Wo ist der Online-Ulysses? - Netzliteratur.net
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differenz in mannigfaltiger Weise bereits in die Mechanismen <strong>der</strong> Lektüre und <strong>der</strong> Kritik<br />
literarischer Texte einschreibt und damit die Kanonisierung von Autorinnen von<br />
vornherein strukturell verzerrt (vgl. Heydebrand/Winko 1994). 42 Darüber hinaus bestehen<br />
sehr enge Beziehungen zwischen Kanones und Medien. So können Kanonisierungen<br />
zum einen durch eine beson<strong>der</strong>s vielfältige Medienpräsenz, zum an<strong>der</strong>en durch<br />
Medienverbundaktionen nachhaltig verstärkt werden. Spezifische Reflexivitätsphänomene<br />
<strong>der</strong> Medien werden dabei genauso genutzt wie die Popularität von Medienstars<br />
(vgl. Schmidt/Vor<strong>der</strong>er, S. 147-149).<br />
(3) Quer zu diesen beiden Ebenen steht die Sachdimension. (Dauer-) Kanonisierungen<br />
hängen danach mit Strategien <strong>der</strong> Dekontextualisierung zusammen: So wird die Dauer-Kanonisierung<br />
eines Textes etwa damit begründet, dass er einen überzeitlichen Problemlösungscharakter<br />
aufwe<strong>ist</strong>: Dies mache ihn zu einem dauerhaft beständigen Prototypen<br />
für dieses Problem. Eine an<strong>der</strong>e Strategie stellt die Entpragmatisierung des Kanonisierungsgegenstandes<br />
dar: Wenn Themen bearbeitet werden, die auf die elementaren gesellschaftlichen<br />
Dichotomien („Tod“ und „Leben“) verweisen, können die entsprechenden<br />
Texte von den Rezipienten problemlos an die eigene Biographie angeschlossen werden.<br />
Der „allgemein menschliche“ Gehalt dieser Dichotomien erleichtert die Dekontextualisierung<br />
des entsprechenden Textes sowohl in zeitlicher und räumlicher Hinsicht. Zu<br />
dieser „inhaltlichen“ tritt die „formale“ Dimension <strong>der</strong> Strategie: Entpragmatisierung wird<br />
danach durch eine hinreichend hohe Komplexität <strong>der</strong> Textformationen erreicht, welche<br />
eine verwertbare Funktionsvarianz enthält (vgl. a.a.O., S. 149-152).<br />
2.3.2 Funktionen <strong>der</strong> Kanonisierung<br />
Bis hierher <strong>ist</strong> diskutiert worden, welche Aspekte bei <strong>der</strong> Diskussion über Kanones zu<br />
beachten sind. Allerdings blieb offen, woraus sich die außerordentliche Rolle dieser<br />
beson<strong>der</strong>en „kulturellen Stabilisierungs- und Selektionsmechanismen“ (Günther 1987,<br />
S. 138) ableiten. Bei dieser Frage nach den maßgeblichsten Funktionen von Kanones<br />
soll nach den Handelnden im Literatursystem differenziert werden. 43<br />
Für Literatur-Produzenten bieten Kanones Orientierung sowohl während <strong>der</strong> Ausbildung<br />
als auch in <strong>der</strong> literarischen Produktion. Kanongegenstände dienen dabei zum<br />
einen als Vorbil<strong>der</strong> für Problemlösungen, zum an<strong>der</strong>en als Position, von <strong>der</strong> sie sich<br />
absetzen. Schmidt/Vor<strong>der</strong>er unterscheiden in diesem Zusammenhang zwei Prinzipien,<br />
die für literarische Produzenten wirksam wurden und werden. Das Imitationsprinzip<br />
(Annäherung an literarische Vorbil<strong>der</strong>) ginge dabei mit einem normativen Literaturverständnis<br />
einher. Das Innovationsprinzip (Absetzung von literarischen Vorbil<strong>der</strong>n) wäre<br />
stattdessen charakter<strong>ist</strong>isch in funktional differenzierten Gesellschaften.<br />
Im Rahmen von wirtschaftlichen Überlegungen werden Kanones dagegen (in sehr<br />
mannigfaltiger Hinsicht) für Literatur-Vermittler bedeutsam. Ruhm, Bekanntheit, Prominenz,<br />
kurzum: <strong>der</strong> Kanonwert eines Autors hat dabei direkte Auswirkungen auf die<br />
materiellen, personellen und zeitlichen Ressourcen, mit denen seine neuen Arbeiten<br />
vom Verlag ausgestattet, platziert und beworben werden. Kanones dienen in diesem<br />
Zusammenhang als Instrument zur Marktbeobachtung, aber auch als Marktregulativ.<br />
42 Auf die vielfältigen Beziehungen von Kanon und Macht, die über dieses skizzierte Beispiel hinausgehen,<br />
kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Vgl. dazu die Ergebnisse des 19. German<strong>ist</strong>ischen<br />
Symposions <strong>der</strong> DFG „Kanon Macht Kultur“ (vgl. Heydebrand 1998a), insbeson<strong>der</strong>e die Zusammenfassung<br />
<strong>der</strong> Ergebnisse, welche von Renate von Heydebrand verfasst wurde (vgl. Heydebrand 1998b).<br />
43 Im Folgenden fasse ich einen entsprechenden Vorschlag von Siegfried J. Schmidt und Peter Vor<strong>der</strong>er<br />
zusammen (Schmidt/Vor<strong>der</strong>er 1995, S. 152-155.). Zu den Funktionen von akademischen Kanones insbeson<strong>der</strong>e<br />
für Literaturwissenschaft und -geschichte vgl. auch Gaiser 1993, S. 23-27.<br />
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