Karl May Zweite „Reise“ nach K U R D I S T A N - MJB-Verlag Mehr
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„Schweig!“ fuhr er mich an und sprang vollends auf. „Du, nur du würdest dieses böse Verhängnis<br />
sein, wenn wir weiter auf dich hören wollten. Du magst tun, was dir beliebt, und gehen, wohin du<br />
willst; wir folgen dir nicht; wir brauchen keinen andern Lagerplatz. Die Bebbeh kommen nicht. Ich<br />
gehöre an das Grab meines Vaters, ich bleibe hier!“<br />
Ich wollte auch aufbrausen, beherrschte mich aber und sagte:<br />
„So laß dir doch wenigstens die Gründe sagen, weshalb ich —“<br />
„Nichts, nichts mag ich hören“, unterbrach er mich abermals. „Du hast uns vorgeworfen, daß unser<br />
damaliges Verhalten den Tod meines Vaters verschuldet habe. Es ist aber ganz anders: hättest du uns<br />
erlaubt, auf die Bebbeh zu schießen und ihren Scheik Gasâl Gaboga zu töten, so hätten sie nicht mehr<br />
gelebt und uns nicht verfolgen können. Du also bist schuld, du allein, ganz allein! Ich klage dich an<br />
des Todes meines Vaters und mag nichts mehr von dir wissen. Ich gebiete dir, dich von uns zu<br />
trennen!“<br />
Er streckte den Arm befehlend aus; seine Augen blitzten; er war das lebendig gewordene Bild des<br />
rücksichtslosesten, keiner Überlegung mehr fähigen Zornes. Ich kann nicht etwa bloß sagen, daß er<br />
mir leid tat, denn das, was ich jetzt empfand, war viel, viel mehr. Seine Leute hatten sich auch von<br />
ihren Plätzen erhoben; sie waren zu ihm getreten, mir damit anzudeuten, daß sie ganz seiner Meinung<br />
seien. Nur Halef, sein Sohn, Omar Ben Sadek und der Engländer befanden sich bei mir. Sollte ich auf<br />
die schwere Anschuldigung Amad el Ghandurs antworten oder nicht? Noch war ich mit mir nicht<br />
darüber einig geworden, da sprangen Halef und Omar auf; der erste trat einige Schritte vor, räusperte<br />
sich, wie es so seine Angewohnheit war, und rief:<br />
„Allah, Allah! Welche Wunder geschehen am heutigen Tag! Die Undankbarkeit kleidet sich in das<br />
Gewand des Stolzes, und das Verdienst wird mit dem Auswurf der Kamele und Schafe beworfen!<br />
Mein Effendi ist der weiseste der Weisen und der tapferste der Tapferen. Er hat für alle, die ihn<br />
begleiteten, stets wie ein Vater und eine Mutter gesorgt, für sie gewacht und alle Gefahren auf sich<br />
genommen. Ich, Hadschi Halef Omar, will hier nicht aufzählen, was er auch für euch getan hat; ihr<br />
seid ihm Dank schuldig jetzt und in alle Ewigkeit. Aber anstatt ihm diesen zu zollen, werft ihr ihm<br />
eine Anklage entgegen, die ich augenblicklich rächen würde, wenn ich nicht einer der Eurigen<br />
geworden wäre. Nicht er hat den Verstand verloren, sondern euch ist er abhanden gekommen. Mein<br />
Effendi weiß stets, was er sagt. Er sieht jetzt eine große Gefahr voraus, eine Gefahr, in der ihr<br />
untergehen werdet, wenn ihr nicht auf ihn hört. Eure Köpfe sind bis heut frei gewesen von falschen<br />
Gedanken. Aber seit ihr dieses Grab erblickt habt, sind die Teufel der Blutrache über euch gekommen,<br />
haben euer Herz betört und eure Augen blind gemacht. Es ist, als ob euch ein böses Ssuchuni 29<br />
überfallen habe, in dem ihr tolles Zeug redet und wie unvernünftige Geschöpfe handelt. Ich bitte euch,<br />
den Effendi anzuhören! Ihr werdet ihm gewiß und sicher recht geben!“<br />
„Nein, wir mögen nichts mehr von ihm hören!“ rief Amad el Ghandur und streckte beide Hände<br />
abwehrend aus. „Er hat dein Herz betört, und du bist seines Glaubens geworden; darum redest du für<br />
ihn. Wir brauchen weder ihn noch dich. Die Blutrache ist ein heiliges Gebot; du aber bist ein von<br />
Allah Abtrünniger. Bleibe bei deinem Effendi; wir haben nichts mehr mit euch zu tun!“<br />
Da ging Halef noch einen Schritt weiter und antwortete:<br />
„Ja, ich bin abgefallen von der Lehre, die Blut und Rache gebietet, und ein Sohn der Liebe<br />
geworden, die selbst den Unwürdigen umfängt. Darum will ich euch das, was ihr jetzt redet und tut,<br />
nicht entgelten lassen, sondern weiter über euch wachen, damit ihr nicht in euerm Irrtum untergeht.<br />
Hier stehe ich; ich halte zu meinem Sihdi, dem ich treu sein werde, solange ich lebe, denn ich bin<br />
Hadschi Halef Omar, der von euren grausamen und blutigen Gesetzen nichts mehr wissen mag!“<br />
Da stellte sich Omar an seine Seite und sagte:<br />
„Und ich bin Omar Ben Sadek, auf dessen Namen nie ein Makel lastete. Ihr habt unsern Effendi<br />
beleidigt; ich halte zu ihm; die Folgen aber werden über euch kommen!“<br />
Und nun geschah etwas, was ich nicht erwartet hatte. Nämlich Halefs kleiner Sohn trat an die<br />
andere Seite seines Vaters und rief mit seiner jugendlich hellen Stimme:<br />
„Und ich bin Kara Ben Halef und halte auch zu dem Effendi, dessen Namen ich trage. Er ist größer,<br />
als ihr alle seid!“<br />
29 Hitziges Fieber