Karl May Zweite „Reise“ nach K U R D I S T A N - MJB-Verlag Mehr
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seinem Sohn an die Gräber der Kurden getreten, stand mit gefalteten Händen da und bewegte die<br />
Lippen im Gebet.<br />
„Du betest?“ fragte ich ihn, mich erstaunt stellend.<br />
„Ja, Sihdi, ich und Kara Ben Halef, mein Sohn, haben auch hier gebetet.“<br />
„An den Gräbern eurer Feinde?!“<br />
„Nein, denn die Toten sind unsere Feinde nicht mehr; der Christ kennt überhaupt keine Feinde, er<br />
haßt keinen Menschen, sondern er liebt sie alle, alle; das hast du mich ja selbst gelehrt.“<br />
„Was hast du gebetet? Die Fâtiha?“<br />
„Nein. Wer diese betet, ist ein Mohammedaner, und kein solcher betet am Grab seines Feindes. Ich<br />
und mein Sohn haben als Christen hier gestanden und das heilige Abûna 26 gebetet, das ich von dir<br />
gelernt habe. Hanneh, die Perle unter den Frauen und Müttern, pflegt es auch mit uns zu beten.<br />
Wunderst du dich etwa darüber?“<br />
„Nein, denn ich weiß, daß das Wort Gottes wie ein kleines Samenkorn ist, das in die Erde gelegt,<br />
sich zu einem Baum entwickelt, der mächtig und zugleich lieblich anzuschauen ist und immer neue<br />
Früchte und Samen entwickelt. Du hast ein solches Korn von mir empfangen; es wächst in dir und<br />
wird Früchte bringen. Gib die Samen davon weiter, mein guter Halef! Dann wirst du Gott<br />
wohlgefallen und viele Menschen glücklich machen.“<br />
„Oh, das weiß ich, Sihdi; ich bin ja selbst so sehr glücklich geworden. Weißt du noch, was für Mühe<br />
ich mir gegeben habe, dich zum Islam zu bekehren? Ich habe da manch ein Wort gesprochen, das wie<br />
der zweite Kopf eines Kamels war, das doch nur einen haben kann. Du hast dazu gelächelt und bist,<br />
wenn ich dann zornig wurde, immer gut und freundlich geblieben. Diese deine Güte hat mich besiegt.<br />
Ein einziges warmes Wort von dir hat mehr gewirkt, als alle meine langen Reden wirken konnten. Der<br />
Islam ist die Schauk 27 , die nur auf dürrem Boden wächst, das Christentum aber die Nachli 28 , die hoch<br />
in die Lüfte ragt und viele Früchte bringt. Der Islam gleicht der Wüste, in der es nur hier und da einen<br />
Brunnen gibt, der schlechtes Wasser hat, das Christentum aber einem schönen Land mit mächtigen<br />
Bergen, auf deren Höhen Glocken erklingen, und schönen Tälern, in denen Ströme fließen, die Wälder<br />
und Felder und Gärten nähren und an deren Ufern Städte und Dörfer stehen, deren Bewohner gute und<br />
folgsame Kinder ihres himmlischen Vaters sind. Daß ich dieses weiß, habe ich dir zu danken; es sollen<br />
es aber auch von mir noch viele, sehr viele erfahren.“<br />
Jetzt gingen wir, die Pferde an den Zügeln führend, <strong>nach</strong> dem Ort, an dem wir <strong>nach</strong> dem Kampf mit<br />
den Persern gelagert hatten. Ich dachte an das ‚Haus‘, das mich und Halef mit allen möglichen<br />
Delikatessen versehen hatte, und dabei war es mir, als ob jener süße, orientalische Duft mich heute<br />
wieder umwehe. Welch ein schreckliches Ende hatten diese guten Menschen dann da unten auf dem<br />
Wege der Todeskarawane gefunden!<br />
Dann stiegen wir hinauf zur Felsenhöhe. Da standen noch die Reste der Hütte des Soran-Kurden; er<br />
war nicht zu ihr zurückgekehrt, weil er dann Amad el Ghandurs Begleiter gewesen war und die Rache<br />
der Bebbeh zu fürchten hatte. Unweit davon erhob sich auf der Felsenplatte das Grabmal des Scheiks.<br />
Es war, wie sein Sohn damals zu mir gesagt hatte: „Die Sonne begrüßt den Ort früh, wann sie kommt,<br />
und abends, wann sie geht.“ Es war noch in gutem Zustand, aber an der Westsüdwestseite waren, wie<br />
Mamrasch gesagt hatte, mehrere Steine herausgenommen worden. Amad el Ghandur trat hinzu und<br />
blickte hinein. Er fuhr zurück und schrie:<br />
„Maschallah, mein Vater! Sollte seine Seele noch nicht von ihm gewichen sein!“<br />
Als dann ich in die Öffnung sah, konnte ich diesen Ausruf wohl begreifen. Da saß der Scheik noch<br />
gerade so, wie wir ihn hineingesetzt hatten, mit weit über die Brust herabwallendem Bart. Sein Gesicht<br />
war tief eingefallen, aber recht wohl zu erkennen. Welchem Umstand oder welchen chemischen<br />
Einflüssen die Erhaltung der Leiche zuzuschreiben war, weiß ich nicht, aber der Anblick war von<br />
einer außerordentlichen, unbeschreiblichen Wirkung; ich mußte noch <strong>nach</strong> Monaten immer an ihn<br />
denken, und noch heute ist es mir, als ob ich die Mumie des edlen Greises noch vor mir in den Steinen<br />
sitzen sähe.<br />
Die Haddedihn kamen einer <strong>nach</strong> dem andern herbei, um die Überreste ihres einstigen tapferen<br />
Anführers zu betrachten. Es geschah wortlos und mit einer Andacht, die leicht erklärlich war. Als der<br />
26 Vaterunser<br />
27 Distel<br />
28 Palme