Anwaltsblatt 2000/11 - Österreichischer Rechtsanwaltskammertag
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Rechtsprechung<br />
Geldsummen tätigte. Er schloss daraus, dass die Partei auch in der<br />
Lage sein müsse, einen Verteidiger zu bezahlen. Der Untersuchungsrichter<br />
hatte die Verfahrenshilfe bewilligt, der Verfahrenshelfer<br />
wandte sich mit einer Beschwerde an die Ratskammer. Diese<br />
wies das Rechtsmittel ab mit der ausschließlich formalen Begründung,<br />
dass der Verfahrenshelfer keine Rechtsmittellegitimation gegen<br />
Verfahrenshilfebestellung habe. Die Entscheidung der Ratskammer<br />
verwies ausdrücklich darauf, dass diese ihre regelmäßige<br />
Spruchpraxis sei (Ratskammer LG Eisenstadt 8. 6. <strong>2000</strong>, 6 Ur<br />
165/00).<br />
§ <strong>11</strong>3 Abs 2 StPO räume zwar umfassende Beschwerdekompetenz<br />
gegen Verfügungen des Untersuchungsrichters ein. Die Zuständigkeit<br />
fände dort ihre Grenze, wo der Gesetzgeber ausdrücklich<br />
einen anderen oder keinen Rechtszug vorsähe. Dies träfe auf<br />
die Verteidigerbestellung gem § 41 Abs 2 StPO zu. Rechtsmittellegitimation<br />
sei gem § 41 Abs 7 StPO nur gegen Abweisung eines<br />
derartigen Antrages gegeben.<br />
Der Verfahrenshelfer regte eine Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung<br />
des Gesetzes an, die den Obersten Gerichtshof zur Klärung<br />
dieser Frage veranlasste.<br />
Der OGH erkannte zu Recht, dass dem Verfahrenshilfeverteidiger<br />
gem § 49 Abs 2 StPO Beschwerdelegitimation gegen den Beigebungsbeschluss<br />
aufgrund der Bestimmung des § <strong>11</strong>3 Abs 1 StPO<br />
zukommt. Das Beschwerderecht nach dieser Bestimmung ist ein<br />
umfassendes. Der Verfahrenshelfer hat ein rechtliches Interesse an<br />
einer Abänderung des Beschlusses, da die Beigebung eines Verteidigers<br />
nach § 41 Abs 2 StPO einen Honoraranspruch ausschließt.<br />
Das umfassende Beschwerderecht gem § <strong>11</strong>3 Abs 1 StPO wurde<br />
durch die im Strafprozessänderungsgesetz 1993 neu geschaffene<br />
Bestimmung des § 41 Abs 7 StPO nicht eingeschränkt. Zweck<br />
dieser Gesetzesänderung war vielmehr, neben dem Rechtszug an<br />
die Ratskammer auch die Beschwerde an den übergeordneten<br />
Gerichtshof zu eröffnen.<br />
Anmerkung:<br />
Der OGH hat eine bis dahin ungeklärte wesentliche Rechtsfrage<br />
gelöst. Dem Verfahrenshelfer steht grundsätzlich das Recht der Beschwerde<br />
an die Ratskammer zu, wenn er die Voraussetzungen<br />
der Verfahrenshilfe für nicht gegeben erachtet. Diese grundsätzliche<br />
Beschwerdemöglichkeit regt zur besonderen Sorgfalt in der<br />
Beurteilung der Verfahrenshilfe-Voraussetzungen an. In der angefochtenen<br />
Entscheidung führte die Ratskammer aus, dass die mangelnde<br />
Beschwerdelegitimation „vom erkennenden Senat gegenüber<br />
der Kanzleigemeinschaft des Beschwerdeführers bereits<br />
mehrfach ausgesprochen wurde“. Diese grundsätzliche Frage veranlasste<br />
den Beschwerdeführer, die zutreffende Nichtigkeitsbeschwerde<br />
zur Wahrung des Gesetzes anzuregen. Die Entscheidung<br />
wurde erwirkt von Rechtsanwalt Mag. Claus-Peter Steflitsch.<br />
Thomas Schreiner<br />
Strafprozessrecht<br />
7708<br />
§ 180 Abs 7, Abs 2 Z 1, § 190 Abs 1 StPO –<br />
Bedingt obligatorische Untersuchungshaft,<br />
Fluchtgefahr, Kaution<br />
Das Gericht hat im Fall einer Straftat iSd<br />
§ 180 Abs 7 StPO (hier: mutmaßlicher Mord<br />
eines 60-jährigen Mannes an seiner halbseitig<br />
gelähmten Frau) zu untersuchen, ob besondere<br />
Gründe (Persönlichkeit des Beschuldigten, der<br />
Beschaffenheit der Tat und der Tatumstände) mit<br />
an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das<br />
Vorliegen einer Fluchtgefahr ausschließen, dh<br />
eine Flucht als geradezu unmöglich erscheinen<br />
lassen.<br />
Die den Beschuldigten bei einem Schuldspruch<br />
wegen Mordes (allenfalls aus niedrigen Motiven)<br />
mutmaßlich treffende Freiheitsstrafe, wäre so<br />
empfindlich, dass sehr wohl ein erhöhter Anreiz,<br />
zu flüchten oder sich verborgen zu halten, nicht<br />
ausgeschlossen werden kann.<br />
Geordnete Lebensverhältnisse und fester Wohnsitz<br />
im Inland (§ 180 Abs 3 StPO) genügen nicht,<br />
um eine Fluchtgefahr nach § 180 Abs 7 StPO auszuschließen.<br />
Umstände, die Haftgründe lediglich<br />
nicht annehmen lassen, sind keineswegs bereits<br />
solche, die sie auszuschließen vermögen. Zu solchen<br />
müssen noch die in § 180 Abs 7 StPO<br />
vorausgesetzten Gründe hinzutreten, wie etwa<br />
besondere physische, seine Mobilität einschränkende<br />
Beschaffenheit des Beschuldigten, über<br />
das übliche Maß hinaus gehende soziale und<br />
familiäre Gebundenheit oder Fehlen jeglicher<br />
rasch realisierbarer wirtschaftlicher Subsidien<br />
oder Möglichkeiten, die für ein dem Beschuldigten<br />
der Strafverfolgung entziehendes Leben im<br />
Untergrund als Mindestmaß vorausgesetzt sind.<br />
Wegen des beim Beschuldigten nicht auszuschließenden<br />
beträchtlichen Fluchtinteresses kann auch<br />
bei Leistung einer Kaution Fluchtgefahr nicht<br />
ausgeschlossen werden.<br />
OGH 2. 3. <strong>2000</strong>, 15 Os 22/00<br />
686 AnwBl <strong>2000</strong>/<strong>11</strong>