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Martin Pollack Meine Begegnungen mit Belarus Statt eines Vorworts

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DOSSIER BELARUS<br />

saal«, »Diskussion über Murawjow«, »Exmatrikulation«, »Wehrdienst«, »ungeklärter<br />

Todesfall«. Ein Leben, literarischer als die Literatur.<br />

Sein Körper vibrierte noch vor Erregung, die eben getippten Wörter und<br />

Wendungen huschten wie kleine elektrische Entladungen über ihn hin, die in<br />

ihrer Vagheit besonders klaren Ausdrücke ließen ihn erzittern, sie bestätigten<br />

die Annahme, Literatur sei mehr als Geschichtenschreiben, nämlich ein<br />

energetischer Vorgang.<br />

Er musste sich die Beine vertreten, frische Luft schnappen, außerdem – und<br />

das begriff er erst, nachdem er sich von der Tastatur losgerissen hatte – war<br />

sein Motiv über sie gestolpert, über den Traum, dass sie beide … Nein, nicht<br />

das Pronomen »sie«, nur die Erinnerung an ihre Augen, ohne die Annahme,<br />

diese Augen könnten in ein erkennbares, erreichbares Feld des Gemeinsamen<br />

übergehen. Zitternd warf er sich rasch etwas über. Jetzt musste er sich aus<br />

den Fängen der Worte befreien, sich distanzieren, umso erfüllter würde später<br />

die Rückkehr zu seinem Motiv sein. Seine Erregung ging vom geschriebenen<br />

Wort auf die gestrigen Erlebnisse über, die Erzählung mündete ins<br />

Leben, wie tags zuvor das Leben in die Erzählung gemündet war und sie<br />

stellenweise besonders eindringlich hatte werden lassen.<br />

Draußen funkelte, floss und krächzte alles. Die Krähen waren zurück. Anatoli<br />

huschte zur Hofeinfahrt und spürte den Sawrassow* in sich, bereit, die<br />

Leinwand über und über in die leuchtenden, transparenten Farben des Frühlings<br />

zu tauchen, und er dachte, dass das Bild besonders viel Azur aufweisen<br />

müsste – im Himmel oben, im Himmel, der in den kahlen Bäumen hing, im<br />

Himmel in den Pfützen, im Himmel der vom Tauwasser blankgeputzten Fensterscheiben.<br />

Eine der Birken schien ihm ganz à la Sawrassow zu sein, es<br />

fehlte nur noch die kleine Kirche im Hintergrund, aber deren Part könnte<br />

genauso gut diese …<br />

Sein munterer Gedankengang stolperte über einen schwarzen Audi A8, in<br />

dem sich kein Himmel spiegelte. Der Audi wirkte zwischen den vertrauten<br />

Kastanien so deplatziert wie ein Galgen auf einem Kinderspielplatz. Mit seinen<br />

getönten Scheiben stand er in einiger Entfernung vor einem Hauseingang,<br />

das markante -KE auf dem Nummernschild war mühelos zu erkennen. Auf<br />

der massigen rechten Flanke prangte eine kurze Funkantenne, der Motor lief<br />

nicht. Vielleicht wohnte der Fahrer ja hier, in diesem Aufgang, vielleicht<br />

frühstückte er gerade und hatte den Wagen vor dem Fenster geparkt. Nein,<br />

diese Limousine <strong>mit</strong> den getönten Scheiben war heute zum ersten Mal in<br />

seinen Hof geglitten, noch dazu <strong>mit</strong> undefinierbarem Ziel, und durch die<br />

dunkle Tönung war nicht zu erkennen, ob jemand drinnen saß, zumindest ein<br />

Fahrer. Am unangenehmsten aber war, dass man nicht einfach stehen bleiben<br />

und sich das Auto ansehen konnte, das wäre verdächtig, sie könnten ihn, falls<br />

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