Sommer 2011 - Stadtgemeinschaft Tilsit eV - Ostpreußen
Sommer 2011 - Stadtgemeinschaft Tilsit eV - Ostpreußen
Sommer 2011 - Stadtgemeinschaft Tilsit eV - Ostpreußen
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Köchin, die Küche lag still. Meine<br />
Oma übernahm diesen Posten. Sie<br />
war dafür prädestiniert. Als junges<br />
Mädchen hatte sie eine gute Ausbildung<br />
in Wormditt in einer Haushaltungsschule<br />
absolviert. Sie hatte viel<br />
Ärger mit den dänischen Lieferanten.<br />
Diese verschoben die guten Lebensmittel,<br />
lieferten für die Flüchtlinge<br />
minderwertige Waren, sogar vereitertes<br />
Fleisch an. Meine Oma war eine<br />
resolute Frau, die sich nichts gefallen<br />
ließ. Sie nahm mit der dänischen Lagerverwaltung<br />
direkten Kontakt auf<br />
und bekam so alles in den Griff. Nur<br />
zaubern konnte sie leider nicht. Der<br />
Lebensmittelmangel blieb bestehen.<br />
Unter den Flüchtlingen befand sich<br />
auch ein Musikdirektor vom Rundfunksender<br />
Königsberg. Er gründete<br />
im Lager einen hervorragenden Kinderchor.<br />
Ich wollte auch gern im Chor<br />
mitsingen. Deshalb bat er mich zum<br />
Vorsingen mit Begleitung an einem<br />
alten Klavier in unserem Gemeinschaftsraum,<br />
‚Musentempel’ genannt.<br />
Ich wurde aufgenommen. Der Direktor<br />
war sehr streng, aber wir mochten<br />
ihn trotzdem gern und hatten mit<br />
viel Freude gesungen. Er übte mit<br />
uns viele schöne Lieder ein. Wie heißt<br />
es doch so gut? Singen macht frei!<br />
Da ich gern malte und zeichnete,<br />
schloss ich mich einer jungen Frau<br />
an, die Zeichenlehrerin war. Es entstand<br />
eine kleine Gruppe. Wir hatten<br />
einiges bei ihr gelernt. 1x wöchentlich<br />
kam aus Karup ein dänischer katholischer<br />
Priester und gab uns Kommunionsunterricht.<br />
Er sprach gut deutsch.<br />
Im April 1946 erhielt ich mit mehreren<br />
Kindern meine erste heilige Kommunion.<br />
Anschließend bekamen wir und<br />
unsere Angehörigen dünnen Kaffee<br />
und trocknen Streuselkuchen. Nach<br />
6 Monaten wurde auch dieses Lager<br />
aufgelöst. Unsere ganze Familie kam<br />
nach Kompedal. Dieses Lager fasste<br />
ungefähr 1000 Personen. Hier erhielten<br />
wir auch nach langem Bangen<br />
um meinen Vater sein erstes Lebenszeichen<br />
über das Rote Kreuz. In<br />
Kompedal führten wir ein trostloses<br />
Dasein. Wir durften das Lager nun<br />
nicht mehr verlassen. Mit unserer<br />
Familie waren wir 30 Personen in einem<br />
Raum. Die hygienischen Verhältnisse<br />
waren katastrophal. In unseren<br />
aufgestockten Betten steckten<br />
die Wanzen, so dass wir jeden Morgen<br />
zerbissen waren. Es gab keine<br />
Wolldecken, sondern nur gesteppte<br />
mit Zellstoff gefüllte Zudecken. Darunter<br />
froren wir erbärmlich. Bei Regen<br />
stand eine Schüssel am Fußende<br />
meines Bettes, um das Wasser<br />
aufzufangen. Ich schlief im 3. Stock<br />
und über meinen Füßen war das<br />
Dach undicht. Wir hatten einen langen<br />
und strengen Winter. Nun kam<br />
zum ewigen Hunger noch das ständige<br />
Frieren hinzu.<br />
1943/44 kam mein Vater nach Russland.<br />
Er hatte bei der Niederlage den<br />
Rückzug geschafft und erreichte über<br />
verschlungene Wege Norddeutschland.<br />
Einmal wurde er jedoch unterwegs<br />
mit seinem Kameraden in Süddeutschland<br />
von den Amerikanern<br />
gefangen genommen. Beide konnten<br />
aus dem Lager fliehen.<br />
In Wardenburg/Oldenburg hielt sich<br />
schon sein älterer Bruder auf. Zunächst<br />
fand mein Vater Arbeit bei einem<br />
Schlachter. Diesen Beruf hatte er nie<br />
ausgeübt. So hielt er sich aber fürs<br />
Erste über Wasser und bekam gut zu<br />
essen. Ein paar Monate später kaufte<br />
sich jeder der Brüder aus Armeebeständen<br />
einen Lastwagen. Sie mach-<br />
23