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Anwaltsblatt 2000/11 - Österreichischer Rechtsanwaltskammertag

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Rechtsprechung<br />

halten kann. Die soziale Integration des Beschuldigten nach § 180<br />

Abs 3 StPO ist jedenfalls eine solche Tatsache.<br />

Davon abgesehen darf das Gericht auch bei einer – nicht auszuschließenden<br />

– Fluchtgefahr die Untersuchungshaft nur verhängen<br />

und fortsetzen, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, um<br />

den Beschuldigten von einem Fluchtversuch, zB nach Südamerika<br />

oder Asien, abzuhalten. Einfach wie wirkungsvoll ist die Abnahme<br />

der Reisepapiere (§ 179 Abs 4, 5 Z 5 StPO) 7 ). Seit der Anwendung<br />

des Schengener-Durchführungsübereinkommens ist eine Ausreise<br />

nach Übersee ohne gültige Papiere8 ) praktisch ausgeschlossen.<br />

Wer ausreisen will, muss an Flughäfen und Außengrenzen<br />

eine sogenannte „fahndungstechnische Überprüfung“ durchlaufen<br />

(Art 6 Abs 2 lit a SDÜ); dabei wird der Reisepass elektronisch<br />

gelesen, auf Echtheit geprüft und automatisch mit den Fahndungsdaten<br />

im SIS (Schengener Informationssystem) verglichen. Die Abnahme<br />

der Reisedokumente ist auch zur Vermeidung einer Untersuchungshaft<br />

nach § 180 Abs 7 StPO vorgesehen (siehe § 180<br />

Abs 1, 5 StPO) 9 ). Bedauerlicherweise scheint diese Möglichkeit in<br />

der Rechtsprechung so gut wie unbekannt zu sein.<br />

2. Nach Meinung des OGH müsste der Beschuldigte mit einer<br />

„empfindlichen“ Strafe rechnen, weil er die Tat „allenfalls“ aus<br />

niedrigen Motiven begangen habe; also könne man Fluchtgefahr<br />

nicht ausschließen. Woraus sich solche Motive ergeben, sagt die<br />

Entscheidung nicht. Um den Beschuldigten niederer Motive auch<br />

nur „allenfalls“ zu bezichtigen, muss ein dringender Verdacht in<br />

Richtung solcher Motive vorliegen. Die mutmaßlichen Motive der<br />

Tat sind ein Teil des Tatverdachts, nämlich ein Tatumstand iSd<br />

§ 179 Abs 4 Z 2 StPO. Dass der OGH dem Beschuldigten solche<br />

Motive gleichsam unterstellt, lässt sich mit § 179 Abs 4 Z 4 StPO<br />

(„bestimmte Tatsachen“) schwer vereinbaren. Die Tat kann ihre<br />

Ursache ja auch in menschlich verständlichen, keineswegs verwerflichen<br />

Beweggründen, etwa in Mitleid oder Verzweiflung, haben.<br />

Sind „niedere“ Motive nicht wahrscheinlich, muss das Haftgericht<br />

wohl eine außerordentliche Strafmilderung nach § 41 StGB in<br />

Betracht ziehen. Die Strafe, die dem Beschuldigten dann droht,<br />

muss keineswegs (so) „empfindlich“ sein.<br />

3. Weiters hält die Entscheidung eine Kaution für ungeeignet,<br />

Fluchtgefahr auszuschließen, nämlich wegen des „nicht auszuschließenden<br />

beträchtlichen Fluchtinteresses“. Das ist ein Zirkelschluss:<br />

Die Kaution setzt eine (nicht auszuschließende) Fluchtgefahr<br />

voraus, diese wiederum ein (nicht auszuschließendes)<br />

beträchtliches Fluchtinteresse. Ist das Fluchtinteresse nicht beträchtlich,<br />

muss auch Fluchtgefahr entfallen, dh der Beschuldigte ist auch<br />

ohne Kaution zu enthaften. So kann man aus einem beträchtlichen<br />

Fluchtinteresse nicht schon ableiten, die Kaution wäre ungeeignet,<br />

eine Flucht zu verhindern (vgl auch § 179 Abs 4 Z 4 StPO).<br />

Die Enthaftung gegen Kaution ist auch in den Fällen des § 180<br />

Abs 7 StPO möglich (§ 190 Abs 1 StPO, Art 5 Abs 3 MRK) und<br />

nicht selten berechtigt. Gerade wenn die Fluchtwahrscheinlichkeit<br />

eher gering ist, erscheint die Sicherheitsleistung als sinnvolle Alter-<br />

native zur Untersuchungshaft. Dabei spielt die psychologische Wirkung<br />

der Kaution auf den Betroffenen eine nicht zu unterschätzende<br />

Rolle: Der Beschuldigte hat gewöhnlich den Eindruck, in<br />

den Genuss einer Vergünstigung zu kommen, die es ihm erlaubt,<br />

trotz Haftgrund in Freiheit zu bleiben. Die Enthaftung gegen Kaution<br />

gilt als Vertrauensbeweis, den man nicht leichtfertig aufs Spiel<br />

setzt. So kann die Kaution auch bei schweren Straftaten geeignet<br />

sein, eine Fluchtgefahr auszuschließen10 ). Dass sie bei einem<br />

„beträchtlichen Fluchtinteresse“ schlechterdings ungeeignet wäre,<br />

entspricht weder dem Wortlaut des § 190 Abs 1 StPO noch seiner<br />

Ratio.<br />

Andreas Venier<br />

Gewerberecht<br />

688 AnwBl <strong>2000</strong>/<strong>11</strong><br />

7709<br />

§ 74 Abs 2, § 356 Abs 3 GewO 1994;<br />

§ 13a AVG 1991<br />

Durch die Aussage des Verhandlungsleiters über<br />

den geplanten weiteren Verlauf des Verfahrens<br />

war die Beschwerdeführerin iSd § 356 Abs 3<br />

Satz 2 GewO ohne ihr Verschulden gehindert,<br />

die Parteistellung nach Satz 1 des § 356 Abs 3<br />

GewO zu erlangen.<br />

VwGH 22. 3. <strong>2000</strong>, 99/04/0181, 0182<br />

Aus den Gründen:<br />

Wie der VwGH bereits in seinem Erk vom 21. 9. 1993, 93/04/<br />

0017 ausgeführt hat, werden Nachbarn durch die (wenn auch<br />

inhaltlich rechtswidrige) Erklärung des Verhandlungsleiters, sie hätten<br />

auch noch nach Abschluss der mündlichen Augenscheinsverhandlung<br />

nach Einlangen eines in Auftrag gegebenen Gutachtens<br />

die Möglichkeit, Einwendungen iSd § 356 Abs 3 GewO zu erheben<br />

und damit Parteistellung zu erwerben, iSd § 356 Abs 3 zweiter<br />

Satz leg cit ohne ihr Verschulden gehindert, die Parteistellung<br />

nach dem ersten Satz dieser Gesetzesstelle zu erlangen.<br />

Im vorliegenden Fall enthält zwar die Verhandlungsschrift über die<br />

mündliche Augenscheinsverhandlung erster Instanz keine ausdrückliche<br />

Erklärung des Verhandlungsleiters über die Möglichkeit<br />

der Erlangung der Parteistellung für die Nachbarn durch Einwen-<br />

7) Das Gericht sollte dies vorsichtshalber der zuständigen Passbehörde<br />

anzeigen, was zur Folge hat, dass dem Beschuldigten bis auf Weiteres<br />

kein Reisepass ausgestellt wird (Passversagung wegen Fluchtgefahr<br />

nach § 14 Abs 1 Z 3 lit a PassG).<br />

8) Die neuen EU-Pässe sind nahezu fälschungssicher.<br />

9) Eher aM Foregger/Fabrizy, StPO-Kurzkommentar 8 (200) § 180 Rz 3.<br />

10) Venier, Untersuchungshaft 76.

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