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alpbacher architekturgespräche 2003 - ATP

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oder musikalische Sprache, die Sprache der Kunst oder der Architektur, usw.), sich mit dem Holocaust,<br />

Hiroshima und Dresden usw. radikal geändert hat. Manche Ereignisse können nicht mehr mit Worten<br />

beschrieben werden, da sie diese übersteigen. Der Hauptteil der französischen Philosophie - ob das<br />

der Existenzialismus von Sartre oder etwas anderes ist - ist in dieser Idee verankert.Auf jeden Fall ist<br />

Architektur eine sehr schwache Sprache um Post-Holocaust Ideen darzustellen. Zweitens, weil sich<br />

die Welt nach dem 11. September radikal verändert hat und nicht zuletzt die Welt der Bilder, die die<br />

Welt der Architekten ist. Genauso wie der Holocaust oder die Studentenunruhen von 1968 war der<br />

11. September, zumindest für die Amerikaner, die Inkarnation eines Bruchs.<br />

Am 11. September 2001 veränderte sich die Bedeutung der Architektur als solche.Weltweit sahen<br />

Menschen Bilder im Fernsehen, die viel expressiver waren als irgendein Denkmal - Bilder, mit denen<br />

die Architektur nicht konkurrieren kann. Die Fähigkeit der Medien, solche Bilder zu erzeugen, bedeutet,<br />

dass die Architektur als Medium an Bedeutung verliert, weil sie in der Welt der Bilder nicht mehr<br />

konkurrieren kann.Aber wo Architektur konkurrieren kann, ist in Fragen der Präsenz. Ich war vor Ort<br />

in New York, nur eineinhalb Meilen von Ground Zero entfernt, und sah so den Einsturz der Türme<br />

live. Dank solcher Erlebnisses kann man den Riesenunterschied zwischen der Livebeobachtung durch<br />

die Medien und einem vorinszenierten, geplanten Ereignis wie einer Krönung oder einem Fußballspiel<br />

erkennen, zwischen etwas vorhersehbarem und etwas total unvorsehbarem. Der Daseinsbegriff von<br />

Heidegger ist etwas ganz wichtiges. Dasein ist der Kern der Architektur. Dasein ist das, was in Zeit und<br />

Raum der Architektur passiert.<br />

Die Terroristen haben nicht nur die USA und den Westen, sondern auch den Modernismus angegriffen.<br />

Es war ein Angriff des Fundamentalismus auf den Modernismus. Aber was genau haben sie<br />

angegriffen? Nicht das Empire State Building oder die Brücken und Tunnel New Yorks, womit sie die<br />

Stadt wirklich hätten lahm legen können. Statt Infrastruktur anzugreifen haben sie Symbolen angegriffen,<br />

und die Symbole, die sie ausgewählt haben, waren Gebäude. Die höchsten Gebäude New Yorks,<br />

genannt World Trade Centre, waren in Wirklichkeit ziemlich unwichtige "Back Offices”. Das Ziel waren<br />

die Gebäude selbst - diese Symbole auf allen Ansichtskarten New Yorks. Architektur war das Mittel<br />

womit ein Ereignis mediale Realität wurde - ein Ereignis, das erforderte, dass erstens ein erstes Flugzeug<br />

vor einem zweiten Flugzeug einschlagen würde, um sicher zu sein, dass die ganze Welt dabei sein<br />

würde, und zweitens, dass das zweite Flugzeug eine halbe Stunde später hineinfliegt. Sich eines großes<br />

Publikums sicher zu sein, war ein wichtiger Punkt des Angriffes. Kurz gesagt hat die Welt einen Angriff<br />

auf den Westen und die Modernität mittels architektonischer Symbole erlebt.<br />

Dasein heißt nicht nur etwas zu sehen. Den Angriff hätte ich im Fernsehen besser sehen können.Was<br />

man sieht ist nicht unbedingt das, was es bedeutet, vor Ort zu sein. Dasein bedeutet etwas körperlich<br />

zu erfahren - etwas, das dann im somatischen Gedächtnis ruht. Die Wirkung des Ereignisses wirkt<br />

sich am Körper aus. Dies - in der Architektur - ist der Unterscheid zwischen Bernini und Borromini.<br />

Beide waren große Architekten, aber die Wirkungen von Borromini waren Wirkungen innerhalb der<br />

Architektur, während die Wirkungen von Bernini von außerhalb der Architektur kamen.Was wir beim<br />

World Trade Centre erlebt haben waren Wirkungen, die durch Architektur nicht verursacht worden<br />

sind, sondern durch etwas das auf die Architektur eingewirkt hat. Architektur bedingt Ursachen, die<br />

wiederum Reaktionen hervorrufen - Reaktionen die wir im Englischen Auswirkungen oder verborgene<br />

körperliche Reaktionen nennen. Freud hat zwischen Instinkt und Auswirkung differenziert. Instinkt<br />

ist eine direkte, prima facia Reaktion auf etwas - ein Tier, eine Waffe oder eine Explosion, usw. Die<br />

Auswirkung ist eine sekundäre Reaktion. In Architektur haben wir sowohl angeborene Reflexe, die<br />

wir sehen, fühlen, usw. als auch sekundäre Reaktionen.<br />

Für mich sind es diese sekundären Reaktionen, die das Dasein wichtig gemacht haben. Mein Argument<br />

ist, dass aufgrund der medialen Bilder, die mit unseren Instinkten spielen, unsere affektiven Reaktionen<br />

abgestorben sind. In einer bestimmten Weise sind wir passiv geworden. Je mehr wir fernsehe, desto<br />

mehr werden wir von den Bildern abhängig und verlieren unsere Affektfähigkeit. In den USA sind wir<br />

so an Instant Replays in den Sportstadien gewöhnt, dass das Publikum auf die echte Handlung nicht<br />

mehr reagiert. Es wartet das Instant Replay ab, bis es applaudiert. Der Instinkt ist durch die Medien<br />

verschoben worden und wir reagieren nicht mehr auf die prima facia Aktivitäten. Die Zuschauer sitzen<br />

passiv auf der Tribüne bis zu dem Moment, wo die Fernsehenkamera auf sie gerichtet wird, dann<br />

fangen sie plötzlich an wie zu wild schreien. Sie spielen genau die Rolle, die die Medien von ihnen<br />

erwarten.Wir werden alle Schauspieler, die genau die Rolle spielen, die die Medien von uns verlangt.<br />

Wir werden von eben diesen Medien, die wir anschauen, abhängig, um zu lernen, wie wir reagieren<br />

sollen.Wir verlieren nicht nur unsere instinktiven sondern auch unsere affektiven Reaktionen.<br />

Und was bedeutet das für die Architektur? Ein Problem ist die Frage nach der von mir genannten metaphysischen<br />

Dialektik. Die metaphysische Dialektik ist in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts eingeführt<br />

und bewusst gemacht worden. die Hauptidee war die, dass es nicht nur ein Struktur sondern auch<br />

eine Superstruktur gab – dass die Realität auch von etwas anderem abhängig war. Mit anderen Worten<br />

gab es nicht nur Instinkt sondern auch Affekt, und dieser Affekt ist durch die Konditionen entstanden, die<br />

jenseits des Physischen lagen. Und vom 19. Jahrhundert bis heute haben Philosophen und andere uns<br />

beigebracht, dass die Architektur der Ort dieser metaphysischen Debatte ist. Da Architektur als einzige<br />

Verkörperung der Gegenwart betrachtet wurde, galt sie als der Ort den man für die Gegenwart der<br />

Metaphysik gehalten hat. Deswegen sagen Philosophen, dass Architektur der Locus der Metaphysik der<br />

Gegenwart ist, was es ihnen ermöglicht,Architektur als fixe Einheit verwenden zu können.<br />

Es gibt in der Architektur eine Lehre die besagt, dass die Architektur immer etwas bedeuten und<br />

immer vier Wände haben muss. Aber viel Architekten behaupten heute – zu Recht oder unrecht –<br />

dass Architektur nicht immer vier Wände haben muss. Radikales Denken in der Architektur hat diese<br />

Vorstellung, dass die Architektur immer vier Wände haben muss und immer etwas bedeuten muss,<br />

zerstört. Es scheint mir grundlegend zu sein, diese Architekturlehre - die Mythologie, dass Architektur<br />

der Locus der Metaphysik der Präsenz ist - in Frage zu stellen.<br />

Natürlich werden wir immer Schutz, Einzäunung und Realität brauchen, aber das bedeutet nicht, dass<br />

wir diese Fragen thematisieren und in unserer Architektur konzeptuell verwenden müssen.Wenn ich<br />

einen Architekten wie Peter Zumthor betrachte, der Material sehr exquisit verwendet, sehe ich den<br />

besten Holzhandwerker, den ich kenne.Aber thematisiert er das Holz oder verwendete er es nur auf<br />

eine dekorative Weise? Zumthor kehrt zur Architektur als Präsenz zurück, aber nur zu ästhetischer<br />

und materieller Präsenz, und nicht auch thematisch. Die Idee der Malerei, Photographie und Architektur<br />

der 60er, 70er und 80er Jahre war jedoch nicht die Schaffung einer Holzästhetik, sondern die<br />

Entfernung von Holz als Material von seiner Metaphysik; die Suche nach seinen Qualitäten jenseits<br />

seiner Existenz als Holz. Nehmen Sie zum Beispiel einen Maler wie Gerhard Richter. Richter nahm<br />

eine echte Fotografie – die nicht eine Präsenz an sich ist, sondern eine Darstellung einer anderen<br />

Präsenz – und hat sie verändert, unscharf gemacht und übermalt, usw., um sie in einen sekundären<br />

Zustand zu versetzen. Die Fotografie ist eine Aufnahme einer echten Präsenz, aber durch die Methoden<br />

sie unscharf zu machen, zu verdoppeln und zu wiederholen kann die metaphysische Präsenz in<br />

einer bloße Präsenz umgewandelt werden. Die Fotografie ist nicht mehr wichtig, sondern die Übermalung<br />

die dessen Metaphysik zerstört hat. Richter gibt uns ein Modell, wie wir mit den Medien umgehen<br />

sollen , indem er durch den Ersatz einer gegenwärtigen Präsenz durch eine Vergangenheit, Gegenwart<br />

und Zukunft auf die Frage antwortet, wie man mit instinktiven Bildern konkurrieren kann. Richter<br />

hat den Aspekt der Zeit in die Präsenz eingeführt.<br />

< <strong>alpbacher</strong> <strong>architekturgespräche</strong> <strong>2003</strong>: nachlese > 205

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