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— für die eigentlich perverse und ruchlose Sinnesart <strong>de</strong>r Menschen<br />

in religiösen Dingen gehalten wur<strong>de</strong>, und die sie ja auch befähigt,<br />

die Hilfe <strong>de</strong>s Berliner Tageblatts anzurufen und ohne<br />

Scham anzunehmen, und die ihnen schließlich auch das Einverständnis<br />

mit allen Masseninstinkten und Mächten sichert. Wo ist<br />

da Märtyrertum und Dornenkrone? Was ist das für ein bequemes<br />

Gefasel? Soviel lehrt doch die Geschichte, daß wer immer reformieren<br />

wollte, einen tieferen wie höheren Standpunkt als die jeweilige<br />

Kirche einnehmen mußte, alles an<strong>de</strong>re zählt nicht und ist<br />

verwerflich. Und monistischer Optimismus und vager Pantheismus<br />

sind doch wohl die nie<strong>de</strong>rsten und flachsten Standpunkte, die<br />

überhaupt ein Mensch, <strong>de</strong>r es mit <strong>de</strong>m geistigen Leben zu tun hat,<br />

einnehmen kann. Wer das be<strong>de</strong>nkt, versteht leicht, warum Kierkegaard<br />

von <strong>de</strong>n liberalen Pfarrern nicht gelesen, o<strong>de</strong>r wenn doch,<br />

nicht genannt wird, <strong>de</strong>nn ein Reformieren nach Art <strong>de</strong>s Liberalismus<br />

mit Hilfe von Journalisten haßte er aus ganzer Seele. Je<strong>de</strong>nfalls<br />

sollte man immer von neuem die schamlose Lüge bloßstellen,<br />

es sei mit einer Gefahr verbun<strong>de</strong>n und gehöre Mut dazu, heute im<br />

Berliner Tageblatt gegen Autorität von Staat und Kirche schöne<br />

Sprüche zu machen. Du lieber Himmel, als ob <strong>de</strong>r in Skepsis grau<br />

gewor<strong>de</strong>ne Mauthner nicht auf <strong>de</strong>r Stelle sein Gemauschel im<br />

Himmel einstellen und in einen Berliner Redaktionspalast verlegen<br />

wür<strong>de</strong>, wenn Gefahr drohte, daß ihm von Staatswegen mit<br />

<strong>de</strong>m Stock die verecundia eingebläut wird, zu <strong>de</strong>r er an<strong>de</strong>rs nicht<br />

kommen kann. Alle sind Betrüger, ob sie nun bloß sich selber,<br />

o<strong>de</strong>r was die Regel <strong>de</strong>r Gemeinheit ist, zunächst an<strong>de</strong>re betrügen,<br />

alle die behaupten, das wirksame Böse dieser Welt sei heute in<br />

Staat o<strong>de</strong>r Kirche verkörpert, die doch bei<strong>de</strong> innerlich so kraftlos<br />

sind, wie nie zuvor, so ohne irgendwelchen Glauben an irgendwelche<br />

I<strong>de</strong>e, daß sie als geistige Größen gar nimmer zählen. Das aktive<br />

Böse dieser Welt ist heute in Westeuropa in <strong>de</strong>r Form <strong>de</strong>r<br />

Formlosigkeit in Presse und Publikum zu Hause, in Parlamentarismus,<br />

Wählerschaft, Bank— und Geldwirtschaft, lauter anonymen,<br />

vollkommen verantwortungslosen, nicht faßbaren Massenmächten.<br />

Ich wer<strong>de</strong> aber von <strong>de</strong>m Glauben nicht lassen, daß <strong>de</strong>r blutrünstigste<br />

Tyrann noch leichter zu jenem geistigen Verantwortlichkeitsgefühl<br />

gelangen kann, ohne das keiner herrschen darf,<br />

leichter, sage ich, als die von Verleger, Abonnenten und Inserenten<br />

abhängigen Redaktionskollegien in Massenauflagen erscheinen<strong>de</strong>r<br />

liberaler und sozial<strong>de</strong>mokratischer Zeitungen und Zeitschriften<br />

(Es gibt ja heute im Deutschen Reich nicht einmal eine<br />

Zeitschrift, die es wagen wür<strong>de</strong>, diesen Aufsatz abzudrucken; alle<br />

haben sie entwe<strong>de</strong>r gar keinen Charakter o<strong>de</strong>r nur <strong>de</strong>n ängstlich<br />

bornierten, von hun<strong>de</strong>rttausend Rücksichten gequälten einer politischen<br />

Partei), leichter auch als Bankiers und Mitglie<strong>de</strong>r anonymer<br />

Aktien—Gesellschaften, die für hohe Divi<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Werte <strong>de</strong>r<br />

Kultur ohne ein Achselzucken hingeben.<br />

Im Warenhaus unserer liberalen Zeit wird alles feilgeboten, auch<br />

Religionen. Manchmal müssen sie verramscht wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn es<br />

kommen ja immer wie<strong>de</strong>r neue Artikel herein, und man kann nicht<br />

leugnen, recht artige Artikel. Ich begrüße es immer mit Freu<strong>de</strong>,<br />

wenn diese unverständliche Welt an irgen<strong>de</strong>inem Punkt wie<strong>de</strong>r<br />

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