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Karl May Zweite „Reise“ nach K U R D I S T A N - MJB-Verlag Mehr

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letzte von ihnen vom Grab zurückgetreten war, griff Amad el Ghandur in die Tasche und zog einen<br />

kleinen Stein hervor.<br />

„Kara Ben Nemsi Effendi und Hadschi Halef Omar, ihr wart dabei, als mein Vater Mohammed<br />

Emin, der Scheik der Haddedihn, in diese Gruft bestattet wurde; ihr habt gesehen, daß ich mit meinem<br />

Dolch diesen Stein vom Grabmal schlug und zu mir steckte, und werdet gewußt haben, was dies zu<br />

bedeuten hatte. Jetzt bringe ich ihn zurück und gebe ihn dem Toten. Die Mörder sind gefallen; der Tod<br />

meines Vaters ist gerächt; ihre Seelen mögen im glühendsten Feuer der Dschehenna brennen; die<br />

seinige aber mag wandeln unter den Palmen des siebenten Himmels und vom Quell des Paradieses<br />

trinken in alle Ewigkeit!“<br />

Das war die Ssâr, die Blutrache: Auge gegen Auge, Zahn gegen Zahn, Blut gegen Blut! Es überlief<br />

mich kalt. Was konnte ich jetzt aber sagen? Jedes Wort wäre nicht nur vergeblich gewesen, sondern<br />

hätte sogar Unwillen erregen können. Man soll nichts sagen oder tun, von dem man vorher überzeugt<br />

ist, daß es vergeblich sein wird; es könnte nur Schaden, nicht aber Nutzen bringen. Diese Gefühle und<br />

Gedanken hegte nicht ich allein, denn als Amad el Ghandur nun das Steinstück ins Innere des Grabes<br />

fallen ließ, warf Halef mir einen Blick zu, dem ich es ansah, daß der Hadschi gleichen Sinnes und<br />

gleicher Meinung mit mir war. Auch er, der früher so ausgesprochene Mohammedaner, der mich zum<br />

Islam bekehren wollte, dachte jetzt so wie ich: „Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen, und tut<br />

denen wohl, die euch beleidigen und verfolgen; dann seid ihr gute Kinder eures himmlischen Vaters!“<br />

Da die eigentliche Feier erst morgen am Todestag stattfinden sollte, konnten wir uns heute ausruhen<br />

und mußten uns zunächst <strong>nach</strong> einem passenden Lagerplatz umsehen. Ich wollte von der Höhe<br />

herabsteigen, um einen solchen zu suchen, Amad el Ghandur aber sagte:<br />

„Effendi, das ist nicht notwendig. Ich werde nirgends bleiben als hier am Grab meines Vaters. Ich<br />

gehöre hierher zu ihm.“<br />

„Nicht jetzt; denke an die Unsicherheit der Gegend und an die Bebbeh, die kommen können.“<br />

„Ich habe nicht an sie, sondern an den Toten zu denken. Ich bin gekommen, ihn zu besuchen, und<br />

nun ich bei ihm bin, werde ich nicht eher von ihm gehen, als bis wir diese Gegend verlassen.“<br />

„Das würde die größte Unvorsichtigkeit sein. Wie das Gelände hier beschaffen ist, wären wir, wenn<br />

sie kommen, ganz in ihre Hände gegeben.“<br />

„Ja, wenn sie kommen! Und selbst dann wäre es nicht so schlimm, wie du meinst. Wir haben<br />

erfahren, in welch geringer Anzahl sie zu kommen pflegen; wir aber sind zwanzig erfahrene und<br />

tapfere Krieger. Was hätten wir zu fürchten?“<br />

„Tapfere, ja; aber auch erfahrene? Was nützt die Erfahrung, wenn man nicht <strong>nach</strong> ihr handelt! Und<br />

ist es nicht möglich, daß sie heuer zahlreicher kommen als bisher? Und selbst wenn es ihrer so wenige<br />

wären, wäre uns das Gelände ungünstig.“<br />

„Es ist uns im Gegenteil günstig. Wir befinden uns hier oben, und sie würden von unten kommen;<br />

der Obere aber ist stets der Stärkere.“<br />

„In diesem Fall nicht. Sieh dir doch die Lage dieses Ortes an! Der Fels fällt <strong>nach</strong> Süd, West und<br />

Nord so steil ab, daß man <strong>nach</strong> diesen Richtungen nicht hinunter kann; wenigstens gehört ein guter<br />

Kletterer dazu, in die Tiefe hinabzukommen; mit den Pferden aber ist es geradezu eine Unmöglichkeit<br />

—“<br />

„Wir wollen ja gar nicht da hinab“, fiel er mir in die Rede.<br />

„Laß mich ausreden, so wirst du einsehen, daß die Möglichkeit gar wohl vorhanden ist, daß wir<br />

noch einen Fluchtausweg von hier suchen müssen.“<br />

„Fliehen? Vor diesen Hunden? Nie!“ rief er aus.<br />

„Nie, nie, nie!“ stimmten ihm seine Haddedihn eifrig bei.<br />

„Laßt doch meinen Effendi reden!“ warnte Halef. „Er ist klüger als wir alle, und ich habe viele,<br />

viele Male die Erfahrung gemacht, daß jeder, der nicht auf ihn hört, es später zu bereuen hatte.“<br />

Ich warf ihm einen anerkennenden Blick zu und fuhr fort:<br />

„Der Auf- und Abstieg kann nur auf der Ostseite des Berges geschehen, und da treten an einer<br />

Stelle, die ihr ja kennt, weil wir vorhin dort vorüberkamen, die Felsen so eng zusammen, daß nur zwei<br />

Reiter nebeneinander Platz haben. Das ist eine Pforte, die uns gefährlich werden kann.“<br />

„Wieso?“ fragte der Scheik.<br />

„Wenn die Kurden sie besetzen, können wir nicht fort.“<br />

„Und wenn wir sie besetzen, können sie nicht herauf!“ meinte er in überlegenem Ton.

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