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Teil 2 Figuration des Phänomens sozialer Aufstieg um 1900

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<strong>Figuration</strong> <strong>des</strong> <strong>Phänomens</strong> <strong>sozialer</strong> <strong>Aufstieg</strong> <strong>um</strong> 1800<br />

„Einzig auf ihre einsamen Spiele, auf Spinnrädchen und Nährahmen beschränkt, lachte ihr kein<br />

Wechsel in dieser Einförmigkeit entgegen, als der, <strong>des</strong>sen auch der ärmste Taglöhner sich freut<br />

[…].“ 29<br />

Das Ausmaß der sozialen Notlage wird nur knapp angedeutet. Der „zerrüttetste[]<br />

häusliche[] Zustand“ wird gleich in ein kollektives Katastrophenszenari<strong>um</strong> <strong>des</strong><br />

Krieges und seiner Folgen eingebettet. Eigentlich scheint nur die „Einförmigkeit“<br />

der Beschäftigung mit dem Einerlei einer Tagelöhnertätigkeit verglichen zu werden.<br />

Nur wenn man diese und einige wenige andere eingestreuten Hinweise auf<br />

die soziale Situation von Mutter und Tochter zusammenfügt und daraus seine<br />

Schlüsse zieht, wird die elende Ausgangsposition der beiden greifbar. 30 Der Verweis<br />

auf den „ärmste[n] Tagelöhner“ ist dennoch ein Fingerzeig auf die persönliche<br />

soziale Misere.<br />

Deutlicher erkennbar wird, wie mühsam es für Rudolphi selbst war, sich ein wenig<br />

Bildung anzueignen. Zugang z<strong>um</strong> geschriebenen Wort erhielt die sechsjährige Caroline,<br />

indem sie „vom A B C Buche unmittelbar zur Bibel“ übergehen musste.<br />

Dabei erwies sich die Bibel als ein durchaus zwiespältiges „Bildungsmittel[]“: Die<br />

wiederholte Lektüre erzeugte einerseits Überdruss („Der Wissensdurst war<br />

st<strong>um</strong>pf“); das „Unverständliche“ und die „unbegreifliche[n] Vorstellungen“ stellten<br />

aber andererseits auch eine Herausforderung dar (die Bibel als „unerschöpflicher<br />

Nahrungsquell für ihr Herz“). 31 Darüber hinaus bemühte sich ihr älterer<br />

Bruder kurzzeitig, wenn er „von der hohen Schule“ einmal heimgekehrt war,<br />

„dem Mangel einer gründlichen Kenntniß bei seiner Schwester abzuhelfen“ 32. Die<br />

zeitgenössische Geschlechterkonstruktion ist, was hier nur angedeutet werden<br />

kann, in dieser Autobiografie wie in nahezu allen weiblichen Selbstdarstellungen<br />

geradezu allgegenwärtig. Dass Mädchen und Frauen den Männern gegenüber in<br />

nahezu jedem Lebensbereich im Nachteil waren, ist hinlänglich bekannt. Rudolphi<br />

belässt es allerdings bei der Erwähnung der schulischen Hilfestellung <strong>des</strong> Bruders.<br />

Anders als so manche Autobiografin aus bürgerlichen Verhältnissen, z.B. Friderika<br />

Baldinger (1739-1786) 33, klagt Rudolphi auch die geschlechtsbezogene Benachteiligung<br />

von Frauen ihrer Zeit nicht an. Sie stellt die Sachlage ihres persönlichen<br />

Werdeganges dar, ohne sie weiter zu kommentieren. Eigentlich beginnt ihr Text<br />

29 Rudolphi 1835, S. 14f.<br />

30 Rüdiger 1903, S. X, schreibt bedauernd-verständnisvoll über die spärlichen Angaben Rudolphis:<br />

„Sie verstand zu schweigen.“<br />

31 Rudolphi 1835, S. 9f.<br />

32 Rudolphi 1835, S. 23.<br />

33 In einer ironisch gebrochenen Formulierung zur zeitgenössischen Geschlechterkonstruktion heißt<br />

es einmal bei Baldinger: „Ich glaube ich wäre gelehrt geworden, wenn mich die Vorsehung nicht für<br />

den Kochtopf bestimmt hätte; und ich finde immer noch, daß man auch bei weiblichen Geschäften<br />

den Verstand der Männer aus ihren Büchern brauchen kann.“ Baldingers Selbstbeschreibung mit<br />

dem Titel „Versuch über meine Verstan<strong>des</strong>erziehung. An einen meiner Freunde“, die zwischen 1778<br />

und 1782 entstanden ist, wurde erst 1791, also posth<strong>um</strong>, veröffentlicht. Sie liegt in einer Neuausgabe<br />

vor: Baldinger 1994. Das Zitat ebd. auf S. 22. Vgl. dazu auch Heuser 1996.<br />

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