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Ein vergessenes Medium: Phonopost im Zweiten Weltkrieg (1940 ...

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Damit gab es für den Phonographen bereits die beiden Nutzungsformen, die<br />

sich in den folgenden Jahrzehnten mit der Schellackplatte bzw. der Aufnahme-<br />

Schallplatte fortsetzten. Denn unabhängig von der (bald überwiegenden) Entwick-<br />

lung der Walze zum Massenmedium stand der Phonograph ja auch weiter als Spei-<br />

chergerät für individuelle Aufnahmen zur Verfügung: für interessierte Amateure (Auf-<br />

nahmen in der Familie oder <strong>im</strong> Verein), zu geschäftlichen Zwecken (als Diktiergerät),<br />

nicht zuletzt aber bei wissenschaftlichen Untersuchungen.<br />

Mit Hilfe des Phonographen begann man, Mundarten und aussterbende Spra-<br />

chen zu archivieren oder zu erforschen, wie sich Affen untereinander verständigen 88 .<br />

Exper<strong>im</strong>entalpsychologisch untersuchte man schon seit den 1890er Jahren mittels<br />

technischer Apparate (Kymograph, Tachistoskop u.a.) die einzelnen menschlichen<br />

Sprachfunktionen, das Sprechen und Hören, Schreiben und Lesen; mit dem Phono-<br />

graphen besaß die „Psychophysik“ nun eine verläßliche Sprachaufzeichnungsme-<br />

thode, deren Genauigkeit kein schriftliches Protokoll erreichte. So ließ um 1900 der<br />

Wiener Psychiater Erwin Stransky Kollegen und Patienten möglichst rasch und ohne<br />

bewußte Kontrolle in den Aufnahmetrichter sprechen und analysierte in dem gespei-<br />

cherten „Wortsalat“ die sprachlichen Assoziationen; auch der Berliner Privatdozent<br />

Hermann Gutzmann exper<strong>im</strong>entierte mit Telefonen und Phonographen, um die un-<br />

bewußten Vorstellungen der Probanden aufzuspüren 89 .<br />

Noch vor solchen praktischen Anwendungen diente bereits der erste, mit Metall-<br />

folien (oder „-blättern“) arbeitende Prototyp des Phonographen als Analogie-Modell<br />

zur Beschreibung des menschlichen Gehirns. In einem Artikel über das Gedächtnis<br />

nannte der belgische Philosoph Delboeuf die Seele ein „Heft phonographischer Blät-<br />

ter“; 1880 entwickelte Jean-Marie Guyau ausführlich diese Analogien zwischen dem<br />

mechanischen Gerät und dem „Gehirn-Mechanismus“ 90 : Ähnlich, wie die Nadel des<br />

Phonographen die Schwingungen der St<strong>im</strong>me in die Metallbeschichtung der Walze<br />

grabe, würden wahrscheinlich in den Gehirnzellen unaufhörlich unsichtbare Linien<br />

gezogen, die das Bett für die Nervenströme bilden; treffe der Strom später auf ein<br />

bereits ausgeformtes (schon einmal durchlaufenes) Bett, würden die Zellen so wie<br />

be<strong>im</strong> ersten Mal schwingen – psychologisch eine dem vergessenen Gefühl analoge<br />

88 Böer: Aus der Jugendzeit, S.139f.<br />

89 Kittler: Aufschreibesysteme, S.219/227f/244f; ders.: Grammophon, S.132ff/136f.<br />

90 Guyau: La mémoire, S.319-322; bei Kittler (Grammophon, S.49-54) z.T. falsch übersetzt (vgl.<br />

dazu S.17/Anm.58 dieser Arbeit).

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