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Wo ist der Online-Ulysses? - Netzliteratur.net

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1 Einleitung<br />

1.1 Gibt es einen Kanon <strong>der</strong> <strong>Netzliteratur</strong>?<br />

Kanones als gesellschaftliche Konstrukte, Kanonisierung als eine <strong>der</strong> wichtigsten Operationen<br />

im Kultursystem stellen Phänomene dar, die in <strong>der</strong> traditionellen Literaturwissenschaft<br />

sehr heiß debattiert werden: Eine Diskussion, die längst auch in an<strong>der</strong>e Disziplinen,<br />

wie etwa die Film- und Fernsehwissenschaft, übergegriffen hat und dort<br />

fruchtbare Ergebnisse liefert. Es scheint deshalb mehr als sinnvoll zu untersuchen, ob<br />

Ergebnisse dieser Debatte auch auf das Inter<strong>net</strong> zu übertragen sind.<br />

Das Modell <strong>der</strong> Kanones basiert auf dem Handlungsrollenmodell und muss aus<br />

diesem heraus erklärt werden. Als literarische Operation <strong>ist</strong> die Kanonisierung in den<br />

Bereich <strong>der</strong> „Verarbeitung“ o<strong>der</strong> <strong>der</strong> „Literaturkritik“ einzuordnen. Welche außerordentliche<br />

Rolle Kanones im literarischen System spielen, wird deutlich, wenn man sich<br />

<strong>der</strong>en Auswirkungen auf die Aktanten in diesem System vergegenwärtigt:<br />

Literatur-Produzenten dienen sie vor allem als Orientierung während Ausbildung<br />

und Produktion: Zum einen werden kanonisierte Autoren nachgeahmt, zum an<strong>der</strong>en<br />

setzt man sich bewusst von ihnen ab. In <strong>der</strong> D<strong>ist</strong>ribution regulieren Kanones das Marktgeschehen:<br />

Der Kanonwert eines Autors hat direkten Einfluss auf Auflagenhöhe, Ausstattung,<br />

Vermarktung und Platzierung. Für die Leser als Rezipienten stellen Kanones<br />

selektierende und orientierende Mechanismen dar: In <strong>der</strong> überschwemmenden Flut von<br />

Literatur fokussieren sie auf Texte, die als wertvoll und überzeitlich in das kulturelle<br />

Gedächtnis aufgenommen wurden. Annahme bzw. Verweigerung literarischer (Sub-)<br />

Kanones sind identitätsstiftend und abgrenzend. Im Bereich <strong>der</strong> Literaturverarbeitung<br />

nehmen Kanones den Charakter von kollektivem Wissen an, das die Aktanten als Erwartungserwartungen<br />

einan<strong>der</strong> immer wie<strong>der</strong> unterstellen (vgl. Schmidt/Vor<strong>der</strong>er 1995,<br />

S. 152-155).<br />

Kanones, so soll mit dieser Skizze verdeutlicht werden, stellen ein wichtiges Phänomen<br />

dar und es lohnt, sich mit diesem näher auseinan<strong>der</strong> zusetzen. Im Folgenden soll<br />

vorgeschlagen werden, das an <strong>der</strong> traditionellen Literatur entwickelte Modell <strong>der</strong> Kanonisierung<br />

auf die relativ junge <strong>Netzliteratur</strong> zu beziehen. Die Überlegungen werden dabei<br />

von einer simplen, zentralen Frage geleitet: Gibt es einen Kanon <strong>der</strong> <strong>Netzliteratur</strong><br />

und wie modelliert sich dieser gegenwärtig heraus?<br />

1.2 Zur Legitimation dieser Arbeit<br />

Der erste Inter<strong>net</strong>dienst, mit dem die <strong>Online</strong>-Publizierung von anspruchsvoll aufbereiteten<br />

Texten und Grafiken möglich wurde, das <strong>Wo</strong>rld Wide Web, <strong>ist</strong> keine 15 Jahre alt.<br />

<strong>Netzliteratur</strong> selbst wird als größeres Phänomen erst mit dem Inter<strong>net</strong>-Boom <strong>der</strong> Jahre<br />

1994/1995 relevant. Scheint es nicht viel zu früh, bereits jetzt über Kanonisierungsphänomene<br />

in einem so jungen Medium, einer so jungen Kunstform nachzudenken? Es gibt<br />

m. E. vier ganz maßgebliche Gründe, die für ein solches Vorhaben sprechen, weitere<br />

ließen sich wahrscheinlich problemlos finden:<br />

(1) Das Inter<strong>net</strong> hat in den letzten Jahren eine dominierende Position im Medienspektrum<br />

eingenommen: Es <strong>ist</strong> so präsent im öffentlichen Bewusstsein, dass es einer<br />

ganzen Generation den Namen verschaffte („Generation @“). Mit gutem Grund <strong>ist</strong> anzunehmen,<br />

dass es einen einflussreichen kulturellen Faktor darstellt: Das digitale Zeitalter,<br />

so die Optim<strong>ist</strong>en, scheint den Siegeszug <strong>der</strong> globalen Wirtschaft und die Etablierung<br />

einer weltweiten Kommunikationsgesellschaft mit sich zu bringen. Die traditionel-<br />

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