Anwaltsblatt 2000/11 - Österreichischer Rechtsanwaltskammertag
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Abhandlungen<br />
Hon.-Prof. Dr. Rudolf Machacek, Rechtsschutzbeauftragter, Wien<br />
80 Jahre B-VG – 80 Jahre VfGH 1 )<br />
150 Jahre RA-Kammer für Wien und NÖ<br />
Aus Anlass des 60. Geburtstages von Univ.-Prof. Dr. Karl Korinek, Vize-Präs. des VfGH<br />
1. Jede Verfassung hat ihre Geschichte, jede Geschichte ihre<br />
Vorgeschichte. Begleitet werden sie von Jahrestagen. Ein solcher<br />
Jahrestag ist am 1. Oktober <strong>2000</strong> das 80-jährige Bestehen des<br />
B-VG.<br />
Der 80. Jahrestag des B-VG ist es wert, Gedanken neu zu erwägen,<br />
die von namhaften Juristen schon aus Anlass des 75-jährigen<br />
Bestehens des B-VG erörtert wurden.<br />
Sowohl bei 75 Jahren als auch bei 80 Jahren B-VG wird immer<br />
das B-VG idF 1929 gemeint, wobei bei der Berechnung die Zeit<br />
zwischen der 1. und der 2. Republik, also die Zeit von 1934 bis<br />
1945, als berechnungsrelevante Zeit fingiert wird, und zwar zunächst<br />
die Zeit, in der die vom B-VG wesensmäßig verschiedene<br />
ständisch-autoritäre Verfassung 1934 bis 1938 galt, und nachfolgend<br />
die Zeit von 1938 bis 1945, also die Zeit der Okkupation<br />
Österreichs durch Hitler-Deutschland, die quasi als „blinde“ oder<br />
„neutrale“ Zeiten bei der Berechnung mitgezählt werden.<br />
Jubiläen und Jahrestage sind wie Meilensteine, die sich in Abständen<br />
am Weg der Zeit finden, und die, wenn man wie Herzog<br />
formuliert, „mit einem Husarenritt die Vergangenheit durchquert“<br />
2 ), die Richtung erkennen lassen, in die die Straße führt.<br />
Die Geschichte und Vorgeschichte des B-VG ist außerordentlich<br />
verschlungen in staatspolitische und gesellschaftspolitische Geschehnisse<br />
und führt von der Großmacht der Monarchie zum<br />
Kleinstaat der 1. Republik, dem Staat den keiner wollte, zur<br />
2. Republik, deren Bürger sich ihren Staat nicht mehr nehmen lassen<br />
wollen und vor einigen Jahren mit einem „jetzt erst recht“ auf<br />
einer Wahlentscheidung in einer kritischen Phase beharrten, und<br />
jüngst auch mit Forderungen der FPÖ, der damaligen stärksten<br />
Oppositionspartei, nach einer 3. Republik3 ) (das Schlagwort<br />
wurde inzwischen wieder fallen gelassen), nach einer Abkehr<br />
der bisherigen jahrzehntelangen Regierungspartner voneinander,<br />
eine Koalition der ÖVP mit der (sic) FPÖ europaweit Unruhe<br />
erzeugte; die Bevölkerung, die mit der neuen Koalition keineswegs<br />
einheitlich einverstanden war, stemmte sich dennoch überwiegend<br />
gegen die 14 EU Partner und beschuldigte diese eines<br />
vertragswidrigen Verstoßes gegen die in den EU-Verträgen niedergelegten<br />
Prinzipien der Demokratie durch die von ihnen verhängten<br />
Sanktionen.<br />
Diese Zeiterscheinungen seien erwähnt, um den deutlichen Unterschied<br />
im politischen Staats- und Bürgerverhalten der 2. Republik<br />
gegenüber den Zeiterscheinungen und der Bürgerkonfrontation<br />
der 1. Republik deutlich aufzuzeigen.<br />
2. Aber zunächst wieder zurück zu den für das B-VG und den<br />
VfGH rechtsrelevanten Vorgeschehnissen; für sie gilt – wie allgemein:<br />
Ein Jubiläum findet sich selten allein:<br />
Wir konnten vor kurzem auch 150 Jahre OGH und 125 Jahre<br />
VwGH feiern. Weiters gibt es seit 150 Jahren die StA und ebenso<br />
auch die Gendarmerie.<br />
Vor 250 Jahren wurde eine „Oberste Justizstelle“ für Österreich mit<br />
dem Sitz am Judenplatz geschaffen, die das Justizministerium und<br />
das Oberste Gericht umfasste, bis eine Trennung dieser Gewalten<br />
100 Jahre später, also vor 150 Jahren, erfolgte. Nur für die<br />
Grundrechte und die instanzenmäßig durchgängige Gewaltenteilung<br />
lässt sich keine runde Jahreszahl an 1867 anknüpfend berechnen,<br />
man muss mit 133 vorlieb nehmen.<br />
Die Anwaltschaft kann den Anwaltstag <strong>2000</strong> der Schaffung der<br />
RA-Kammer Wien und NÖ widmen, die ebenfalls vor 150 Jahren<br />
stattfand.<br />
Die Meilensteine der Vergangenheit geben uns noch beredter Auskunft<br />
über unsere gesellschaftliche und politische Vergangenheit,<br />
wenn man sie mit der Bürgerrevolution 1848, dem preußisch-österreichischen<br />
Krieg von 1866, dem Untergang der Monarchie nach<br />
dem verlorenen Ersten Weltkrieg von 1914 bis 1918 und der folgenden<br />
Entstehung der Republik verknüpft. Es waren dabei stets<br />
dramatische Ereignisse, die eine Wende einleiteten: Die Bürgerrevolution<br />
1848 löste die Beratungen des Kremsierer Entwurfes<br />
aus, der vorerst nicht zum Tragen kam, aber nach dem verlorenen<br />
Krieg des Jahres 1866 zu den Staatsgrundgesetzen 1867 mit den<br />
liberalen Freiheitsrechten führte.<br />
Der verlorene Erste Weltkrieg führte nicht nur revolutionär zur<br />
Gründung der 1. Republik mit dem B-VG 1920. Die Verfassungsurkunde<br />
kann in Anspruch nehmen, weltweit erstmals ein Verfassungsgericht<br />
geschaffen zu haben. Die Verfassungsgerichtsbar-<br />
1) Der VfGH veranstaltet seit 1990 anfangs Oktober jeden Jahres aus<br />
Anlass der Erlassung der Bundesverfassung am 1. Oktober 1920 den<br />
Verfassungstag, an dem von einem namhaften Juristen ein Grundsatzreferat,<br />
das nachfolgend publiziert wird, gehalten wird. Der vorausgehende<br />
Beitrag nimmt auf diese Veröffentlichungen laufend Bezug,<br />
auch um deren wissenschaftlichen Wert als Fundstelle aufzuzeigen.<br />
Eine kompilierte Ausgabe der Verfassungstage von jeweils 10 Jahren<br />
mit einem Stichwortverzeichnis wäre wünschenswert.<br />
2) Herzog, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im parlamentarischen Regierungssystem,<br />
Verfassungstag 1992, 13.<br />
3) Welan, Inszenierung der Verfassung der Zweiten Republik in „Die Verfassung<br />
der Republik“ 75 Jahre Bundesverfassung (1997) 58.<br />
652 AnwBl <strong>2000</strong>/<strong>11</strong>