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Martin Pollack Meine Begegnungen mit Belarus Statt eines Vorworts

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DOSSIER BELARUS<br />

Wahrheit vor allem ins Hinterteil kroch –, der dem Direktor eingeflüstert<br />

hatte, er brauche zur Verabschiedung von Cimoch Niłavič Makiej nicht zu<br />

erscheinen – ein einfacher Ingenieur sei schließlich keine Persönlichkeit, der<br />

ein Direktor das letzte Geleit geben müsse.<br />

Auf dem Platz, den der Direktor an der Trauertafel hätte einnehmen sollen,<br />

saß die Nachbarin, die sich nun erhob und sagte, Cimoch Niłavič sei ein<br />

wunderbarer Nachbar gewesen.<br />

»Ich habe ihn geliebt«, sagte Dzijana neben ihm, als Nächste. »Und wenn<br />

er mir gestanden hätte, dass auch er … Aber … Sogar heute hat er mich<br />

eingeladen, ohne ein Wort zu sagen. Ich wusste nicht, dass er gestorben ist …<br />

Er ist unbemerkt durch mein Leben gegangen, möge die Erde ihm leicht<br />

sein.«<br />

»Und doch war noch ein Rest Leben in ihm, als sein Herz stehen blieb …«,<br />

seufzte die Sekretärin des stellvertretenden Direktors, die ihn, als seine Sekretärin,<br />

überallhin begleitete, selbst zu Trauerfeiern.<br />

Irgendwie hatte Cimoch Niłavič das Gefühl, Dzijana habe nicht wirklich<br />

gesagt, was sie eigentlich sagen wollte. Jedenfalls nicht alles. Aus einem<br />

unbestimmten Grund kränkte ihn das. Er versuchte, ein wenig von Dzijana<br />

abzurücken, näher an Renia heran – die aber drückte ihm ihren Ellbogen in<br />

die Seite, als wolle sie sagen: Jetzt bist du tot, also bleib mir vom Leib.<br />

Warum sich Renia nicht anlehnen wollte, wurde ihm nach der Trauerfeier<br />

klar, als er sich wie gewohnt kurz nach ihr auf den Heimweg machte. Stašanski<br />

hatte ihr angeboten, sie nach Hause zu bringen, und nun sah er, wie die<br />

beiden sich fast an jeder Straßenkreuzung küssten, wie Studenten, ohne auf<br />

die Nachbarin zu achten, die sich hinter ihnen her schleppte.<br />

Stašanski wollte sogar <strong>mit</strong> ihr in die Wohnung gehen, doch die Witwe<br />

hatte offenbar Gewissensbisse und verwehrte ihm das: »Er ist noch hier, wart’<br />

wenigstens noch eine Nacht …«<br />

»Und du, Cmok?«, fragte Stašanski, als sie zu zweit auf der Straße standen.<br />

»Wo willst du jetzt hin?«<br />

Seit seiner Kindheit trug Cimoch Niłavič den Spitznamen »Cmok«, »der<br />

Drache«. Dabei sah er gar nicht wie ein Drache aus und hatte auch sonst<br />

nichts von einem Drachen an sich. Doch der Name blieb an ihm kleben,<br />

selbst noch nach seinem Tod.<br />

Cimoch Niłavič zuckte die Schultern: Er wusste wirklich nicht, wo er jetzt<br />

hin sollte.<br />

»Zu Dzijana vielleicht?« ermunterte Stašanski ihn, der Cimoch Niłavič loswerden<br />

wollte. »Oder zur Nachbarin …«<br />

Cimoch Niłavič hatte keine Veranlassung, die Nachbarin aufzusuchen. Er<br />

hatte gehört, dass fast alle irgendwann einmal etwas <strong>mit</strong> ihren Nachbarinnen<br />

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