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Martin Pollack Meine Begegnungen mit Belarus Statt eines Vorworts

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DOSSIER BELARUS<br />

was sie von ihm halte: Ob er tatsächlich ein Geist sei oder ihr das nur so<br />

vorkäme, worauf Ania erwiderte, sie wolle sich darüber keine Gedanken machen,<br />

es sei ihr nämlich egal. »Sie waren im Leben zwar ein stattlicher Mann«,<br />

sagte die Tochter der Nachbarin, unablässig weiter rockend, »aber irgendwie<br />

unscheinbar – gerade so wie ein Geist.«<br />

Auf dem Weg zum Café »Liebe Sonne« begegnete Cimoch Niłavič<br />

Dzijana S´viatkoǔskaja, die er seit der Studienzeit nicht mehr gesehen hatte,<br />

weshalb Dzijana auch nicht wusste, dass er gestorben war. Früher einmal war<br />

Cimoch Niłavič in die schöne Dzijana verliebt gewesen, und sie ihrerseits in<br />

den stattlichen Cimoch; aber er hatte sich nie <strong>mit</strong> ihr verabredet und sie auch<br />

nie zum Kaffee eingeladen, was er nun nachholte.<br />

Im Café fand sich kein freier Tisch mehr, deshalb nahmen sie an der<br />

Trauertafel Platz. Renia rückte schluchzend beiseite: »Setz dich, Dzijana,<br />

siehst du, jetzt ist Cima von uns gegangen, und damals haben wir uns seinetwegen<br />

zerstritten, nun gibt es niemand mehr, um den wir uns zanken<br />

müssten.« Dzijana setzte sich und sagte: »Mein Mann, Renia, ist auch gestorben<br />

…«, dann heulte sie <strong>mit</strong> Renia los. Cimoch Niłavič überlegte eine<br />

Weile und setzte sich dann zwischen die beiden, sonst würden sie sich noch<br />

den ganzen Abend gegenseitig etwas vorjammern, so dass man nicht zum<br />

Reden käme. Mit Renia hatte er freilich genug geredet, aber <strong>mit</strong> Dzijana<br />

würde er sich gern unterhalten. Zumal ihr Mann verstorben war.<br />

»… und so hat er, von allen unbemerkt, seine Pflichten erfüllt, so dass alle<br />

erstaunt waren, wenn die Arbeit getan und aus einem Vorhaben ein Projekt<br />

geworden war«, beschloss der stellvertretende Direktor des Projektinstituts,<br />

in dem Cimoch Niłavič gearbeitet hatte, seine Trauerrede; und Cimoch Niłavičs<br />

Kollege, Ingenieur Stašanski, fügte hinzu, er habe fast zwanzig Jahre <strong>mit</strong> dem<br />

Verstorbenen Schreibtisch an Schreibtisch gesessen und könne sich nicht erinnern,<br />

dass dieser ihn je bei der Arbeit gestört hätte – so unauffällig habe<br />

der Tote alles erledigt.<br />

Nun erhoben sich alle, <strong>mit</strong> Ausnahme des Institutsdirektors, der weder zur<br />

Beerdigung noch zur Trauerfeier gekommen war, einer nach dem anderen<br />

von der Trauertafel, priesen Cimoch Niłavič und wünschten ihm, die Erde<br />

möge ihm leicht sein. Cimoch Niłavič ließ sich von diesen Worten nicht<br />

allzu sehr täuschen, denn wenn er jetzt nicht bei seiner eigenen, sondern<br />

Stašanskis Trauerfeier gesessen wäre, wäre er aufgestanden und hätte ähnliche<br />

Worte gesprochen. Er hätte zwar nicht behauptet, dass Stašanski ihn zwanzig<br />

Jahre lang nicht gestört hätte – denn Stašanski hatte ihn in Wahrheit sogar<br />

ziemlich gestört –, aber Cimoch Niłavič hätte gesagt, dass ihn diese Störung<br />

nicht weiter gestört habe. Dabei war es wohl ausgerechnet Stašanski gewe-<br />

sen – der angeblich der Berater des Institutsdirektors war, diesem aber in<br />

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