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PDF 2006-4 Autoren pdf.indb - Linksreformismus

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Keynes und die Rentiers<br />

gefördert und die unternehmerischen Kräfte<br />

gestärkt, wie die Verfechter des ökonomischen<br />

Mainstreams behaupten. Das jährliche Wachstum<br />

des Weltsozialprodukts, das im Zeitraum<br />

1950 bis 1973 knapp drei Prozent betrug, sank<br />

in der neoliberalen Epoche zwischen 1973 und<br />

1998 auf 1,3 Prozent (Afheld 2003: 127). Der<br />

Aufstieg der Fondsgesellschaften hat vielmehr<br />

zu einer Herrschaft der Rentiers über die<br />

unternehmerischen Kräfte geführt, die Staat<br />

und Unternehmen zur Beute der Anleger<br />

macht. Die kapitalmarktorientierten Formen<br />

der Unternehmenskontrolle lassen, wie wir<br />

aufgezeigt haben, ein ungünstiges Umfeld für<br />

unternehmerische Projekte entstehen. Der<br />

Zangengriff der Investoren auf die Politik<br />

höhlt den Sozialstaat aus und führt zu einer<br />

stetigen Umverteilung von unten nach oben.<br />

Der Widerstand gegen diese Politik ist deshalb<br />

so gering, weil es dem Finanzmarkt-Kapitalismus<br />

gelungen ist, auch beträchtliche Teile der<br />

politisch tonangebenden Mittelschichten in<br />

die Rentierinteressen einzubinden und ihnen<br />

zumindest die Illusion einer Partizipation an<br />

dem stetig wachsenden Zinsen-, Renten- und<br />

Dividendensegen zu vermitteln.<br />

Die Keynessche Krisendiagnose ist gewiß<br />

nicht frei von analytischen Schwächen 5 , aber sie<br />

weist gleichwohl in die richtige Richtung. Die<br />

von Keynes aufgezeigten Krisenpotentiale – sinkende<br />

Investitionsneigung der Unternehmen<br />

einerseits, Überliquidität an den Finanzmärkten<br />

mit der Tendenz zur Bildung spekulativer<br />

Blasen andererseits – blieben unvermindert<br />

virulent. Daß es gleichwohl bislang nicht zu<br />

einer massiven Krise wie in den 1930er Jahren<br />

kam, ist vor allem darauf zurückzuführen, daß<br />

der „Keynesianismus“ trotz seiner offiziellen<br />

Verdammung stillschweigend in Gestalt der<br />

anhaltenden staatlichen Defizitfinanzierung<br />

weiter praktiziert wurde, besonders in den<br />

USA und in Japan (Deutschmann 2003). Ganz<br />

im Sinne der Empfehlungen von Keynes verschuldete<br />

der Staat sich „stellvertretend“ für die<br />

Unternehmen, aber er zahlte den Eigentümern<br />

auch „stellvertretend“ aus Steuermitteln jene<br />

Renditen, die auf den privaten Kapitalmärkten<br />

nicht mehr zu erzielen gewesen wären. So<br />

wurde eine Eskalation der Krise und mit ihr<br />

auch eine drastische Entwertung der Vermögen<br />

33<br />

verhindert. Aber die Krise wird so nur latent<br />

gehalten, ihre Ursachen bestehen weiter fort.<br />

Das System des Finanzmarkt-Kapitalismus<br />

leidet an einem inneren Widerspruch. Es<br />

mobilisiert die privaten Finanzvermögen und<br />

organisiert die wirtschaftliche und politische<br />

Macht der Vermögensbesitzer. Bis weit in die<br />

gesellschaftliche Mitte hinein wird die Erwartung<br />

geweckt, es gebe so etwas wie ein „Naturrecht“<br />

auf Rendite. Die reale Voraussetzung<br />

dafür, daß Kapital sich verwertet, stellt jedoch<br />

der gesellschaftliche Prozeß schöpferischer<br />

Zerstörung dar. Geldvermögen sind Kontrakte<br />

zwischen Gläubigern und Schuldnern. Wenn<br />

die Vermögen stärker als das Sozialprodukt<br />

wachsen, dann müßten entsprechend mehr<br />

Schuldner gefunden werden, die bereit sind,<br />

die Verbindlichkeiten zu übernehmen und<br />

mit Zins und Zinseszins „abzuarbeiten“. Der<br />

Anteil der nach dem Schema G–W–G’ ablaufenden<br />

Transaktionen müßte immer mehr<br />

gegenüber Transaktionen des Typs W–G–W<br />

zunehmen. Um die anwachsenden Kapitalien<br />

zu verwerten, müßte die Gesellschaft immer<br />

mehr Unternehmer und innovative Leistungen<br />

hervorbringen, ihre wirtschaftlichen und sozialen<br />

Strukturen in immer rascherem Tempo<br />

umwälzen. Die Beratungsindustrie ist zwar<br />

unablässig bemüht, solche Beschleunigungsszenarien<br />

zu verbreiten. Damit jedoch verliert<br />

sie den Bodenkontakt zur Wirklichkeit. Reale<br />

Gesellschaften können nur überleben, wenn sie<br />

zunächst ihre Kontinuität und Reproduktion<br />

sichern, angefangen damit, daß Kinder geboren<br />

und aufgezogen werden. Sie können nicht unbegrenzt<br />

schöpferische Zerstörung betreiben,<br />

nur um die Erwartungen der Eigentümer zu<br />

erfüllen. Diese Grenzen zeigen sich erst recht<br />

in den alternden Wohlstandsgesellschaften<br />

Europas, Nordamerikas und Japans. Hier gibt<br />

es keine stark wachsende, zugleich jugendliche<br />

und arme Bevölkerung mehr, die nach<br />

sozialem Aufstieg durch unternehmerischen<br />

Erfolg strebt und dadurch das wirtschaftliche<br />

Wachstum vorantreibt (die Migranten können<br />

aus verschiedenen Gründen diese Rolle kaum<br />

erfüllen). Vielmehr haben sich schon breite<br />

Mittelschichten gebildet, deren Mitgliedern<br />

der Aufstieg mindestens ein Stück weit bereits<br />

gelungen ist. Sie wollen nicht mehr um jeden

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