Auflösung ihres<br />
Hausstandes betraut waren, hatten offenbar nicht damit<br />
gerechnet, dass sie je wieder aus der Klinik entlassen<br />
werden würde, und hatten ihre gesamte Habe kurzerhand<br />
auf die Straße zum Sperrmüll gestellt: außer altgedientem<br />
Mobiliar vor allem Kartons mit Büchern,<br />
Noten, Fotos, Briefen und persönlichen Aufzeichnungen,<br />
kurz: das Unschätzbare, nicht Quantifizierbare, das<br />
Inkommensurable.<br />
Dann aber geschah das Unerhörte: Ein junger Arzt, der<br />
die alte Dame in der Klinik untersucht hatte, erklärte<br />
sie für gesund, attestierte ihr eine bemerkenswerte<br />
Selbstkompetenz und Persönlichkeitsstärke, nannte<br />
ihre Zornausbrüche situationsgerecht, völlig adäquat<br />
und sozial zumutbar und sorgte für ihre umgehende<br />
Entlassung.<br />
Inzwischen war aber die Sperrmüllabfuhr dagewesen –<br />
und der Schaden, der Verlust der gesamten persönlichen<br />
Habe der alten Dame, war irreversibel. Man hatte der<br />
Frau den Schlüssel zu ihrer – nunmehr leeren – Wohnung<br />
zurückgegeben und ihr süßsäuerlich alles Gute<br />
gewünscht.<br />
Eine Woche später, nach neuerlicher Intervention des<br />
Hauswirts, hatte man die Frau in ihrer Wohnung aufgesucht<br />
und sie in der Toilette angetroffen. Sie habe keine<br />
andere Sitzgelegenheit, hatte die Frau gesagt. Sie besaß<br />
weder Bett noch Stuhl, noch Tisch und hatte, da sie auch<br />
keine Gardinen mehr besaß, die Fensterscheiben mit<br />
Zeitungen zugeklebt. Das sah (auch von außen) nicht<br />
gut aus. So war sie erneut auffällig geworden. <strong>Zu</strong>dem<br />
hatte sie nichts gegessen, wollte auch keine Nahrung<br />
zu sich nehmen – es sei ihr, so sagte sie, der Appetit<br />
vergangen –, und folglich wurde sie erneut in die Klinik<br />
gebracht.<br />
Jetzt hatte man sie wieder da, wo man sie haben wollte,<br />
und ihr weiteres Schicksal würde wiederum abhängen<br />
vom austauschbaren Urteil launischer Ärzte, die je nach<br />
Studiengang und Lehrmeinung zu unterschiedlichen<br />
Diagnosen und Prognosen gelangten (bei denen jeder<br />
dreimal raten durfte), die je nach Plan (es ging reihum)<br />
auf der Aufnahmestation gerade Tag- oder Nachtdienst<br />
hatten und die sich durch die Bank eher als Agenten<br />
der Behörden denn der Patienten verstanden.<br />
(Die Leute vom Sozialamt, so sagte der Kommentator,<br />
hatten innerhalb ihres Ermessensspielraums korrekt<br />
nach Vorschrift gehandelt.)<br />
Mir schnürte es die Kehle zu. Das Entsetzlichste war,<br />
dachte ich, dass die Frau ihre persönliche Habe verloren<br />
hatte, des Speichers ihrer Erinnerungen, ihrer geistigen<br />
Nahrung, ihrer Lebensgeschichte, ihrer Welt und somit<br />
ihrer Identität beraubt war.<br />
Das Wichtigste, was sie ihr Leben lang verwahrt hatte:<br />
Fotos, Notizen, Briefe, die Träger von Ideen, die unerschöpflichen<br />
Stimulanzien der Fantasie, kurz: ihr persönlicher<br />
Kosmos, hätte womöglich Raum gehabt in<br />
einer Plastiktüte, die man ihr hätte mitgeben können,<br />
die sie bei sich getragen hätte wie ihren Kopf. Den, immerhin,<br />
hatte man ihr gelassen, aber man würde ihn<br />
vollstopfen mit Surrogaten und Giften.<br />
Kein Buch, kein Foto, kein Brief – nicht einmal eine<br />
Tüte.<br />
Nun musste sie das Verlorene, Vergangene in ihrem Innern<br />
tragen, sich die verlöschenden Bilder ihrer Welt<br />
vor ihr inneres Auge halten, ganz nah, um sie zu erkennen,<br />
einmal noch zu sehen in einem schon verdämmernden<br />
Licht. Nur dies noch war ihr geblieben: das, was sie<br />
sah, wenn sie die Augen schloss.<br />
Dieser Frau war behördlicherseits recht geschehen. Sie<br />
war Humanobjekt des Sozialvollzugs, und was noch ausstand,<br />
war lediglich die Vollstreckung der Finalbetreuung.<br />
Theodor Weißenborn<br />
lebt als freier Schriftsteller<br />
in Köln-Rodenkirchen.<br />
caritas in <strong>NRW</strong> · 4/11 21