Sommer 2011 - Stadtgemeinschaft Tilsit eV - Ostpreußen
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ging, hat Tante Anna mit uns einen<br />
kleinen Raum im Wirtschaftsgebäude<br />
zum Basteln benutzen dürfen. Sie<br />
besorgte alte Lebensmittelkartons<br />
und fertigte daraus Spielbretter, Mühle<br />
und Dame und Spielkarten. Dann<br />
holten wir vom Strand die weißen<br />
Herzmuscheln. Sie kochte aus Weidenrinde,<br />
Baumrinden und Gräsern<br />
jeweils einen Sud und färbte damit<br />
die Muscheln ein. So hatten wir für<br />
die Winterzeit Spiele mit verschiedenfarbigen<br />
Spielfiguren. Die Jungens<br />
schnitzten aus Holz noch zusätzlich<br />
Spielfiguren. Aus alten Stoffen fertigte<br />
sie Bälle an und wir spielten damit<br />
Völkerball. Als die Weihnachtszeit<br />
näher rückte, halfen wir ihr beim Basteln<br />
von Weihnachtsschmuck. Alle<br />
Materialien hierfür holten wir aus dem<br />
Wald. Ein paar Tage vor Weihnachten<br />
gingen wir Tannenzweige schneiden,<br />
denn Tante Anna hatte die Erlaubnis,<br />
den Speisesaal damit zu<br />
schmücken. Hinzu kam noch der<br />
selbstgefertigte Weihnachtsschmuck<br />
und der Raum wurde dadurch festlich<br />
verwandelt. Heiligabend besuchte<br />
uns die Heilsarmee und schenkte<br />
den Kindern eine kleine Tüte Kekse<br />
und einen Malblock mit Buntstiften.<br />
Wir waren außer uns vor Freude. Sie<br />
sangen mit uns viele Weihnachtslieder.<br />
Danach mischten sie sich unter<br />
die Anwesenden, um sich, so gut es<br />
ging, mit uns zu unterhalten.<br />
Mitte Januar 1946 wurden alle kleinen<br />
Lager, wir waren 300 Personen,<br />
aufgelöst und wegen der Rentabilität<br />
zu größeren zusammengelegt. Meine<br />
Mutter hatte erreicht, dass wir nach<br />
Karup ins Lager zu unseren Verwandten<br />
kamen. Trotz großer Bemühungen<br />
durften wir die Sophie nicht<br />
mitnehmen. Der Abschiedsschmerz<br />
ging allen sehr ans Herz. Meine Mutter<br />
sprach mit Tante Anna und bat<br />
sie, Sophie in ihre Obhut zu nehmen.<br />
Sie tat es gern. Dort war sie in guten<br />
Händen und wir waren beruhigt.<br />
Wir durften nur einmal im Monat<br />
Klaus-Werners Grab besuchen. Wegen<br />
unserer Verlegung wurde dieses<br />
Mal eine Ausnahme gemacht. Bevor<br />
wir nach Fredericia fuhren, hatte meine<br />
Mutter für uns alle Passierscheine<br />
geholt, um sich am Grab von Klaus-<br />
Werner zu verabschieden. Meine<br />
Mutter besaß ja vom Günter noch die<br />
dänischen Kronen, die er von den<br />
Soldaten geschenkt bekam. Danach<br />
gingen die Mutti, Günter, Sophie und<br />
ich in eine kleine Konditorei. Meine<br />
Mutter trank dort starken Bohnenkaffee<br />
und wir Kinder Kakao. Dazu<br />
suchte sich jeder ein dickes Stück<br />
Torte aus. Das sind die großen<br />
Glücksmomente im Leben! Seit der<br />
Kapitulation waren wir alle sehr mager<br />
geworden. Wir hatten immer<br />
Hunger und wurden nie richtig satt.<br />
Als wir in Karup ankamen und von<br />
weitem das Lager liegen sahen, waren<br />
wir sehr deprimiert. Auf einem<br />
ehemaligen Truppenübungsgelände<br />
standen dunkelbraune Baracken, die<br />
500 Personen beherbergten. Es war<br />
eine öde Landschaft, wie in der Wüste,<br />
ohne Baum und Strauch. Am<br />
Lagertor erwartete uns unsere Familie.<br />
Wir freuten uns, dass wir nun<br />
wieder alle zusammen waren. Neun<br />
Personen wurden in einem großen<br />
Raum mit dreistöckigen Betten untergebracht.<br />
Das war im Vergleich zu<br />
Middelfart ein Unterschied wie Tag<br />
und Nacht. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.<br />
Langsam fanden wir<br />
uns in alles hinein. Die Verpflegung<br />
war schlecht. Es fehlte sogar eine<br />
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