PDF 2006-4 Autoren pdf.indb - Linksreformismus
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78 Norbert Reuter<br />
Um eine nachfragedämpfende „räuberische<br />
Ersparnis“ (Keynes 1979/1933) der oberen<br />
Einkommensschichten zu verhindern,<br />
müßten von Einkommenssteigerungen vor<br />
allem jene Haushalte profitieren, die (noch)<br />
über hohe Nachfragepotentiale verfügen,<br />
also von Sättigungsgrenzen weit entfernt<br />
sind und deshalb über hohe Konsumquoten<br />
bzw. niedrige Sparquoten verfügen. Die<br />
aktuelle Tendenz ist freilich eine andere: In<br />
allen kapitalistischen Ländern ist eine mehr<br />
oder weniger stark ausgeprägte Tendenz zu<br />
einer zunehmenden Verteilungsdisparität<br />
festzustellen (Förster/Mira d’Ercole 2005).<br />
In Deutschland sind die Reallöhne in den<br />
letzten zehn Jahren sogar gefallen, während<br />
Gewinn- und Vermögenseinkommen enorme<br />
Zuwächse verzeichnen konnten.<br />
2. Exportüberschüsse sind prinzipiell das<br />
falsche Mittel, binnenwirtschaftliche Probleme<br />
zu lösen. Überschüsse des einen<br />
Landes sind notwendigerweise Defizite<br />
des anderen („beggar my neighbor“-Politik).<br />
Exportweltmeisterschaft stellt in der<br />
Keynesschen Analyse keine Leistung dar,<br />
sondern ist im Gegenteil Ausdruck einer<br />
nachhaltigen Fehlentwicklung der Wirtschaft.<br />
Voraussetzung einer Korrektur ist<br />
auch hier die Steigerung der binnenwirtschaftliche<br />
Nachfrage.<br />
3. Neben der Steigerung der privaten Nachfrage<br />
zur Schließung der Produktionslücke<br />
kommen staatlichen Investitionen eine<br />
zentrale Aufgabe zu. Aufgrund der Abhängigkeit<br />
der privaten Investitionstätigkeit<br />
von der privaten Nachfrage (Akzelerationsprinzip)<br />
sind nicht nur in wirtschaftlichen<br />
Schwächephasen, sondern auch mit Blick<br />
auf die lange Frist von privaten Investitionen<br />
keine ausreichenden Impulse zu erwarten.<br />
Deshalb sah Keynes die Notwendigkeit von<br />
mehr, statt weniger staatlichem Engagement<br />
– erst recht in der langen Frist. Einmal aus<br />
beschäftigungspolitischen Gründen, zum<br />
anderen aber auch zur Bereitstellung des<br />
notwendigen öffentlichen Bedarfs (Bildung,<br />
Forschung, Infrastruktur etc.).<br />
4. Entsprechende Anforderungen ergeben sich<br />
für die Steuerpolitik in Volkwirtschaften der<br />
„Dritten Phase“: Sie muß die notwendigen<br />
Einnahmen für den Staat sicherstellen und<br />
gleichzeitig zu einer Steigerung der gesamtwirtschaftlichen<br />
Konsums beitragen.<br />
Statt Entlastungen für Haushalte mit hohen<br />
Einkommen und damit hoher Sparquote,<br />
ist eine steuerpolitisch initiierte relativ<br />
höhere Belastung der oberen Einkommen<br />
und Gewinne mit anschließender staatlicher<br />
Verausgabung eine Keynesianische Antwort<br />
auf die zunehmende Konsumschwäche. 3<br />
Der umverteilungsbedingte Konsum- und<br />
staatlich verursachte Investitionsschub<br />
würde das Nachfrageniveau unmittelbar<br />
erhöhen und damit zur Steigerung der<br />
Binnennachfrage beitragen.<br />
5. Die Steigerung der Binnennachfrage und<br />
die Gewährleistung einer hohen staatlichen<br />
Investitionsquote reichen langfristig jedoch<br />
nicht aus, Vollbeschäftigung zu gewährleisten.<br />
Aufgrund der zunehmenden Auseinanderentwicklung<br />
zwischen Produktionsund<br />
sättigungsbedingten Absorptionsmöglichkeiten<br />
wird Arbeitszeitverkürzung im<br />
Laufe der kapitalistischen Entwicklung<br />
zum immer bedeutungsvolleren Mittel für<br />
die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit. Es<br />
ist die zentrale Keynessche Botschaft, daß<br />
entwickelte kapitalistische Gesellschaften<br />
ohne umfaßende Arbeitszeitverkürzung<br />
– „Drei-Stunden-Schichten oder eine Fünfzehn-Stunden<br />
Woche“ (Keynes 1998b/1930:<br />
123) – zwangsläufig zu Massenarbeitslosigkeitgesellschaften<br />
degenerieren.<br />
Die Keynessche Analyse legt den Schluß nahe,<br />
daß die gegenwärtig in vielen kapitalistischen<br />
Ländern verfolgten („neoliberalen“) Lösungsansätze<br />
(Arbeitszeitverlängerung, Verteilungsdisparitäten<br />
erhöhende Steuer„reformen“,<br />
Rückzug des Staates, Lohnsenkungen etc.)<br />
unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht<br />
Teil der Lösung, sondern Gegenstand des<br />
Problems sind.<br />
Anmerkungen<br />
1 Ausweislich der letzten (2003er) Einkommens- und<br />
Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes<br />
(2005) beginnt die Ersparnisbildung bei einem<br />
monatlichen Haushaltsnettoeinkommen von rund<br />
1.300 Euro. Sie steigt dann kontinuierlich bis auf rund