Wo ist der Online-Ulysses? - Netzliteratur.net
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Für die Beschreibung von Kanonisierungsprozessen erwe<strong>ist</strong> sich das dre<strong>ist</strong>ufige, vertikale<br />
Modell allerdings als etwas zu grob und damit zu ungenau: Zwei elementare Hürden<br />
des Kanonisierungsprozesses werden in den Ausführungen zu diesem Modell unterschlagen<br />
bzw. nur en passant erwähnt. Zum einen fällt <strong>der</strong> maßgebliche Einfluss von<br />
Verlag und Buchhandel auf Publizierung sowie die Platzierung des entsprechenden<br />
Werkes unter den Tisch. Zum an<strong>der</strong>en wird die Aufnahme eines Textes in allgemeine<br />
Lexika sowie Schulbücher und -curricula vernachlässigt, bestenfalls als logische Konsequenz<br />
<strong>der</strong> akademischen Kritik gekennzeich<strong>net</strong> und dieser zugeschlagen.<br />
Hier soll die Auffassung vertreten werden, dass die Rolle <strong>der</strong> D<strong>ist</strong>ribution von literarischen<br />
Texten als eigener Kanonisierungsfaktor unbedingt zu berücksichtigen <strong>ist</strong>.<br />
Weiterhin wird postuliert, dass die Kanonisierungsstufe, die den „wichtigsten Kanonisierungsmechanismus“<br />
(Schmidt/Vor<strong>der</strong>er 1995, S. 148) (nämlich die Aufnahme in<br />
Lehrpläne und Lexika) enthält, analytisch auch abgetrennt werden muss. Basierend auf<br />
dem Handlungsrollenmodell soll dazu im Folgenden das 3-Stufen-Modell <strong>der</strong> Literaturkritik<br />
zu einem 5-Stufen-Modell <strong>der</strong> Kanonisierung von Literatur erweitert werden.<br />
Dieses Schema gilt zunächst für das traditionelle Literatursystem. Für die spätere Analyse<br />
liefert es Orientierungspunkte und Folien, nach denen sich die Untersuchung richtet.<br />
Mit den Analyseergebnissen soll aus dem traditionellen Modell schließlich eine Variante<br />
entwickelt werden, die an den Gegenstand <strong>Netzliteratur</strong> angepasst <strong>ist</strong>.<br />
1. Stufe: Fertiggestellte Bücher werden einem Verlag zur Beurteilung übergeben,<br />
wo Lektoren diese durchsehen und entscheiden, ob sie publiziert werden. Bereits 99%<br />
aller überhaupt eingereichten Bücher scheitern an dieser Hürde. Dies muss nicht notwendigerweise<br />
qualitative o<strong>der</strong> handwerkliche Gründe haben: Schriftsteller werden<br />
längst auch aufgrund ihrer Markbedeutung eingekauft. Die Orientierung auf einen beson<strong>der</strong>s<br />
hohen finanziellen Erfolg führt dabei zu dem Phänomen, dass Verlage zunehmend<br />
Vorschüsse und Lizenzkosten zahlen, die an Hollywood-Standards erinnern. Dass<br />
bei dieser Art <strong>der</strong> Auswahl die Fernsehtauglichkeit eines Autors mehr zählt als dessen<br />
literarische Bedeutung, kann dann fast nicht mehr verwun<strong>der</strong>n. 44<br />
2. Stufe: Um nach seiner Publizierung auch in das Bewusstsein <strong>der</strong> literarischen<br />
Öffentlichkeit zu dringen, muss ein Buch von <strong>der</strong> feuilleton<strong>ist</strong>ischen Literaturkritik<br />
wahrgenommen werden. Dies hängt wie<strong>der</strong>um relativ stark mit dem (finanziellen) Aufwand<br />
zusammen, den Verlage betreiben, um ein Buch zu vermarkten: Anzeigen in <strong>der</strong><br />
Presse, Lesereisen <strong>der</strong> Autoren, Auftritte in Radiosendungen o<strong>der</strong> Talkshows im Fernsehen.<br />
Dass die (prominente) Platzierung <strong>der</strong> Bücher in den Buchhandlungen einen<br />
ganz entscheidenden und deshalb heiß umkämpften Faktor in dieser Vermarktungskette<br />
hat, scheint beinahe ein Gemeinplatz zu sein. Diese außerliterarische Vermarktung sowie<br />
die Bekanntheit des Autors haben Einfluss auf die Entscheidung, ob ein Buch in<br />
den Medien überhaupt besprochen wird. Ohne Besprechung aber ex<strong>ist</strong>iert ein Buch faktisch<br />
nicht: Es wird vom Leser und damit auch von <strong>der</strong> akademischen Kritik nicht<br />
wahrgenommen.<br />
3. Stufe: Wirkten auf den ersten beiden Stufen vordringlich Marktmechanismen,<br />
die auf einen möglichst hohen Gewinn abzielen, kommen ab <strong>der</strong> mittleren Stufe zunehmend<br />
literarische (Qualitäts-) Kriterien hinzu: Denn erst mit <strong>der</strong> Besprechung in literatur-<br />
o<strong>der</strong> theaterwissenschaftlichen Journalen o<strong>der</strong> Zeitschriften (essay<strong>ist</strong>ische Kritik)<br />
wird deutlich, dass das Buch einen wichtigen Beitrag für den literarischen Diskurs liefert.<br />
Als Selektionskriterium scheint hier vor allem ein bestimmter (me<strong>ist</strong> relativ enger)<br />
Literaturbegriff wirksam zu werden, <strong>der</strong> zume<strong>ist</strong> Werke aussortieren dürfte, die als tri-<br />
44 Vgl. dazu viel ausführlicher: Marianne Wellershoff: Die neue Vorschusspanik. In: Der Spiegel<br />
49/2000, S. 280-282.<br />
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