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extra - Fragile Suisse

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von Simons Kindheit», gibt sie etwas verlegen<br />

und vor allem traurig zu. Sie hat nur<br />

blasse Erinnerungen an Schullager oder gute<br />

Noten, an Freunde oder Interessen ihres<br />

Sohnes – alles ist weg. «Plötzlich hatte ich<br />

einen erwachsenen Sohn vor mir», beim<br />

Erzählen zittert Anitas Stimme leicht: «Es<br />

war auch für Simon überhaupt nicht einfach.<br />

Und das tut mir bis heute leid.»<br />

Nichts ist mehr wie früher<br />

Auch Wortfindungsstörungen führten zu<br />

Missverständnissen. «Einmal erklärte ich<br />

«Es ist Zeit, dass ich dazu stehe.»<br />

Heute hat die 51-Jährige einen Weg gefunden<br />

– manchmal ist sie glücklich und<br />

manchmal furchtbar allein. Manchmal ist<br />

sie froh, hat sie viel Zeit, und manchmal<br />

wird sie fast erdrückt davon. Es verletze sie,<br />

wenn ihr jemand sage, dass jeder arbeiten<br />

könne, wenn er nur wolle. «Wollen alleine<br />

genügt halt nicht immer.» Sie will niemandem<br />

zur Last fallen, nicht dauernd um<br />

Extra-Dienste bitten. Anita N. lebt abseits<br />

der Stadt auf einem Bauernhof. Ihre Woh -<br />

nung ist ihre persönliche Oase der Ruhe.<br />

Sie ist so eingerichtet, dass sich ihr Kopf<br />

wohl fühlt: überall gedämpftes Licht, es<br />

gibt weder Computer noch Fernseher. Die<br />

dunkle Jahreszeit ist speziell schwierig für<br />

Anita N. Denn: Überall wo sie hingeht,<br />

brennt künstliches Licht. Und das blendet<br />

sie – nicht in den Augen. Das grelle Licht<br />

zündet ihr direkt ins Hirn. «Es fühlt sich an,<br />

als ob sich mein Gehirn zusammenziehen<br />

Paula Gisler arbeitet für die Helpline von FRAGILE <strong>Suisse</strong>. Sie hilft Frau<br />

N. nicht nur beim Budget und dem Papierkram, sie ist auch eine wichtige<br />

Bezugsperson geworden.<br />

Frau N. ist begeisterte Handwerkerin: «Das sind meine guten Geister.<br />

Weil ich die Nähanleitung nicht begriff, sehen sie heute so aus.»<br />

dem Automechaniker, dass mein Toast<br />

Hawaii nicht mehr funktioniere. Ich meinte<br />

die Klimaanlage.» Das gutmütige Schmun -<br />

zeln des Mechanikers traf Frau N. mitten ins<br />

Herz. Sie schämte sich. Und ihr Selbst -<br />

vertrauen schmolz mit jedem weiteren<br />

Missverständnis dahin. Sie zog sich zurück.<br />

Traute sich immer weniger zu. «Man hält<br />

sich für doof, aber es ist einfach ein anderer<br />

Massstab.» Frau N. haderte lange mit<br />

ihrem Schicksal, bis sie endlich akzeptieren<br />

konnte, dass nichts mehr ist, wie es einmal<br />

war.<br />

«Ich bin zwar<br />

immer noch ich,<br />

aber einfach anders.»<br />

würde», versucht sich Anita N. zu erklären:<br />

«Die Kopfschmerzen werden dann immens.»<br />

Dem weicht sie aus und streift oft stundenlang<br />

durch die Natur, begleitet von ihrem<br />

Hund. Leila gehört ihr zwar nicht alleine.<br />

Denn: «Ich könnte mir einen Hund gar nicht<br />

leisten, deshalb teile ich ihn mir mit einem<br />

guten Bekannten.» Dank dem kleinen Wir -<br />

bel wind trifft sie eher mal bekannte<br />

Menschen und besucht sogar die Hunde -<br />

schule. «Das hätte ich mir vor zwei Jahren<br />

noch nicht zugetraut.»<br />

Hilfe gesucht – und gefunden<br />

«Ich suche dauernd irgendetwas, weil ich<br />

es verlegt habe.» Das ist anstrengend für<br />

Anita N. Wenn sie bei einer Arbeit unterbrochen<br />

wird, kann es gut vorkommen,<br />

dass sie die volle Kaffeetasse in den<br />

Kleiderschrank stellt. «Ich hab oft ein<br />

‚Gnuusch’ im Kopf.» Und dieses Wirrwarr<br />

ist auch ein Grund, warum die ehemalige<br />

Telefonistin in der ständigen Angst lebt,<br />

dass sie einen wichtigen Termin verpassen<br />

könnte. Und: Sie versteht komplexe Brief -<br />

inhalte nicht mehr. Diese zermürbende<br />

Verunsicherung hat sie jetzt im Griff: Sie<br />

hat bei Paula Gisler von der Helpline von<br />

FRAGILE <strong>Suisse</strong> Hilfe geholt. Die Sozial -<br />

arbeiterin mit Zusatzausbildung in psychologischer<br />

Beratung unterstützt Anita N.<br />

beim Erledigen der Post. Sie hilft ihr bei den<br />

Finanzen, unterstützt sie bei diversen Ab -<br />

klärungen, erklärt ihr, was sie den Ämtern<br />

schicken muss. Sie hilft ihr zu unterscheiden,<br />

was wichtig und was bloss belangloses<br />

Werbematerial ist. Alle Doku mente<br />

legen sie zusammen in einem Ordner ab.<br />

Das schafft Ordnung – und Sicherheit. Die<br />

beiden Frauen treffen sich in regelmässigen<br />

Abständen zu diesen Arbeitsbesprechungen.<br />

Das gibt Anita N. die notwendige<br />

Struktur und das beruhigende Gefühl, nicht<br />

einer finanziellen Krise entgegenzusegeln.<br />

Mit sich selber tolerant sein<br />

«Alle sind so beschäftigt, da fällt es mir<br />

manchmal schwer, nicht beschäftigt zu<br />

sein.» Obwohl, langweilig sei ihr nie. Ihre<br />

Familie gibt ihr Halt, sie strickt gern, liest ab<br />

und zu einfache Bücher oder organisiert für<br />

die Kinder auf dem Hof das Halloween-<br />

Fest. Mit theatralischer Stimme und spannenden<br />

Erzählungen zieht sie die Kleinen in<br />

Bann. «Danach habe ich zwar tagelang<br />

Kopfweh, aber ich weiss wenigstens wa -<br />

rum.» Anita N. ist pragmatisch geworden.<br />

«Ich möchte noch so vieles! Aber viele<br />

Sachen klappen nicht», stellt sie relativ ge -<br />

las sen fest, «ich musste lernen, flexibel zu<br />

werden.» Auch heute kann es vorkommen,<br />

dass sie Wasser kocht, aber vergisst, die<br />

Nudeln in die Pfanne zu geben. Dann isst<br />

sie halt Käse und Brot. Und denkt sich<br />

dabei: «Die Gesellschaft ist sowieso viel zu<br />

perfekt.»<br />

Autorin: Verena Paris<br />

Fotografin: Paula Gisler<br />

FRAGILE EXTRA 4/2008 5

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