Sommer 2011 - Stadtgemeinschaft Tilsit eV - Ostpreußen
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Gleich bei Ankunft in Middelfart hatte<br />
Sophie der Lehrerin erklärt, dass Sie<br />
gern bei uns bleiben möchte. Diese<br />
machte keine Schwierigkeiten. Unser<br />
Lager wurde bis zur Kapitulation von<br />
deutschen Soldaten bewacht. Die<br />
Dänen waren uns nicht gut gesonnen,<br />
was verständlich war, da sie am<br />
Anfang des Krieges von den Deutschen<br />
besetzt wurden. Wir Flüchtlinge<br />
erhielten, genau wie die deutschen<br />
Soldaten, auch Sold in<br />
dänischen Kronen und bekamen einen<br />
Lagerausweis. Meine Mutter erhielt<br />
für Günter, Sophie, für mich und<br />
sich selbst einen Passierschein, um<br />
das Lager verlassen zu dürfen. Nun<br />
gingen wir alle durch den schönen<br />
Wald nach Middelfart hinein, um uns<br />
vom ersten Sold Schuhe zu kaufen,<br />
denn wir hatten ja nichts Richtiges<br />
mehr an den Füßen. Es war endlich<br />
Frühling geworden. Anemonen und<br />
Veilchen (Leberblümchen) blühten.<br />
Die Vögel zwitscherten herrlich und<br />
sangen um die Wette. Wir hatten<br />
vergessen, dass es so etwas noch<br />
gab. Unser Gemüt blühte auf. Wir<br />
fanden bald ein Schuhgeschäft und<br />
die richtigen Schuhe und verließen<br />
glückstrahlend den Laden. Anschließend<br />
kauften wir leichte Oberbekleidung,<br />
denn es ging auf den <strong>Sommer</strong><br />
zu. Der Rest des Geldes reichte noch<br />
für eine große Tüte Kuchen, den wir<br />
auf einer Bank im Park gemeinsam<br />
verzehrten. Dieser Tag war für uns<br />
ein riesengroßes Geschenk. Bis zur<br />
Kapitulation im Mai 1945 wurden wir<br />
im Lager sehr gut ernährt.<br />
Danach änderte sich dann vieles. Die<br />
Engländer hatten Dänemark besetzt.<br />
Unser Lager wurde sofort mit Stacheldraht<br />
umzäunt. Englische Soldaten<br />
mit Gewehren bewachten uns.<br />
Eine Dänin, die fließend deutsch<br />
sprach, wurde als Lagerleiterin eingesetzt.<br />
Zu essen bekam wir nur<br />
noch das Nötigste. Es war zum Leben<br />
zu wenig und zum Sterben zu<br />
viel. Ein paar Tage nach der Kapitulation<br />
kamen mehrere englische Lastwagen<br />
mit Soldaten an. Innerhalb<br />
des Lagers lag eine große kreisförmige<br />
Wiese. Diese umzäunten sie mit<br />
Stacheldraht und trieben alle Flüchtlinge,<br />
auch die Kinder, hinein. Nun<br />
kamen wieder diese Ängste hoch.<br />
Als sie auch noch anfingen, Frauen<br />
bis zu ca. 50 Jahre alt, auszusortieren,<br />
unsere Mutter auch, entstand<br />
Panik. Viele schrien, denn wir hatten<br />
mit dem Schlimmsten gerechnet. Sie<br />
wurden alle auf die Lastwagen getrieben<br />
und fuhren ab.<br />
Uns Zurückgebliebene ließ man im<br />
Ungewissen. Wir Kinder hatten sehr<br />
um ihre Mütter geweint. Die Lagerleiterin<br />
wartete nur, bis die Lastwagen<br />
weg waren. Dann gab sie durch<br />
Lautsprecher bekannt, dass die<br />
Frauen zu einer ehemaligen, von<br />
Deutschen belegten Kaserne, zum<br />
Putzen gebracht wurden. Vorher hatten<br />
die Engländer die deutschen Soldaten<br />
gefangen genommen. Sie ließen<br />
die Frauen putzen, um selbst<br />
dort einzuziehen. 14 Tage lang wurden<br />
die Frauen morgens abgeholt<br />
und abends wieder gebracht. Die Arbeit<br />
war nach der anstrengenden<br />
Flucht sehr schwer und ungewohnt<br />
für viele Frauen. Meine Mutter erzählte<br />
uns nach der ganzen Aktion, dass<br />
die Engländer, die die Aufsicht führten,<br />
bei den Frauen Annäherungsversuche<br />
machten. Es hätte aber keine<br />
Übergriffe gegeben. Ein Aufsicht führender<br />
Offizier ging immer durch alle<br />
Räume und kontrollierte die Arbeiten.<br />
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