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Martin Pollack Meine Begegnungen mit Belarus Statt eines Vorworts

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DOSSIER BELARUS<br />

mehr weiterwusste, und jemand, der offenbar neben ihr stand, schritt ein und<br />

suchte sie zu beruhigen, und sie beruhigte sich, Gott sei Dank, sie hörte auf<br />

da<strong>mit</strong>. Er wusste nicht mehr, wer von ihnen aufgelegt hatte, er wusste nur<br />

mehr, dass die Beerdigung morgen war, um 12 Uhr, und dass er nicht zu<br />

dieser Beerdigung gehen konnte, weil dort <strong>mit</strong> Sicherheit das Wort<br />

»Murawjow« fallen würde, und Menschen dort wären, die eigens kommen<br />

würden, um es fallen zu hören. Und dass er doch zu dieser Beerdigung gehen<br />

musste, denn wenn er sich nicht von ihm verabschiedete … Wenn sein Student<br />

ihm nicht verzieh … Dabei war ihm nicht mehr zu verzeihen, er würde sich<br />

selbst nie verzeihen, dass man seinen Jungen umgebracht, ihm einfach das<br />

Leben genommen hatte, statt Diskussionen, Überredungsversuchen und Geschrei<br />

ein beendetes Leben, und jetzt musste er beerdigt werden, und die<br />

Mutter will den Sarg öffnen, aber man lässt das nicht zu, das ist doch ein<br />

Sakrileg, Vandalismus, man müsste sie anrufen und sagen, sie soll aufhören<br />

da<strong>mit</strong>, es ist doch ohnehin klar, wenn sie ihn in einer Metallkiste bringen,<br />

ist nichts mehr zu sehen, nicht doch, aber so kann er nicht über ihn reden,<br />

über seinen Studenten, in diesen Kategorien, er hat doch hier gesessen, in<br />

dieser Bank, die dritte von oben links und hat gelächelt wie sein Sohn, als<br />

der Professor diesen Scherz über Neros Mutter machte, den er seit siebzehn<br />

Jahren regelmäßig erzählte, das ist doch ein gruseliges Remake einer Geschichte<br />

aus dem neuen Testament, in der der Schüler der wahre Lehrer ist,<br />

während er, der Professor, durch die Prüfung fällt. Und jetzt musste er auf<br />

jeden Fall zu dieser Beerdigung. Er konnte auf keinen Fall zu dieser Beerdigung.<br />

Er schaut zur Tafel, die <strong>mit</strong> Wörtern und Linien übersät ist (»Vernachlässigung<br />

universitärer Pflichten«, »unliebsame Vergleiche«, »ich habe versucht,<br />

ihn davon abzubringen«, »keinerlei Politik«, »nicht kompensierbar«) und<br />

begreift, dass ihn, trotz allem, keine Schuld trifft und dass er tatsächlich<br />

machtlos war. Die angetrockneten Schlieren am Fenster sind noch genau so,<br />

wie sie sie gemeinsam gesehen haben, und jetzt muss er die Brille absetzen,<br />

weil alles verschwimmt und er nichts mehr sieht, und draußen auf dem Hof<br />

spielen Kinder – Anatoli spürt, wie sich Substantive, Adjektive und Verben<br />

in Bilder zurückverwandeln, die schwieriger zu fassen sind, und die Bilder<br />

in ein Motiv, das am Leben zu halten immer schwieriger wird. Er würde es<br />

besser ein anderes Mal zu Ende bringen, noch drei bis vier Sätze, rund und<br />

klar, und die kurze Floskel, die die Zeitschrift unweigerlich hineinredigieren<br />

würde – er wollte sie weglassen, aber sie würden sie einbauen und noch aufs<br />

Titelblatt setzen, und wegen dieser fünf Worte, based on a true story, verkaufte<br />

sich dann die Zeitschrift besser. Diese true story war eine Datei auf<br />

seinem Desktop, zusammengeklaubt aus den Online-Nachrichten des vergangenen<br />

Monats, ohne die Schlüsselbegriffe zu verändern: »Hochschule«, »Hör-<br />

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