Predigten Pastor Moser 2006 - Alsterbund
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Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am Neujahrstag<br />
01. Januar <strong>2006</strong><br />
Jahreslosung <strong>2006</strong>: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht. (Josua 1,5)<br />
Predigttext: Josua 1, 1-9<br />
Nachdem Mose, der Knecht des HERRN, gestorben war, sprach der HERR zu Josua, dem<br />
Sohn Nuns, Moses Diener: Mein Knecht Mose ist gestorben; so mach dich nun auf und zieh<br />
über den Jordan, du und dies ganze Volk, in das Land, das ich ihnen, den Israeliten, gegeben<br />
habe. Jede Stätte, auf die eure Fußsohlen treten werden, habe ich euch gegeben, wie<br />
ich Mose zugesagt habe. Von der Wüste bis zum Libanon und von dem großen Strom Euphrat<br />
bis an das große Meer gegen Sonnenuntergang, das ganze Land der Hetiter, soll euer<br />
Gebiet sein. Es soll dir niemand widerstehen dein Leben lang. Wie ich mit Mose gewesen<br />
bin, so will ich auch mit dir sein. Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht. Sei getrost<br />
und unverzagt; denn du sollst diesem Volk das Land austeilen, das ich ihnen zum Erbe geben<br />
will, wie ich ihren Vätern geschworen habe. Sei nur getrost und ganz unverzagt, dass du<br />
hältst und tust in allen Dingen nach dem Gesetz, das dir Mose, mein Knecht, geboten hat.<br />
Weiche nicht davon, weder zur Rechten noch zur Linken, damit du es recht ausrichten<br />
kannst, wohin du auch gehst. Und lass das Buch dieses Gesetzes nicht von deinem Munde<br />
kommen, sondern betrachte es Tag und Nacht, dass du hältst und tust in allen Dingen nach<br />
dem, was darin geschrieben steht. Dann wird es dir auf deinen Wegen gelingen, und du wirst<br />
es recht ausrichten. Siehe, ich habe dir geboten, dass du getrost und unverzagt seist. Lass<br />
dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der HERR, dein Gott, ist mit dir in allem, was<br />
du tun wirst.<br />
Liebe Gemeinde!<br />
Josua ist in einer äußerst schwierigen Lage. Mose hat das Volk vierzig Jahre lang auf seinem<br />
äußerst schwierigen Weg durch die Wüste geführt. Aber nun, kurz vor dem Ziel, ist er<br />
verstorben. Mose selbst hat derartiges wohl geahnt. Schon zu Lebzeiten hat der den noch<br />
jungen Josua zu seinem Nachfolger bestimmt; denn der hatte sich bewährt auf dem langen<br />
Marsch durch die Wüste: Erfolgreich hatte er die Israeliten angeführt im Kampf gegen das<br />
mächtige Volk der Amalekiter, danach gehörte er zu den ersten Kundschaftern, die in das<br />
Land Kanaan geschickt wurden. Und Mose war es auch, der Josua das Vertrauen in den<br />
Gott Jahwe lehrte und schließlich Josua seinen Namen gab. Ursprünglich hieß Josua Hosea<br />
(= „Hilfe“); zusammengesetzt mit dem Gottesnamen Jahwe „Jah_Hosea“ wird daraus Josua<br />
(= „Der Herr ist Hilfe“). Das ist ein klares Zeichen: Darauf soll Josua sich verlassen.<br />
Das Volk steht kurz vor der Überschreitung des Jordan. „Mach dich auf und zieh mit dem<br />
ganzen Volk durch den Jordan!“ – so lautet der Auftrag Gottes an Josua. Das ist leichter gesagt<br />
als getan. Der Jordan liegt etwa 400 Meter unter dem Meeresspiegel und ist in der tiefer<br />
gelegenen Senke ein reißender Fluss. Er ist schwer zu überschreiten – besonders in der Zeit<br />
der Schneeschmelze. Es sind weder Brücken noch Boote vorhanden. Vor allem für Menschen<br />
wie die Israeliten, die aus der Wüste kommen, ist die Überschreitung ein besonders<br />
großes Risiko. Und wie sieht es auf der anderen Seite aus? Im „gelobten Land“sind die Ka-
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<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 01.01.06<br />
naanäer. Sie werden den Israeliten keinesfalls freiwillig Land Überlassen. Sie haben sich gut<br />
und sicher eingerichtet in befestigten Städten und ihre Heere verfügen über schlagkräftige<br />
Einheiten von Streitwagen.<br />
Man wird gut verstehen, dass Josua in dieser Situation gezögert hat. Ausgerechnet er soll<br />
als neuer Führer seines Volkes den entscheidenden und zugleich kritischsten Punkt des<br />
Weges in die Freiheit meistern?!<br />
Zweierlei wird ihm beim mutigen Schritt nach vorn schließlich geholfen haben: Das eine ist<br />
sein Stehen in einer alten Glaubenstradition. Alle Israeliten lebten seinerzeit aus der starken<br />
Hoffnung: Gott wird seine Zusage an Abraham einlösen. An Mose hatte er sie erneuert;<br />
vom“Land, da Milch und Honig fließen“ war gar die Rede! Nun endlich war es so weit, das<br />
Ziel greifbar vor Augen.<br />
Das Zweite ist die aktuelle Zusage. Nur nach rückwärts zu schauen und der alten Zusage an<br />
die Erzväter zu vertrauen, wäre wohl zu wenig. Gott tut mehr: Er öffnet Josua den Blick nach<br />
vorn. „Sei getrost und unverzagt“ (dreimal steht das im Text!) „Lass dir nicht grauen und entsetze<br />
dich nicht; denn der Herr, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tust.“<br />
Das ist der Punkt, liebe Gemeinde, an dem mich der Text gerade zum Jahreswechsel anspricht.<br />
Unsere Situation ist der des Josua vergleichbar: auf der Schwelle sozusagen; der<br />
Schritt vom Alten ins Neue. Und genau wie er können und sollen wir uns dabei der Hilfe Gottes<br />
versichern. Es ist die Tradition, unsere Glaubensgeschichte, die uns Mut macht (Gott hat<br />
uns gut geleitet; seine Verheißungen sind wahr geworden), und es ist heute seine aktuelle<br />
Zusage: Habt Vertrauen! Schaut nach vorne! Wagt mutig die nächsten Schritte – denn „ich<br />
lasse euch nicht fallen und verlasse euch nicht.“<br />
Gerade jetzt zum Jahreswechsel melden sich unsere führenden Politiker zu Wort. Die letzten<br />
Jahre hieß es, das Anspruchsdenken aufzugeben und den Gürtel enger zu schnallen, diesmal<br />
werden wir zu mehr Anstrengungen für unser Land aufgefordert. Von all solchen Reden<br />
unterscheidet sich unsere Jahreslosung wohltuend. Gottes Rede an Josua (und uns!) ist weder<br />
ein Appell noch ein guter Ratschlag. Sie ist vor allem ein großes Versprechen.<br />
Gott verspricht uns viel an den Übergängen des Lebens: Er gibt und die Zusage, bei uns zu<br />
sein und uns zu halten, wenn wir zu fallen drohen; er wird uns unterstützen, wenn wir Hilfe<br />
brauchen und uns begleiten, wenn wir alleine sind. Und wir haben erfahren; das sind Zusagen,<br />
auf die wir setzten können. So wie Gott mich bis hierher geführt hat, wird er mich auch<br />
in ein neues Jahr leiten.<br />
Die Israeliten wussten nicht, was sie im neuen Land erwartet; welche Gefahren und Prüfungen<br />
vor ihnen liegen. Uns geht es da nicht viel anders:<br />
• Gesundheit wünschen wir uns vor allem zum Jahreswechsel. Aber was wird das neue<br />
Jahr schließlich bringen? Wird die Schwäche mit zunehmendem Alter mehr werden?<br />
Werde ich damit umgehen können?<br />
• Bei Jüngeren stehen andere Sorgen im Vordergrund: Was wird nach dem Schulabschluss<br />
sein? Werde ich einen Ausbildungsplatz, einen Beruf finden, der mich ausfüllt? Und die,<br />
die im Beruf stehen, wünschen sich nichts sehnlicher als die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes<br />
– so viel hängt daran: die Absicherung der Familie, die Zukunftsplanung, das eigene<br />
Selbstwertgefühl ...<br />
Gott kennt all diese „Schwellenängste“; er weiß um unser banges Schauen nach vorne. Unsere<br />
zahlreichen Wünsche wird er uns nicht erfüllen, und er wird uns auch keineswegs alle<br />
Belastungen aus dem Weg räumen. Sein Wort aber gilt: „Ich lasse dich nicht fallen und verlasse<br />
dich nicht.“<br />
In dieser Gewissheit wollen wir getrost und mutig unser „neues Land“, das Jahr <strong>2006</strong>, beschreiten.<br />
Amen
Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am 2. Sonntag nach Epiphanias<br />
15. Januar <strong>2006</strong><br />
Predigttext: 1. Korinther 2,1-10<br />
Auch ich, liebe Brüder, als ich zu euch kam, kam ich nicht mit hohen Worten und hoher<br />
Weisheit, euch das Geheimnis Gottes zu verkündigen. Denn ich hielt es für richtig, unter<br />
euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten. Und ich war bei euch in<br />
Schwachheit und in Furcht und mit großem Zittern; und mein Wort und meine Predigt geschahen<br />
nicht mit überredenden Worten menschlicher Weisheit, sondern in Erweisung des<br />
Geistes und der Kraft, damit euer Glaube nicht stehe auf Menschenweisheit, sondern auf<br />
Gottes Kraft. Wovon wir aber reden, das ist dennoch Weisheit bei den Vollkommenen; nicht<br />
eine Weisheit dieser Welt, auch nicht der Herrscher dieser Welt, die vergehen. Sondern wir<br />
reden von der Weisheit Gottes, die im Geheimnis verborgen ist, die Gott vorherbestimmt hat<br />
vor aller Zeit zu unserer Herrlichkeit, die keiner von den Herrschern dieser Welt erkannt hat;<br />
denn wenn sie die erkannt hätten, so hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt.<br />
Sondern es ist gekommen, wie geschrieben steht (Jesaja 64,3): «Was kein Auge gesehen<br />
hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet<br />
hat denen, die ihn lieben.» Uns aber hat es Gott offenbart durch seinen Geist; denn der Geist<br />
erforscht alle Dinge, auch die Tiefen der Gottheit.<br />
Liebe Gemeinde!<br />
Was ist Weisheit? Was macht einen weisen Menschen aus? Keine leichte Eingangsfrage, –<br />
mit Sicherheit keine, die mit einem Wort zu beantworten wäre. Verschiedenes kommt einem<br />
in den Sinn: Intelligenz, Klugheit gehört zur Weisheit, aber auch eine gehörige Portion Lebenserfahrung;<br />
nicht umsonst bringen wir Weisheit mit Alter in Verbindung. Die Fähigkeit,<br />
Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden rechne ich dazu, aber auch die „Weisheit des<br />
Herzens“ (echte Gefühle, Feinfühligkeit). Eine gewisse Selbstsicherheit, ein In-sich-selbst-<br />
Ruhen, das Kraft ausstrahlt gehört dazu wie auch die Fähigkeit, sich mit wenig Aufwand Gehör<br />
zu verschaffen und sich ausdrücken zu können… Würde ich jetzt unter uns eine Umfrage<br />
starten, könnten Sie wahrscheinlich noch etliche weitere Aspekte ergänzen. Weisheit ist<br />
wirklich ein komplexer Begriff!<br />
Nicht erst in unseren Tagen wird darum gerungen. Heute Morgen hören wir Paulus’ Gedanken<br />
dazu. Er richtet sie an die Gemeinde in Korinth, und er kann sich sicher sein, dass das,<br />
was er zu sagen hat, mit größter Aufmerksamkeit gehört wird. „Weisheit“ war schon seit<br />
Jahrhunderten das Lieblingswort (oder besser noch: Lieblingsthema) der Griechen. Einzelne<br />
Philosophen und ganze Philosophenschulen, Politiker und Theaterleute stritten darum, und<br />
dieser Streit war beileibe kein abstrakter und bloß akademischer. Es ging letztlich um das<br />
Wichtigste überhaupt: um eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. Die Auseinandersetzung<br />
wurde in allen Häusern geführt und ging durch alle Schichten – sogar unter<br />
Sklaven wurde sie geführt, die ja nicht selten als Lehrer der Kinder ihrer Herren Dienst taten.<br />
Auch vor den Türen der wirklich noch jungen Gemeinde in Korinth machte der Streit nicht<br />
halt. Die in den Häusern, auf den Straßen und Marktplätzen gehörten Positionen wurden in
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<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 15.01.06<br />
die Gemeindeversammlungen getragen. Nicht selten vermischten sie sich auf obskure Weise<br />
mit dem Christusglauben einzelner Gemeindeglieder. Mit der Zeit bildeten sich Parteien heraus<br />
mit rhetorisch begabten, wortgewaltigen Anführern. Die Auseinandersetzung eskalierte<br />
derart, dass die Gemeinde auseinander zu brechen drohte.<br />
Paulus, der Gemeindegründer, wird um Rat gefragt. Er muss sich zum heiklen Thema äußern;<br />
es bleibt ihm gar nichts anderes übrig. Über seine Antwort wird die Gemeinde nicht<br />
schlecht gestaunt haben. Wahrscheinlich hat jede der Parteien gehofft, durch den Mund der<br />
obersten Autorität endlich Recht zu bekommen. Aber Paulus macht ihnen allen einen Strich<br />
durch die Rechnung.<br />
Der Glaube der Christen, sagt er, beruht auf einer Weisheit ganz eigener Art, und diese<br />
Weisheit ist nicht von dieser Welt. Folglich kann von ihr auch nicht in herkömmlicher Weise<br />
gesprochen werden. Mögen die Rhetoriker auch noch so gut geschult sein und die Gelehrten<br />
auch noch so viele neue und tiefe Erkenntnisse haben, zur Weisheit der Christen werden sie<br />
so nicht finden.<br />
„Gleiches kann nur Gleiches erkennen“, sagt Paulus. Mit anderen Worten: Der menschliche<br />
Verstand kann nur das an Weisheit erkennen, was ihm entspricht. Er kann neue Erfindungen<br />
machen, technischen Fortschritt leisten, philosophische Systeme erstellen und all das am<br />
Maßstab der Logik überprüfen. An der christlichen Weisheit aber versagen diese Denkmuster,<br />
denn da kommt der Verstand an seine Grenze. Wie sollte denn die Frage nach Gott mit<br />
den Mitteln des Verstandes zu klären sein?!<br />
Paulus findet einen ganz anderen Ansatz, er zeigt einen ganz anderen Weg zur Weisheit<br />
auf. „Ich kam nicht mit hohen Worten, nicht mit hoher Weisheit, euch das Wort Gottes zu<br />
verkündigen“, schreibt er. Nicht als Rhetoriker, nicht mit Überredungskunst will er auftreten,<br />
sondern in „Schwachheit“ (Vers 3); das meint: Ohne Fassade, ohne eine Rolle zu spielen,<br />
sondern so, wie er eben ist. Zudem mit „Furcht und Zittern“, was nicht meint, dass er Angst<br />
gehabt hätte vor den Korinthern. Vielmehr ist damit die Treue zu seinem Auftrag gemeint, die<br />
Verbindlichkeit, die er eingegangen ist – mir Ehrfurcht vor Gott und höchster Anspannung, ob<br />
er seiner Aufgabe gerecht wird.<br />
Bei seinem neuen Ansatz geht es Paulus gar nicht darum, alle menschliche Weisheit zu verteufeln.<br />
Ebenso wenig will er alles Reden über Gott verbieten (schließlich ist er selbst ein<br />
bedeutender Theologe und Prediger!). Er will nur die Grenze solchen Denkens und Redens<br />
aufzeigen: Die Sinn-Frage ist so nicht zu lösen. Erlösung wird keiner auf diese Weise finden.<br />
Auch der brillanteste Denker findet nicht allein aus sich heraus den Weg zu Gott.<br />
Die eigenen Grenzen erkennen, zu den eigenen Schwächen stehen, Furcht und Zittern zuzulassen<br />
… das ist der Weg des Paulus. „Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig“, schreibt<br />
er wenig später und erinnert damit an Erfahrungen, die er selber gemacht hat. Unser Gott ist<br />
in den Schwachen mächtig, weil er selbst die Schwäche am Kreuz durchlitten hat. Darüber<br />
lässt sich nur schwer reden; es lässt sich schon gar nicht logisch beweisen. Das lässt sich<br />
nur im eigenen Leben erfahren, dass im gekreuzigten Christus eine Kraft steckt, die hilft und<br />
rettet. Insofern hat Gott auch ein ganz eigenes Wort für solches Reden über Gottes Weisheit:<br />
„martyrein“ – ein griechisches Wort, aber sie hören schon: da klingt das uns bekannte Wort<br />
„Märtyrer“ an, zu deutsch: Zeugnis ablegen. Nur so lässt sich also angemessen von der<br />
Christus-Weisheit sprechen: dass man etwas über sich sagt; darüber, was Gott und Glaube<br />
im eigenen Leben bewirkt hat, wo Fehler und Schwächen überwunden, ja verwandelt wurden<br />
in Lebensmut und -kraft; das ist martyrein (Zeugnis ablegen).<br />
„Dann steht euer Glaube nicht auf menschlicher Weisheit, sondern auf Gottes Kraft“ (Vers 5),<br />
sagt Paulus. Es wird euch dazu führen, eigene Möglichkeiten und Fähigkeiten auch dort zu<br />
finden, wo ihr euch schwach fühlt. Wenn ihr den Versuch wagt, eurem je eigenen Auftrag<br />
Gottes zu entsprechen, werdet ihr euren Lebenssinn finden – vielleicht sogar im Scheitern<br />
wie Jesus am Kreuz.
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Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 15.01.06<br />
Den Lebenssinn finden, vielleicht sogar im Scheitern … ist das noch zu verstehen? Nach<br />
dem Maßstab der Weisheit dieser Welt sicher nicht, wohl aber nach Gottes Weisheit. Für<br />
diese Welt war der Gott am Kreuz nicht mehr als ein gescheiterter, entthronter Gott. Erst der<br />
Glaube erkennt ihn neu und anders: als den sich opfernden und in der Auferstehung siegreichen<br />
Gott.<br />
Den Lebenssinn finden – also durch das Scheitern hindurch … Manche haben es uns vorgelebt.<br />
In diesen Tagen werden wir häufig an Dietrich Bonhoeffer erinnert, sein Geburtstag jährt<br />
sich zum hundertsten Mal. Nach dem Maßstab dieser Welt ist er in seinem Widerstand gegen<br />
die Hitler-Diktatur im Dritten Reich gescheitert, als er hingerichtet wurde. An Gottes<br />
Weisheit gemessen tritt anderes hervor: der im Glauben gefundene und gelebte Sinn, das<br />
Martyrein, die Gotteskraft. Aber wir sollten uns nicht zu sehr auf Beispiele wie Bonhoeffer<br />
fixieren. Das erweckt zu sehr den Eindruck, nur wenige Große und Berühmte könnten solches<br />
leisten. Genau das Gegenteil ist der Fall: Der Gott am Kreuz verlangt nicht das große<br />
Lebenswerk; er will nicht den „Macher“ und „Manager“ in Glaubensfragen, nicht den „Superstar“.<br />
Er will uns – einen jeden mit seinen Fehlern, Defiziten und Lasten, jeden, der – wie<br />
Paulus von sich sagt: „Ich komme nicht mit großen Worten und hoher Weisheit, sondern mit<br />
Schwachheit, Furcht und Zittern.“ Das entspricht dem Gott am Kreuz; das ist der Boden, auf<br />
dem Gottes Weisheit wurzeln und Früchte tragen kann. An solchen wird sich die Verheißung<br />
erfüllen (Vers 9): „Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und was in keines Menschen<br />
Herz gekommen ist, das hat Gott bereitet denen, die ihn lieben.“<br />
Amen.
Evangelisch-Lutherische<br />
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in der<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am 4. Sonntag nach Epiphanias<br />
29. Januar <strong>2006</strong><br />
Predigttext: Epheser 1,15-20a<br />
Der Apostel schreibt: Darum auch ich, nachdem ich gehört habe von dem Glauben bei euch<br />
an den Herrn Jesus und von eurer Liebe zu allen Heiligen, höre ich nicht auf, zu danken für<br />
euch, und gedenke euer in meinem Gebet, dass der Gott unseres Herrn Jesus Christus, der<br />
Vater der Herrlichkeit, euch gebe den Geist der Weisheit und der Offenbarung, ihn zu erkennen.<br />
Und er gebe euch erleuchtete Augen des Herzens, damit ihr erkennt, zu welcher Hoffnung<br />
ihr von ihm berufen seid, wie reich die Herrlichkeit seines Erbes für die Heiligen ist und<br />
wie überschwänglich groß seine Kraft an uns, die wir glauben, weil die Macht seiner Stärke<br />
bei uns wirksam wurde, mit der er in Christus gewirkt hat.<br />
Liebe Gemeinde!<br />
Vielleicht erinnern Sie das aus Ihrer Schulzeit und die Konfirmanden können das vielleicht<br />
aus ihrer Erfahrung bestätigen: Es hatten die Lehrer bei uns sofort einen Stein im Brett, die<br />
sich „richtig“ einführten. „Richtig“ – das heißt: nicht mit Strenge, nicht mit Kritik, nicht mit<br />
Verweis auf unsere Defizite, sondern im Gegenteil: mit Lob, mit Vorfreude auf den Unterricht<br />
und einer Art gespannter Erwartung auf das, was wir einbringen würden.<br />
Vielleicht war es bei manchen nur ein pädagogischer Trick, bei vielen unserer Lehrer empfanden<br />
wir das aber als echt. Und wir haben uns dann alle Mühe gegeben, den in uns gesetzten<br />
Erwartungen gerecht zu werden. Ein guter Einstieg kann wirklich die Herzen öffnen<br />
und Kräfte mobilisieren.<br />
Das weiß auch der Verfasser des Epheserbriefes. Seinen Brief an die Gemeinde beginnt er<br />
mit einem großen Gebet. In dem, wofür er Gott dankt, steckt indirekt ein Lob des Glaubens<br />
und der Liebe der Gemeinde in Ephesos. So viel Gutes ist überall von der Gemeinde zu hören!<br />
Der Briefschreiber kann sich sicher sein: die Aufmerksamkeit der Adressaten ist geweckt.<br />
Das Lob stärkt sie, baut auf; sie werden empfänglich sein für das, was er ihnen zu<br />
sagen hat. Das beginnt mit dem zweiten Gebetsteil, der Fürbitte. Direkt ist Gott angesprochen,<br />
indirekt aber die Gemeinde – und sie wird es richtig verstanden haben.<br />
Unter den vielen Bitten fällt eine besonders ins Auge, so gewichtig und so schön formuliert,<br />
dass sie regelrecht Geschichte gemacht hat: Der Briefschreiber bittet für die Christen um „erleuchtete<br />
Augen des Herzens“. – Was ist darunter zu verstehen?<br />
Vielen wird auf Anhieb „der kleine Prinz“ von Saint-Exupéry in den Sinn kommen. Darin sagt<br />
der schlaue Fuchs in seinen Abschiedsworten zum kleinen Prinzen: „ Hier ist mein Geheimnis.<br />
Es ist ganz einfach: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen<br />
unsichtbar.“ Und der kleine Prinz wiederholt es noch einmal, um es sich zu merken.<br />
Ist es das, was der Verfasser des Epheserbriefes meint? Ja und nein. Natürlich gehört es<br />
zum Christsein dazu, „mit dem Herzen zu sehen“. Das meint: sich nicht zufrieden zu geben<br />
mit dem ersten Eindruck, der doch allzu oft täuscht. Menschen nicht vorschnell und nur nach<br />
ihrem Äußeren zu beurteilen; Menschen nicht vorzuverurteilen und in Schubladen zu ste-
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Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 29.01.06<br />
cken..., sondern vielmehr hinter die Fassade zu schauen und einen Eindruck davon zu gewinnen,<br />
wer dieser Mensch wirklich ist.<br />
• Wie oft sind wir erschrocken vor den grimmigen Gesichtern, denen wir begegnen und<br />
schnell wenden wir uns ab. Würden wir näher hinschauen mit den „Augen des Herzens“,<br />
würden wir die Ursachen für die Verbitterung sehen oder auch erkennen, dass das grimmige<br />
Gesicht nur die Maske ist für ganz viel Unsicherheit oder auch Angst.<br />
• Ähnlich verhält es sich mit Stolz und Arroganz. Keiner mag sich mit arroganten Menschen<br />
auseinandersetzten. Wer es aber wagt, wird merken: ganz oft verbirgt sich hinter der Arroganz<br />
ein sehr einsamer, ängstlicher Mensch.<br />
• Auch die Obdachlosen kommen mir in den Sinn. Mit einem scheuen Blick hasten wir an<br />
ihnen vorbei. Schmutzige Kleider, strenger Geruch, Krankheiten... das ist allzu abstoßend.<br />
Die „Augen des Herzens“ aber schauen durch die abstoßende Oberfläche hindurch. Sie<br />
sehen den Menschen dahinter mit seiner ganz eigenen verzweifelten Lebensgeschichte;<br />
vielleicht dringen sie sogar noch weiter vor und erkennen den Menschen, wie Gott ihn<br />
gewollt hat.<br />
Viele weitere Beispiele ließen sich anführen. Wir sehen: mit den erleuchteten Augen des<br />
Herzens erkennen, ist keine Sache nur des Scharfsinns und der Intelligenz. Vielmehr umfasst<br />
es Gemüt und Intellekt. Dem „Herzen“ (also den Gefühlen, der Liebe) kommt dabei eine<br />
besondere Rolle zu: Es korrigiert den Verstand, weil es andere Ebenen erreicht und andere<br />
Maßstäbe anlegt. Nach Liebe und Menschlichkeit zu urteilen ist etwas anderes als ein Einteilen<br />
nach logischen Kriterien. Wer mit „erleuchteten Herzensaugen“ sieht, sieht mehr und<br />
sieht anders: im Zerbrochenen das Heile, im Schwachen die Kraft...<br />
Eine Gemeinde, die das erfasst hat, hat schon viel erreicht. Da wird es weniger finstere Gesichter<br />
geben, weniger Rechthaberei und Besserwisserei; da wird man sich nicht abschotten<br />
gegen eine „feindliche“ Umwelt, sondern hell und einladend sein, anderen freundlich und erfreut<br />
gegenübertreten und man wird von dieser Grundhaltung her viel leisten können für die,<br />
die Hilfe brauchen.<br />
Mit solchen, die mit dem Herzen gut sehen, ist schon viel erreicht. Aber das, was der Epheserbrief<br />
mit den „erleuchteten Augen des Herzens“ meint, geht darüber hinaus.<br />
Vielleicht gehören Sie auch zu den Lesern der Herrnhuter Losungen. Darin stand gestern ein<br />
schwieriger Vers als Tageslosung: „Das aber ist das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen<br />
ist“ (Joh. 3,19). Das kann nur verstehen, wer das Johannesevangelium als Ganzes<br />
in den Blick nimmt. Für Johannes ist das Gericht nicht erst das große Ereignis am Ende aller<br />
Zeit. Vielmehr nimmt es seinen Anfang in dem Moment, wo Gottes Sohn zur Welt kommt.<br />
Jesus Christus ist das Licht. Und „Gericht“ ereignet sich dort, wo dieses Licht auf ein bestimmtes<br />
Leben fällt, es offen legt, es durchleuchtet, es hell macht.<br />
Die „erleuchteten Augen des Herzens“ sind von diesem Licht erfasst. Wenn der Verfasser<br />
des Epheserbriefes darum bittet, weiß er, was das heißt: Selbsterkenntnis. Wer von diesem<br />
Licht erfasst ist, wird sein Leben – im wahrsten Sinne des Wortes – in „neuem Licht“ sehen.<br />
Da sind Fehler und Versäumnisse schonungslos aufgedeckt (das ist das „Gericht“!); das<br />
kann zu Gewissensbissen, Selbstzerknirschung, vielleicht sogar zur Verzweiflung führen;<br />
das ist wirklich eine Art „Sterben“.<br />
Dann aber auch das Andere: Das Wiederauferstehen. Das Licht, heißt es im Epheserbrief,<br />
„lässt euch erkennen, zu welcher Hoffnung ihr durch Jesus Christus berufen seid und welchen<br />
Reichtum er (euch) den Heiligen beschieden hat...“<br />
Jetzt sehen wir, um was es tatsächlich bei den „erleuchteten Augen des Herzens“ geht: Das<br />
ist doch weit mehr, als die Aufforderung zu mehr Mitmenschlichkeit! Es geht um ein ganz<br />
neues Leben. Derart neu, dass es wirklich keiner selbst „machen“ kann. Das muss tatsächlich<br />
von Gott erbeten sein; da ist die Fürbitte wirklich der richtige Weg. „Gott gebe euch den<br />
Geist der Weisheit und der Offenbarung“, „die überschwängliche Größe seiner Kraft“, „die<br />
Macht seiner Stärke“ ... der Apostel ringt regelrecht um große Worte: wie soll er nur das Ü-<br />
berwältigende des neuen Lebens ausdrücken?!
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Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 29.01.06<br />
Er findet es schließlich in der Anrede. „Heilige“ nennt er die Adressaten. Wir müssen schwer<br />
schlucken, wenn wir das lesen, und den Ephesern wird es nicht viel anders gegangen sein.<br />
Werden wir mit unserem jetzigen „christlichen“ Leben einem derartigen Titel auch nur annähernd<br />
gerecht?! Der Apostel antwortet mit einem klaren Ja, denn nicht die Anzahl oder die<br />
Qualität guter Taten entscheidet über unseren Status, sondern allein das von Gott geschenkte<br />
Licht. Wer sich von ihm hat erfassen lassen, der hat das neue Leben in Jesus Christus;<br />
dem ist Heiligkeit geschenkt.<br />
Liebe Gemeinde, Weihnachten liegt jetzt schon über einen Monat zurück. Das Kerzenlicht<br />
der Weihnachtszimmer spiegelt sich nicht mehr in unseren Augen. Aber das Epiphanias-<br />
Licht ist da – das Licht, das der Welt einen neuen Schein gegeben hat. Darum geht es heute<br />
Morgen: Mit den erleuchteten Augen des Herzens können wir in diesem Licht die Welt sehen<br />
als Welt Gottes – jenseits aller Weihnachtsseligkeit.<br />
Amen.
Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
in der<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am Sonntag Septuagesimä<br />
12. Februar <strong>2006</strong><br />
.<br />
Liebe Gemeinde!<br />
Jeder von uns braucht ein Selbstwertgefühl. Wer das nicht hat, der kann nichts geben; weder<br />
die Familie noch der Freundeskreis können viel von ihm erwarten. Das Schlimmste aber:<br />
Wer kein Selbstwertgefühl hat, der ist schon für sich allein kaum lebensfähig. Er wird Mühe<br />
haben, Partnerschaften aufzubauen, im Beruf Profil und Leistung zu zeigen, ja schon im alltäglichen<br />
Leben, sich und seine Interessen zu vertreten. Wer kein Selbstwertgefühl hat, wird<br />
auch von anderen nicht wert geschätzt. So viel ist sicher, so dreht sich die Welt. Die Frage<br />
ist nur: Worauf gründe ich mein Selbstwertgefühl; worauf gründe ich mein Leben? Eine Frage,<br />
der nachzugehen ich Sie einladen möchte…<br />
Was kommt Ihnen in den Sinn? Erfolge im Beruf? Ein gutes finanzielles Polster? Eine gute<br />
Familie, ein treuer Freundeskreis? Ein sicheres Auftreten? Da ließe sich eine ganze Menge<br />
nennen, aber kaum haben wir eine Antwort für die nicht leichte Frage gefunden, da wird sie<br />
wieder vom Tisch gewischt. Hören wir den Predigttext von heute morgen:<br />
Predigttext: Jeremia 9,22-23<br />
So spricht der HERR: Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich<br />
nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums. Sondern wer sich rühmen<br />
will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der HERR bin,<br />
der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht<br />
der HERR.<br />
Weder unserer Weisheit, noch unseres Reichtums, noch irgendeiner Art von Stärke dürfen<br />
wir uns rühmen, sagt der Prophet und gibt mit diesen Worten eine Weisheit wieder, zu der zu<br />
finden sein Volk viele (und vor allem) leidgeprägte Jahre gebraucht hat. Was für das Volk<br />
gilt, gilt in gleicher Weise für den einzelnen. Es braucht Jahrzehnte an Lebenszeit und das<br />
Durchstehen mancher Krisen bis man erkennt: Weder Weisheit noch Reichtum, noch irgendeine<br />
Stärke bietet einen verlässlichen Grund für mein Selbstwertgefühl, für mein Leben.<br />
‣ Wie schnell machen wir Fehler und müssen erkennen, wie lückenhaft und fadenscheinig<br />
unser Wissen ist!<br />
‣ Wie schnell verlieren manche ihren Beruf und damit ihre finanzielle Grundlage!<br />
‣ Wie schnell geht im Alter oder bei Krankheit eine Stärke verloren, auf die man stolz und<br />
dank der man von anderen besonders geachtet war!<br />
Und wieder müssen wir sagen: was für den einzelnen gilt, gilt auch für ganze Völker und Kulturen:<br />
Mit Entsetzen haben wir gestern am Bildschirm mitverfolgt, wie im Iran der „Tag der<br />
Atompolitik“ gefeiert wurde. Hat die Geschichte nicht hinreichend gezeigt, wie gefährlich ein<br />
Sich Rühmen auf das Wissen sein kann?! Einstieg in die Atompolitik bedeutet ja nicht nur<br />
mehr Energie, sondern auch – zumal in den falschen Händen – erhöhte Kriegsgefahr, Massen-<br />
oder sogar Weltvernichtung. Oder denken wir an die Gentechnologie: Die Begeisterung
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Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 12.02.06<br />
über die großen wissenschaftlichen Fortschritte lässt die mahnenden Worte der Kritiker nicht<br />
durchkommen. Wohin die rasant zunehmenden Freilandversuche führen, kann heute keiner<br />
sagen. In jedem Fall verändern sie in kürzester Zeit unseren empfindlichen Naturkreislauf.<br />
Jahrmillionen hat es gebraucht, dass er sich entwickeln konnte. Jetzt besteht die reale Gefahr,<br />
dass er zerbricht, denn eine plötzliche, einschneidende Veränderung an nur einem<br />
Glied kann eine lange Serie von Kettenreaktionen zur Folge haben. Da ist nicht weniger als<br />
unsere gesamte Lebensgrundlage in Gefahr!<br />
Wir sind so stolz auf den Fortschritt, auf die Leistungen menschlichen Wissens, aber wenn<br />
wir an die Folgen denken, wird uns angst und bange. Goethes Zauberlehrling kommt uns in<br />
den Sinn. Wir wissen nicht mehr, wie wir der Geister Herr werden sollen, die wir gerufen haben.<br />
Und je mehr wir darüber nachdenken, desto besser verstehen wir die energische Warnung<br />
des Propheten: Rühmt euch nicht menschlicher Weisheit, eures Reichtums, eurer Stärken!<br />
Das kann keine Lebensgrundlage sein, das darf euer Selbstwertgefühl nicht bestimmen!<br />
Ja – aber was dann, fragen wir. Wir haben doch eingangs gehört, wie wichtig das Selbstwertgefühl<br />
ist. Was bleibt denn, wenn all das, woran wir so viel Mühe und Energie verwenden,<br />
dafür nicht taugt?!<br />
Der Prophet antwortet wiederum mit drei Worten: Rühme dich der Barmherzigkeit, des<br />
Rechts und der Gerechtigkeit Gottes! Dieses Sich Rühmen ist heute kaum noch verständlich.<br />
Luther übersetzt es so für seine Zeit. Das hebräische Wort an dieser Stelle kann aber gleichermaßen<br />
mit „vertrauen“, „sich verlassen auf“ übersetzt werden. Das macht es viel leichter,<br />
den Gegenentwurf zu verstehen. Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit, auf Gottes Recht<br />
und seine Gerechtigkeit! Merken Sie, welche Befreiung, welche erlösende Kraft in diesen<br />
Worten steckt?!<br />
Es kommt nicht mehr darauf an, wie gut wir in der Schule sind, wie schnell wir die Karriereleiter<br />
emporklettern, wie dick unser finanzielles Polster ist, wie stark, wie schön, wie imposant<br />
wir sind. Nichts ist davon so wichtig, dass es über unseren Wert entscheidet. In einer Welt, in<br />
der es keine absoluten Sicherheiten gibt und geben kann, in einer solchen Welt bietet Gott<br />
sich uns als der einzig Verlässliche, das einzig Beständige, als der unbeirrbar Treue.<br />
Gott fragt nicht danach, ob einer mehr oder weniger weise ist, mehr oder weniger stark, mehr<br />
oder weniger reich. Er fragt nach all dem nicht, was hier auf dieser Erde und unter uns Menschen<br />
so wichtig ist und die Wertmaßstäbe setzt.<br />
Seine Gerechtigkeit heißt Erbarmen – und das bedeutet: Jeder Mensch ist ihm wichtig und<br />
wert, unabhängig von seinen Leistungen, Qualitäten und Erfolgen. Zu diesem Gott darf jeder<br />
von uns kommen, in seinem Elend, seiner Bedürftigkeit, seiner Not. Er darf alle seine Sorgen<br />
auf ihn werfen und er darf wissen: Ich bin wertvoll, ich bin geliebt und ich bin angenommen,<br />
so wie ich bin. Ich brauche mein Leben nicht gering zu schätzen, auch wenn ich in vielem<br />
nicht so tüchtig, nicht so stark und leistungsfähig wie andere bin. Ich bin wertvoll bei Gott und<br />
darum darf ich es auch bei mir selber sein. Das ist die neue und ganz andere Grundlage für<br />
ein Selbstwertgefühl, das sich von Gott her und nicht vom Menschen her definiert.<br />
Dein Taufwort, Christine, nimmt eines der drei Prophetenworte auf (das erste, das Luther mit<br />
„Barmherzigkeit“ oder auch „Gnade“ übersetzt) und beschreibt Gott, den unbeirrbar Treuen,<br />
in einem Bild: „Deine Gnade reicht so weit der Himmel ist, und deine Treue, so weit die Wolken<br />
gehen“ (Psalm 108,5). Mit anderen Worten: Sie ist unendlich, sie hat keine Grenze. Gott<br />
wird dich lieben – so wie du bist – in alle Ewigkeit.<br />
Dein Taufwort, Justus, baut darauf auf (es ist wie eine Art Kommentar dazu): „Lobe den Herren,<br />
meine Seele, und vergiss nicht, was er dir gutes getan hat: der dir alle deine Sünde vergibt<br />
und heilet alle deine Gebrechen“ (Psalm 103,2+3).<br />
In der Tat, so wird Gottes Gnade und Barmherzigkeit konkret: in der Vergebung etwa, an den<br />
Punkten, an die wir kaum rühren möchten, die anzusprechen uns auch untereinander<br />
schwerfällt. Wie dürfen dennoch frei und gelöst weiterleben, denn unser Selbstwertgefühl<br />
sagt: Gottes Gnade umschließt sogar das. Er vergibt mir auch das ganz Schwere – einfach,<br />
weil er mich liebt.
Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 12.02.06<br />
Lillys Taufspruch schließlich kann ich wie eine Zusammenfassung, wie ein Resümee des<br />
Gesagten lesen: „Gottes Wort ist wahrhaftig und was er zusagt, hält er gewiss“ (Psalm 33,4).<br />
Möge sich für Lilly und für uns alle die tiefe Wahrheit dieses Wortes erschließen und ein<br />
Selbstwertgefühl in uns stiften, das – im besten Sinne des Wortes – nicht von dieser Welt ist.<br />
Amen
Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
in der<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am Sonntag Oculi<br />
19. März <strong>2006</strong><br />
Predigttext: 1. Petrus 1,13-21<br />
Darum umgürtet die Lenden eures Gemüts, seid nüchtern und setzt eure Hoffnung ganz auf<br />
die Gnade, die euch angeboten wird in der Offenbarung Jesu Christi. Als gehorsame Kinder<br />
gebt euch nicht den Begierden hin, denen ihr früher in der Zeit eurer Unwissenheit dientet;<br />
sondern wie der, der euch berufen hat, heilig ist, sollt auch ihr heilig sein in eurem ganzen<br />
Wandel. Denn es steht geschrieben (3. Mose 19,2): «Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig.»<br />
Und da ihr den als Vater anruft, der ohne Ansehen der Person einen jeden richtet nach seinem<br />
Werk, so führt euer Leben, solange ihr hier in der Fremde weilt, in Gottesfurcht; denn<br />
ihr wisst, dass ihr nicht mit vergänglichem Silber oder Gold erlöst seid von eurem nichtigen<br />
Wandel nach der Väter Weise, sondern mit dem teuren Blut Christi als eines unschuldigen<br />
und unbefleckten Lammes. Er ist zwar zuvor ausersehen, ehe der Welt Grund gelegt wurde,<br />
aber offenbart am Ende der Zeiten um euretwillen, die ihr durch ihn glaubt an Gott, der ihn<br />
auferweckt hat von den Toten und ihm die Herrlichkeit gegeben, damit ihr Glauben und Hoffnung<br />
zu Gott habt.<br />
Liebe Gemeinde!<br />
Wie lebt man als Christ? – Die Frage klingt im ersten Moment banal, aber wer versucht eine<br />
Antwort zu geben, wird schnell merken, wie schwierig sie tatsächlich ist. Eine umfassende<br />
Antwort zu geben, wird kaum jemandem gelingen, aber vielleicht lassen sich ja wenigstens<br />
ein paar wichtige Aspekte nennen.<br />
Heute Morgen sehen wir Petrus mit dieser Frage konfrontiert. Er schreibt einen Brief an<br />
Christen in einer ausgesprochen schwierigen Situation. In den römischen Provinzen Kleinasiens<br />
leben sie als kleine angefeindete Minderheit. Sie sind Verfolgungen ausgesetzt, vor<br />
allem, weil sie sich standhaft weigern, die staatlichen Götter anzubeten. Aber diese Entschiedenheit<br />
beginnt zu bröckeln. Es ist kein geistlicher Führer da, und der Druck von außen wird<br />
immer stärker und bedrohlicher.<br />
Petrus muss also vieles in seinem Brief zusammenbringen: Er will trösten und stärken, muss<br />
aber auch mit gewisser Strenge ermahnen. Die Frage „Wie lebt man als Christ?“ ist hier sozusagen<br />
unter verschärften Bedingungen zu beantworten.<br />
Erst einmal setzt er klein an. „Umgürtet eure Lenden“, schreibt er. Für unsere Ohren klingt<br />
das ausgesprochen fremd. Es heißt aber nur:“Kommt in Bewegung! Seid zum Aufbruch bereit!“<br />
Gar nicht so fremd für die Christen damals. Denn sie erinnerten sich sofort an den Auszug<br />
des Volkes Israel aus der Sklaverei in die Freiheit. Die Aufforderung zum Weg in die<br />
Freiheit begann mit diesen Worten. Petrus aber benutzt sie im übertragenen Sinn: „Umgürtet<br />
die Lenden eures Gemüts“, sagt er und meint damit: Geht in eurem Denken und Fühlen<br />
neue Wege, die von der Masse nicht begangen werden. Die nötige Stärke habt ihr, denn ihr<br />
seid schon frei – „freigekauft“ durch Jesus Christus. Sein Leiden, sein Tod hat euch die neuen<br />
Wege zu Gott freigelegt.<br />
Die Frage “Wie lebt man als Christ?“ ist damit aber noch lange nicht beantwortet. Wenn Sie<br />
jemanden nach dem Weg fragen, wird es Ihnen nicht viel helfen, wenn der Gefragte nur fröh-
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Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 19.03.06<br />
lich bestätigt, es gäbe einen wunderbaren Weg und sich dann abwendet. Wir brauchen auch<br />
eine Wegbeschreibung; bei schwierigen Wegen möglichst Schritt für Schritt.<br />
Über den ersten von Petrus genannten Schritt wollte ich erst gar nicht predigen, jedenfalls<br />
nicht heute Morgen. „Seid nüchtern und wachsam“ – das knüpft allzu sehr an die damalige<br />
Endzeiterwartung an; das passt besser ans Ende des Kirchenjahres. Es lässt sich aber auch<br />
sehr viel schlichter übersetzen. „Seid aufmerksam!“ und in dieser schlichten Form finde ich<br />
es ausgesprochen aktuell. Zudem sagt es etwas aus zu der Frage: Wie lebt man als Christ?<br />
In einem Artikel über „Manieren“ aus dem Oktober 2003 lese ich: „Die Aufmerksamkeit ist<br />
keine Regel, die man einhält oder verletzt; sie gehört vielmehr zum Fundament der Person.<br />
Aufmerksamkeit ist eine Grundhaltung des Menschen gegenüber der Welt.“ Das klingt gut<br />
und richtig. Aber das, was hier so optimistisch dem Grundwesen des Menschen zugesprochen<br />
wird, ist doch eher Theorie. Einen aufmerksamen Menschen nennen wir auch einen<br />
„höflichen“ oder zumindest einen, de sich nicht selber im Blick hat, sondern mindestens<br />
ebenso sehr die anderen. Ein Aufmerksamer hat ein Auge für die, die ihm begegnen. Es gibt<br />
für ihn keine unwichtigen Menschen, keine unwichtigen Beobachtungen. Auch was jeweils<br />
vernachlässigt werden kann, muss zunächst einmal wahrgenommen werden.<br />
Vielleicht merken Sie schon, worauf ich hinaus will: Der in diesem Sinne „aufmerksame“<br />
Mensch wird immer seltener. Allzu viele sind allzu sehr mit sich und den eigenen Problemen<br />
beschäftigt. Immer mehr geraten ganz aus dem Blickfeld. Im Blick auf die alten Menschen ist<br />
die Klage nicht neu. Es leben so viele krank, abgeschieden, einsam. Wenn sie sterben,<br />
fehlen sie niemandem, ja es fällt nicht einmal auf, dass sie nicht mehr da sind. Oft werden<br />
sie erst nach Monaten oder Jahren gefunden. Aber das Problem hat sich verschärft. Es<br />
häufen sich die Meldungen von verwahrlosten, vereinsamten, zu Tode gekommenen<br />
Kindern. Es sind die Schwächsten, die es trifft. Es geht um die, die lebensnotwendig auf die<br />
Aufmerksamkeit der anderen angewiesen sind. Wenn diese Aufmerksamkeit – so traurig es<br />
ist! – als menschlicher Grundzug nicht mehr einfach vorausgesetzt werden kann, muss sie<br />
neu gefunden werden – als notwendiger Schritt von uns als Christen auf unserem Weg. Aufmerksam<br />
sein ist eine erste Antwort auf die Frage „Wie lebt man als Christ?“<br />
„Wandelt als Heilige“, fährt Petrus fort. Wiederum schwer verständlich. Mancher wird sich<br />
gleich überfordert fühlen. Selbst wenn man nicht sofort die Heiligen assoziiert, die von der<br />
katholischen Kirche nach sorgfältiger Überprüfung ihres gesamten Lebens dazu ernannt<br />
werden. Vorbildlicher Lebenswandel, das Einhalten der Gebote wenigstens sollte doch dazu<br />
gehören. Wer hielte so einer Prüfung stand?!<br />
Petrus hat da ein anderes Verständnis. Er knüpft an Paulus an. Für ihn sind die „heilig“, die<br />
sich zum Glauben an den einen Gott bekennen und aus diesem Glauben leben. Das allein<br />
ändert so viel, dass es ein besonderes Attribut rechtfertigt: „heilig“.<br />
Lassen Sie es mich an einem Beispiel verdeutlichen. Die meisten von Ihnen werden schon<br />
mal von dem Dichter und Schriftsteller Oscar Wilde gehört haben. Als Genussmensch ist er<br />
bekannt, als einer, der im Übermaß alles mitnehmen wollte, was das Leben zu bieten hatte.<br />
Was weniger bekannt ist, ist sein Lebensende. Er wurde nur 46 Jahre alt und starb im Gefängnis.<br />
Kurz vor seinem Tod fand er zum Glauben, und die Briefe, die er in diesem Zusammenhang<br />
aus dem Gefängnis schrieb, gehören zum tiefsinnigsten Teil seines umfangreichen<br />
Werkes. In einem Brief an einen Freund etwa vergleicht er rückblickend sein Leben mit<br />
einem Gang durch einen Garten. Viele Bäume gab es da, schreibt er, aber sein Fehler sei es<br />
gewesen, sich ausschließlich den Bäumen zuzuwenden, die auf der Sonnenseite des<br />
Gartens standen. Ihre Früchte habe er genossen. Die auf der Schattenseite aber habe er gemieden.<br />
„Versagen, Schande, Armut, Leid, Verzweiflung, Schmerzen, selbst Tränen, Reue,<br />
das Gewissen ... Seelenpein – vor alledem hatte ich Angst ... Ich nährte mich von Honig.<br />
Doch dieses Leben weiterzuführen, wäre falsch gewesen, denn es hätte mich zum Stillstand<br />
gebracht. Ich musste weiter. Auch der andere Teil des Gartens barg Geheimnisse für mich.“<br />
Das würde ich unserer Tage gern manch einem ins Stammbuch schreiben. Allzu sehr wird<br />
uns vorgegaukelt, der Lebenssinn bestünde darin, die schönsten Früchte zu pflücken und<br />
sich von Honig zu ernähren (um es mit Oscar Wilde zu sagen). Aber wer das Leben nur als
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Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 19.03.06<br />
süßes kennt und will, wird bei Krisen und Belastungen untergehen. Wer nur Parties, Musik,<br />
die neuesten Moden kennt, hat kein Fundament, sich den Schattenseiten des eigenen<br />
Lebens zu stellen; geschweige denn Aufmerksamkeit aufzubringen für das, was andere zu<br />
tragen haben.<br />
„Wandelt als Heilige!“ sagt Petrus. Damit erinnert uns daran, dass wir ein anderes<br />
Fundament haben. Wer weiß, dass Gott mit ihm ist, kann sich getrost den Belastungsproben<br />
stellen. Er kann sich auch auf die dunklen Wegstrecken wagen. „Geheimnisse“ nennt Oscar<br />
Wilde das, was er dort fand. Überraschend wird es in jedem Fall sein – immer wieder überraschend<br />
auch für den, der schon längst im Glauben lebt. Denn dass mir Kraft zuwächst, gerade<br />
dann, wenn ich ganz am Ende bin, das bleibt überraschend. Das wird immer wieder als<br />
Wunder erlebt.<br />
Die Christen damals in Kleinasien wurden verfolgt, ja gehasst – allein ihres Andersseins<br />
wegen. Ihr gelebter Glaube stellte das in Frage, was alle so selbstverständlich lebten.<br />
Genau das wünsche ich mir für heute; dass wir als Christen in unserer Art zu glauben und zu<br />
leben so auffällig sind, dass Missstände wie soziale Kälte, Teilnahmslosigkeit, Oberflächlichkeit<br />
fragwürdig werden. Möge uns die Freiheit, die Christus uns geschenkt hat, stark und mutig<br />
machen, dass wir zu Wegweisern für viele werden.<br />
Amen.
Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
in der<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am Sonntag Judika<br />
2. April <strong>2006</strong><br />
Predigttext: 4. Mose 21,4-9<br />
Da brachen die Israeliten auf von dem Berge Hor in Richtung auf das Schilfmeer, um das<br />
Land der Edomiter zu umgehen. Und das Volk wurde verdrossen auf dem Wege und redete<br />
wider Gott und wider Mose: Warum hast du uns aus Ägypten geführt, dass wir sterben in der<br />
Wüste? Denn es ist kein Brot noch Wasser hier, und uns ekelt vor dieser mageren Speise.<br />
Da sandte der HERR feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk, dass viele aus<br />
Israel starben. Da kamen sie zu Mose und sprachen: Wir haben gesündigt, dass wir wider<br />
den HERRN und wider dich geredet haben. Bitte den HERRN, dass er die Schlangen von<br />
uns nehme. Und Mose bat für das Volk. Da sprach der HERR zu Mose: Mache dir eine eherne<br />
Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der<br />
soll leben. Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden<br />
eine Schlange biss, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.<br />
Liebe Gemeinde!<br />
Jeder von uns kennt sie: die ewigen Nörgler, die Schlechtgelaunten, die, die an allem etwas<br />
auszusetzen haben und stets der Meinung sind, dass früher sowieso alles besser war als<br />
heute. Jeder kennt sie und jeder meidet sie, soweit es geht. Denn schlechte Laune hat etwas<br />
Ansteckendes, zumindest trübt sie die Atmosphäre, manchmal vergiftet sie die Stimmung.<br />
Wer sich dem nicht rechtzeitig entzieht, wird erst zum Opfer und – einmal angesteckt –<br />
selbst zum Täter. Er stimmt ein in das Wehgeschrei oder strahlt, wenn es ihm gelingt zu<br />
schweigen, wenigstens dieselbe Düsternis aus.<br />
Heute wird uns das vom Volk Israel erzählt. Vierzig Jahre Wüstenwanderung haben die Geduld<br />
und die Kräfte aufgezehrt. Das Vertrauen in das von Gott genannte Ziel, das gelobte<br />
Land, ist geschwunden, das große Ziel verblasst. Verdrossenheit macht sich breit, das Murren<br />
wird lauter und lauter. Früher war alles besser: Die Gefangenschaft in Ägypten wird zur<br />
Zeit „an den Fleischtöpfen Ägyptens“ verklärt. Die Zukunft dagegen in düsteren Farben gemalt.<br />
Zwölf Kundschafter waren ausgeschickt worden, elf von ihnen berichten, sie hätten<br />
Riesen gesehen, in deren Augen die Israeliten nicht mehr als lästige Heuschrecken sind.<br />
Anzunehmen, dass sie sie auch entsprechend behandeln werden. Das ersehnte Ziel verblasst;<br />
an dessen Stelle tritt Angst vor der Zukunft.<br />
Ein Text, der den Nerv auch unserer Zeit trifft. Die meisten von uns erinnern sich noch gut an<br />
die Zeit der Wiedervereinigung. Groß war die Begeisterung, nicht minder groß die Pläne für<br />
die Zukunft. Die Rede von den „blühenden Landschaften“ hatte schon was vom „gelobten<br />
Land“. Aber was ist davon geblieben?! Auf einem beschwerlichen Weg sind immer mehr Hindernisse,<br />
immer neue Sorgen offenbar geworden. Die Kraft der Geduld ist bei vielen erlahmt,<br />
die Zuversicht geschwunden. Eine lahmende Wirtschaft, ein Heer von Arbeitslosen, ein marodes<br />
Gesundheits- und Rentensystem ... die Unzufriedenheit wird größer, das Murren<br />
immer lauter.<br />
Es ist so nah, so dicht, dass man sich dem kaum entziehen kann. Wie soll man damit umgehen?
Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 02.04.06<br />
Luther rät, zu erkennen, dass solch „böse und traurige Gedanken nicht von Gott sind, sondern<br />
vom Teufel.“ Am besten sei es, sie gar nicht zu beachten oder gar erforschen zu wollen;<br />
einfach an ihnen vorüberzugehen und sie „zu verachten wie das Zischen einer Gans“. Wer<br />
sie dagegen beachtet oder sogar anfängt, darüber zu diskutieren, würden sie nur reizen und<br />
stärken. Solches schreibt Luther in einem Brief an einen Freund, der über anhaltende Traurigkeit<br />
geklagt hat.<br />
Ja, wenn das denn so einfach wäre! Die eigenen üblen, traurigen Gedanken, das wehklagende<br />
Murren um einen herum einfach ignorieren „wie das Zischen einer Gans“ ... Meistens<br />
packt es uns doch, oft genug mit Gewalt, und will uns gar nicht mehr loslassen. Uns<br />
geht es wie den Israeliten: die Angst vor der Zukunft wächst (Umfragen zufolge bei uns mehr<br />
als bei all unseren Nachbarn: „die Deutschen – die Alterspessimisten Europas“ titelte eine<br />
Zeitung gestern), das ist das eine. Unser Gottvertrauen schwindet, das ist das andere, das,<br />
was viel zu selten zur Sprache kommt.<br />
Genau das aber ist das Entscheidende in unserem Bibeltext. Und wir müssen mit Erschrecken<br />
lesen, wie Gott darauf reagiert. Als alle Dankbarkeit schwindet, die Israeliten das Manna<br />
sogar, das ihnen gerade noch das Leben rettete, als „Ekelspeise“ abtun, reagiert Gott wie<br />
ein zutiefst verletzter und gekränkter Wohltäter. Er stellt stellt seine Wohltaten ein, mehr<br />
noch, er wendet sie ins Gegenteil: statt des lebenserhaltenden Manna kommen feurig giftige<br />
Schlangen, die den Tod verbreiten.<br />
Ich verstehe das als Bild. Tatsächlich ist es doch so, dass Undankbarkeit, ungerechtfertigtes<br />
Murren, Angstmacherei die Atmosphäre „vergiftet“, wie wir sagen. Beziehungen gehen kaputt<br />
– zum einen die Beziehungen der Menschen untereinander, zum anderen die Beziehung<br />
zu Gott.<br />
Der Künstler A. Paul Weber hat das im Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus sehr sinnfällig<br />
zum Ausdruck gebracht. Vielleicht kennen Sie sein Bild „Das Gerücht“ (oder allgemeiner<br />
gesagt „Gerede“, „Gemurre“). Er stellt es als eine Art feurige Schlange dar, die<br />
riesengroß und kraftvoll durch die Straßen einer Großstadt zischt. Sie wächst und nimmt an<br />
Kraft dadurch zu, dass ihr von allen Seiten Menschen zuströmen und gleichsam mit ihr<br />
verschmelzen. Die Menschen selbst sind das todbringende, giftige Ungeheuer.<br />
Die Israeliten betonen – damals wie heute – einen anderen Aspekt: Für sie ist die Schickung<br />
der Schlangen eine Strafe Gottes. Immer wieder interpretieren sie das in ihrer Geschichte<br />
erfahrene Unheil so. Ich gebe zu, dass mir diese Sicht Gottes und diese Art, die Geschichte<br />
zu verstehen, schwerfällt. Aber die jüdischen Texte sind da eindeutig. Im babylonischen Talmud<br />
etwa sagt Rabbi Jochanan: „Warum wird Israel mit einem Ölbaum verglichen? Um dir<br />
zu sagen: Wie ein Ölbaum sein Öl nicht hergibt als durch Stoßen, so kommt Israel auch nicht<br />
anders zum Guten zurück als durch Züchtigung.“<br />
Diese Züchtigung aber geschieht allein aus Liebe. Im selben Zusammenhang heißt es im<br />
Talmud von Rabbi Jehoschua: „Warum wird Israel mit einem Ölbaum verglichen? (also<br />
dieselbe Frage!) Um dir zu sagen: Wie die Blätter eines Ölbaums nicht in der Sonnenzeit und<br />
nicht in der Regenzeit abfallen, so gibt es auch für Israel kein Ende, nicht in der hiesigen<br />
Welt und nicht in der kommenden Welt.“<br />
Harte Strafe also dicht neben ewiger Liebe; Gott züchtigt sein Volk, zugleich aber erhält er es<br />
durch alle Katastrophen hindurch. In unserem Predigttext heute hat das befremdliche, magische<br />
Züge: Mose soll eine eherne Schlange aufrichten. Wer die anschaut, der wird überleben,<br />
selbst wenn er von den giftigen Schlangen gebissen wurde.<br />
Gottes Liebe also siegt über seinen Zorn. Und es ist interessant, wie er mit dem Bösen verfährt:<br />
Er macht es anschaulich und damit entmachtet er es. Den Menschen gibt er einen<br />
lebenswichtigen Rat; Wem es gelingt, das Böse anzuschauen, die Begegnung auszuhalten,<br />
der bannt es und besiegt es.<br />
Ich denke, die Erfahrung, die das Volk Israel hier in der Wüste macht, kennen die meisten<br />
von uns. Solange wir vor unseren Ängsten weglaufen, haben sie Macht über uns. Ja, je<br />
länger wir weglaufen, desto größer wird ihre Macht, eine Macht, die krank machen, auf Dau-
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Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 02.04.06<br />
er sogar tödlich sein kann. Gelingt es uns aber stehen zu bleiben, „Position zu beziehen“, der<br />
Angst ins Gesicht zu schauen und uns mit ihr auseinanderzusetzen, wird sie kleiner und<br />
kleiner. So lässt sich die Angst besiegen (im Grunde ist das, was die Psychologen lehren<br />
und praktizieren, nichts anderes).<br />
„Gott will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen.“<br />
– Dieses Wort aus dem ersten Timotheusbrief haben Sie, liebes Ehepaar O.-H., für<br />
Ihren Henri als Taufspruch ausgesucht.<br />
Ein gutes Beispiel dafür haben wir heute Morgen gehört in der Geschichte von der Heimsuchung<br />
des Volkes Israel in der Wüste. Gott will helfen, Leben retten und erhalten; so bannt er<br />
das Böse und offenbart uns den Weg dazu.<br />
Was ist denn die „Wahrheit“? Haben sie sich bei der Wahl des Taufspruches gefragt, und sie<br />
haben eine Antwort gefunden, die in die gleiche Richtung zielt. Wahrheit, sagen Sie, ist die<br />
Fähigkeit, gut und böse unterscheiden zu können und dementsprechend zu handeln. Damit<br />
haben Sie zweifelsohne Recht. Und doch geht der biblische Begriff von „Wahrheit“ noch weiter.<br />
Die Erkenntnis von gut und böse ist ein erster, ein notwendiger Schritt. Aber um handeln<br />
zu können, um Hilfe zu finden und Hilfe geben zu können, braucht man mehr als Erkenntnis,<br />
nämlich viel Kraft, Kraft, die wir im Glauben finden, also im Vertrauen auf Gottes gute Führung.<br />
Dass genau das die entscheidende Wahrheit ist, lernen die Israeliten hier auf so erschreckende<br />
und schmerzhafte Weise – ein Lernen aber, das sie fähig macht, die letzte Wüstenwegstrecke<br />
gut zu meistern und ihr gelobtes Land zu finden.<br />
Wir wünschen Henri heute, dass er diesen weiteren, tiefen Sinn von Wahrheit erfasst: dass<br />
in ihm ein lebendiger Glaube, ein gutes Gottvertrauen wächst und ihm zur Hilfe wird auf<br />
einem langen, gesegneten Lebensweg.<br />
Amen.
Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
in der<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am Sonntag Palmarum<br />
9. April <strong>2006</strong><br />
Predigttext: 4. Mose 21,4-9<br />
Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den<br />
Müden zu rechter Zeit zu reden. Alle Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger<br />
hören. Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche<br />
nicht zurück. Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen,<br />
die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. Aber<br />
Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht<br />
hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde. Er ist<br />
nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer<br />
will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will<br />
mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie Kleider zerfallen, die die Motten fressen.<br />
Liebe Gemeinde!<br />
Es ist zum Verzweifeln! Wenn einer Wichtiges (vielleicht Lebenswichtiges) zu sagen hat, a-<br />
ber keinen findet, der ihm Gehör schenkt, wenn er vielleicht immer wieder neu Anlauf nimmt,<br />
sich an immer mehr und andere Menschen wendet und doch sehen muss: Es bringt alles<br />
nichts. Da ist kein fruchtbarer Boden für meine Wahrheit. – Das ist wirklich zum Verzweifeln.<br />
Heute Morgen hören wir eines der so genannten „Gottesknechtlieder“. Jesaja spricht darin<br />
von dieser schmerzhaften Erfahrung. Sein Auftrag ist es, die Müden, Resignierten zu trösten.<br />
Die Israeliten hatten ihr Land verloren, waren mit Gewalt nach Babylon umgesiedelt worden,<br />
hatten miterleben müssen, wie sich ihre Lage immer weiter verschlechterte. Anfangs gab es<br />
noch Hoffnung auf Veränderung. Der Glaube war stark und auch die Erinnerung an das eigene<br />
gelobte Land. Aber das Hoffen und Harren über so viele Jahre hat die Israeliten müde<br />
gemacht. Hoffnungslosigkeit, Depression hat sich wie eine bleierne Decke über das Volk gebreitet.<br />
Man will nichts mehr hören, schon gar nicht die Trostworte irgendwelcher Propheten.<br />
Was hatte denn all das Reden von besseren Zeiten bisher gebracht?!<br />
Und noch einer Gruppe ist der Prophet ein Dorn im Auge. Die Mächtigen, die Profiteure der<br />
politischen Lage können keinen gebrauchen, der dem Volk Mut zuspricht. Müde und Resignierte<br />
lassen sich leicht lenken und für die eigenen Ziele einsetzen. Gelingender Trost aber<br />
weckt neue gefährliche Kräfte: ein Unruhepotential, das zu Ausschreitungen führen kann.<br />
Jesaja bekommt die Folgen der breiten Ablehnung zu spüren. Schon im zweiten Gottesknechtlied<br />
hören wir von der Erfolglosigkeit seines Wirkens; jetzt erfahren wir, dass ihm der<br />
Prozess gemacht wurde, dass er inhaftiert und gefoltert wurde. Die Wahrheit scheint es, hat<br />
keine Chance.<br />
Aber damit ist nicht das Schlusswort gesprochen. Jesaja macht weiter. Er singt sein Lied in<br />
der Zelle; er singt es aus der Zelle heraus: Gott wird die Gefangenen erlösen. Er wird euch<br />
wieder nach Hause bringen. Er selbst wird eure Resignation aufbrechen.<br />
Jesaja hat nicht viel in der Hand, womit er argumentieren könnte. Nachdem die Visionen im<br />
Volk blass und der Glaube schwach geworden ist, bleibt ihm nur eines: der Verweis auf die
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Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 09.04.06<br />
eigene Person. Er erzählt, welche Erfahrungen er selbst mit Gott gemacht hat. Und er hofft,<br />
dass sich die Israeliten dabei an die anderen Propheten ihrer Geschichte erinnern. Gott hat<br />
nicht klein beigegeben, sondern ihnen die Kraft gegeben, die sie für ihr Amt brauchten. Bis<br />
zuletzt waren sie konsequent für die Wahrheit eingetreten, und auch wenn sie zu Lebzeiten<br />
kaum Gehör fanden, gab die Geschichte ihnen Recht. Die Wahrheit setzte sich durch; Gott<br />
setzte sich durch.<br />
Interessant ist für uns vor allem, wie der Prophet die Stärkung durch Gott erfährt. Gott öffnet<br />
ihm die Sinne. Jeden Morgen weckt er ihm das Ohr, sodass er sich ihm ganz nah weiß. Gott<br />
schenkt ihm die rechten Worte, dass er auch weitergeben kann, was ihm aufgetragen ist.<br />
Und im Gefängnis hilft Gott ihm in der Folter: Er spürt Gottes Güte und Trost wie einen<br />
schützenden Mantel. Nicht einmal Schläge können ihm etwas anhaben, denn Gott macht<br />
sein Gesicht hart wie einen Kieselstein.<br />
Den meisten von uns wird so eine Erfahrung recht fremd sein. Einige aber haben genau das,<br />
was der Prophet beschreibt, am eigenen Leib erfahren. Jochen Klepper etwa notiert im April<br />
1938 in seinem Tagebuch: „Ich schrieb heute ein Morgenlied über Jesaja 50, 4 – 9; die Worte,<br />
die mir den ganzen Tag nicht aus dem Kopf gegangen sind.“ „Er weckt mich alle Morgen...“<br />
ist aber viel mehr als ein Morgenlied; es ist auch mehr als eine Neuauflage des alten<br />
Gottesknechtlieds. Im Gesangbuch steht es nicht im Kapitel „Passion“, auch nicht unter<br />
„Kreuz“ oder „Tod und Ewigkeit“. Viel eher würde ich es unter den Osterliedern einordnen,<br />
denn es spricht in vielen Bildern von der Kraft Gottes und dem Wunder neuen Lebens. Von<br />
Licht, Treue, Glück und – das vor allem – von Liebe wird gesungen (Gott, der liebende Vater,<br />
der sein Kind morgens zärtlich weckt). Eine absolut unerschütterliche Hoffnung findet ihren<br />
Ausdruck – am stärksten wohl im letzten Vers: „Sein Wort wird helle strahlen, wie dunkel<br />
auch der Tag.“ Wir werden es nachher singen.<br />
Bedenken wir, auf welchem Hintergrund dieses Lied entstanden ist! Für Jochen Klepper waren<br />
die Tage wirklich dunkel: Ganz bewusst hatte er eine Jüdin geheiratet, er hatte an seiner<br />
Liebe festgehalten, sich ganz bewusst in Widerspruch zum Nationalsozialismus gestellt. Wie<br />
Jesaja wusste er: das ist der Weg der Wahrheit; Gott ist auf meiner Seite.<br />
Er hatte einen Antrag auf Ausreise gestellt. Als aber im letzten Moment von höchster Stelle<br />
aus die Ausreisegenehmigung für ihn und seine Familie vereitelt wurde, nahm er sich mit<br />
seiner Frau und der Tochter das Leben. Überliefert ist von ihm sein letzter Satz: „Über uns<br />
steht in den letzten Stunden das Bild des segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen<br />
Anblick endet unser Leben.“<br />
Der leidende Christus am Kreuz – der segnende Christus im Angesicht des eigenen Todes.<br />
Für mich ist das kein Widerspruch. Denn unsere Hilfe im Leben und Sterben kommt nicht im<br />
Triumph. Es ist nicht die gesteigerte, die euphorische Stimmung, in der das neue Leben beginnt.<br />
Sondern mitten in der Nacht beginnt der Anfang, entsteht das Neue, „der neue Morgen“<br />
(Klepper).<br />
Gotteserfahrung an der Todesgrenze... das, was Jesaja, was Jochen Klepper, was Jesus<br />
erleben, hat von uns wohl kaum einer zu berichten. Und doch ist es uns keineswegs fremd.<br />
Ich mache das fest an den Bildern im Gottesknechtlied, an dem, was beiläufig, manchmal<br />
fast anstößig klingt: z.B. (um nur ein Beispiel aus dem Text aufzugreifen) das Gesicht „hart<br />
machen wie einen Kieselstein“. Das weckt unangenehme Assoziationen; man denkt an Gefühllosigkeit,<br />
an Tod und Erstarrung. Wer mag einem gegenübersitzen, dessen Miene wie zu<br />
Stein erstarrt ist?! Gemeint ist hier etwas anderes: die Festigkeit im Standpunkt. Wer Gott<br />
auf seiner Seite weiß, hält stand. Keine Versuchung, keine Bestechung, nicht einmal die Androhung<br />
von Gewalt können dem gegenüber etwas ausrichten. Konsequent glauben heißt,<br />
entsprechend konsequent leben. Eine solche Festigkeit lässt sich im Gesicht ablesen. Wir<br />
wissen das und wir kennen es sehr gut – sowohl in positiver Form, wie auch in negativer.<br />
Versuchen Sie einmal, sich die Gesichter derer ins Gedächtnis zu rufen, die Sie in ihrem<br />
persönlichen Glauben geprägt, vielleicht sogar geleitet haben. Ich glaube, in ganz vielen Fällen<br />
werden Sie sehen: Der Glaube hinterlässt Spuren; sie sind wie „eingemeißelt“ im Gesicht.
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Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
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Aber ich denke auch an die negative Seite. Ich sehe Gesichter von Glaubensfanitikern vor<br />
mir. Da, wo der Glaube den Weg der Liebe verlässt, wird ein Mensch tatsächlich zu Stein,<br />
gefühllos, mitleidlos, selbst instrumentalisierbar als tödliche Waffe. Davon ist im Gottesknechtlied<br />
sicher nicht die Rede.<br />
Uns führt das Gottesknechtlied in die letzte Passionswoche. Zu Recht hat die Tradition unserer<br />
Kirche in diesen prophetischen Texten eine Vorausnahme des Weges Jesu gesehen.<br />
Dieser Weg findet am Karfreitag seinen Höhepunkt. Jesu Tod am Kreuz ist der Moment äußerster<br />
Gottverlassenheit – auf den ersten Blick. Für den Glaubenden aber eröffnet sich ein<br />
zweiter Blick. Jesus hält fest an Gott bis zuletzt (wie der Prophet, wie Jochen Klepper). Er<br />
zeigt, wie weit Gottvertrauen gehen kann, nämlich bis hin zu einem Hoffen auf Gott auch gegen<br />
allen Augenschein, ja man kann sagen: Auf Gott hoffen wider alle Hoffnung. Die Israeliten<br />
durften das neu lernen durch ihren Gottesknecht Jesaja. Gott gebe uns, dass wir durch<br />
Christus zu dieser großen Kraft der Hoffnung kommen – dann, wenn wir sie besonders brauchen.<br />
Amen.
Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
in der<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am Ostersonntag<br />
16. April <strong>2006</strong><br />
.<br />
Liebe Gemeinde!<br />
Viele Menschen (vor allem wir Norddeutsche!) haben Probleme mit bunten Farben. Ob bei<br />
der Wahl der eigenen Kleidung oder Einrichtung zu hause, wir achten sorgfältig darauf, dass<br />
alles zueinander passt. Ton in Ton zu gehen (möglichst in gedämpften Farben), gilt als vornehm.<br />
Wehe, eine Dame kleidet sich zu bunt. Sie muss mit Spott rechnen (zumindest hinter
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Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 16.04.06<br />
vorgehaltener Hand): „Rot, grün, gelb, blau, ist des Hanswurst seine Frau.“ zischten die<br />
Frauen – wenigstens noch zu der Zeit als ich klein war.<br />
Eine Ausnahme gab es von der Regel. Einmal im Jahr durfte es so bunt wie möglich sein:<br />
das war der Frühling, insbesondere am Osterfest. Man kleidete sich farbiger und man lebte<br />
mit Ostereiern, Frühlingsbeeten und Frühlingssträußen die Freude an den Farben richtiggehend<br />
aus.<br />
Deshalb kann ich es wohl wagen, Ihnen heute Morgen ein ausgesprochen farbiges Bild zuzumuten.<br />
Sattes Rot, üppig aufgetragen von Purpur- bis Karminrot in allen Schattierungen.<br />
Direkt daneben, aber auch durchbrochen von Gelbtönen, dem Weißgelb in der Mitte bis hin<br />
zum rötlichen Gold weiter unten.<br />
„Hoffnung für alle“ nennt die Künstlerin ihr Osterbild. Das wird vor allem am Kreuz deutlich.<br />
Das Kreuz vom Karfreitag wird dünn und brüchig, so dünn, dass es zur Mitte wegfällt. Im o-<br />
beren Teil des Kreuzes scheinen einige Stellen im Holz wieder zu grünen. Dort, wo das Osterlicht<br />
am stärksten ist, hat der Tod keine Chance mehr. Selbst am toten Kreuzesstamm<br />
kündigt sich neues Leben an. Aber auch die Farben selbst stehen für Hoffnung. Seit Alters<br />
her ist das Purpurrot Farbe der Kaiser und Könige, in christlichen Bildern von daher Farbe<br />
vor allem für den obersten König, für Gott. Das Rot bezeichnet aber nicht nur sein König<br />
sein, es steht auch für seine Liebe, eine flammende Liebe, die stärker nicht sein kann. Aus<br />
Liebe zu uns ist Gottes Sohn am Kreu gestorben; aus Liebe zu seinem Sohn und zu uns erweckt<br />
Gott-Vater ihn zu neuem Leben. Mit Ostern bricht für die Menschen eine ganz neue<br />
Zeit an. Der Kirchenvater Ambrosius besingt das in einer der ältesten Osterhymnen: „Der<br />
Himmel strahlt im Purpurschein der Morgenröte...“ Sie sehen die Morgenröte hinter dem<br />
Kreuz auch auf der Osterkerze, die wir heute neu entzündet haben. Alles wird zum Licht: Die<br />
Ostersonne ebenso wir der durchglühte Himmel.<br />
Das fallende Kreuz und die leuchtenden Farben – das wäre schon genug für ein Osterbild.<br />
Hier aber fehlt das Entscheidende noch. Wer sich eine Weile in das Bild „hineingeschaut“<br />
hat, wessen Augen sich an die intensiven Farben gewöhnt haben, der entdeckt noch mehr<br />
darin: Die Ostersonne über dem Kreuz wirft Schatten. Und diese Schatten lassen ahnen,<br />
dass das Kreuz zur Leiter geworden ist. (Wenn Sie das mit dem Kreuz an unserem Altar<br />
vergleichen, dann sieht dessen Schatten auch wie eine Leiter aus.)<br />
Es sind Menschen angedeutet: Wir sehen sie auf der einen Seite dem Kreuz, der Leiter zustreben;<br />
wir sehen sie auf der anderen Seite am Fuß des Kreuzes liegen oder abseits stehen<br />
(die schwangere Frau) und wir sehen sie an der Kreuzesleiter nach oben steigen, in die Mitte<br />
des göttlichen Lichtes hinein. So realisiert sich „die Hoffnung für alle“.<br />
Die Kreuzesleiter lässt uns denken an Jakobs Traum von der Himmelsleiter. Erinnern wir<br />
uns: Jakob ist auf der Flucht. Er hat seinen Bruder um das Erstgeburtsrecht und den väterlichen<br />
Segen gebracht. Er muss mit allem rechnen: mit dem tödlichen Zorn des Bruders e-<br />
benso wie mit Gottes Zorn. In der Einsamkeit der Wüste kommt er zum ersten mal zur Ruhe.<br />
Und da ist dann dieser Traum von der Leiter, die in den Himmel führt. Engel steigen hinauf<br />
und hernieder und Jakob darf eine besondere Offenbarung erleben. An der obersten Sprosse<br />
der Leiter steht Gott und macht ihm eine Lebenszusage: „Ich bin mit dir; ich behüte dich,<br />
wohin du auch gehst; ich bringe dich zurück in dieses Land. Ich verlasse dich nicht, bis ich<br />
vollbringe, was ich dir versprochen habe.“ (1. Mose 28, 15)<br />
Das ist wirklich eine besondere Offenbarung. Denn Jakob darf erfahren, dass Gott ganz anders<br />
reagiert als er es erwartet hat. Nicht als der rächende Gott, sondern als einer, dessen<br />
Treue und Liebe stärker ist als alle todbringenden Gefühle.<br />
An diesem Punkt wird der alttestamentliche Text zutiefst österlich. Denn was von Jakob gesagt<br />
ist, gilt in der einen oder anderen Form für uns alle. Beladen schleppen wir uns durch<br />
Wüstenzeiten, belastet von Sorgen und Ängsten, einem schlechten Gewissen womöglich, oft<br />
genug ohne Perspektive auf eine Besserung. Von Gottes Gegenwart merken wir nichts, fühlen<br />
uns gottverlassen, mancher gar von Gott bestraft. Wir sind am Boden. Es geht uns wie<br />
den Schatten auf dem Bild, die am Fuße des Kreuzes liegen.
Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 16.04.06<br />
Ostern aber öffnet den Horizont. Es lässt die Niedergeschlagenen aufblicken, es richtet sie<br />
auf. Mögen sie auch anfangs nur schwankende Schatten sein, es zieht sie zum Kreuz.<br />
Ostern ist kein „Wisch-und-weg-Halleluja“. Kreuz und Leid werden bleiben. Aber nicht als<br />
Gabe, nicht als Bleibe. Vielmehr werden sie – dank Christus – zur Leiter. Wir haben den<br />
Weg zu Gott wieder – seine Liebe macht den Neuanfang möglich (nicht nur einmal, sondern<br />
immer wieder) und sie bereitet uns die letzte Heimat, das ewige Leben.<br />
Manch einem geht das vielleicht etwas zu schnell. Allzu schwer lastet der Stein auf dem<br />
Herzen, als dass schon an ein Aufstehen oder gar an ein Leiterersteigen zu denken wäre.<br />
Ja, selbst das Einschlafen macht manchen Angst. Oft genug begegnen uns im Traum unsere<br />
„Angstgegner“, zwingen uns das zu bearbeiten, was wir Alltags allzu gründlich vermieden<br />
haben. Vertane Chancen, kaputte Beziehungen, tote Menschen, Schuldgefühle – all das<br />
kommt im Traum wieder, gewinnt Gestalt (im wahrsten Sinne des Wortes).<br />
Wie ist Jakob damit umgegangen? Er hat die Begegnung ausgehalten; hat sich dem gestellt,<br />
was Gott ihm sagen wollte; hat da hindurch seinen Weg gefunden. Wieder erwacht, findet<br />
das einen ganz sinnfälligen Ausdruck. Jakob nimmt den Stein auf, er weiht ihn Gott, er salbt<br />
ihn sogar. Das soll „Beth-el“ (= Haus Gottes) sein!<br />
Auch gerade hierin sehe ich einen ausgesprochen österlichen Akt. „All eure Sorgen werfet<br />
auf ihn, denn er sorgt für euch“, heißt es im Neuen Testament. Was hindert uns, Gott beim<br />
Wort zu nehmen und die Steine, die uns auf dem Herzen liegen, ihm zu übergeben? Ostern<br />
macht uns Mut dazu. Versuchen Sie es einmal (etwa im Gebet): Gott diese Last ist zu<br />
schwer für mich. Ich habe mein Bestes getan, aber meine Kraft ist zu ende. Nimm du das,<br />
was ich aus eigener Kraft nicht bewältigen kann.<br />
Sie werden merken, wie erleichternd, wie befreiend das ist, wirklich ein Stück Ostern mitten<br />
im Leben. Und wenn sie dann Ruhe finden, vielleicht sogar Licht am Horizont sehen, wissen<br />
Sie: Sie sind auf der Himmelsleiter angekommen. Ostern – das ist tatsächlich „Hoffnung für<br />
alle“.<br />
Amen.
Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
in der<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt zur Konfirmation<br />
am Sonntag Misericordias Domini<br />
30. April <strong>2006</strong><br />
Predigttext: Markus 10,17-27<br />
Als Jesus sich auf den Weg machte, lief einer herbei, kniete vor ihm nieder und fragte ihn:<br />
Guter Meister, was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe? Aber Jesus sprach zu<br />
ihm: Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein. Du kennst die Gebote: «Du<br />
sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch<br />
Zeugnis reden; du sollst niemanden berauben; ehre Vater und Mutter.» Er aber sprach zu<br />
ihm: Meister, das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf. Und Jesus sah ihn an und<br />
gewann ihn lieb und sprach zu ihm: Eines fehlt dir. Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und<br />
gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach!<br />
Er aber wurde unmutig über das Wort und ging traurig davon; denn er hatte viele Güter. Und<br />
Jesus sah um sich und sprach zu seinen Jüngern: Wie schwer werden die Reichen in das<br />
Reich Gottes kommen! Die Jünger aber entsetzten sich über seine Worte. Aber Jesus antwortete<br />
wiederum und sprach zu ihnen: Liebe Kinder, wie schwer ist's, ins Reich Gottes zu<br />
kommen! Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins<br />
Reich Gottes komme. Sie entsetzten sich aber noch viel mehr und sprachen untereinander:<br />
Wer kann dann selig werden? Jesus aber sah sie an und sprach: Bei den Menschen ist's<br />
unmöglich, aber nicht bei Gott; denn alle Dinge sind möglich bei Gott.<br />
Liebe Gemeinde!<br />
Wir <strong>Pastor</strong>en diskutieren manchmal darüber, ob es Bibeltexte gibt, die sich bestimmten Altersgruppen<br />
zuordnen lassen. Tatsächlich ist es ja auffallend, dass einem in verschiedenen<br />
Lebensphasen ganz unterschiedliche Teile der Bibel wichtig werden. Junge Menschen etwa<br />
werden besonders von der Bergpredigt bewegt (jedenfalls war das in meiner Jugend so); alte<br />
Menschen entdecken vor allem den Inhaltsreichtum der Psalmen. Da fragt man sich als <strong>Pastor</strong><br />
natürlich auch, welcher Text ist besonders für Konfirmanden geeignet.<br />
Dabei bin ich auf die Geschichte vom reichen Mann gestoßen. Ein junger Mann ist es,<br />
schreibt Markus, der Jesus begegnet; ein junger Mann, auf der Schwelle zum Erwachsensein,<br />
dem gewichtige Fragen („Lebensfragen“) auf dem Herzen liegen. Das ist eine Situation,<br />
die der euren ganz ähnlich ist. So haben wir uns ein ganzes Wochenende lang mit dieser<br />
Geschichte beschäftigt.<br />
„Was muss ich tun, um das ewige Leben zu haben?“ fragt der junge Mann Jesus. Wir erfahren,<br />
dass er reich ist also keine materielle Not leidet, aber damit ist für diesen jungen Mann<br />
keineswegs alles erledigt. Im Gegenteil, er weiß (oder spürt wenigstens), dass es um mehr<br />
geht: um den Sinn des Lebens; um das Verhältnis zu Gott; um die Frage, was einem nach<br />
diesem Leben erwartet. „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu haben?“ fragt er, und in<br />
dieser einen großen Lebensfrage schwingen ganz viele Unterfragen mit.
Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 30.04.06<br />
Kein junger Mensch würde heute (2000 Jahre später) seine große Lebensfrage so formulieren<br />
wie der junge Mann. Und doch sind eure Fragen sehr ähnlich und haben das gleiche<br />
Gewicht: „Wer oder was ist Gott?“ hat einer gefragt; „Wo ist das Ende des Universums?“ ein<br />
anderer. „Was ist der Sinn des Lebens?“ „Gibt es ein Leben nach dem Tod?“ „Was wäre der<br />
richtige Weg, den Menschen in Afrika zu helfen?“ oder sogar: „Wie lässt sich die Welt retten?“<br />
Daneben können auch vergleichsweise kleine, sehr persönliche Fragen zur großen<br />
Lebensfrage werden: „Wie erkenne ich, wer meine wahre Freundin ist?“ fragt eine von euch.<br />
Ja, gäbe es eine gute Fee, die uns die Beantwortung einer Lebensfrage verspräche, wir<br />
wüssten schon, was wir sie fragen würden.<br />
Wie reagiert Jesus auf die Frage des reiche Jünglings? Dazu fällt mir erst einmal ein Halbsatz<br />
ins Auge, der allzu oft überlesen wird. Jesus schaut ihn an, heißt es da, und er gewinnt<br />
ihn lieb. Das ist ganz wichtig, denn das heißt doch: Er wird nicht zurückgewiesen; er muss<br />
sich nicht schämen; egal, wie er sich nach Jesu Antwort auch entscheiden wird, Jesu Liebe<br />
ist ihm sicher. Jesu Liebe – das ist keine Belohnung für Wohlverhalten, sie steht nicht am<br />
Ende der Geschichte. Sie steht am Anfang, d.h. sie wird dem zuteil, der sich ernsthaft Gedanken<br />
macht und dabei bei Jesus und im Glauben Rat sucht.<br />
Das macht es viel leichter, dann auch mit Jesu harter Antwort umzugehen. „Gib alles, was du<br />
hast, den Armen und folge mir nach!“ Das ist eine radikale Forderung; ein so unbedingter,<br />
kompromissloser Anspruch, dass sich keiner von uns darüber gewundert hat, dass sich der<br />
junge Mann abwendet und traurig abzieht. „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr<br />
geht, als dass ein Reicher in den Himmel kommt.“<br />
Viele hören das als eine Abrechnung mit den Reichen – und sie hören es gerne, fast mit einer<br />
gewissen Häme und Schadenfreude. Endlich wird's den Begüterten mal richtig gegeben!<br />
Das ist bei denen, die sich als Zukurzgekommene fühlen, leider ziemlich verbreitet. Meistens<br />
wird das eher verschwiegen, aber manchmal platzt es auch aus einem heraus.<br />
Als ich vor zwei Tagen in einem Gespräch über mein Entsetzen übe die Anschläge in den<br />
Ferienorten in Ägypten sprach, antwortete mir eine Frau ganz unverblümt: Mich berührt das<br />
nicht Herr <strong>Pastor</strong>. Ich kann mir keine weite Fernreise leisten, im Gegenteil, jetzt geht es<br />
erstmal den Reichen an den Kragen. Jetzt kommen die ins Zittern. Endlich einmal ist nicht<br />
der kleine Mann dran.<br />
Wer Jesu Antwort an den reichen Mann so verstehen will, liegt gründlich falsch. Er muss nur<br />
ein paar Zeilen weiter lesen, da erfährt er, dass Jesu Jünger über die Antwort ebenso erschrecken<br />
wie der Reiche. Und das, obwohl sie alles zurückgelassen haben und Jesus bedingungslos<br />
nachgefolgt sind!<br />
Der Grund für ihr Erschrecken liegt tiefer. Sie erkennen, dass es keineswegs nur um die Reichen<br />
geht. Vielmehr auch um Neid und um Gier nach Besitz, etwas, das als Gefahr in jedem<br />
da ist. Reichtum und Besitz an sich sind nicht böse – genauso wenig wie „die“ Technik oder<br />
„jene“ Nutzung der Ressourcen. „Böse“ kann es erst werden durch unseren Umgang damit;<br />
d.h. durch die Art, wie wir es gebrauchen; durch die Beziehung, die wir dazu aufbauen. Konkret:<br />
Reichtum verdirbt dann unser Leben, wenn wir ihm den höchsten Wert darin zumessen.<br />
Vor genau 30 Jahren erschien ein Buch, das viele meiner Generation sehr geprägt hat: „Haben<br />
oder Sein“ von Erich Fromm. Dieses Buch macht eindrucksvoll klar, was die Jünger Jesu<br />
in unserer Geschichte schlagartig begreifen: Unser Leben verdirbt, wenn wir es vom Haben<br />
her begreifen. Wenn wir etwa den Wert anderer Menschen nur noch nach deren Besitz,<br />
Beruf und gesellschaftlicher Position bestimmen. Und uns selbst auch nur danach einstufen,<br />
was wir erreicht haben und vorweisen können.<br />
Der Mensch ist nicht das, was er hat; der Mensch ist das, was er lebt. Das meint Erich<br />
Fromm mit „Sein“; das meint Jesus, als er dem reichen Jüngling gerade die Gebote aufzählt,<br />
die mit dem menschlichen Miteinander zu tun haben.<br />
Ich finde, ihr habt das sehr gut erfasst: Man sieht es an euren Konfirmationssprüchen: „Lasst<br />
uns einander lieben, so wie Christus uns geliebt hat.“ „Lasset uns aufeinander achtgeben,<br />
dass wir uns anreizen zur Liebe und zu guten Werken.“ Christus spricht: „Wie ich euch ge-
Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 30.04.06<br />
liebt habe, so sollt auch ihr euch gegenseitig lieben.“ Und man sieht es auch an den Herzen<br />
auf dem Lebensweg, sie tauchen da überall auf, z.B. als Symbole für die erste Liebe zwischen<br />
den Zeugnissen, oder die Herzen mit den Eheringen und den kleinen Herzen als<br />
Symbol für die Familie. Aber nicht nur darum geht es beim rechten „Sein“, nicht nur um das<br />
direkte Miteinander.<br />
Es geht auch um die Freude<br />
am Kleinen, am (aus materieller<br />
Sicht) Nutzlosen, am Selbstgeschaffenen,<br />
an den eigenen<br />
schöpferischen Fähigkeiten...<br />
Ich habe euch versprochen,<br />
keine Namen zu nennen, aber<br />
ich möchte doch einige eurer<br />
Gaben aufzählen: die Freude<br />
am Gesang; viele von euch<br />
spielen ein Instrument und beherrschen<br />
es sehr gut; dass<br />
Malen und Zeichnen zu euren<br />
Begabungen gehören, sehen<br />
wir vorn an den Lebenswegen;<br />
viele von euch haben eine noch<br />
kindliche Freude am Spielen und ich hoffe, dass sie euch erhalten bleibt; aber auch Freude<br />
an der Sprache, Neugier und Forscherdrang.<br />
Und – last not least – geht es um die Ziele, die ihr euch setzt. Ihr habt viel dazu geschrieben<br />
und gemalt; das lässt sich heute gar nicht alles würdigen. Vieles dreht sich dabei um Familie<br />
und Freunde, um Ausbildung und Beruf. Kleinere, kurzfristige Ziele waren dabei („unseren<br />
Fußballplatz retten“), die meisten aber waren eher langfristige. Sehr positiv ist mir aufgefallen,<br />
dass die Berufsziele zwar oft hoch gesteckt sind (auf beiden Lebenswegbildern ist der<br />
Doktorhut zu entdecken!), sogar vom Traumjob ist die Rede, aber der definiert sich nicht ü-<br />
ber die Gehaltshöhe. Dass er einem liegt, dass er Freude macht und sinnvoll ist, dass er mit<br />
anderen Menschen zu tun hat, das macht ihn zum „Traumjob“.<br />
Mich hat gefreut, wie engagiert und erwartungsvoll ihr darüber gesprochen habt, obwohl viele<br />
eurer Ängste sich besonders auf den Komplex Arbeit und Beruf beziehen. Ich glaube<br />
kaum, dass wir seinerzeit, hätte man uns aufgefordert unseren Lebensweg zu malen, als<br />
wichtiges Symbol für eine Station das Arbeitsamt mit eingezeichnet hätten. Da werdet ihr<br />
euch tatsächlich neuen Problemen und Sorgen stellen müssen.<br />
Als wir uns nach unserem Wochenende die Fotos davon anschauten, fragte einer treffend:<br />
„Wieso sehen wir eigentlich alle so ernst aus? Da war doch immer eine fröhliche Stimmung!“<br />
Ich denke, die Antwort liegt am Thema: Ihr habt erfasst, dass es bei dieser Begegnung Jesu<br />
mit dem jungen Mann auch um euch selber geht: Dass seine Frage – so oder anders gestellt<br />
– auch eure ist; dass ihr wie er dabei seid, eure Lebensweichen zu stellen. Und ich bin guter<br />
Hoffnung, dass ihr euch nicht wie er traurig abwendet. Nicht, weil es unter euch keine Reichen<br />
gibt; sondern weil euer Reichtum ein anderer ist, einer, der sich nicht in Euros ausdrücken<br />
lässt.<br />
Ich habe euch versprechen müssen, keinen namentlich zu nennen. Daran will ich mich halten.<br />
Dennoch will ich (als Schlüsselwort sozusagen) einen eurer Antwortzettel wörtlich vorlesen.<br />
Zur Frage nach dem Lebensziel findet sich da doch tatsächlich das Wort „reich werden“.<br />
Die ganze Antwort aber lautet: „Ich möchte reich werden, um ein paar Tieren zu helfen.“ Ü-<br />
ber so eine Antwort hätte Jesus sich von Herzen gefreut!<br />
Amen.
Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
in der<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am Sonntag Kantate<br />
14. Mai <strong>2006</strong><br />
Predigttext: Apostelgeschichte 16, 23-34<br />
Nachdem man Paulus und Silas hart geschlagen hatte, warf man sie ins Gefängnis und befahl<br />
dem Aufseher, sie gut zu bewachen. Als er diesen Befehl empfangen hatte, warf er sie<br />
in das innerste Gefängnis und legte ihre Füße in den Block. Um Mitternacht aber beteten<br />
Paulus und Silas und lobten Gott. Und die Gefangenen hörten sie. Plötzlich aber geschah<br />
ein großes Erdbeben, so dass die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Und sogleich<br />
öffneten sich alle Türen, und von allen fielen die Fesseln ab. Als aber der Aufseher aus dem<br />
Schlaf auffuhr und sah die Türen des Gefängnisses offenstehen, zog er das Schwert und<br />
wollte sich selbst töten; denn er meinte, die Gefangenen wären entflohen. Paulus aber rief<br />
laut: Tu dir nichts an; denn wir sind alle hier! Da forderte der Aufseher ein Licht und stürzte<br />
hinein und fiel zitternd Paulus und Silas zu Füßen. Und er führte sie heraus und sprach: Liebe<br />
Herren, was muss ich tun, dass ich gerettet werde? Sie sprachen: Glaube an den Herrn<br />
Jesus, so wirst du und dein Haus selig! Und sie sagten ihm das Wort des Herrn und allen,<br />
die in seinem Hause waren. Und er nahm sie zu sich in derselben Stunde der Nacht und<br />
wusch ihnen die Striemen. Und er ließ sich und alle die Seinen sogleich taufen und führte sie<br />
in sein Haus und deckte ihnen den Tisch und freute sich mit seinem ganzen Hause, dass er<br />
zum Glauben an Gott gekommen war.<br />
Liebe Gemeinde!<br />
Die meisten werden es schon während der Lesung bemerkt haben:<br />
Die Dramatik des heutigen Predigttextes haben wir in unserer<br />
Paul-Gerhardt-Kirche stets vor Augen. Paulus und Silas im<br />
Gefängnis, mit gebundenen Händen und von der Folter geschunden<br />
– das ist das Motiv auf unserem großen Kirchenfenster<br />
im Altarraum. Besonders wenn die Sonne scheint, wenn die<br />
Farben zu spielen beginnen und in Bewegung geraten, meint<br />
man, etwas von der Erzählung mitzuerleben: das Erdbeben, das<br />
Bersten der Mauern, das Herabfallen des Heiligen Geistes… Ja,<br />
das Tanzen der Farben auf der Wand lässt auch etwas erahnen<br />
vom Gesang der Apostel mitten in der Nacht. Alles gerät in Bewegung,<br />
im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn, vor allem<br />
am späten Nachmittag, wenn die Sonne durch das Fenster<br />
scheint und das bunte Licht auf die Altarwand fällt.<br />
Und doch ist für mich nicht das aufwühlende Geschehen das<br />
Wichtigste und auch nicht der laute Lobgesang zu mitternächtlicher<br />
Stunde. Vielmehr sind es die leisen Töne, die kurzen<br />
Wortwechsel, die fast nebenbei anklingen. Das, was im ersten<br />
Moment nur wie ein Nachhall wirkt, erweist sich bei näherem<br />
Hinsehen als Auslegung des Geschehens.<br />
Geschildert wird ein großes Wunder. Nicht anders ist es zu werten,<br />
wenn zu Unrecht Inhaftierte durch ein Naturphänomen aus
Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 14.05.06<br />
dem Gefängnis befreit werden. Die Freude über ein derartiges Wunder wird aber nicht von<br />
allen geteilt. Der Kerkermeister, verantwortlich für die Folter und die sichere Verwahrung der<br />
Häftlinge, steht mit seiner ganzen Person für sein Amt ein. Konkret heißt das: Gelingt den<br />
Inhaftierten die Flucht, verliert er nicht nur sein Amt, sondern muss an ihrer Statt Folter und<br />
Haft erdulden. Kein Wunder, dass der Kerkermeister in Panik gerät. Er sieht keinen anderen<br />
Ausweg als den Tod; er will sich in sein Schwert stürzen. Im letzten Moment fährt Paulus’<br />
Wort dazwischen: „Tu dir nichts an, wir sind alle hier.“<br />
Das ist nur ein Satz mitten in einem hochdramatischen Geschehen. Und doch steht er als<br />
Wunder dem Erdbeben kaum nach, wenigstens für den Kerkermeister. Natürlich musste er<br />
annehmen, als er die geborstenen Mauern, aufgesprungene Türen, zerbrochene Ketten sah,<br />
dass alle Häftlinge, so schnell sie konnten, das Weite gesucht hatten. Nach menschlichem<br />
Ermessen hätte doch jeder so reagiert!<br />
Aber das Gegenteil ist der Fall. Sie sind geblieben. Und fragen wir nach dem Grud dafür,<br />
bleibt eigentlich nur eine Antwort: Sie sind aus Liebe geblieben. Das ist keine Liebe, die wir<br />
allein nach unseren Kriterien verstehen können. Paulus hätte allen Grund zur Schadenfreude<br />
oder wenigstens zu einem Gefühl der Genugtuung, wenn er den Kerkermeister seinem<br />
Schicksal überließe. Aber er reagiert mit Liebe, er bleibt und rettet den Kerkermeister – aus<br />
der Kraft einer Liebe heraus, die tiefer ist, als alles menschliche Fühlen.<br />
Der Theologe Ernst Lange hat einen guten Satz zum Verständnis dessen geschrieben: „Das<br />
Evangelium ist der Einspruch Gottes gegen die Selbstzerstörung des Menschen.“ Das Evangelium<br />
(das ist die frohe Botschaft) wird in dem Moment laut, wo Selbstzerstörung droht.<br />
Gottes Liebe gebietet dem Tod Einhalt.<br />
Aktueller lässt sich das Evangelium kaum formulieren. Keiner von uns ist – dem wörtlichen<br />
Sinne nach – im Gefängnis. Wohl aber sind wir im übertragenen Sinne „gefangen“. Individuell<br />
sieht das sehr unterschiedlich aus; jeder von uns würde nach eingehender Prüfung etwas<br />
anders nennen, was ihn gefangen nimmt oder gefangen hält. Abhängigkeiten, Leidenschaften,<br />
Sehnsüchte… Allen gemeinsam aber ist uns das Leiden unter der Macht des Todes,<br />
oder ( um es noch genauer auf die Geschichte des Kerkermeisters zu beziehen): verführerisch<br />
bietet sich uns der Tod in ausweglos scheinenden Situationen als „Lösung“ an:<br />
• Krieg und Völkermord als „Lösung“ internationale Konflikte;<br />
• der hohe Preis an Lebenskraft , den wir für unsere hohe Zivilisation bezahlen;<br />
• Tausende von Verkehrstoten in einer Welt, die stolz ist auf ihre Mobilität;<br />
• oder auch: die immer wieder neu aufflammende Diskussion um die „Euthanasie“ im<br />
Sinne einer aktiven Sterbehilfe.<br />
Sie haben es direkt miterlebt in den vergangenen Wochen: Der ehemalige Hamburger Justizsenator<br />
gründet eine eigene Partei; eines seiner ersten und wichtigsten Themen, mit denen<br />
er um Wähler wirbt, ist eine Erweiterung der Sterbehilfe. Das klingt verführerisch: selbstbestimmtes<br />
Sterben – verführerisch nicht nur für die Betroffenen, deren Wunsch es ist, (aus<br />
welchen Gründen auch immer) sterben zu wollen, verführerisch auch für alle anderen: denn<br />
wer einwilligt in das weitgehende Selbstbestimmungsrecht, ist die Sorge und Last los, sich in<br />
begleitender Weise mit dem Sterbewilligen auseinanderzusetzen.<br />
Jahrzehntelang war das ein Tabuthema in Deutschland – aus gutem Grund nach dem tausendfachen<br />
Missbrauch so genannter „Euthanasie“ im Dritten Reich. Jetzt aber scheint es<br />
wieder hoffähig zu sein, auf alle Fälle lohnt es sich wohl, damit um Wähler zu werben. Dabei<br />
werden wohlweißlich die schlimmen aktuellen Erfahrungen verschwiegen. Unsere Nachbarländer<br />
(Belgien und die Niederlande zum Beispiel) haben zum Teil wieder eine erweiterte<br />
Sterbehilfe im Gesetz verankert. Das aber hat schlimme Ausmaße angenommen; in den<br />
Niederlanden wurde einer fünfzehnjährigen Magersüchtigen Sterbehilfe gewährt und in Belgien<br />
einem achtzigjährigen ehemaligen Politiker, der sterben wollte, weil er sich schlicht<br />
langweilte. Mit „Euthanasie“ (das heißt: guter Tod) hat das nichts mehr zu tun.<br />
Hier muss aus christlicher Verantwortung Gottes Wort laut werden: „Tu dir nichts an, wir sind<br />
hier.“ Wir lassen nicht zu, dass du die schnelle, vermeintlich einfache Lösung des Todes er-
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Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 14.05.06<br />
greifst. Gott will das Leben; wir wollen das Leben. Wir sind für dich da – mit Begleitung in der<br />
Krise, mit Therapien, mit Angeboten, die dir zeigen, was das Leben zu bieten hat. Wir sind<br />
da für dich mit unserer Liebe, und das ist Gottes Liebe zu dir. Im Falle des Kerkermeisters<br />
konnte die Macht des Todes gebrochen werden, auf vielfache Weise sogar.<br />
Wir erleben, dass die Wirklichkeit plötzlich ganz anders ist, als es scheint. Der Kerkermeister,<br />
eben noch Täter, droht zum Opfer zu werden. Auf jeden Fall leidet er; er ist innerlich gefangen<br />
von seinem Amt, dem Zwang zur Gewalt, dem Ausgeliefertsein an die Macht des Todes.<br />
Er braucht Hilfe und da spürt er: „Was muss ich tun, damit ich gerettet werde?“ fragt er.<br />
Umgekehrt sehen wir: Die Gefangenen (Paulus und Silas) erweisen sich als die eigentlich<br />
Freien. Die, denen die Opferrolle zugedacht war, werden zu Tätern – zu Tätern im besten<br />
Sinne des Wortes, nämlich zu Tätern der Liebe. Ihr Lobgesang zeigt: selbst in dunkelster<br />
Nacht schafft der Tod es nicht, Angst über sie zu breiten. Und als sich der Weg in die Freiheit<br />
öffnet, müssen sie ihn nicht gehen, weil sie innerlich längst frei sind.<br />
Die Erzählung endet in einer Gemeinschaft von Täter und Opfer; es ist ein Bild, über das es<br />
sich lohnen würde, ein zweites Kirchenfenster anzufertigen. Täter und Opfer waschen sich<br />
gegenseitig: Der Gefängniswärter wäscht den Aposteln die Wunden und Striemen; die Apostel<br />
„waschen“ – denn nichts anderes ist die Taufe – ihn und die Seinen. Damit ist wirklich ein<br />
Neuanfang gesetzt. Die Gemeinschaft aus Täter und Opfern – nach unserem Maßstab ist<br />
das kaum vorstellbar; aus der Kraft der Liebe Gottes heraus aber ist es möglich.<br />
Der Sonntag Kantate ist eingebettet in die so genannte „österliche Freudenzeit“, die Zeit im<br />
Kirchenjahr, die wie keine andere den Sieg des Lebens über den Tod feiert. Heute vor allem<br />
mit lautem Gesang: „Singet dem Herrn ein neues Lied…“ (Psalm 98,1) steht über dem Gottesdienst<br />
und über der nächsten Woche. Das ist weniger eine Aufforderung zum Dichten und<br />
Komponieren neuer Kirchenlieder. So schön das sein mag, es ist nicht das Entscheidende.<br />
Vielmehr geht es um eine neue Haltung. Anders gesagt: Es geht um die Frage, ob uns die<br />
Lieder, die wir singen und hören, aus dem alten Trott, in dem wir uns bewegen, hinausführen.<br />
Das ist der Sinn der österlichen Freudenzeit: uns zum Leben hinzuführen; das neue Leben,<br />
das mit Jesu Auferstehung angebrochen ist, konkret zu machen.<br />
Der Kerkermeister, Paulus und Silas finden zu einer neuen, lebendigen Gemeinschaft. Gott<br />
gebe, dass uns das gelingt – zuerst in der Gemeinde, dann vielfach in der Welt.<br />
Amen.
Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
in der<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am Sonntag Rogate<br />
21. Mai <strong>2006</strong><br />
Predigttext: Kolosser 4,2-4<br />
Seid beharrlich im Gebet und wacht in ihm mit Danksagung! Betet zugleich auch für uns,<br />
dass Gott uns eine Tür für das Wort auftue und wir das Geheimnis Christi sagen können, um<br />
dessentwillen ich auch in Fesseln bin, damit ich es offenbar mache, wie ich es sagen muss.<br />
Liebe Gemeinde!<br />
Vor zwei Tagen hatte ich ein Taufvorgespräch. Es war in verschiedener Hinsicht ein ganz<br />
typisches: Die Eltern haben keine besonders starke Beziehung zu Gottesdienst und Kirche,<br />
aber die Geburt ihres Kindes haben sie als etwas Besonderes erlebt. Ihre Dankbarkeit ist so<br />
groß, dass sie Ausdruck finden soll. In der Taufe wollen wir Gott danken für dieses Kind.<br />
Aber es gibt ein Problem: Der, der eigentlich Pate hätte werden sollen, ist nicht mehr Mitglied<br />
der Kirche. Wir kommen darüber ins Gespräch. Ich frage nach den Gründen. Zwei seien es<br />
eigentlich gewesen, sagt der Betreffende. Nie habe er Gott mit seinen persönlichen Angelegenheiten<br />
behelligt, aber zweimal, als es wirklich nötig war, habe er mit aller Kraft gebetet:<br />
einmal, als der Vater schwer erkrankte, zum anderen Mal, als die Arbeitsstelle in Gefahr war.<br />
Der Vater sei verstorben, der Arbeitsplatz ging verloren. Danach sei er aus der Kirche ausgetreten.<br />
Die Enttäuschung war allzu groß.<br />
Die Erfahrung, die hier im Taufgespräch anklingt, ist, glaube ich, gar nicht so selten. Viele<br />
von Ihnen werden sie so oder so ähnlich aus Gesprächen im Freundes- und Familienkreis<br />
kennen. Es sind vielfach sehr bittere und ernstzunehmende Erfahrungen. Sie decken Verletzungen<br />
auf, die behutsam und doch gründlich zu bearbeiten sind. Sie decken aber auch<br />
noch etwas anderes auf, nämlich ein fatales Fehlverständnis von dem, was Beten ist. Beten<br />
– das ist für manche das Aufsagen eines Wunschzettels (der „liebe Gott“ hört es und erfüllt<br />
dann umgehend, was wir so dringend begehren). Oder auch, um es noch stärker auf den<br />
Punkt zu bringen; viele halten das Gebet für eine Art Fallschirm im Notkoffer des Lebens. In<br />
höchster Not (kurz vor dem Aufprall sozusagen) kann man dann die Reißleine ziehen – und<br />
wird gerettet. In der Tat, Gebetserhörungen solcher Art gibt es. Aber wir müssen doch ehrlich<br />
sein: das sind Ausnahmen. Wer sie zur Regel erheben will, der wird enttäuscht werden.<br />
Das ist der Punkt, an dem uns der heutige Predigttext weiterhelfen will. Er will uns zu einer<br />
Art des Betens führen, die nicht enttäuscht. Das wichtigste Wort steht gleich am Anfang:<br />
Seid beharrlich im Gebet! Beharrlichkeit – mit Sicherheit eine der Tugenden, die es heute<br />
besonders schwer haben. Die Vielfalt der Angebote vor allem in der Freizeitgestaltung legen<br />
anderes nahe: Probiere aus; erlebe möglichst viel; schöpfe deine Möglichkeiten aus; gönn dir<br />
die Abwechslung...<br />
Und was in der Freizeit gilt, im Beruflichen vielleicht sogar notwendig wird, schlägt sich auch<br />
im Partnerschaftlichen nieder: Lange und feste Beziehungen, das gemeinsame Durch-Dickund-Dünn-Gehen<br />
werden immer seltener. Ruhelosigkeit und Unzufriedenheit sind die fatalen<br />
Folgen im Alltäglichen. Erst recht fatal wird es im Blick auf Glaube und Gebet. Denn ohne<br />
Beharrlichkeit kann da nichts wachsen.
Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 21.05.06<br />
Beten, sagt der Kolosserbrief, das ist eine Beziehung, in die man beharrlich, mit Geduld hineinwachsen<br />
muss. Deren ganz eigene Sprache man lernen muss. Das meint zuerst einmal<br />
die Aufforderung, regelmäßig zu beten. Davon sind wir als „moderne“ Christen (zumal in der<br />
evangelisch-lutherischen Kirche) sehr weit abgekommen. Wir legen viel Wert auf die Freiheit<br />
im Glauben – und beziehen diese Freiheit sehr schnell auch auf die Häufigkeit des Gebets.<br />
Das feste tägliche Gebet (etwa am späten Abend) ist für die meisten schon die höchste Stufe<br />
der Verbindlichkeit, die man zugestehen will.<br />
In der alten Kirche sah das noch anders aus. Da gab es über den ganzen Tag (und auch die<br />
Nacht) verteilte Gebetszeiten. Die Stundengebete der Mönche sind daraus erwachsen.<br />
Wichtig daran aber: Nicht die Häufigkeit zählt, auch nicht das exakte Einhalten von Zeiten.<br />
Entscheidend ist vielmehr: Im regelmäßigen Beten drückt sich eine Kontinuität der Gottesbeziehung<br />
aus. Das heißt: Wer kontinuierlich betet, bleibt mit Gott im Gespräch und pflegt einen<br />
lebendigen Glauben; der lernt, was es heißt, mit Gott „durch Dick und Dünn zu gehen“.<br />
Der merkt auch, dass es beim Beten nicht nur um eine Sache des Kopfes geht, ja dass die<br />
Worte immer weniger wichtig sind. Das Gebet wird zu einer Sache des Herzens: da fasst es<br />
Fuß, da wächst es, da bringt es Früchte.<br />
In der russisch-orthodoxen Kirche gibt es die Tradition des „immerwährenden Jesus-<br />
Gebets“. Es heißt auch „Herzensgebet“ und hat einen hohen Stellenwert. Da kommt es weder<br />
auf die Länge noch auf einen Reichtum an Worten an. Es besteht nur aus einem einzigen<br />
Satz: „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner.“ Allein das soll ständig<br />
(„beharrlich“) wiederholt werden. So wandert es aus dem Bewusstsein, dem Verstand ins<br />
Herz. Schließlich ist es das Herz, das sich im ständigen Gebet mit Christus befindet.<br />
Die Beharrlichkeit ist das erste und wichtigste, was der Kolosserbrief nennt. Aber sie ist nicht<br />
das einzige. Damit das Beten nicht zur Enttäuschung wird, muss anderes hinzukommen. Betet<br />
„mit Dankbarkeit“, schreibt Paulus, „und zugleich auch für uns...“ Dank – und Fürbitte also!<br />
Mal ehrlich, wessen Gebet lässt tatsächlich das Danken und das Beten für die anderen<br />
vor den eigenen Belangen rangieren?! In den allermeisten Fällen sind es doch die eigenen<br />
Wünsche, die an erster Stelle stehen.<br />
Auch wer kein Fußballfan ist, kommt derzeit nicht umhin, sich mit Fußball zu beschäftigen.<br />
Die Weltmeisterschaft steht vor der Tür – und da muss es wohl so sein, dass sich jeder Sender<br />
und jede Zeitschrift damit befasst. Selbst christliche Blätter machen da keine Ausnahme.<br />
Gestern hielt ich „Chrismon“ in der Hand, ein evangelisches Magazin. Unter dem Titel<br />
„Jungs, ihr schafft das!“ bringt es sogar dieses Blatt zustande, fünfundfünfzig Seiten mit<br />
Fußball (bzw. der Verbindung von Fußball und Glauben) zu füllen. Besonders absurd wird es<br />
dann, wenn's ums Beten geht. Natürlich betet jede Mannschaft, jeder Spieler, jeder Fan um<br />
den Sieg und das Weiterkommen der eigenen Leute. Und wieder sind viele dabei, die offen<br />
bekennen, sonst nie zu beten, aber in dieser besonderen Situation sei das was anderes...<br />
Aber, bitte schön, wer will denn hier tatsächlich mit „Gebetserhörungen“ rechnen?! Kein noch<br />
so „lieber“ und „gerechter“ Gott wäre imstande alle Wunschlisten gleichermaßen zu erfüllen.<br />
Beten als „Ego-Trip“, das ist in jedem Fall eine Sackgasse, denn es nimmt Gott alle Freiheit.<br />
Interessant dagegen der Gebetswunsch des Paulus. Seine Fürbitte ist sehr offen gehalten.<br />
Er selbst sitzt im Gefängnis ein, als er den Brief an die Kolosser schreibt, aber er bittet nicht<br />
einmal darum, die Kolosser mögen für seine Freilassung beten. Ihm geht es vielmehr darum,<br />
dass sich „eine Tür auftue für das Wort“; „das Geheimnis Christi“ soll Verbreitung finden.<br />
Hier ist es wirklich die Formulierung, die Wahl der Worte, die mich so anspricht. Im Vaterunser<br />
beten wir stets „Dein Wille geschehe“. Paulus nimmt das ernst, er ordnet sich dem unter,<br />
er lässt Gott die Freiheit, aber er bittet zugleich, „dass sich eine Tür auftue“. Ich glaube, hier<br />
liegt der Schlüssel, Gebetsenttäuschungen zu vermeiden. Wer Gott darum bittet, eine möge<br />
eine Tür auftun, wo er selbst nicht weiter weiß, der wird erhört werden. Vielleicht nicht gleich;<br />
sicher braucht es wieder Beharrlichkeit. Aber die Beharrlichkeit, die im festen Vertrauen auf<br />
Gottes guten Willen gründet, wird von Gebetserhörungen in diesem Sinne sprechen können<br />
und wird von da aus auch ganz automatisch zum Danken kommen.
Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 21.05.06<br />
„Wer nicht betet, verweigert Gott die Antwort“, las ich einmal. Das trägt dem Rechnung, dass<br />
Gott immer schon da ist mit aller nötigen Fürsorge, denn er weiß, wessen wir bedürfen. Vielleicht<br />
sollten wir darauf erst einmal antworten. Dann wird das Beten ganz schnell zur regelmäßigen<br />
Herzenssache.<br />
Amen.
Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
in der<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am Himmelfahrtstag<br />
25. Mai <strong>2006</strong><br />
Predigttext: Offenbarung des Johannes 1,4-8<br />
Johannes an die sieben Gemeinden in der Provinz Asien: Gnade sei mit euch und Friede<br />
von dem, der da ist und der da war und der da kommt, und von den sieben Geistern, die vor<br />
seinem Thron sind, und von Jesus Christus, welcher ist der treue Zeuge, der Erstgeborene<br />
von den Toten und Herr über die Könige auf Erden! Ihm, der uns liebt und uns erlöst hat von<br />
unsern Sünden mit seinem Blut und uns zu Königen und Priestern gemacht hat vor Gott,<br />
seinem Vater, ihm sei Ehre und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen. Siehe, er kommt mit<br />
den Wolken, und es werden ihn sehen alle Augen und alle, die ihn durchbohrt haben, und es<br />
werden wehklagen um seinetwillen alle Geschlechter der Erde. Ja, Amen. Ich bin das A und<br />
das O, spricht Gott der Herr, der da ist und der da war und der da kommt, der Allmächtige.<br />
Liebe Gemeinde!<br />
Sie haben richtig gehört; da ist uns keine Verwechslung unterlaufen. Tatsächlich ist uns am<br />
Himmelfahrttag ein Abschnitt aus der Offenbarung des Johannes als Predigttext aufgegeben.<br />
Als wäre es nicht schon schwierig genug, über die Himmelfahrt Jesu nachzudenken, bekommen<br />
wir nun auch noch eine Art „Antitext“ dazu auferlegt. Denn in der Offenbarung des<br />
Johannes geht es um die Wiederkunft Jesu, um seine Rückkehr zur Erde. „Christus wird<br />
kommen“, das ist die Botschaft des Johannes. „Jesus ist fort“ dagegen die Realität am Himmelfahrtstag.<br />
Natürlich haben sich die verantwortlichen Theologen etwas dabei gedacht, gerade diesen<br />
Text für den Himmelfahrtstag auszuwählen. Aber zu entfalten, wie beides zusammengehört,<br />
ist gar nicht so einfach. Da wird uns einiges zugemutet.<br />
Das fängt schon an bei dem Wort „Himmel“. Was meint das eigentlich? Im Evangelium von<br />
der Himmelfahrt Jesu können wir es uns bildlich vorstellen: von einer Wolke ist da die Rede,<br />
die Jesus aufnimmt auf der Bergspitze. So schwer das im Einzelnen nachzuvollziehen ist, es<br />
knüpft wenigstens an Bildern an, die uns vertraut sind.<br />
Anders ist es, wenn Johannes vom „Himmel“ spricht. In seiner Offenbarung geht es nicht um<br />
das Firmament, hier ist mit Himmel der präzise geordnete Herrschaftsbereich Gottes gemeint.<br />
„Himmel“ umfasst alles: das Irdische wie das Überirdische; zeitlich gesehen Vergangenheit,<br />
Gegenwart und Zukunft; die Ewigkeit. Das machen die Symbole deutlich: Von sieben<br />
Gemeinden ist die Rede – sieben, das ist die heilige Zahl, die für das Ganze steht, die<br />
ganze Erde. Danach sind „die sieben Geister“ genannt; sie stehen entsprechend für das<br />
Ganze des überirdischen Raums.<br />
Die Fülle der Zeit, die Ewigkeit, ist durch A und O symbolisiert. Die 24 Buchstaben des griechischen<br />
Alphabets standen seinerzeit für die 24 Tagesstunden; A und O, der erste und letzte<br />
Buchstabe, für Anfang und Ende.<br />
Damit ist klar, worum es geht: In räumlichen und zeitlichen Dimensionen wird der Herrschaftsbereich<br />
Christi beschrieben. Es ist eine in jeder Hinsicht umfassende Herrschaft. Und<br />
die Aufgabe der Himmelfahrtspredigt ist es, uns das Ewige zu vergegewärtigen. „Das Ewige<br />
vergegenwärtigen“ – was für große Worte!
Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 25.05.06<br />
Jemand hat mal gesagt: zu Himmelfahrt wird der Glaube erwachsen. Dahinter steht das treffende<br />
Bild von Wachsen im Glauben. Als wir Kinder waren, haben die meisten von uns sich<br />
Gott als weißhaarigen Mann vorgestellt. Spätestens als Konfirmand nimmt man langsam Abschied<br />
davon. Gott wird unsichtbar, verschwindet hinterm Sternenhimmel in den Tiefen des<br />
Universums. Aber er taucht als Stimme des Gewissens wieder auf. Dazu gewinnt Jesus an<br />
Bedeutung – als Vorbild, als Wegweiser, als Mensch, der tatsächlich und vorbildlich gelebt<br />
hat. Mit den Jüngern können wir sagen: Da hat unser Glaube etwas Handfestes: Jesus ist<br />
Gott als Mensch, Gott zum anfassen sozusagen. Doch damit ist an Himmelfahrt Schluss.<br />
Nun muss der Glaube ohne den sichtbaren Jesus auskommen; er muss sich als wirklicher<br />
Glaube bewähren. Der Glaube wird erwachsen.<br />
„Was steht ihr da und guckt in den Himmel?“ werden die Jünger gefragt, als Jesus ihren Blicken<br />
entschwunden ist. Das ist der Wendepunkt; sie begreifen es langsam. Jetzt hat das<br />
Glauben neue Qualität. Dem erwachsenen Glauben wird einiges abverlangt und zugemutet.<br />
Die Zeilen des Johannes sind ein Beispiel dafür: „Das Ewige vergegenwärtigen...“ das meint:<br />
dem Glauben wird zugemutet, alte Sicherheiten loszulassen und sich nach vorne auszurichten<br />
auf die Verheißungen hin. „Wir leben im Vorletzten und glauben das Letzte“, so hat Bonhoeffer<br />
das ausgedrückt. Erwachsener Glaube versucht, diese Welt und die Verheißungen<br />
zusammenzubringen, vor allem die Verheißung von der Wiederkunft Christi und seinem<br />
neuen Reich. Anders (und leichter verständlich) gesagt: Erwachsener Glaube heißt, mit dem<br />
Herzen im Himmel sein, mit den Füßen auf der Erde und mit dem Kopf in der Realität.<br />
Jetzt sind wir endlich bei uns. Jetzt haben wir so etwas wie eine Positionsbestimmung in diesem<br />
schwierigen Text. Der Text geizt nicht mit großen Worten, wo es um uns geht. „Erlöste“<br />
nennt er die Christen mit erwachsenem Glauben, „Bürger des Reiches Gottes“ und sogar<br />
„Könige und Priester“.<br />
Ich kann diese großen Worte nur so verstehen, dass ich sie auf die drei Zeitebenen beziehe:<br />
„Erlöste sind wir durch unsere Vergangenheit (wir sind getauft worden), seitdem sind wir –<br />
auch jetzt, gegenwärtig – „Bürger in Gottes Reich“. Aber das ist nur das Vorletzte, das Letzte<br />
steht aus. Was es heißt, „Priester“ und „König“ zu sein, werden recht erst bei Jesu Wiederkunft<br />
erfahren.<br />
Mal ehrlich: Erkennen Sie sich wieder in diesen großen Worten?!<br />
Etwas als dogmatisch richtig anzuerkennen ist das eine. Es aber auch tatsächlich zu spüren<br />
und zu leben, das ist das andere. Wir wissen, dass uns die Taufe zu „Erlösten“ macht, aber<br />
wie und wo zeigt es sich in unserem Leben?<br />
Ein Mann wie Bonhoeffer lebt tatsächlich einen erwachsenen Glauben. „Wir leben im Vorletzten<br />
und glauben das Letzte“, sagt er. Die große Verheißung von der Wiederkunft Christi<br />
(das ist das Leben) konnte ihm tatsächlich die Kraft geben, das Vorletzte auszuhalten, seinen<br />
Weg als Christ konsequent zu gehen trotz Gefängnisses, Folter und Tod. Aber was ist<br />
mit uns?<br />
Ich persönlich spüre sehr deutlich, wie mich das Vorletzte gefangen nimmt. Da reicht schon<br />
die Lektüre meiner Tageszeitung, um das Bewusstsein „Erlöster“ zu sein, verblassen zu lassen.<br />
„Fünfzehn Millionen Menschen in Deutschland von Altersarmut betroffen“ (in zehn Jahren<br />
schon); „Erwärmung des Weltklimas viel schneller als erwartet“, neue terroristische Anschläge<br />
befürchtet“ – das sind nur einige der Schlagzeilen von gestern. Das geht nicht spurlos<br />
an uns vorüber. Wir spüren: unsere Welt ist ein Kampfplatz von Mächten und Gewalten.<br />
Aber wir erstarren darüber nicht vor Angst.<br />
Erlöst sein, also losgebunden und frei zu sein, bringt uns dazu, unser Leben in einer eigentümlichen<br />
Spannung zu gestalten; es ist die Spannung zwischen „Jesus ist weg“ und „Jesus<br />
kommt wieder“. Die Erinnerung an Jesus gibt uns Stärke; sie lässt manches gelingen, was<br />
wir mit Liebe und Einstzbereitschaft anpacken. Zugleich schauen wir nach vorne: Jesus<br />
kommt wieder. Das gibt Hoffnung und lässt uns froh sein – trotz noch so vieler und bedenklicher<br />
Entwicklungen. Sorgen machen wir uns zu Recht; sie lassen uns wachsam und tätig
Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 25.05.06<br />
sein. Lähmende Angst aber wird sich nicht einstellen, denn wir wissen: das letzte Wort<br />
spricht Christus.<br />
Himmelfahrt Christi fällt in die österliche Freudenzeit, und es lohnt sich, noch einmal ganz<br />
bewusst einen Blick auf unsere Osterkerze zu werfen. Auch sie umgreift alle drei Zeitdimensionen:<br />
Sie erinnert uns an unsere eigene zurückliegende Taufe (Vergangenheit); sie brennt<br />
als Zeichen für unseren Status: Wir sind Erlöste (Gegenwart) und sie bildet ab, was vor uns<br />
liegt (Zukunft). Die aufgehende Sonne steht für die Wiederkunft Christi, für das absolut Neue,<br />
auf das wir uns freuen dürfen. Alles ist umgriffen von dem, der Anfang und Ende ist (A und<br />
O), von Christus. Wir sehen etwas vom „Morgenglanz der Ewigkeit.“<br />
Das ist zugleich Titel eines alten Liedes, das vor 350 Jahren getextet wurde. In unserem Gesangbuch<br />
finden wir es unter den Morgenliedern. Lesen und singen wir aber die weniger bekannten<br />
Strophen, sehen wir: es geht um viel mehr als um ein Begrüßen des morgendlichen<br />
Sonnenscheins. Damals, kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg, in einer Zeit größte Not, fand<br />
man Trost und Hoffnung im Ausblick auf die „Gnadensonne“.Das „Tränenfeld“, von dem das<br />
Lied spricht, wird jeder in seinem Leben individuell benennen können. Tausende von Tränenfeldern<br />
sehen wir um uns her; damals wie heute.<br />
Aber seid getrost, seid froh und voller Hoffnung. Denn: im Vorletzten leben wir zwar, aber wir<br />
glauben das Letzte.<br />
Amen.
Evangelisch-lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
in der<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am Sonntag Trinitatis<br />
Feier der goldenen Konfirmation<br />
11. Juni <strong>2006</strong><br />
Liebe Gemeinde!<br />
Die meisten von Ihnen sind gebürtige Hamburger, und wer in Hamburg groß geworden ist,<br />
der kennt auch den Hamburger Dom. Heute ist das Angebot dort geradezu unüberschaubar<br />
geworden, früher aber (zumindest in den Sechziger, als ich Kind war) waren es einige wenige<br />
Attraktionen, die den Charakter des Doms prägten. Dazu gehörte das Spiegellabyrinth.<br />
Ich erinnere mich noch sehr gut an meinen ersten Besuch darin. Nachdem ich mir mehrmals<br />
die Nase gestoßen hatte und meine verzerrten Spiegelbilder eher erschreckend als komisch<br />
empfunden hatte, brach ich in lautes Schluchzen aus und musste schließlich von Erwachsenen<br />
„gerettet“ werden. Mit Labyrinthen wollte ich seitdem nichts mehr zu tun haben.<br />
Das hat sich erst geändert, als mich viele Jahre später ein befreundeter Theologe aufgeklärt<br />
hat: Das Spiegellabyrinth verdient streng genommen seinen Namen gar nicht. Denn es ist
Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 11.06.06<br />
gar kein Labyrinth, sondern ein Irrgarten. Da wird der Besucher ganz bewusst mit vielen<br />
Sackgassen und Fehlleitungen an der Nase herumgeführt. Ein Labyrinth hingegen ist nur auf<br />
den ersten Blick verwirrend. Schaut man genauer hin, erkennt man: Es hat nur einen Weg<br />
und der führt immer zum Ziel.<br />
Bestes Beispiel dafür sind die großen Labyrinthe, die in die Fußböden mittelalterlicher Kirchen<br />
eingelegt sind. Sie sind da aber keineswegs nur zur Zierde. Vielmehr beschreiben sie<br />
den Lebensweg des Menschen. So verschlungen wie ein Labyrinth ist der Lebensweg des<br />
Menschen: mal wähnt er sich seinem Ziel sehr nahe, im nächsten Moment weiß er sich weit<br />
davon entfernt. Und doch nähert er sich Schritt für Schritt der Mitte.<br />
Ein sehr gelungenes Beispiel ist das Labyrinth in Chartres. Sie finden es auf Ihrem Gottesdienstzettel.<br />
Es diente ganz praktischen Zwecken: Der Glaubende (oft waren es damals Pilger)<br />
bekam eine Kerze in die Hand und wurde aufgefordert, das Labyrinth zu betreten. Meditierend<br />
sollte er dann dem verschlungenen Weg folgen. Er sollte dabei über seinen Lebensweg<br />
nachdenken, zugleich aber den Weg in sein inneres Selbst finden. Ziel war die Mitte und<br />
das bedeutete: Erleuchtung, Erlösung; ja es bedeutete: Gott zu finden. Deshalb ist die Mitte<br />
im Labyrinth von Chartres als Blume gestaltet. Die heilige Blume, die heilige Mitte des Menschen<br />
wie der Welt (von Mikrokosmos wie Makrokosmos) ist Gott. Wer seine Mitte gefunden<br />
hatte, war am Ziel. Denn er hatte Gott gefunden.<br />
Ich denke mir, das ist ein gutes Symbol für einen Gottesdienst anlässlich einer goldenen<br />
Konfirmation. Vor fünfzig Jahren etwa sind Sie konfirmiert worden – eine schwierige Zeit, eine<br />
Zeit mit zwei Gesichtern sozusagen: zum einen geprägt von Optimismus (Wiederaufbau,<br />
Wirtschaftswunder), zum anderen aber auch von den Erinnerungen an den Krieg (geboren<br />
und aufgewachsen in den Kriegsjahren; nächtlicher Alarm, Bombenangriffe, Flucht und –<br />
noch lange nach dem Krieg – das Spielen zwischen Trümmern, der Hunger, die beengten<br />
Wohnverhältnisse – war man doch froh, überhaupt überlebt und ein Dach über dem Kopf zu<br />
haben; heute kann man sich gar nicht mehr vorstellen, wie viele Menschen in diesen kleinen<br />
Wohnungen hier gelebt haben).<br />
Die kirchliche Arbeit blühte und sie war wichtiger denn je. Gab es doch sonst kaum Angebote<br />
– vor allem kaum solche, die über den täglichen Überlebenskampf hinausgingen.<br />
In diesen Jahren sind Sie eingesegnet worden; viele von Ihnen nebenan im Gemeindesaal,<br />
der früheren Paul-Gerhardt Kapelle. Wissen Sie noch, was Ihnen dabei durch den Kopf<br />
ging? Waren Sie als Jugendliche eher die Optimisten, die nach vorne schauten oder zählten<br />
Sie zu denen, die traumatisiert von den Kriegseindrücken mehr litten, als zu hoffen wagten. -<br />
Es wird nachher drüben Gelegenheit sein, darüber zu sprechen.<br />
Dass Sie heute hier sind, zeigt mir aber, dass Sie Wesentliches vom Segen damals erfasst<br />
und erlebt haben. Es ist tatsächlich wie im Labyrinth: Man geht innerlich seinen Lebensweg<br />
ein zweites Mal. Und dabei erlebt man Zeiten, in denen man sich Gott ganz nahe weiß, aber<br />
auch solche, wo man schreien möchte: Gott wo bist du? Wie kannst du das zulassen? Zeige<br />
doch deine Macht – gegen Krieg und Not, gegen Krankheit und Zerstörung!<br />
Das allein macht aber kein Bewusstsein vom Segen aus; das wären dann nur zwei Waagschalen,<br />
die im besten Falle ausgeglichen (=auf einer Ebene) stünden. Ein drittes muss hinzukommen:<br />
Das Bewusstsein, Gott mit jedem Tag des Lebens ein Stück näher zu kommen;<br />
die Gewissheit, irgendwann die heilige Blume, die Gottesmitte zu finden. Das gilt auch, wenn<br />
der Weg dahin noch so beschwerlich ist. Es ist sicher kein Zufall, dass wir in der Grundform<br />
des Labyrinths in den schwarzen Steinen auch ein großes Kreuz erkennen. Tatsächlich, so<br />
ist es: solange wir leben, haben wir unser Kreuz zu tragen. Das aber ist identisch mit dem<br />
Kreuz Christi – und so führt es uns (auch ohne dass wir es merken) zur Mitte hin.<br />
Ihnen wird es auf Ihrem Lebensweg ähnlich dem Pilger im mittelalterlichen Labyrinth ergangen<br />
sein: oft haben Sie Ihre Mitte, Ihr Ziel, nur unsicher umkreist; oft wähnten Sie sich auf<br />
Abwegen, waren gezwungen, neue Richtungen einzuschlagen. Erst im Rückblick durften Sie<br />
erkennen: da war doch Gottes Führung im Spiel. Ich habe meinen Weg gefunden, bin meinem<br />
Ziel näher gekommen. „Gott schreibt auch auf krummen Linien gerade,“ sagt der<br />
Volksmund. Im Blick auf unser Labyrinth-Symbol bekommt das einen ganz neuen tiefen
Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 11.06.06<br />
Sinn. Der Psalmbeter drückt es biblisch aus: „Befiehl dem Herren deine Wege, er wird’s wohl<br />
machen.“ (Psalm 37,5)<br />
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Schritt weitergehen: Der mittelalterliche Pilger begnügt<br />
sich nicht damit, die Mitte gefunden zu haben. Er wusste: so schön, so aufbauend es<br />
ist, ein Stück weit Erleuchtung und Erlösung zu haben, der Weg ist damit nicht zu ende. Wer<br />
die Heilige Gottesblume in der Mitte erreicht hatte, durfte sich stärken, musste dann aber<br />
weiter: zurück uns Leben, erneut auf den wechselvollen, verschlungenen Pfad.<br />
Ich wünsche mir sehr, dass Sie den Gottesdienst heute so erleben: als Zielpunkt einer längeren,<br />
verschlungenen Wegstrecke, an dem Sie einen Moment verharren und auftanken können.<br />
Sie werden hier Stärkung erfahren: durch die Gemeinschaft untereinander, durch das<br />
Gotteslob in der Musik, durch die Wortverkündigung, durch die erneute Einsegnung und<br />
nachher durch das Abendmahl. Das alles soll Ihnen Kraftquelle sein. Es soll sie stark machen<br />
für die Wegstrecke, die vor Ihnen liegt.<br />
Die Pilger damals hatten lange Zeit, auf dem Weg durch's Labyrinth ihr Leben zu meditieren<br />
(manche der alten Labyrinthe waren über einen Kilometer lang und manche Pilger haben<br />
diese Strecke nicht zu Fuß, sondern auf den Knien zurückgelegt). Viel Zeit also für eine<br />
gründliche Einkehr. Das aber war mehr als nur eine fromme Übung – etwa zum Buße tun.<br />
Man erhoffte sich durch die lange Meditation neue Sichtweisen, viele fanden sogar ein neues<br />
Selbstverständnis und formulierten ihr Lebensziel nach der Labyrinthbegehung anders als<br />
vorher.<br />
Das alles kann ein Gottesdienst natürlich nicht leisten (auch kein noch so festlicher). Aber<br />
vielleicht kann er Anstoß sein in diese Richtung. Auf alle Fälle dahingehend, dass er Gott<br />
wieder mehr in die Mitte unseres Denkens und Strebens rückt. Er ist es, der uns führt; er ist<br />
zugleich das Ziel unseres Weges. So mag auch das Teil eines neuen Selbstverständnisses<br />
sein, dass wir uns führen lassen und die Sorge um unseren Weg abgeben. Das meint der<br />
Psalmbeter mit seinem Vers: „Befiehl dem Herren deine Wege, er wird’s wohl machen.“<br />
Amen.
Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
in der<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am 1. Sonntag nach Trinitatis<br />
18. Juni <strong>2006</strong><br />
Predigttext: Jeremia 23,16-29<br />
So spricht der HERR Zebaoth: Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch weissagen!<br />
Sie betrügen euch; denn sie verkünden euch Gesichte aus ihrem Herzen und nicht aus dem<br />
Mund des HERRN. Sie sagen denen, die des HERRN Wort verachten: Es wird euch wohlgehen<br />
-, und allen, die nach ihrem verstockten Herzen wandeln, sagen sie: Es wird kein Unheil<br />
über euch kommen. Aber wer hat im Rat des HERRN gestanden, dass er sein Wort gesehen<br />
und gehört hätte? Wer hat sein Wort vernommen und gehört? Siehe, es wird ein Wetter<br />
des HERRN kommen voll Grimm und ein schreckliches Ungewitter auf den Kopf der Gottlosen<br />
niedergehen. Und des HERRN Zorn wird nicht ablassen, bis er tue und ausrichte, was<br />
er im Sinn hat; zur letzten Zeit werdet ihr es klar erkennen. Ich sandte die Propheten nicht,<br />
und doch laufen sie; ich redete nicht zu ihnen, und doch weissagen sie. Denn wenn sie in<br />
meinem Rat gestanden hätten, so hätten sie meine Worte meinem Volk gepredigt, um es<br />
von seinem bösen Wandel und von seinem bösen Tun zu bekehren. Bin ich nur ein Gott, der<br />
nahe ist, spricht der HERR, und nicht auch ein Gott, der ferne ist? Meinst du, dass sich jemand<br />
so heimlich verbergen könne, dass ich ihn nicht sehe? spricht der HERR. Bin ich es<br />
nicht, der Himmel und Erde erfüllt? spricht der HERR. Ich höre es wohl, was die Propheten<br />
reden, die Lüge weissagen in meinem Namen und sprechen: Mir hat geträumt, mir hat geträumt.<br />
Wann wollen doch die Propheten aufhören, die Lüge weissagen und ihres Herzens<br />
Trug weissagen und wollen, dass mein Volk meinen Namen vergesse über ihren Träumen,<br />
die einer dem andern erzählt, wie auch ihre Väter meinen Namen vergaßen über dem Baal?<br />
Ein Prophet, der Träume hat, der erzähle Träume; wer aber mein Wort hat, der predige mein<br />
Wort recht. Wie reimen sich Stroh und Weizen zusammen? spricht der HERR. Ist mein Wort<br />
nicht wie ein Feuer, spricht der HERR, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?<br />
Liebe Gemeinde!<br />
Gibt es heute noch Propheten? – Ich denke, wer in den alten Prophetenbüchern liest, wird<br />
sich diese Frage sehr bald stellen. Vor allem heute bei diesem Jeremiatext stellt sich die<br />
Frage mit Nachdruck, geht es hier doch um die Unterscheidung von wahren und falschen<br />
Propheten.<br />
Gibt es heute noch Propheten? – Das ist keine Frage, die sich schnell und eindeutig beantworten<br />
lässt. Zu unterschiedlich sind allein die Zeitverhältnisse. Wie sollte man die politischen<br />
Verhältnisse zur Zeit des Königs Zedekia, als Jeremia lebte, vergleichen mit den Verhältnissen<br />
unserer neuzeitlichen Demokratie?! Zur Zeit des Königs Zedekia gab es die Propheten<br />
als feste politische Institution. Der König selbst hielt sich festangestellte Propheten<br />
am Hof. Offiziell war es ihre Aufgabe, den König in außenpolitischen Frage zu beraten. De<br />
facto sah es etwas anders aus: Sie hatten das als gut und richtig, als „heilbringend“ abzusegnen,<br />
was der König beschlossen hatte. Vor allem mussten sie das Volk ruhighalten – dadurch,<br />
dass sie immer wieder erklärten, dass des Königs Politik ganz und gar mit Gottes Willen<br />
übereinstimme.<br />
Da gab es nur ein Problem: neben den linientreuen Staatspropheten gab es noch andere,<br />
sozusagen „freischaffende“ Propheten wie Jeremia. Sie waren bei niemandem angestellt,<br />
bekamen kein Gehalt und sahen gerade in ihrer Bindungslosigkeit eine wichtige Vorausset-
Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 19.06.06<br />
zung, ihrem Auftrag gerecht zu werden. Diesen Auftrag erhielten sie allein von Gott. Meist<br />
war es ein unbequemer Auftrag: Worte waren zu sagen, die niemand hören wollte (Warnungen,<br />
Drohungen, Ankündigungen von Katastrophen, von Unheil und Strafe).<br />
Keine Frage – es musste zwangsläufig zu Konkurrenzsituationen kommen zwischen den<br />
Heilspropheten am Königshof und den Unheilspropheten draußen im Land. Die königlichen<br />
Heilspropheten hatten die politische Macht auf ihrer Seite, und die nutzten sie. Unliebsame<br />
Konkurrenten wurden gnadenlos verfolgt, viele gar getötet. Da spielte es keine Rolle, dass<br />
die Unheilspropheten letztlich Recht behielten. Entscheidend war, dass sie durch das unbequeme<br />
Gotteswort die öffentliche Ruhe störten, und das musste unter allen Umständen unterbunden<br />
werden.<br />
In unserem Bibeltext heute Morgen kommt sozusagen mal die unterlegene Seite zu Wort.<br />
Jeremia war zwar vom König angehört worden, der aber hatte schließlich doch ganz auf seine<br />
beamteten Propheten gesetzt. Ein folgenschwerer Entschluss, wie sich später herausstellte,<br />
Israel wurde im Kampf der Großmächte Babel und Ägypten aufgerieben.<br />
Jeremia ist wütend. Er sieht diese Entwicklung voraus und doch kann er nichts tun. So macht<br />
er hier seiner Ohnmacht Luft. Er schreit seinen Ärger über die Heilspropheten heraus. „Falsche<br />
Propheten“ sind es für ihn, denn sie reden nicht in Gottes Auftrag, sehen sich selbst im<br />
Mittelpunkt; die eigenen wünsche und Bedürfnisse geben den Ausschlag. Berufen tun sie<br />
sich dabei auf das, was sie geträumt haben. – Das war die Situation damals. Ein Konflikt, der<br />
lange zurückliegt und mit keiner politischen Auseinandersetzung heute zu vergleichen ist.<br />
Und doch gibt es Parallelen! Ungebrochen ist der Wunsch der Menschen, einen Blick in die<br />
Zukunft zu tun; Entwicklungen soweit abzusehen, dass sie in den Griff zu bekommen sind.<br />
Das Angebot selbsternannter Wahrsager, Heiler und Astrologen ist groß wie nie.<br />
Und ungebrochen ist dabei auch die Einäugigkeit ihrer Kunden: Die Tendenz der Menschen,<br />
nur das hören und sehen zu wollen, was Gutes verheißt und Heil bringt. Kritische Töne oder<br />
gar die Warnung vor Fehlentwicklungen werden überhört, denn sie sind unbequem. Würde<br />
man sie ernstnehmen, hieße das ja, sich ändern zu müssen. Je schlechter die Zeiten, desto<br />
goldener der Boden für die Werbung. Begierig wird aufgenommen, was ein Stückchen Paradies<br />
verspricht. Welcher Preis dafür zu zahlen ist, will keiner hören. Dem, der die goldene<br />
Zukunft „prophezeit“ (sei es religiös, politisch oder einfach durch Konsum), strömen die Massen<br />
zu.<br />
Viele sind durch die Erfahrungen der letzten Jahre und Jahrzehnte misstrauisch geworden.<br />
Es ist eine merkwürdige Mischung bei uns: Eigentlich glauben wir solch platter Heilsprophetie<br />
längst nicht mehr – und doch lassen wir uns nur allzu gern in der falschen Sicherheit wiegen,<br />
die sie verspricht. Wir wissen, dass die Probleme unserer Zeit (politische wie persönliche)<br />
nicht mit einfachen Formeln zu lösen sind – und doch strömen wir gerade denen zu, die<br />
genau das versprechen. Jeremia ist an diesem Punkt konsequenter: Ganz radikal spricht er<br />
den falschen Heilspropheten das Recht ab, ihre Botschaft zu sagen. Und ebenso konsequent<br />
verurteilt er das Volk, das sich auf solche Sprüche blind verlässt.<br />
Aber das ist nicht alles. Kritik ist nur wenig hilfreich, wenn sie nur kritisiert. Jeremia will mehr:<br />
Er will, dass seine Hörer (damals wie heute) lernen, zwischen wahren und falschen Propheten<br />
zu unterscheiden. Deshalb formuliert er Kriterien, an denen sich jedes prophetische Wort<br />
messen lassen muss.<br />
Der falsche Prophet „betrügt“ den Hörer (so steht es in der Übersetzung Martin Luthers in<br />
Vers 16). Nimmt man den hebräischen Text wörtlich, so steht da nicht „betrügen“, sondern<br />
„einnebeln“ – ein treffender Ausdruck für das, was mit dem Hörer geschieht: Wer einmal benebelt<br />
ist, kann Sinne und Verstand nicht mehr recht gebrauchen. Wie im Rausch erliegt er<br />
Sinnestäuschungen.<br />
Der wahre Prophet dagegen handelt und spricht in Gottes Auftrag. Seine Botschaft ist unbequem<br />
aber notwendig. Sie öffnet dem Hörer die Augen, vertreibt Nebel und Rausch. Das ist<br />
oft genug ein schmerzhafter Prozess, weil es mit Änderungen des eigenen Verhaltens verbunden<br />
ist.
Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 19.06.06<br />
Aber genau das gehört für Jeremia zur echten Prophetie dazu: ein Stück weit ist sie immer<br />
auch Buß- und Bekehrungspredigt. Sie muss zur Umkehr auffordern, muss zeigen, wo eingeschliffene<br />
Verhaltensweisen unbedingt aufgegeben werden müssen.<br />
An diesem Punkt führt das Wort weiter, das Sie für Celina als Taufspruch ausgesucht haben<br />
(es steht in den Sprüchen Salomos Kapitel 2 Vers10):<br />
„Weisheit wird in dein Herz eingehen und Erkenntnis wird deiner Seele lieblich sein.<br />
Besonnenheit wird dich bewahren und Einsicht dich behüten.“<br />
Große Worte, hier als Wunsch formuliert! Weisheit und Erkenntnis, Besonnenheit und Einsicht<br />
– das sind zugleich Werte, die unser erwachsenes Leben bestimmen sollen; Gegenwerte<br />
zu dem, was uns betrügerisch einnebeln will. Wer um Weisheit ringt und besonnen<br />
prüft, was ihm Heilspropheten versprechen, der wird seinen Weg mit Gott finden. Was für<br />
uns gilt, gilt erst recht für die nachfolgende Generation (also auch für Celina). Es ist ja alles<br />
andere als ein leichtes Erbe, was sie antreten. Sozialpolitisch wie weltpolitisch müssen sie<br />
Jeremias Weg finden: Über die Umkehr, über Einsicht und Besonnenheit zu Weisheit und<br />
neuer Erkenntnis.<br />
Da, wo das gelingt, findet sich eine überraschende Antwort auf unsere Eingangsfrage (Gibt<br />
es heute noch Propheten?). Kein geringer als Martin Luther gibt sie:<br />
„Welche nun an Christus glauben, die sind alle Propheten, denn sie haben das, was Propheten<br />
haben sollen... Denn durch den einen Glauben sind wir alle Christi Brüder, sind Könige<br />
und Priester und dazu auch alle Propheten. Denn wir können alle sagen, was zur Seligkeit,<br />
was zu Gottes Ehre und zum christlichen Glauben dazugehört. Dazu auch von den zukünftigen<br />
Dingen (so viel es nottut, davon zu wissen): dass der jüngste Tag kommt und wir von<br />
den Toten auferstehen werden“.<br />
Es gibt also heute noch Propheten! Wir selbst sind es, als Christen. Dabei spielt es gar keine<br />
Rolle, ob wir viel „prophezeien“ (also vorhersagen) können. Entscheidend ist ein anderes:<br />
dass wir wissen und bewahren, was zum christlichen Glauben dazugehört. Das klingt nur im<br />
ersten Moment banal. Wer es ernst nimmt und lebt, wird merken: in der Praxis ist das tatsächlich<br />
ein unbequemes Prophetenamt. Unangenehme Wahrheiten zu sagen, die keiner<br />
hören will; besonnen zu prüfen, wo andere den Rausch der Begeisterung genießen; weise<br />
nach Erkenntnis zu suchen, wo andere sich in fertigen Lösungen eingerichtet haben... das<br />
macht einsam, das ist manchmal schwer auszuhalten. Aber genau solche brauchen wir,<br />
wenn wir Zukunft haben wollen: Mutige Christen, die das Amt des Jeremia antreten, so wie<br />
Luther es beschreibt.<br />
Amen.
Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
in der<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am 3. Sonntag nach Trinitatis<br />
02. Juli <strong>2006</strong><br />
Predigttext: 1. Johannesbrief 1,5-2,6<br />
Das ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben und euch verkündigen: Gott ist Licht, und<br />
in ihm ist keine Finsternis. Wenn wir sagen, dass wir Gemeinschaft mit ihm haben, und wandeln<br />
in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit. Wenn wir aber im Licht wandeln,<br />
wie er im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft untereinander, und das Blut Jesu, seines<br />
Sohnes, macht uns rein von aller Sünde. Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen<br />
wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir aber unsre Sünden bekennen,<br />
so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit.<br />
Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und<br />
sein Wort ist nicht in uns. Meine Kinder, dies schreibe ich euch, damit ihr nicht sündigt. Und<br />
wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus, der<br />
gerecht ist. Und er ist die Versöhnung für unsre Sünden, nicht allein aber für die unseren,<br />
sondern auch für die der ganzen Welt. Und daran merken wir, dass wir ihn kennen, wenn wir<br />
seine Gebote halten. Wer sagt: Ich kenne ihn, und hält seine Gebote nicht, der ist ein Lügner,<br />
und in dem ist die Wahrheit nicht. Wer aber sein Wort hält, in dem ist wahrlich die Liebe<br />
Gottes vollkommen. Daran erkennen wir, dass wir in ihm sind. Wer sagt, dass er in ihm<br />
bleibt, der soll auch leben, wie er gelebt hat.<br />
Liebe Gemeinde!<br />
Vielleicht erinnern sie sich noch: sechs oder sieben Jahre ist es her, da durften wir ein seltenes<br />
kosmisches Ereignis erleben, eine Sonnenfinsternis. Schon lange davor gab es viel Aufregung.<br />
Weltweite Katastrophen wurden vorhergesagt, manche sprachen gar vom Untergang<br />
der Welt. Aber auch all jene, die sich nicht an solcher Hysterie beteiligten, wurden nach<br />
und nach angesteckt von der neugierigen Erwartung überall. Gläser wurden geschwärzt,<br />
Termine verlegt, ein besonderer Platz ausgesucht; keiner wollte sich das Naturschauspiel<br />
entgehen lassen.<br />
Ich kann mich noch sehr gut erinnern. Bis zuletzt hatte ich mich gewehrt gegen die allgemeine<br />
Aufregung. Als es dann aber so weit war, erfasste es mich auch. Das war schon ein<br />
merkwürdiges Gefühl, als es mitten am Tag plötzlich dunkler und dunkler wurde; nicht ganz<br />
dunkel, eher wie in ein fahles Licht getaucht. Langsam aber spürbar schob sich da etwas<br />
zwischen das Licht und die Wärme der Sonne und uns. Man muss nicht gleich an den Weltuntergang<br />
glauben, um in so einem Moment ein Gefühl zu bekommen für die Bedeutung der<br />
Sonne. Das fahle Licht hatte etwas Bedrückendes, Unheimliches, etwas Totes. Es ließ einen<br />
spüren: Ohne die Licht- und Wärmeeinstrahlung der Sonne wäre kein Leben auf der Erde.<br />
Zwischen die Sonne und uns darf sich nichts dauerhaft schieben.<br />
Zwischen uns und Gott auch nicht. Es ist, als habe der Verfasser des Johannesbriefes selbst<br />
eine Sonnenfinsternis miterlebt, denn seine Bilder knüpfen direkt an diesen Erfahrungen an.<br />
Gott – das ist für ihn Licht, belebendes, wärmendes Licht und zugleich erhellendes Licht:<br />
Wahrheit. Er weiß: genau das brauchen wir zum Leben.<br />
Aber er sieht auch die Realität: Tatsächlich ist es so, dass sich jeden Tag wieder etwas zwischen<br />
uns und Gott schiebt. Das Leben, das wir so nötig zum Leben brauchen, wird fahl –
Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 02.07.06<br />
und das durch unsere eigene Schuld. Halbwahrheiten, Unwahrheiten, Verletzungen durch<br />
unbedachte Äußerungen, all das verdunkelt unser Leben und macht unsere Gemeinschaft<br />
krank. Das Schlimmste dabei (und das ist das, was die Bibel eigentlich mit „Sünde“ meint):<br />
Dass Gott nicht mehr die entscheidende Rolle in unserem Leben spielt, bei manchen sogar<br />
gar keine Rolle mehr. Wenn wir nicht mehr nach ihm und seinem Willen fragen, wenn wir uns<br />
nicht auf ihn besinnen, trennen wir uns von ihm. Wir lassen zu, dass sich etwas zwischen<br />
Gott und uns schiebt. Das Ergebnis ist dann zwar keine Sonnenfinsternis, aber es ist so etwas<br />
wie eine Gottesfinsternis. Die Trennung von Gott verdunkelt das Licht, das von ihm her<br />
auf mich fällt. Ich bin in fahles Licht getaucht; ich bin im Finstern unterwegs.<br />
Ich glaube, den meisten Menschen unserer Tage ist dieser Zusammenhang gar nicht bewusst.<br />
Viele haben sich schon allzu sehr eingerichtet in ihrem Halbdunkel und halten das für<br />
den normalen Zustand. Und doch ist zugleich das Gefühl für eine Sehnsucht nach etwas anderem<br />
da.<br />
Mir fällt auf, in welchem Zusammenhang heute vom Licht die Rede ist. Ganz viel davon bezieht<br />
sich auf den religiösen Raum. Da gibt es medizinische und spirituelle Angebote, sogenannte<br />
„Lichttherapien“. Das Wort „Therapie“ lässt tief blicken. Die Anbieter haben es erkannt:<br />
Hier geht es um einen Mangel, der krank macht. Das ist ein Leiden der Zeit. Damit<br />
lässt sich Kasse machen. Andere Angebote vom Esoterik-Markt bestätigen das: „Lichtkreise“<br />
und „Lichtpyramiden“ werden angeboten und tatsächlich sind es nicht wenige, die dem zuströmen<br />
und bereit sind, viel Geld dafür auszugeben.<br />
Aber die Sehnsucht nach Licht findet sich nicht nur im religiösen Bereich, sondern ebenso in<br />
ganz weltlichen Zusammenhängen. Es genügt, allein die tagespolitischen Meldungen daraufhin<br />
abzuhören, etwa die Diskussion um die Gesundheitsreform. Mehrfach mittlerweile hat<br />
die Kanzlerin versichert, „Licht am Ende des Tunnels“ zu sehen. Wer dem Glauben schenkt,<br />
soll aufatmen, soll Ruhe finden. Denn „Licht“ steht auch in diesem Zusammenhang für Klarheit<br />
und Wahrheit; für Helligkeit, die Leben erst möglich macht.<br />
Gibt es einen Weg dahin? Wie lässt sich der Weg zum lebenspendenden Licht finden? Der<br />
Johannesbrief antwortet darauf mit einem Wort, das uns die Sache nicht leichter macht. Auf<br />
der Seite von Dunkelheit und Sünde spricht der Johannesbrief von „Schuld“. Für den, der<br />
zurück zum Licht will, gibt es keinen anderen Weg als den, die eigene Schuld zu sehen, sie<br />
einzugestehen und sie sich vergeben zu lassen. Das hört sich so leicht an. Ich denke aber,<br />
dass gerade unsere Zeit heute damit immense Schwierigkeiten hat. Von Schuld und Sünde<br />
mag keiner mehr reden. Das sind überholte moralische Begriffe, selbst in der Pädagogik und<br />
Psychologie kaum noch zu finden. Da hat sich – fast unmerklich – etwas verschoben, und<br />
nur der merkt es, der genau hinhört. Achten Sie mal darauf: Heute wird nicht mehr von<br />
„Schuld“ gesprochen, sondern von „Schuldgefühlen“. Das ist schon ein Unterschied! Bloße<br />
Gefühle geben beileibe nicht das wieder, was tatsächlich existiert. Entsprechend ist dann<br />
auch nicht von Vergebung die Rede. Vielmehr davon, dass solche Gefühle von der Umwelt<br />
„übertragen“ oder gar aufgenötigt worden seien; nun müssen sie „bearbeitet“ oder „aufgearbeitet“<br />
werden. „Ich bin Schuld“ – das gilt in der Regel als ein unzutreffender Satz; wenn ü-<br />
berhaupt, sind es andere („die Gesellschaft“, „der Zeitgeist“, oft genug auch „die Kirche“),<br />
jedenfalls nicht ich persönlich.<br />
Ein kluger Mann hat geschrieben: „Gott ist Licht. Wir dagegen bewegen uns sehr oft im Zwielicht.<br />
Bei uns besteht Verdunkelungsgefahr“. Ich denke, damit hat er Recht. Da, wo wir statt<br />
von Schuld nur noch von Schuldgefühlen sprechen, verdunkeln wir die tatsächlichen Verhältnisse.<br />
Zugleich machen wir uns den Weg zum Licht unendlich schwer. Wer dahin will,<br />
muss auch die dunkelsten Anteile „ans Licht bringen“ lassen. Deshalb ist es gut, wenn wir<br />
das Sündenbekenntnis, das am ersten Sonntag im Monat am Anfang unseres Gottesdienstes<br />
steht, nicht nur als regelmäßige fromme Übung verstehen. Das ist schon ein besonderer<br />
Akt! Es stellt mich direkt vor Gott. In dem Moment, wo ich Gott gleichsam „Auge in Auge“ gegenübertrete<br />
und meine Sünden als mein eigen es Tun bekenne, trete ich in das Licht der<br />
Wahrheit. Das ist das Besondere bei diesen Johannesversen. Er beschreibt das Sündenbekenntnis<br />
als ungeheuren Befreiungsschlag: mit einem Schritt vom Dunkel ins Licht; mit einem<br />
Schritt ins Leben.
Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 02.07.06<br />
Manchmal schaffen wir das nicht alleine. Wir brauchen Hilfe. Sie, liebes Ehepaar W., haben<br />
für Ihre Lia zwei Verse aus dem 91. Psalm als Taufspruch ausgesucht:: „Gott hat seinen Engeln<br />
befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen; dass sie dich auf Händen tragen<br />
und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.“<br />
Hier geht es natürlich um den klassischen Schutzengel. Das ist Ihr Wunsch für Lia: Dass<br />
Gottes Hilfe für sie da ist – möglichst immer, in jeder Situation. Vor allem den gefährlichen<br />
(das bedeutet „an einen Stein stoßen“). Aber die Aufgabe so eines Schutzengels geht ja weiter.<br />
Er ist nicht nur in den gefährlichen Situationen wichtig, sondern auch in den schwierigen.<br />
Dann etwa, wenn wir an Kreuzungen auf unserem Lebensweg angekommen sind, wenn wir<br />
(manchmal sehr plötzlich) vor wichtigen Entscheidungen stehen. Wie sehr wünschen wir uns<br />
dann einen, der uns an der Hand nimmt und sagt: „Da geht’s lang! Das ist der richtige Weg<br />
für dich.“<br />
Die Bibel, vor allem das Alte Testament, gibt da einen wertvollen Hinweis. Sie sagt: Gottes<br />
Engel brauchen keine Flügel. Mit anderen Worten: Sie begegnen dir meist wie ganz normale<br />
Menschen. Kein überirdisches Leuchten, kein Flügelschlagen, keine himmlische Begleitmusik...<br />
(wer auf derartige Erscheinungen wartet, muss lange und vergeblich warten). Nein, ein<br />
Mensch wie du und ich ist einfach zur rechten Zeit am rechten Ort. Er gibt dir die Hilfe, das<br />
rechte Wort, das du gerade brauchst. Von solchen Erfahrungen ist im alten Testament die<br />
Rede – sehr oft sogar, damit wir durch solche Berichte lernen, offen zu sein für Engel und<br />
ihre Hilfe in unserem Leben. Manchmal sind wir so „vernagelt“, so absolut verschlossen,<br />
dass wir das Licht nicht sehen, selbst wenn es direkt vor unserer Nase ist. Dann brauchen<br />
wir einen Engel, der uns darauf stößt. Vielleicht wird es auch mal einer sein, der uns ermuntert,<br />
eine Schuld einzugestehen und so den Weg freizumachen für einen Neuanfang in einer<br />
guten, lebendigen Gemeinschaft.<br />
Wir merken schon: Die Bibel weiß viel mehr von Engeln als das, was wir gemeinhin unter<br />
Schutzengeln verstehen. Und wir wollen Ihrer Lia heute wünschen, dass sie Gottes guten<br />
Segen in seiner ganzen lebendigen Vielfalt kennen lernt. Liebende Menschen, helfende<br />
Menschen, weise Menschen... Eltern, Verwandte, Freunde – und immer wieder überraschende,<br />
segensreiche Begleiter.<br />
Amen.
Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
in der<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am 7. Sonntag nach Trinitatis<br />
30. Juli <strong>2006</strong><br />
Predigttext: Philipper 2,1-4<br />
Ist nun bei euch Ermahnung in Christus, ist Trost der Liebe, ist Gemeinschaft des Geistes, ist<br />
herzliche Liebe und Barmherzigkeit, so macht meine Freude dadurch vollkommen, dass ihr<br />
eines Sinnes seid, gleiche Liebe habt, einmütig und einträchtig seid. Tut nichts aus Eigennutz<br />
oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte einer den andern höher als sich<br />
selbst, und ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient.<br />
Liebe Gemeinde!<br />
Briefe sind für Inhaftierte etwas ganz Besonderes – und zwar nicht nur Briefe, die sie bekommen,<br />
sondern ebenso sehr Briefe, die sie selbst schreiben. Sie geben den Gefangenen<br />
Gelegenheit, sich mitzuteilen, über Sorgen und Ängste zu sprechen und auch über Gefühle,<br />
die im Gespräch zu äußern ihnen schwerfällt (über Reue etwa oder auch über Liebe). eines<br />
aber ist sicher ausgesprochen selten: dass einer aus dem Gefängnis über seine Freude<br />
schreibt und zwar so ausführlich und begeistert, dass sein Brief als „Freudenbrief“ in die Geschichte<br />
eingegangen ist.<br />
Den haben wir heute vor uns. Vier Verse haben wir daraus gehört. Paulus schreibt an seine<br />
Gemeinde in Philippi. In immer neuen Worten und Wendungen bringt er seine Freude über<br />
die Gemeinde zum Ausdruck, die er selbst auf seiner zweiten Missionsreise (etwa im Jahr<br />
50) gegründet hat. Das ist nicht leicht nachzuvollziehen. Dass die Gemeinde so vorbildlich<br />
lebt, dass es ein Grund zur Freude ist, mag ja sein, aber dass diese Freude für Paulus in<br />
seiner notvollen Situation alles andere in den Schatten stellt, das ist schwer nachzuvollziehen.<br />
Klage hätte man erwartet, Bitte um Hilfe, vielleicht eine Art letzte Verfügung... Denn<br />
Paulus sitzt im Gefängnis in Ephesus. Grund dafür ist seine engagierte Missionsarbeit. Kein<br />
schweres Verbrechen nach heutigem Maßstab. Anders damals: Erregung öffentlichen Aufruhrs<br />
wird ihm vorgeworfen. Ein beschwerlicher Gefangenentransport nach Rom steht ihm<br />
bevor. Dort soll ihm der Prozess gemacht werden, ein Prozess mit ungewissem Ausgang.<br />
Paulus muss sogar damit rechnen, zum Tode verurteilt zu werden.<br />
Wer könnte in dieser Situation einen „Freudenbrief“ zu Papier bringen?! Paulus kann es. Es<br />
gibt ihm Kraft, an seine Gemeide in Philippi zu denken. Er liebt die Menschen dort und er<br />
freut sich, weil diese Menschen es schaffen, seinem Traum von einer christlichen Gemeinde<br />
so weitgehend zu entsprechen. „Herzliche Liebe“, „Gemeinschaft des Geistes“, Barmherzigkeit<br />
findet er dort im Gemeindeleben, ein guter Boden für Einmütigkeit, Demut und Nächstenliebe.<br />
Er will die Gemeinde stärken mit seinen Worten, merkt wohl aber auch, dass es ihm<br />
selbst Kraft gibt, sich der Gemeinde so mitzuteilen. Es ist eine Art Rückblick, ein Bilanzziehen.<br />
Immerhin hier, darf sich Paulus sagen, ist es gelungen, ein ganzes Stück weit das lebendig<br />
werden zulassen, was Jesus verkündigt hat. Zweitrangig, was mit mir selbst geschieht,<br />
die Sache Jesu geht weiter, ein wichtiges Lebensziel ist erreicht.<br />
Wagen wir den Sprung in unsere Zeit. Können wir einstimmen in die Freude des Paulus? Ist<br />
das, was Jesus wollte, bei uns verwirklicht? – Sicher nicht in vollem Maße, schon gar nicht<br />
weltweit, aber doch wenigstens so, dass wir sagen können: es gibt eine Art christlichen<br />
Common Sense, eine Übereinstimmung im Blick auf die wichtigsten christlichen Werte?
Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 30.07.06<br />
Ich habe daran erhebliche Zweifel. Lassen sie mich dazu zwei Beispiele anführen, Einzelfälle<br />
sicherlich und doch halte ich sie für sypmptomatisch. Erstens: ein Kurort, Fußgängerzone am<br />
Sonntagnachmittag. Eine Patientin eines Rehazentrums einer orthopädischen Klinik ist unterwegs<br />
– sie geht an zwei Krücken. Als sie vor einem Schaufenster steht, bemerkt sie, dass<br />
der Schnürsenkel eines Schuhs sich gelöst hat. Sie darf auf keinen Fall stürzen, sieht aber<br />
keine Bank oder eine andere Möglichkeit, den Schnürsenkel zu binden. Deshalb hält sie eine<br />
andere Passantin an und bittet sie, den Schnürsenkel zuzubinden. „Ich selber kann es nicht<br />
und habe Angst zu fallen“, sagt sie. Die angesprochene lächelt sie an und erwidert: „Verstehen<br />
Sie mich bitte nicht falsch, aber – nein, das geht nicht. Man könnte ja meinen, wir gehören<br />
zusammen“, dreht sich um und geht weiter.<br />
Zweitens: Ein <strong>Pastor</strong> aus Nordfriesland, einer ländlichen Gemeinde, erzählt aus seinem Religionsunterricht<br />
in der Realschule. Er behandelt die Bergpredigt, darunter das Jesus-Wort:<br />
„Wenn dich einer auf deine rechte Wange schlägt, so biete ihm auch die andere dar.“ Er behandelt<br />
das Thema so, dass er die rhetorische Frage stellt, wer bereit wäre, nach vorne zu<br />
kommen und ihn, den <strong>Pastor</strong> ins Gesicht zu schlagen. Gegen seine Erwartung meldet sich<br />
tatsächlich ein Schüler. Er schlägt den <strong>Pastor</strong> nicht nur auf die rechte Wange, sondern –<br />
nach Verlesung des Bibelwortes – auch auf die linke. Und das nicht nur einmal, sondern eineinhalb<br />
Minuten lang – (und wohl noch länger, hätte der <strong>Pastor</strong> dem nicht Einhalt geboten).<br />
Kein Einschreiten, nicht einmal Protest aus der Klasse, vielmehr die allgemeine Überzeugung,<br />
der <strong>Pastor</strong> habe ja selbst Schuld, habe er doch das Verhalten des Schülers selbst provoziert.<br />
Zwei aktuelle Beispiel aus jüngster Zeit (tatsächlich so geschehen, nicht konstruiert). Ich bin<br />
sicher: Sie sind über jedes einzelne ebenso entsetzt wie ich. Ich will sie nicht überbewerten,<br />
muss sie dennoch aber ernst nehmen – als Symptome einer Lieblosigkeit und Unbarmherzigkeit,<br />
die uns immer öfter begegnet. Lange schon reden wir nicht mehr von einer „christlichen<br />
Gesellschaft“ bei uns, aber können wir überhaupt noch von einer „christlich geprägten“<br />
Gesellschaft reden?! Können wir überhaupt noch ein Mindestmaß an christlichen Wertvorstellungen<br />
voraussetzen?<br />
Es hilft mir, wenn ich sehe, dass Paulus seinen Brief an eine christliche Gemeinde richtet. Er<br />
sieht einen deutlichen Unterschied im Leben der Gemeinde zum Leben der römischen Gesellschaft<br />
um sie herum. Tatsächlich sind es unterschiedliche Werte, die hier und dort gelebt<br />
werden. Und wenn ich mich umschaue, muss ich sagen: Diese Unterscheidung müssen wir<br />
(so traurig es ist) wohl mittlerweile auch wieder treffen. Wir sind verständlicherweise traurig<br />
darüber, dass wir weniger werden in den christlichen Gemeinden. Aber wir müssen und dürfen<br />
auch das andere sehen: Dass es in den Gemeinden unsichtbare Netze eines gelebten<br />
Glaubens gibt, Netze, die Menschen tragen und auffangen. Dort, wo Menschen andere in<br />
stiller Selbstverständlichkeit besuchen, helfen, wo es nötig ist, miteinander sprechen, miteinander<br />
beten vielleicht. Netze in den einzelnen Gemeinden, aber auch darüber hinaus: in der<br />
Stadt beziehungsweise der Region (Diakonie), weltweit („Brot für die Welt“). Überall dort, wo<br />
Menschen der Sache Jesu treu bleiben, wo sie ihm nachfolgen, einfach indem sie den Menschen<br />
treu bleiben, für die er sein Leben eingesetzt hat.<br />
Der Sache Jesu treu zu bleiben, das kann auch heißen: sich selbst treu sein und zu dem<br />
stehen, was man als wahr und richtig erkannt hat (selbst dann – oder besser: gerade dann! –<br />
wenn um einen herum diese Werte nach und nach verloren gehen).<br />
Paulus hat hier ein besonderes Wort für diese Haltung (ein Wort, das in unserer Sprache fast<br />
in Vergessenheit geraten ist): Er spricht von „Demut“. Das Wort kommt kaum noch vor –<br />
wohl auch, weil es den Geruch von Schwäche, von Angepasstheit, von ängstlichem Wegducken<br />
enthält. Doch christliche Demut will auf gar keinen Fall, dass jemand gedemütigt wird.<br />
Gemeint ist viel mehr der Mut, sich selbst und die eigenen Ansprüche ein Stück weit zurückzunehmen,<br />
um anderen eine bessere Chance zur Entfaltung zu geben. Es ist der Mut, nicht<br />
so sehr auf sich und die eigene Kraft zu vertrauen, sondern anzuerkennen, dass ohne Gottes<br />
Beistand nichts gelingen kann. Es ist der Mut, aus freiem Antrieb und eigener Entscheidung<br />
etwas von sich selbst für andere zu opfern – Zeit, Engagement, Liebe. Kurz: Es ist der<br />
Mut, das Du größer zu schreiben als das Ich.
Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 30.07.06<br />
Dort, wo das gelingt, dürfen wir Hoffnung haben – nicht nur für uns selbst als christliche Gemeinde,<br />
sondern auch für unser Umfeld: Dass etwas ausstrahlt vom gelebten Glauben und<br />
sich Jesu Werte so wieder durchsetzen gegen die Kälte und Unbarmherzigkeit unserer Zeit.<br />
Amen.
Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
in der<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am 8. Sonntag nach Trinitatis<br />
06. August <strong>2006</strong><br />
Predigttext: 1. Korinther 6, 9-12.14-18<br />
Oder wisst ihr nicht, dass die Ungerechten das Reich Gottes nicht ererben werden? Lasst<br />
euch nicht irreführen! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, Ehebrecher, Lustknaben, Knabenschänder,<br />
Diebe, Geizige, Trunkenbolde, Lästerer oder Räuber werden das Reich Gottes<br />
ererben. Und solche sind einige von euch gewesen. Aber ihr seid reingewaschen, ihr seid<br />
geheiligt, ihr seid gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch<br />
den Geist unseres Gottes. Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir<br />
erlaubt, aber es soll mich nichts gefangennehmen. Flieht die Hurerei! Alle Sünden, die der<br />
Mensch tut, bleiben außerhalb des Leibes; wer aber Hurerei treibt, der sündigt am eigenen<br />
Leibe. Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist, der in euch ist<br />
und den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört? Denn ihr seid teuer erkauft;<br />
darum preist Gott mit eurem Leibe.<br />
Liebe Gemeinde!<br />
Ich kann die Empörung, die Proteste förmlich hören: „Da haben wir's mal wieder! Das ist<br />
doch die altbekannte Sache! Typisch Kirche! Da wird mal wieder das moralische Schwert<br />
geschwungen und alles auf einmal niedergemäht – Unzucht, körperliche Liebe, Alkohol, Lästerei...<br />
Bald jeder bekommt sein Fett weg. Geknickt, mit schlechtem Gewissen stehen wir da.<br />
Gesenkten Hauptes gehen wir. Wir wissen doch selbst, wie schwach wir sind. Hat Paulus,<br />
hat die Kirche nicht mehr zu bieten?!“<br />
Ich kann diese Proteste gut verstehen. Was Paulus hier an die Korinther schreibt, klingt sehr<br />
moralisch und nach der frohen Botschaft darin muss man schon etwas suchen. Vor allem<br />
aber muss man sehen: Diese Bibelverse sind in der Kirchengeschichte immer wieder missbraucht<br />
worden.<br />
Paulus hatte die Korinther mahnen und warnen wollen vor einer schlimmen Fehlentwicklung.<br />
In der Hafenstadt Korinth ging es hoch her: Da gab es Prostitution (sogar in den Tempeln),<br />
es wurden Nächte durchgefeiert, wobei der Alkohol in Strömen floss, es kam zu Überfällen<br />
und Diebstahl. Das ist nun mal so in Hafenstädten, mag man sagen und auch Paulus ist Realist<br />
genug, das so zu sehen. Was ihm aber Angst macht, ist, dass er sieht: diese Misstände<br />
greifen auch in der kleinen christlichen Gemeinde mehr und mehr um sich. Da gibt es doch<br />
tatsächlich Prediger, die das auch noch fördern: „Uns ist alles erlaubt!“ verkündigen sie. „Wir<br />
sind getauft, also errettet. Wir haben schon Anteil an Christi Auferstehung. In den Gottesdiensten<br />
erleben wir das. Wir singen und beten bis zur Ekstase. Wir werden eins mit Gott in<br />
einer anderen Welt. Was kümmert es uns da noch, wie es hier zugeht?“<br />
„Seht ihr nicht, wohin das führt?“ fragt Paulus. „Ihr missversteht die christliche Freiheit als<br />
Zügellosigkeit. Ihr werft die Werte über Bord, für die Christus gelebt hat, sogar die zehn Gebote.<br />
Erinnert euch: Euer Körper ist Tempel des Heiligen Geistes, da heißt doch,Gott und<br />
Jesus Christus wohnen in euch. Das muss an der Art, wie ihr lebt, deutlich werden.“<br />
Wir wissen nicht, wie die Korinther auf diese Mahnung reagiert haben. Was wir aber kennen,<br />
ist eine lange unheilvolle Tradition. Es scheint, als hätten sich die falschen Prediger von Korinth<br />
durchgesetzt. Das Motto: „Mir ist alles erlaubt!“ hat zu zwei Extremen geführt (gegen-
Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 08.08.06<br />
sätzliche Extreme, die aber die gleiche Wurzel haben). Das eine ist die eben erwähnte Zügellosigkeit.<br />
Wenn mein Geist und meine Seele schon errettet sind, ist es ja egal, was mit<br />
dem Körper geschieht. Er ist eh nur ein Teil der vergänglichen Welt.<br />
Das andere Extrem missachtete den Körper ebenso. Es entwickelte sich unter Christen ein<br />
Lebensideal, das alle Formen von weltlicher Freude, jedoch jede Art von Genuss und Sinnlichkeit<br />
ablehnte. Als bester, eifrigster Christ galt der, der nur noch für die Innerlichkeit, für<br />
Glaube und Geist lebte, die ganze äußerliche materielle Welt dagegen möglichst ignorierte,<br />
dazu gehörte auch der eigene Leib. Seele und Geist galten als Sitz und Wirkungsstätte Gottes,<br />
der Leib dagegen als Quelle der Sünde.<br />
Folge davon war die Bekämpfung des eigenen Leibes und seiner Bedürfnisse. Das nahm<br />
kaum vorstellbare Formen an. Der Körper wurde bewusst vernachlässigt; er wurde dem<br />
Dreck gleichgesetzt – und das nicht nur im übertragenen Sinne.<br />
Einige Beispiele:<br />
• Der heilige Antonius, heißt es, habe in seinem Einsiedlerleben nie gebadet.<br />
• In den ersten Klöstern wurde das Baden drastisch beschränkt (in Monte Cassino zum<br />
Beispiel auf zwei bis drei Mal im Jahr).<br />
• Der heilige Hieronymus hielt ein verschmutztes Aussehen für ein Zeichen innerer<br />
Reinheit.<br />
• Und der heilige Assenius, ein Mönch, füllte gar seine Zelle mit Gestank an, um sich<br />
den Aasgeruch der Hölle zu ersparen.<br />
Aber die Leibfeindlichkeit beschränkte sich nicht auf Geruch und Aussehen. Es gehörte auch<br />
die Verachtung der Nahrung dazu, denn die ermöglichte es dem Körper ja, weiterzuexistieren.<br />
So gab es denn christliche Einsiedlermönche, die allein von Gras, Kräutern und rohen<br />
Getreidekörnern lebten. Das 6. Jahrhundert wurde das „goldene Zeitalter der Weidenden“<br />
genannt, denn da waren es schon sehr viele, denen es ganz natürlich erschien, ein christliches<br />
Leben mit Grasessen zu verbringen. Ein Mönch namens Petrus bezeichnete sich selbst<br />
als „Weidender am Jordan“ und von einem anderen hieß es: Er, Apasophronius, „graste“ ü-<br />
ber 70 Jahre lang am Toten Meer, zudem gänzlich nackt, denn er wollte seinem verachtenswerten<br />
Körper nicht den Genuss von Kleidung zukommen lassen.<br />
Zwei extreme Positionen – mit demselben Hintergrund: Der Aufspaltung des Menschen in<br />
einen guten (Geist/Seele) und einen schlechten (Leib) Teil. Für die christliche Tradition hatte<br />
das fatale Folgen: Alles, was dem Körper gut tut, was Spaß macht (gerade auch die Sexualität)<br />
galt als Verdächtig. Im Nachhinein hat man auch Paulus für die Entwicklung dieser Leibfeindlichkeit<br />
verantwortlich machen wollen.<br />
Gerade unser Predigttext heute Morgen zeigt aber, dass das nicht zu halten ist. Paulus<br />
nennt den Leib hier „Tempel des heiligen Geistes“. Das ist eine positive Wertung des Leibes<br />
wie wir sie uns stärker nicht denken können. Und wenn er uns dazu auffordert, „Preiset Gott<br />
an eurem Leib“, dann muss er doch wohl davon überzeugt sein, dass der Leib etwas so großes<br />
und Beachtliches ist, dass er dazu auch imstande ist. Von Leibfeindlichkeit kann da nicht<br />
die Rede sein. Der Leib als „Tempel des heiligen Geistes“ – was meint das eigentlich?<br />
Tempel – das ist die Stätte der Anbetung, Ort des Gottesdienstes. Es ist der Ort der Nähe<br />
Gottes, Gottes Wohnung, Stätte der Begegnung von Gott und Mensch. Paulus meint: Gott<br />
selbst hat unseren Leib dazu bestimmt, Stätte der Anbetung und Ort der Gottesbegegnung<br />
zu sein. Der Leib ist also nicht gleichgültig, schon gar nicht schlecht, im Gegenteil: Ich habe<br />
große Verantwortung für ihn. Gott hat mich mit Leib und Seele geschaffen, folglich bin ich<br />
auch mit Leib und Seele verantwortlich.<br />
Ich höre schon manche aufjubeln. Wir leben ja in einer Zeit, die in mancher Hinsicht genau<br />
die Gegenposition einnimmt zu den ersten christlichen Jahrhunderten. Von einem neuen<br />
„Körperbewusstsein“ ist heute vielfach die Rede. Fitnesszentren sprießen allerorten aus dem<br />
Boden, „Beauty“ und „Wellness“ sind expandierende Märkte und die westliche Welt ist stolz<br />
auf ihre Freiheit, ihre Freizügigkeit in Sachen Sexualität.
Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 08.08.06<br />
Aber Vorsicht! Hier droht doch ein Abkippen ins andere Extrem. Zurecht warnen viele vor<br />
einem „Körperkult“. Dort, wo Muskelbildung, sportliche Höchstleistung um jeden Preis,<br />
Schönheitsoperationen und freie Sexualität zu obersten Werten werden, hat man einen neuen<br />
Götzen. Der Körperkult hat geistige Armut und das Erkalten der Seele als Kehrseite der<br />
Medaille.<br />
Wie aber ist nun der goldene Mittelweg zu beschreiben? Von den falschen Extremen haben<br />
wir genug gehört.<br />
Lassen wir dazu Luther zu Wort kommen, für den ja Paulus der wichtigste Theologe war. Luther<br />
knüpft an den Slogan: „Mir ist alles erlaubt“ an. Tatsächlich sagt er, ist es so, dass der<br />
Christ durch seinen Glauben zu einer besonderen Freiheit findet: „Ein Christenmensch ist ein<br />
freier Herr aller Dinge und niemandem untertan“, sagt er und fügt gleich darauf an: „Ein<br />
Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“.<br />
Das ist weder paradox noch ein Widerspruch. Es beschreibt den besonderen Charakter unserer<br />
Freiheit. Gottes Gnade macht uns zwar frei, aber sie entlässt uns nicht aus der Verantwortung<br />
für uns selbst und aus der Verantwortung für die Welt, in der wir leben. Ja, es ist<br />
gerade das unverdiente Geschenk der Liebe Gottes, das uns in den Dienst ruft. Noch einmal<br />
Luther: „Durch den Glauben fährt der Christenmensch aufwärts zu Gott, von Gott fährt er<br />
wieder abwärts durch die Liebe.“ Das ist exakt das, was Paulus meint.<br />
Wir sind geheiligt, wir sind gerecht bei Gott. Wir haben diesen Status, der uns eine Freiheit<br />
gewährt, wie die Welt sie nicht kennt. Nun ist es an uns, daraus etwas zu machen . Es lohnt,<br />
noch einmal den Wochenspruch zu hören: „Lebt als Kinder des Lichts; die Frucht des Lichts<br />
ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit.“<br />
So zeigt sich unsere besondere Freiheit. Kinder des Lichts können wir sein und dürfen wir<br />
sein; Kinder des Lichts, die etwas von Gottes Liebe ausstrahlen und an ihre Umgebung abgeben.<br />
Und das mit allem, was uns Gott gegeben hat: von ganzem Herzen, geistvoll und<br />
Kraft unseres Körpers.<br />
Amen.
Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
in der<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am 9. Sonntag nach Trinitatis<br />
13. August <strong>2006</strong><br />
Predigttext: Jeremia 1, 4-10<br />
Und des HERRN Wort geschah zu Jeremia: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete,<br />
und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich<br />
zum Propheten für die Völker. Ich aber sprach: Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen;<br />
denn ich bin zu jung. Der HERR sprach aber zu mir: Sage nicht: «Ich bin zu jung», sondern<br />
du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. Fürchte dich<br />
nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR. Und der HERR<br />
streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine<br />
Worte in deinen Mund. Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du<br />
ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.<br />
Liebe Gemeinde!<br />
Vielleicht kennen sie den Roman (Ende der 80er Jahre wurde er viel gelesen) „Die unerträgliche<br />
Leichtigkeit des Seins“ von Milan Kundera. Darin kommt es in einer Schlüsselszene zu<br />
einer Auseinandersetzung zwischen dem Arzt Tomas und seiner Partnerin Teresa. Sie ist<br />
der Meinung, die beiden hätten in Zürich bleiben sollen, vor allem, weil er dort als Arzt so erfolgreich<br />
gearbeitet habe. „Du warst dazu berufen, zu operieren“, argumentiert sie. Er sieht<br />
es ganz anders. „Teresa“, antwortet er, „Berufung ist Blödsinn. Ich habe keine Berufung.<br />
Niemand hat eine Berufung. Und es ist eine ungeheure Erleichterung festzustellen, dass<br />
man frei ist und keine Berufung hat.“<br />
Ich hätte gern gewusst, was Jeremia diesem jungen Arzt antworten würde. Wahrscheinlich<br />
würde der Prophet ihm sogar ein Stück weit recht geben. Keine Berufung zu haben, ist eine<br />
Erleichterung und mag tatsächlich zu einem Gefühl von Freiheit führen.<br />
De facto aber sieht es anders aus. Berufungen gibt es durchaus. Jeremia weiß ein Lied davon<br />
davon zu singen. Er, ein einfacher Mann aus bürgerlichem Haus, erlebt sie aus heiterem<br />
Himmel. Als sensibel, zurückhaltend, verletzlich wird er uns vorgestellt, weder eine Kämpfernatur<br />
noch ein guter Redner. Dennoch sucht Gott gerade ihn aus für eine denkbar schwere<br />
Aufgabe. Er soll seinem Volk den Untergang ansagen. Er soll dem Volk den Spiegel vorhalten,<br />
soll Götzenverehrung, falsche Lebensweise und korrupte Politik beim Namen nennen<br />
und aufzeigen, wohin das führt: in den Krieg, in die Zerstörung Jerusalems, in die Verschleppung.<br />
Es wundert nicht, dass Jeremia sich wehrt. „Ach Herr, ich tauge nicht dazu, ich bin zu<br />
jung.“ Jeremia fühlt sich unfähig, unwürdig.<br />
Ich kann das gut nachempfinden, und ich glaube, den meisten geht es ebenso. Der Grund<br />
dafür ist: Es ist die nur allzu gut bekannte Neigung, plötzlich auftauchenden Anforderungen<br />
am liebsten aus dem Weg zu gehen. Schon aus unserer Schulzeit kennen wir das: Sobald<br />
ein Lehrer suchend den Blick schweifen ließ, sobald Gefahr drohte und einer „rangenommen“<br />
werden sollte, versuchte man abzutauchen. Die einen täuschten Geschäftigkeit vor<br />
(etwa, indem sie in den Tiefen ihrer Schultasche kramten), andere versuchten sich hinter<br />
dem Rücken des Vordermanns möglichst klein zu machen. Bloß nicht gesehen werden; nur<br />
nicht auffallen; es könnte ja mich treffen.
Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 20.08.06<br />
Das ist ein Reaktionsmuster, das sich in späteren Jahren durchhält. Wenn plötzlich besondere<br />
Aufgaben auftauchen, neigen wir dazu, uns zurückzuziehen. „Warum gerade ich?“, „Ich<br />
schaffe das zurzeit wirklich nicht“, „Mir ist das zu unwichtig oder zu gefährlich oder zu aussichtslos...“,<br />
„ich bin doch viel zu jung (zu alt, zu beschäftigt, zu unerfahren...)“ so oder so<br />
ähnlich lauten die Entschuldigungen, die Ausflüchte. Ich denke, wohl jeder von uns hat sich<br />
mal auf diese Weise aus der Affäre gezogen. Meistens klappt es auch, wenngleich Enttäuschungen<br />
entstehen und auch bei uns selbst ein ungutes Gefühl, manchmal sogar ein<br />
schlechtes Gewissen zurückbleibt.<br />
Es klappt nicht, wenn Gott im Spiel ist. Gott schaut tiefer. Er entlarvt die Argumente als Ausreden.<br />
Vor allem: Gott weiß, wem er etwas zutrauen, zumuten kann, und was...<br />
Jeremia heißt wörtlich übersetzt: „Jahwe (das ist der Name Gottes im Alten Testament) richtet<br />
auf.“ Und der junge, so unsichere Jeremia darf jetzt erfahren, dass ein Name selten bloß<br />
Zufall ist, manchmal vielmehr ein Lebensmotto. Gott weiß, was in ihm steckt. Er berührt nur<br />
seinen Mund und macht ihn damit fähig zu seinem großen Auftrag.<br />
Liebe Gemeinde, diese Berufungsgeschichte ist nicht nur etwas für große Propheten. Ganz<br />
im Gegenteil. Sie ist uns als Predigtext aufgegeben, weil sie für jeden von uns wichtige Fragen<br />
und Gesichtspunkte aufwirft.<br />
Das fängt schon an beim mangelnden Selbstbewusstsein des Jeremia. Wir kennen es nur zu<br />
gut und müssen auch zugeben, dass uns die anderen (jene, die vollmundig und selbstbewusst<br />
auftreten) eher suspekt sind. Mangelndes Selbstvertrauen hingegen ist die Regel, gilt<br />
als normal.<br />
Davon will uns Gott als erstes befreien. „Ich habe dich gebildet“, sagt Gott zu Jeremia und<br />
„Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleib bereitete“, „schon da sonderte ich dich aus,<br />
schon da bestellte ich dich für diese Aufgabe. Wenn das keine Grundlage für ein gesundes<br />
Selbstvertrauen ist!<br />
Und es ist keineswegs beschränkt auf den Propheten. Es gilt jedem von uns. Umgangssprachlich<br />
hat sich ein Bewusstsein davon erhalten: Manchmal ist die Rede davon, einer sei<br />
zum Arzt „geboren“ oder gar zum Lehrer, zum Erzieher „berufen“; ja selbst im Wort „Beruf“<br />
ist ein Rest davon erhalten: vom Bewusstsein, dass man seine Arbeit nicht nur frei und beliebig<br />
als Job zum Geldverdienen wählt, sondern dass es ein ganzes Stück weit vorbereitet<br />
ist – nicht nur durch die Eltern oder die Gesellschaft, „die Umstände“, sondern auch von<br />
Gott, der uns bestimmte Gaben verleiht und uns zutraut, daraus etwas zum Gewinn für das<br />
Ganze zu machen. An uns ist es, das zu erkennen, die Berufung zu hören und daraus etwas<br />
zu machen. Eine alte Geschichte („Columbin“) erzählt von einem Königshof, an dem alles<br />
zum Besten war. Da gab es starke Leute und gescheite Leute. Der König war ein König, die<br />
Männer mutig, der Pfarrer fromm und die Untergebenen fleißig. Es gab nur eine Ausnahme:<br />
Columbin war nichts. Wenn jemand sagte: Columbin, kämpf mit mir, sagte er: Ich bin schwächer<br />
als du. Wenn jemand ihn fragte: Wie viel ist zwei mal sieben? sagte Columbin: Ich bin<br />
dümmer als du. Und wenn jemand von ihm verlangte: Spring über den Bach! sagte er nur:<br />
Nein, ich traue mich nicht. Und wenn der König fragte: Columbin, was willst du werden? antwortete<br />
Columbin: Ich will nichts werden, ich bin schon etwas: Ich bin Columbin.<br />
In dieser alten Geschichte ist etwas enthalten von der Weisheit aus der Berufung des Jeremia.<br />
Tatsächlich müssen wir nicht erst etwas besonderes leisten, um „wer“ zu sein. Wir sind<br />
es schon, von Gott her, von Anfang an. Und vielleicht ist gerade das Columbins besonderer<br />
Auftrag, sein prophetisches Amt: Dass er die anderen, die Fleißigen, die ihrer Berufung so<br />
Bewussten daran erinnert, dass hinter all ihrer Leistungsfähigkeit ein anderer steht: Gott.<br />
Das führt mich zum zweiten Punkt: Wer darf eigentlich reden? Wem steht es zu, das prophetische<br />
Amt auszuüben? Jeremia und Columbin zerstören manche feste Vorstellung. Allzu<br />
viele stellen sich die Propheten als starke Männer mit donnernder Stimme vor. Unsere Beispiele<br />
zeigen: Gott traut gerade den Kleinen und Schwachen das prophetische Reden zu.<br />
Ich muss daran denken, wie viele Kinder (etwa aus unserer Kinderkirche und dem Kindergarten)<br />
begeistert von Gott und ihrem Glauben reden, so begeistert, dass sie schon manche
Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 20.08.06<br />
Erwachsene (die Eltern zum Beispiel) beeindruckt und „angesteckt“ haben. Da finden Erwachsene<br />
über die Begeisterung der Kinder zurück zum Glauben!<br />
Oder ich denke zurück an die Jahre in der Stiftung Alsterdorf. Mehrfach habe ich erlebt, dass<br />
Mitarbeiter dort zum Glauben (zurück-)gefunden haben – einfach nur dadurch, dass sie die<br />
Begeisterung der ihnen anvertrauten Behinderten miterlebten und sich – im besten Sinne<br />
des Wortes – anstecken, hineinziehen ließen.<br />
Keiner soll also sagen, er eigne sich nicht dazu, Gottes Wort weiter zutragen. Das ist alles<br />
unser prophetisches Amt! Ein ganz aktuelles Beispiel haben wir gerade in diesen Tagen erlebt.<br />
Mit Mühe lassen sich ja nur Kriegsberichte aus Nahost ertragen und auch die Aufrufe<br />
zum Frieden (sei es von Seiten der UNO oder aus dem Mund des Papstes) verklingen ungehört.<br />
Eine Ausnahme gab es jetzt aber tatsächlich: Es waren Kinder, betroffene Kinder von<br />
beiden Seiten, die in ganz einfachen kindlichen Worten um Frieden baten. Ich glaube, da<br />
endlich hat die Welt aufgemerkt.<br />
Ende der 30er Jahre hat Dietrich Bonhoeffer zum „Konzil des Friedens“ ein Faltblatt verfasst.<br />
Er beginnt es mit der Frage: „Wer ruft zum Frieden, dass die Welt es hört, dass sie zu hören<br />
gezwungen ist?“ Hier lässt sich seine Frage beantworten: Es sind nicht die Vertreter der Supermächte,<br />
auch nicht die großen Institutionen, es sind die Kleinen und Schwachen.<br />
An uns ist es, das auch bewusst zu hören, um es dann weiter zutragen. Ja, auch das besondere<br />
Hören gehört zum prophetischen Auftrag. Eine Erzählung der Chassidim bringt das gut<br />
auf den Punkt. Da heißt es von einem Schüler: Er konnte zuhören wie kein anderer, „denn<br />
die Ohren waren ihm mit der Seele innig verbunden“. Es geht also um ein Hören, das nicht<br />
nur Informationen aufnimmt. Nur dann wird es auch die Kraft entwickeln, etwas zu verändern.<br />
Wir merken, was alles notwendig zur Berufung (auch zu unserer!) gehört: Erstens, Gottes<br />
Ruf zu hören (mit Herz und Seele); zweitens, der Entschluss, ihm zu folgen (gegen alle Bedenken<br />
und Minderwertigkeitsgefühle) und drittens, dem auch treu zu bleiben (durch Qualen<br />
und Belastungen hindurch).<br />
Für Jeremia war seine lebensbestimmende Berufung kaum auszuhalten. Neben allen persönlichen<br />
Qualen musste er miterleben, wie seine Prophezeihung in Erfüllung ging in der<br />
Zerstörung Jerusalems. Er selbst gehörte wahrscheinlich zu den Deportierten. Dennoch<br />
kann er auch die andere Seite benennen: neben (und vor allem nach) der großen Zerstörung<br />
steht Gottes Wille zur Errettung und Erhaltung des Ganzen. Jeremias Symbol dafür ist der<br />
Mandelzweig, bis heute eines der schönsten und wichtigsten Zeichen für den Frieden – einen<br />
Frieden, der nur durch Gottes Hilfe möglich wird.<br />
Amen.
Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
in der<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am 10. Sonntag nach Trinitatis<br />
20. August <strong>2006</strong><br />
Predigttext: Römer 9,1-5 und 9,30-10,4:<br />
Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im heiligen<br />
Geist, dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe.<br />
Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine<br />
Stammverwandten sind nach dem Fleisch, die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört<br />
und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen,<br />
denen auch die Väter gehören, und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch,<br />
der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit. Amen.<br />
Was sollen wir nun hierzu sagen? Das wollen wir sagen: Die Heiden, die nicht nach der Gerechtigkeit<br />
trachteten, haben die Gerechtigkeit erlangt; ich rede aber von der Gerechtigkeit,<br />
die aus dem Glauben kommt. Israel aber hat nach dem Gesetz der Gerechtigkeit getrachtet<br />
und hat es doch nicht erreicht. Warum das? Weil es die Gerechtigkeit nicht aus dem Glauben<br />
sucht, sondern als komme sie aus den Werken. Sie haben sich gestoßen an dem Stein<br />
des Anstoßes, wie geschrieben steht (Jesaja 8,14; 28,16): «Siehe, ich lege in Zion einen<br />
Stein des Anstoßes und einen Fels des Ärgernisses; und wer an ihn glaubt, der soll nicht zuschanden<br />
werden.» Liebe Brüder, meines Herzens Wunsch ist, und ich flehe auch zu Gott<br />
für sie, dass sie gerettet werden. Denn ich bezeuge ihnen, dass sie Eifer für Gott haben, a-<br />
ber ohne Einsicht. Denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt, und suchen<br />
ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten und sind so der Gerechtigkeit Gottes nicht untertan.<br />
Denn Christus ist des Gesetzes Ende; wer an den glaubt, der ist gerecht.<br />
Liebe Gemeinde!<br />
Die Evangeliumslesung geht mir nach; sie lässt mich nicht los. Jesus weint um Jerusalem. Er<br />
schaut auf die Stadt und sieht zugleich das Leid, das auf sie zukommt. Er sieht die Stadtmauern<br />
fallen, die Häuser brennen, den Tempel in sich zusammenstürzen. und doch ist das<br />
nicht einmal das Schlimmste. Wie ich Jesus kenne, sind es vor allem die Menschen, um die<br />
es ihm geht. Das Schicksal der von Krieg und Untergang Betroffenen berührt ihn so, dass<br />
ihm die Tränen kommen.<br />
Wer von uns dächte dabei nicht an den Nahostkonflikt? Es scheint, als reiche Jesu prophetischer<br />
Blick bis in unsere Tage. Jerusalem und der Zion – gedacht als Nabel der Welt, als<br />
Wohnung Gottes, als Ort des Friedens – ist unter den Händen der Menschen zum Gegenteil<br />
geworden: zum Zankapfel, zur Quelle alter und neuer Streitigkeiten, zum Symbol eines weltweit<br />
eskalierenden Religionskonflikts. Jeden Tag bekommen wir Kriegsberichte zu hören von<br />
allen möglichen Orten der Erde. Wir leiden mit allen betroffenen Menschen. Und doch sticht<br />
der Nahostkonflikt heraus:<br />
• Er dauert schon so unendlich lange;<br />
• Frieden auf Dauer scheint so aussichtslos;<br />
• wir sind den Betroffenen in besonderer Weise verbunden: Dadurch, dass Jesus Jude<br />
war, haben wir als Christen ein ganzes Stück weit dieselbe Geschichte, dieselben<br />
heiligen Bücher, denselben Glauben wie die Israeliten. Vielleicht wäre es zu viel ge-
Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 20.08.06<br />
sagt, von „Glaubensbrüdern“ zu sprechen. Halbgeschwister sind wir allemal. Ich denke,<br />
auch das ist ein Grund, dass wir in diesem Konflikt besonders mitleiden.<br />
Unser Predigttext heute Morgen ist nicht weniger von Gefühlen bestimmt. Jetzt ist es Paulus,<br />
der seinen Schmerz zum Ausdruck bringt. Überwältigendes hat er erlebt; das will er seinen<br />
Brüdern weitersagen. Jesus Christus selbst hat sich ihm vor Damaskus offenbart – so eindrücklich,<br />
dass es ihn (im wahrsten Sinne des Wortes) umgehauen hat. Jetzt weiß er: alles<br />
Warten hat ein Ende. Der Messias ist da. Die alten jüdischen Weissagungen haben sich erfüllt.<br />
Mit Jesus ist die neue Zeit angebrochen.<br />
Paulus wird nicht müde, das weiterzusagen. Aber er muss die enttäuschende Erfahrung machen,<br />
dass der Funke nicht überspringt – jedenfalls nicht im erhofften Maße. Denn gerade<br />
die, an die er sich als erste wendet, sperren sich gegen das Neue. Gottes Volk, Träger der<br />
messianischen Verheißung, will nichts wissen von dem, was Paulus erlebt hat – oder räumt<br />
ihm zumindest nicht die Bedeutung ein. Jesus wird von den Juden nicht anerkannt als der<br />
lang ersehnte Messias.<br />
So sind Paulus' Worte eine erschütterndes Dokument der Zerrissenheit und der Verzweiflung.<br />
Einerseits eine Art Liebeserklärung an seine (ehemaligen) Glaubensgeschwister, andererseits<br />
eine zornige Abrechnung. Mit einem Ehrentitel spricht er sie an („Israeliten“ das heißt<br />
Gottesstreiter, als Kinder Gottes), an ihre besondere Erwählung erinnert er sie (an die Bundesschlüsse<br />
durch die Erzväter) und an Gottes besondere Geschenke für sie (seine „Herrlichkeit“,<br />
die sie in der Wüstenwanderung begleitete und die im Tempel wohnt; das Geschenk<br />
der Gesetzestafeln und ihres besonderen Gottesdienstes); er lobt ihren großen<br />
Glaubenseifer...<br />
All das sieht er, schätzt er, würdigt er; und dennoch bricht seine Rede um in einen verzweifelten<br />
Zorn: Ihr lauft Gefahr, all das Großartige zu verspielen! Für Paulus steht und fällt alles<br />
mit dem Bekenntnis zu Jesus Christus. Wer ihn als den Messias, als seinen Retter anerkennt,<br />
der ist selbst gerettet; wer diesen Glauben verwirft, der ist verloren. Paulus' Schmerz,<br />
seine Trauer um Israel steigert sich bis zur Selbstverfluchung.<br />
Wie hören wir heute solche Zeilen? Ich glaube, ein ganzes Stück weit können wir Paulus folgen.<br />
Wir als Christen haben in Jesus unseren Retter gefunden und wünschen diese großartige<br />
Erfahrung jedem. Mehr noch: Was würde sich ändern in der Welt, wenn tatsächlich sich<br />
die Völker zu Jesus als ihrem Messias bekennen und ihre Politik, ihr Leben danach ausrichten<br />
würden! Das käme einer Friedensrevolution gleich; das wäre der sichtbare Anbruch der<br />
messianischen Zeit!<br />
Und doch unterscheiden wir uns von Paulus. Wir behalten unsere Begeisterung im Herzen.<br />
Unser Glaube ist uns ein wertvoller, doch sehr persönlicher Schatz. Das laute Werben um<br />
die Sache Jesu liegt uns nicht. Das mag viele, vor allem persönliche Gründe haben. Entscheidend<br />
ist wohl aber auch, dass uns das Missionieren an sich suspekt geworden ist. Allzu<br />
oft ist es in der Geschichte missbraucht worden. Die Erweiterung von Macht und Einfluss, die<br />
Sucht nach Geld und Gold, der Sklavenhandel – all das hat sich unter dem Deckmantel der<br />
Mission verborgen. Hinzu kommt das Denken unserer Zeit: in einer weltoffenen liberalen<br />
Demokratie kommt Missionieren schlecht an. Es riecht zu sehr nach Besserwisserei, nach<br />
Rechthaberei und Engstirnigkeit.<br />
Erst recht melden sich Bedenken beim Missionieren der Juden. Paulus kann das zu seiner<br />
Zeit ganz unvoreingenommen angehen. Aber wir Deutsche?! Was die Juden betrifft, blicken<br />
wir zurück auf eine Geschichte von Missverständnissen übereinander und Unverständnis<br />
füreinander, eine Geschichte von Auseinandersetzung und Verfolgung, die im millionenfachen<br />
Mord an den Juden gipfelte.<br />
Als jetzt weltweit über eine friedenspolitische Mission in Nahost nachgedacht wurde, konnten<br />
sich die Deutschen kaum entschließen, sich mit Soldaten daran zu beteiligen. Unvorstellbar<br />
ein Gegenüber bewaffneter jüdischer und deutscher Soldaten! Gleiche Bedenken gelten für<br />
den Glaubensstreit: Wer wollte sich nach 1945 anmaßen, Juden den allein wahren, guten,<br />
christlichen Weg zu propagieren?!
Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 20.08.06<br />
So tragen wir weiter unseren Glaubensschatz im Herzen, zurückhaltend, schamhaft fast –<br />
und suchen doch zaghaft nach einem Ansatz für einen Dialog mit den Juden. Wie sagt es ein<br />
Kollege: „Ich bin kein Jude, aber ich verdanke dem jüdischen Glauben und Volk, dass ich<br />
Christ bin.“ Das Bewusstsein der gemeinsamen Wurzel ist ihm Grund genug, anhaltend um<br />
einen Dialog zu werben.<br />
Die Mehrheit der Christen scheint mir dennoch allzu zurückhaltend. Wichtige Impulse finde<br />
ich eher auf jüdischer Seite – bei Martin Buber etwa oder auch bei dem Rabbiner Leo Baeck.<br />
Letzterer schreibt: „Judentum und Christentum sollten einander Ermahnung und Warnung<br />
sein. Das Christentum das Gewissen des Judentums. Das Judentum das Gewissen des<br />
Christentums.“ Das sieht er als gemeinsame Aufgabe, als Basis und Möglichkeit aufeinander<br />
zu zugehen. „Und dann“, schreibt er, „werden beide imstande sein, zusammen ihren Platz<br />
einzunehmen, nicht wider einander, sondern Seite an Seite vor dem Forum des Allmächtigen,<br />
dem Richterstuhl, vor dem Juden und Christen sich gleichermaßen jeden Tag geladen<br />
wissen.“<br />
Das Taufwort, das du Marek, dir ausgesucht hast, passt zu der Thematik dieses Sonntags<br />
und zur aktuellen politischen Lage: Es steht in den Sprüchen Salomos (16,32): „Ein Geduldiger<br />
ist besser als ein Starker; und einer, der sich selbst beherrscht, ist besser als ein Eroberer.“<br />
Salomo trug nicht umsonst den Beinamen „der Weise“. Unter David und Salomo erlebte das<br />
Volk Israel eine Zeit des Friedens und der kulturellen Blüte wie später nie mehr. Noch heute<br />
richten sich viele der jüdisch messianischen Erwartungen sehnsüchtig auf eine Art Renaissance<br />
gerade dieser Epoche.<br />
Und in der Tat: Wie viel wäre allein gewonnen, wenn Geduld und Selbstbeherrschung die<br />
tonangebenden Tugenden wären! Dann hätte die Diplomatie eine echte Chance, dann wäre<br />
Frieden machbar – nicht als brüchiger Waffenstillstand (wie derzeit), sondern Friede mit<br />
dauerhafter Perspektive. Jedoch: Stärke messen und die Eroberung umstrittener Gebiete<br />
prägen die Realität. Auch Israel scheint die Weisheit seiner alten Schriften vergessen zu haben.<br />
Umso wichtiger ist es, dass deine junge Generation die alten lebenswichtigen Tugenden<br />
wieder entdeckt. Wenn es euch gelingt, Werte wie Geduld und Selbstbeherrschung im privaten<br />
wie im politischen Leben wieder Praxis werden zu lassen, haben wir, hat die Welt wieder<br />
eine Perspektive. Und es passiert noch mehr: es wird das Wirklichkeit, was Juden und Christen<br />
eint; wir erleben tatsächlich ein Stück messianischer Zeit.<br />
Gott gebe dir seinen Segen dazu, dass es dir gelingt, die tiefe Wahrheit deines Taufspruchs<br />
zu leben!<br />
Amen.
Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
in der<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am 13. Sonntag nach Trinitatis<br />
10. September <strong>2006</strong><br />
Predigttext: 1. Mose 4,1-16:<br />
Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und<br />
sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des HERRN. Danach gebar sie Abel, seinen<br />
Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann. Es begab sich<br />
aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes.<br />
Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR<br />
sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte<br />
Kain sehr und senkte finster seinen Blick. Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst<br />
du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist's nicht also? Wenn du fromm bist, so<br />
kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür,<br />
und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. Da sprach Kain zu seinem Bruder<br />
Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich<br />
Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein<br />
Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? Er aber sprach:<br />
Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. Und<br />
nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von<br />
deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag<br />
nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden. Kain aber sprach zu dem<br />
HERRN: Meine Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte. Siehe, du treibst mich<br />
heute vom Acker, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und muss unstet und<br />
flüchtig sein auf Erden. So wird mir's gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet. Aber der<br />
HERR sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden.<br />
Und der HERR machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände.<br />
So ging Kain hinweg von dem Angesicht des HERRN.<br />
Liebe Gemeinde!<br />
„Kain und Abel – das ist beinahe die Essenz der ganzen Weltgeschichte“, hat der Schriftsteller<br />
Stanislaw Lec einmal festgestellt. Es ist ein trauriges, zugleich nüchternes, realistisches<br />
Resümee. Die Weltgeschichte ist eine Geschichte der Kriege, die von der Urzeit bis in die<br />
Gegenwart reicht. Die Motive, die „Gesichter“ der Bedrohung wechseln, aber sie ist ständig<br />
da an wirkliche jedem Ort unserer Erde. Der morgige Tag, der 11. September, mahnt daran:<br />
Es gibt keinen sicheren und dauerhaften Frieden. Und selbst, wenn es einem Land gelingt,<br />
außenpolitisch Frieden zu wahren, muss es doch mit dem Unfrieden aus dem Inneren rechnen,<br />
mit unsichtbaren Fronten und Gegnern, die um so viel schwerer zu bekämpfen sind.<br />
Unser Predigttext, diese alte Geschichte von Kain und Abel, ist in besonderem Maße geeignet,<br />
grundsätzlich über Unfrieden, Krieg und Mord nachzudenken. Sie geht dem Problem im<br />
wahrsten Sinne des Wortes auf den Grund – dadurch, dass sie sich eben nicht festmacht an<br />
einem bestimmten Macht- oder Interessenkonflikt irgendeines Krieges, sondern tiefer geht:<br />
sie schaut auf und in das Herz des einzelnen Menschen. Das macht es uns auch unmöglich,<br />
abzuwinken und so zu tun, als ginge uns das Ganze nicht an. Nein, wer aufmerksam liest,
Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 10.09.06<br />
merkt schnell: In dem, was Gott dem Kain zu sagen hat, kommen auch wir zur Sprache. Im<br />
Spiegel, der Kain vorgehalten wird, erkennen wir uns selbst.<br />
Schauen wir noch mal in den Text: Noch bevor es zur Bluttat kommt, wendet sich Gott an<br />
Kain. „Warum ergrimmst du?“ Warum senkst du deinen Blick?“ fragt er ihn, und er warnt ihn:<br />
„Es lauert die Sünde vor deinem Herzen. Sie hat Verlangen nach dir. Lerne, sie zu beherrschen.“<br />
Hier ist für mich der Kern der Geschichte. Hier will der Text Antwort geben auf die große<br />
Frage, wie die schlimmste der Sünden, der Mord, in die Welt kommt. Er tut es nicht durch<br />
Aufzählung vieler Motive, sondern er wählt ein sehr treffendes Bild: Wie ein Dämon lauert die<br />
Sünde vor dem Herzen.<br />
Das ist nicht nur im Blick auf Kain gesagt; das gilt jedem von uns. Kain kann nicht verstehen,<br />
dass Abels Opfer von Gott angenommen wird, seines hingegen nicht. Das ist auch nicht zu<br />
erklären, und es wird auch im Zuge der Geschichte nicht erklärt. Kain fühlt sich zurückgesetzt,<br />
ungerecht behandelt. Und wenn wir ehrlich sind: ein ganzes Stück weit können wir ihn<br />
gut verstehen. Natürlich sind wir entsetzt über seinen Jähzorn und den Brudermord. Aber für<br />
sein Motiv, für den Auslöser haben wir Verständnis.<br />
Diese Dämonen, die vor der Tür des Herzens lauern, kennen wir nur zu gut:<br />
• die tiefe Verletzung etwa, wenn man nicht beachtet wird; wenn viel Mühe und gut geleistete<br />
Arbeit nicht anerkannt wird;<br />
• die Konkurrenz, die eigentlich immer da ist (auch unter Geschwistern, auch unter<br />
Freunden, auch unter Partnern); kurz: die Ungleichbehandlung, die Ungleichheit von<br />
Gleichgestellten;<br />
• die Angst, zu kurz zu kommen; das „scheele Auge“ auf die um mich herum: haben sie<br />
mehr Glück, mehr Zufriedenheit; sind sie „gesegneter“?<br />
Wer solches erlebt, vielleicht immer wieder erlebt, der wird zornig; dessen Blick verändert<br />
sich. Er kann dem anderen nicht mehr offen ins Gesicht schauen. Die Augen würden verraten,<br />
was in ihm rumort. Die Sünde lauert wie ein Dämon vor der Tür des Herzens und rüttelt<br />
gewaltig an der Tür. „Lerne sie zu beherrschen“, mahnt Gott. „Mach aus deinem Herzen keine<br />
Mördergrube“, sagt der Volksmund.<br />
Da ist die Gefahr unverblümt beim Namen genannt. Wie schnell können Neid und Eifersucht,<br />
angestaute Wut und das Gefühl anhaltender Ohnmacht umschlagen in Hass und Aggression!<br />
Wir erkennen, dass Kains Sünde, seine Trennung von Gott, bereits eine ganze Zeit vor<br />
dem Brudermord einsetzt: in dem Moment, als der lauernde Dämon Macht über sein Herz<br />
gewinnt. Der Mord selbst bringt eigentlich nur noch das zum Ausdruck, was vorher schon<br />
vorhanden war.<br />
Unser Text ist damit aber nicht zu ende. Das Urproblem, den Kern aller Konflikte beim Namen<br />
zu nennen, ist wichtig, aber es ist nicht genug. Was ist denn der Weg, den Dämon vor<br />
des Herzens Tür beherrschen lernen? Was müssen wir tun, um nicht Opfer unseres Zorns<br />
zu werden?<br />
Darauf antwortet der zweite Teil der Erzählung. „Wo ist dein Bruder Abel?“ fragt Gott Kain.<br />
Gott kennt natürlich die Antwort. Dennoch ist das viel mehr als eine rhetorische Frage, denn<br />
sie richtet sich an uns. Mit dieser Frage werden wir als Geschwister aneinander gewiesen.<br />
Gott erinnert uns an die Verantwortung füreinander und fordert uns auf, mit schöpferischer<br />
Liebe dieser Verantwortung gerecht zu werden. Das ist eine Liebe, die in Vorleistung gehen<br />
muss. Damit meine ich: eine Liebe, die geübt, die praktiziert wird – auch auf die Gefahr hin,<br />
dass sie nicht erwidert wird.<br />
Kains Antwort ist brandaktuell. Sie passt in das Dilemma unserer Tage: „Soll ich meines<br />
Bruders Hüter sein?“ höre ich diejenigen fragen, die sich aus der Verantwortung füreinander<br />
und der Not der schöpferischen Liebe herausstehlen wollen. „Ich kenne meine Nachbarn<br />
kaum“, „hier im Haus kümmert sich jeder nur um seinen eigenen Kram“, „wir haben schon<br />
seit Jahren keinen Kontakt mehr“ ... so oder ähnlich klingen Kains Antworten heute. Und<br />
auch wenn dem keine Bluttat vorausgegangen ist, sind die Folgen kaum weniger grausam:
Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 10.09.06<br />
Vereinsamung, Isolation, sozialer Tod. Wenn jeder nur noch zusieht, dass er selbst zu seinem<br />
Recht kommt (oder zu dem, was er dafür hält), muss er mit der Schuld leben, dass dabei<br />
viele auf der Strecke bleiben. Und er wird sich für diese Schuld verantworten müssen.<br />
Auch Kain wird mit seiner Schuld konfrontiert. Er hatte alles getan, sie zu verbergen (Abel<br />
beiseite geführt; die Schuld geleugnet), aber die Erde selbst lässt sie laut werden: die Stimme<br />
des Blutes schreit zu Gott. Wir wissen, wie erschreckend hart die Strafen im Alten Testament<br />
ausfallen. Für unser Rechtsempfinden heute ist es manchmal schwer erträglich zu<br />
lesen, wie im Alten Testament vergleichsweise kleine Vergehen mit dem Tod bestraft werden.<br />
Umso mehr verwundert das Ende von der Erzählung. Kain wird hart bestraft, keine Frage.<br />
Unstet und flüchtig auf Erden, immer im Kampf mit der Erde ums tägliche Brot, zudem<br />
gezeichnet mit dem Mal, für jeden als Mörder erkennbar und dadurch isoliert; das ist sein<br />
Schicksal. Und dennoch bleibt er unter Gottes Schutz. Ja, das Kainszeichen wird fast zum<br />
Segenszeichen (wer Kain tötet, „soll siebenfältig gerächt werden“). So viel bleibt festzuhalten:<br />
Auch der Belastete, ja Verfluchte bleibt unter den Augen Gottes. Gott will, dass er lebt.<br />
Für mich hat der Text hier fast neutestamentliche Züge. Wir wissen, wie Jesus mit Schuldiggewordenen<br />
umgegangen ist und wie er immer wieder Gottes große Liebe und Vergebungsbereitschaft<br />
unserer Tendenz zum schnellen Aburteilen gegenübergestellt hat. Wer selbst<br />
ohne Schuld ist, der richte seine Waffe auf Kain ... ist man versucht, (sehr frei) zu formulieren.<br />
Auch das ist mir am Text wichtig: Die Warnung vor dem schnellen, selbstgerechten Urteilen.<br />
Wir sollten daran denken<br />
• dann etwa, wenn wir uns vollmundig an der Diskussion über die späte Lebensbeichte<br />
eines Günter Grass beteiligen;<br />
• dann, wenn uns die Wut blind zu machen droht, im ohnmächtigen Kampf gegen den<br />
Terrorismus, wenn so viele nach schnellen, radikalen, allzu einfachen Lösungen rufen;<br />
• aber auch dann, wenn wir laut und zornig reagieren, wenn (wie am vergangenen<br />
Sonntag) eine Kollekte für die Gefängnisseelsorge erbeten wird.<br />
Der Dämon der Sünde lauert vor der Tür jedes Herzens, und er hat viele Gesichter!<br />
Amen.
Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
in der<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am 15. Sonntag nach Trinitatis<br />
24. September <strong>2006</strong><br />
Predigttext: Galater 5, 25-6,10:<br />
Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln. Lasst uns nicht nach eitler Ehre<br />
trachten, einander nicht herausfordern und beneiden. Liebe Brüder, wenn ein Mensch etwa<br />
von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist, ihr,<br />
die ihr geistlich seid; und sieh auf dich selbst, dass du nicht auch versucht werdest. Einer<br />
trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. Denn wenn jemand meint,<br />
er sei etwas, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst. Ein jeder aber prüfe sein eigenes<br />
Werk; und dann wird er seinen Ruhm bei sich selbst haben und nicht gegenüber einem<br />
andern. Denn ein jeder wird seine eigene Last tragen. Wer aber unterrichtet wird im<br />
Wort, der gebe dem, der ihn unterrichtet, Anteil an allem Guten. Irret euch nicht! Gott lässt<br />
sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten. Wer auf sein Fleisch sät,<br />
der wird von dem Fleisch das Verderben ernten; wer aber auf den Geist sät, der wird von<br />
dem Geist das ewige Leben ernten. Lasst uns aber Gutes tun und nicht müde werden; denn<br />
zu seiner Zeit werden wir auch ernten, wenn wir nicht nachlassen. Darum, solange wir noch<br />
Zeit haben, lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen.<br />
Liebe Gemeinde!<br />
Ich weiß nicht, wie es den Christen seinerzeit mit diesem Paulus-Brief ergangen ist. Ich<br />
könnte mir aber denken, dass sie erhebliche Verständnisschwierigkeiten hatten. Dabei klingt<br />
die Ausgangsfrage doch ganz einfach: Wer ist ein Christ? bzw. Wie lebt ein Christ? Das dürfte<br />
ja nicht allzu schwer zu beantworten sein, zumal von einem Apostel wie Paulus. Und in<br />
der Tat sind viele der Anweisungen und Mahnungen gut verständlich. Dann aber wagt Paulus<br />
den großen Schritt. Er merkt: Es lassen sich gar nicht alle Einzelpunkte aufzählen; dazu<br />
ist die Frage viel zu groß. Wer ist ein Christ? Wie lebt ein Christ? Paulus will darauf eine generelle<br />
Antwort geben – kurz soll sie sein, kurz und prägnant, eine Art Glaubensformel, die<br />
sich einprägt.<br />
Er findet sie auch, diese Antwort. Aber verstehen wir sie auch?<br />
„Wer auf das Fleisch sät, wird Verderben ernten.<br />
Wer auf den Geist sät, wird das ewige Leben ernten.“<br />
Das Säen auf Fleisch, Säen auf den Geist – zwei Bilder, jedoch schwierige Bilder, denn sie<br />
machen nichts anschaulich, wenigstens nicht auf den ersten Blick. Dabei treffen sie den entscheidenden<br />
Punkt, für uns moderne Menschen noch mehr als für die Christen in Galatien.<br />
Mit „Fleisch“ meint Paulus die Summe aller Eigenschaften, mit denen die Natur uns ausgestattet<br />
hat. Dazu gehört der Verstand, der – etwa durch Wissenschaft und Technik – einen<br />
enormen Fortschritt an Erkenntnis bewirkt hat. Dazu gehören aber auch Egoismus und<br />
Selbstsucht, Neid und Aggression.<br />
Wir staunen über die rasante Entwicklung der technischen Möglichkeiten. Da ist gerade die<br />
erste Raumfahrt-Touristin aus dem All zurückgekehrt! Da wird das menschliche Erbgut entschlüsselt!<br />
Erbkrankheiten werden mikrochirurgisch behandelt; chirurgische Eingriffe also in
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Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 24.09.06<br />
der einzelnen Körperzelle! Wer hätte all so etwas noch vor wenigen Jahren für möglich<br />
gehalten?!<br />
Die technischen Möglichkeiten werden immer unglaublicher – und dennoch ist der Mensch<br />
offensichtlich nicht imstande, seine eigentlichen Probleme zu lösen: ein Zusammenleben in<br />
Würde und Frieden zu gewährleisten und Hunger und Armut zu überwinden.<br />
Der Mensch steht sich selbst im Weg. Auch die größten Fortschritte in Wissenschaft und<br />
Technik können nicht verhindern, dass Selbstsucht, Gewinnstreben und Vorteilnahme sich<br />
durchsetzen. Natürlich gab es das auch schon zur Zeit des Paulus (er spricht es ja auch offen<br />
an), welches Ausmaß es aber annehmen würde, konnte damals keiner ahnen. In nicht<br />
einmal einem halben Jahrhundert haben wir es „geschafft“, ein Fünftel des fruchtbaren Bodens,<br />
ein Fünftel der tropischen Regenwälder und Zehntausende von Tier- und Pflanzenarten<br />
unwiederbringlich zu verlieren. Mit atemberaubendem Tempo wurden und werden die<br />
natürlichen Ressourcen und Energieträger abgebaut. Gleichzeitig erleben wir eine Verelendung<br />
und Not von unbeschreiblichem Ausmaß. Im gleichen Zeitraum (eines halben Jahrhunderts)<br />
hat sich die Weltbevölkerung fast verdoppelt. Die Konsequenzen werden uns nach<br />
und nach bewusst (z.B. der Klimawandel), aber es gibt genügend Anzeichen, die auf weitaus<br />
Schlimmeres hindeuten: Tagtäglich fliehen Tausende von Afrikanern meist unter Lebensgefahr<br />
aus ihren Ländern nach Europa, weil sie weder Nahrung noch Kleidung haben und vor<br />
allem, weil in ihren Ländern das Wichtigste ausgeht: das Trinkwasser.<br />
Die Menschheit ist von sich aus offenbar nicht in der Lage, das Verderben, das von ihr selbst<br />
verursacht auf sie zukommt, abzuwenden. Und einen Fortschritt in Sachen Menschlichkeit<br />
und Verantwortung gibt es kaum. Eher macht sich Resignation breit, das Gefühl, eh nichts<br />
ändern zu können an den katastrophalen Entwicklungen. Die Devise lautet: Augen zu, solange<br />
es geht. Als an den Urlaubsstränden auf den Kanaren halbtote afrikanische Flüchtlinge<br />
vor die Füße der sonnenbadenden Touristen gespült wurden, waren die es, die eine erste<br />
Notversorgung leisteten (die Behörden sehen sich dazu nicht mehr imstande). In den A-<br />
bendnachrichten wurden die entsprechenden Bilder gezeigt. Und es wurden einige Touristen<br />
interviewt. Auf die Frage, ob das Flüchtlingsdrama bei ihnen etwas verändert habe, antworteten<br />
gleich mehrere: Ja, sie hätten erkannt: hier könne man nicht mehr hinfahren zum Urlaub<br />
machen.<br />
Augen zu, solange es geht ...<br />
„Wer auf das Fleisch sät, wird Verderben ernten“, sagt Paulus. Und er meint damit, unsere<br />
verhängnisvolle Tendenz, ganz auf die eigenen Fähigkeiten, die eigene Stärke zu vertrauen.<br />
Wir sind dabei, in vollem Ausmaß zu erleben, wohin das führt.<br />
Aber Paulus hat auch etwas dagegen zu setzen: „Wer auf den Geist sät, der wird das ewige<br />
Leben ernten.“ Das „Fleisch“ samt seinen verhängnisvollen Folgen ist offenbar nicht alles. Im<br />
Menschen wohnt der Hang zur Destruktivität; sie kann viele Gesichter haben (Neid, Selbstgerechtigkeit,<br />
Selbstsucht, Gewinnstreben ...), aber wir sind dem nicht heillos ausgeliefert.<br />
Christen sind begabt mit Gottes Geist. Im Glauben an Jesus Christus wird er uns verliehen –<br />
und er bewirkt viel: Er lässt uns spüren, dass wir geliebt und von dieser Liebe getragen sind.<br />
Das entlastet. Plötzlich merken wir, dass wir frei sind von dem Zwang, in allem immer nur auf<br />
uns zu achten. Wer sich von Gottes Liebe gehalten weiß, der muss nicht dauernd Angst haben,<br />
zu kurz zu kommen. Dessen Blick wird frei für den anderen, für dessen Nöte und Belange.<br />
Wer im Geist lebt, spürt Kraft frei werden.<br />
„Wenn wir im Geiste leben, so lasst uns auch im Geiste wandeln“, sagt Paulus. Und er gibt<br />
an, worin der Wandel im Geist besteht. „Wandel im Geist“ vollzieht sich in der Befolgung der<br />
einfachen, selbstverständlichen Regeln von 'Anstand, Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft.<br />
Das klingt so simpel und banal – und doch muss es gesagt werden, gerade heute, wo uns<br />
das vermeintlich so Selbstverständliche abhanden zu kommen droht.<br />
Das Bild vom Säen und Ernten auf das Fleisch und auf den Geist hat mir anfangs viel Mühe<br />
gemacht. Jetzt aber, im Blick auf das Ergebnis, gibt es mir sehr viel. Ich finde es gut und hilfreich,<br />
dass Paulus vom „Ernten“ spricht. Ich glaube, er vermeidet es bewusst, von Erfolg zu
Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 24.09.06<br />
sprechen. Das klingt allzu sehr nach eigenem Verdienst. Es sind aber nicht wir selbst, es ist<br />
der Geist, der etwas bewirkt – durch uns. Wir dürfen (um im Bild vom Ernten zu bleiben) erleben,<br />
wie unser Leben im Geist Frucht bringt.<br />
Das kann manchmal dauern – länger als es uns lieb ist. Da wird von uns die Geduld erwartet,<br />
die der Bauer aufbringen muss. Er kann säen, er kann den Boden bearbeiten, die<br />
Fruchtansätze pflegen. Dann aber muss er warten, bis die Frucht reif ist. Dazu kann er nichts<br />
tun.<br />
Nicht anders geht es uns, wenn wir „im Geist leben“. Wer so lebt, wie Christus es von uns<br />
erwartet, kann nicht auf den schnellen Erfolg hoffen. Aber die Frucht seines Handelns ist ihm<br />
verheißen – und noch mehr: Gute, schöne Früchte üben eine besondere Anziehungskraft<br />
aus. Sie locken andere heran. Sie leuchten verheißungsvoll, wecken den Appetit, machen<br />
die Lust auf mehr. So ist es auch mit den Früchten, die durch den Geist gewirkt sind: Sie ü-<br />
ben auf andere eine große Anziehungskraft aus.<br />
Wir hören in diesen Tagen viel vom „starken“ Islam; oft genug wird dabei der „starke“ Islam<br />
gegen das „schwache“ Christentum abgesetzt. So ein Vergleich ist zu kurz gedacht, ist oberflächlich.<br />
Der Geist Christi verschafft sich nicht mit markigen Worten Geltung. Er arbeitet nicht mit<br />
Angst und Drohgebärden. Er ist an seinen Früchten erkennbar. Wo in den Familien und Gemeinden,<br />
in den Büros und Parlamenten anständig, menschlich, ehrlich und liebevoll miteinander<br />
umgegangen wird, gewinnt Gestalt, was Paulus mit dem Geist Gottes meint. Das, versichert<br />
er uns, kann viel bewirken. Deshalb: „Lasst uns Gutes tun an jedermann. Wir haben<br />
die Zeit dazu.“ Oder (mit Luther schärfer und für unsere Tage passender übersetzt): „Lasset<br />
uns Gutes tun, solange wir noch Zeit haben.“<br />
Amen.
Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am Erntedankfest<br />
01. Oktober <strong>2006</strong><br />
Predigttext: 1. Timotheus 4,4-5<br />
Liebe Gemeinde!<br />
Der Predigttext zum Erntedankfest ist kurz, nur zwei Verse lang:<br />
Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen<br />
wird; denn es wird geheiligt durch das Wort Gottes und das Gebet.<br />
Das klingt unspektakulär, allzu selbstverständlich (wenigstens im ersten Moment). „War das<br />
schon alles?“ wird mancher insgeheim fragen.<br />
Ursprünglich aber waren diese wenigen Worte durchaus brisant und umstritten. Paulus<br />
schreibt sie an Timotheus. Der ist in einer schwierigen Situation: Er will Gemeinden in Ephesus<br />
(und Umgebung) aufbauen und festigen. Aber er kommt nicht recht weiter. Überall stößt<br />
er auf Widerstand, vor allem Irrlehrer machen ihm das Leben schwer.<br />
In Ephesus ist es vor allem eine Gruppe, die viel Einfluss hat. Sie lehrt, man könne durch<br />
Enthaltsamkeit und durch Einhaltung bestimmter Speisevorschriften schneller und sicherer<br />
zu Gott finden. Die sind es, gegenüber denen Paulus mit Nachdruck betont: „Alles, was Gott<br />
geschaffen hat, ist gut und nichts verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird.“ Mit anderen<br />
Worten: Ihr dürft alles zu euch nehmen, was euch schmeckt. Entscheidend ist nicht,<br />
was ihr esst, sondern mit welcher Haltung ihr es zu euch nehmt: Dankbar sollt ihr sein und<br />
euch bewusst machen, dass hinter allen guten Gaben ein Geber steht, Gott selbst.<br />
Irrlehrer, wie die in Ephesus haben wir heute nicht mehr. Und doch gibt es sie wieder – in<br />
anderer Gestalt und mit neuem Gesicht. Lehrer, die „Heilswege“ beschreiben; die uns sagen,<br />
wie wir unser Heil-Sein selbst machen.<br />
„Trainingsprogramme“ für Körper, Geist und Seele gibt es etliche, und die Vokabeln, mit denen<br />
sie angeboten werden, sind verräterisch. Von „Gesundheitsaposteln“ ist die Rede; Anführer<br />
der Bestsellerlisten werden sogar als „Gesundheitspäpste“ bezeichnet und die Boulevardpresse<br />
nennt ihre Bücher gerne „Evangelien“. Das ist selten scherzhaft gemeint. Etwas<br />
anderes zeigt sich: Der Verlust von Glaube und Bibel hat Lücken hinterlassen. Es fehlt an<br />
Sinn und Orientierung, an Lebenszielen. Doch auch wenn wir es uns nicht gerne eingestehen:<br />
Keiner kann leben ohne Orientierung und Zielvorstellungen. Und so werden die Lücken<br />
gefüllt durch neue Angebote. Das, was früher Askese und Enthaltsamkeit genannt wurde,<br />
heißt heute Diät und Fitness. Das ist an sich ja nichts schlechtes (maßvoll zu essen und für<br />
genügend Bewegung zu sorgen, ist sogar lebenswichtig). Gefährlich aber wird es, wenn es<br />
den obersten Stellenwert im Leben einnimmt. Dann wird es zu dem, was Luther „Götze“<br />
nennt: Das, woran mein Herz hängt; wenn Fitness zum „Körperkult“ wird, und Diäten zu Diätenwahn<br />
und Magersucht führen.<br />
Die neuen „Gesundheitsapostel“ sind in dem, was sie versprechen, ja nicht zimperlich:
Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 01.10.06<br />
‣ Der, der sich an ihre Weisungen hält, wird von „wahrer“ Lebensenergie durchflutet<br />
(das meint Leistungsstärke, Gemütsruhe, Seelenfrieden …);<br />
‣ „ewige“ Gesundheit mit einem<br />
‣ Durchschnittsalter von 140 Lebensjahren.<br />
Wir merken schon: Hier geht es nicht mehr um seriöse Medizin und Wissenschaft, hier geht<br />
es um Glauben (im Sinne von: vertrauen auf). Fitness und Diäten, „Körperbewusstsein“, (wie<br />
es heute gern genannt wird) kann religiöse Züge annehmen, mehr noch: es ist zu einer Art<br />
neuer Religion geworden.<br />
Was haben Paulus und Timotheus dagegenzusetzen? Als Maßstab für unser Essen und<br />
Trinken nur das Eine: dass wir Gott von ganzem Herzen danken können. Das ist alles: ein<br />
Leben voller Dankbarkeit. Wenn der Timotheusbrief Recht hat, reicht das im Grunde aus, um<br />
fürs Leben fit zu sein.<br />
Einer, der sich beschenkt weiß und dankbar ist, hat wirklich eine Lebensgrundlage und wird<br />
das auch ausstrahlen. Gott hält mich, Gott sorgt für mich … ich muss mich nicht stark und<br />
schön trimmen, um vollwertig zu sein. Für Gott bin ich es längst.<br />
Das klingt sehr einfach. Aber gerade mit dem Wort ‚Dankbarkeit’ klingt ein sehr problematischer<br />
Punkt an. „Aus Gewöhnung entsteht Verwöhnung“, las ich kürzlich. So ist es doch tatsächlich:<br />
Wir haben uns längst daran gewöhnt, alles Lebensnotwendige zu haben. Mehr<br />
noch: Wir haben uns an einen gewissen Luxus gewöhnt; er ist uns ganz selbstverständlich.<br />
Wir sind verwöhnt, und bei Gewöhnung und Verwöhnung bleibt die Dankbarkeit schnell auf<br />
der Strecke.<br />
Dabei kennen gerade die Älteren unter uns auch noch ganz andere Zeiten. In der Kriegsund<br />
Nachkriegszeit war nicht einmal das zum Leben Allernötigste selbstverständlich. „Gib<br />
uns unser täglich Brot“ war oft die wichtigste Bitte im Vaterunser. Das hat auch noch die<br />
fünfziger und sechziger Jahre geprägt. Der heute so verpönte Satz „Es wird gegessen, was<br />
auf den Tisch kommt“ war allgemein im Gebrauch – einfach schon vom Bewusstsein her,<br />
dass es keineswegs selbstverständlich ist, dass überhaupt etwa auf den Tisch kommt.<br />
Das hat sich inzwischen gründlich geändert. Wir haben uns daran gewöhnt, auszuwählen<br />
aus einem reichen Angebot (um nicht zu sagen Überfluss), und der einzelne ist eher bedroht<br />
von der Maßlosigkeit im Essen als vom Hungern. Wofür also sollte man dankbar sein? Wer<br />
heute Konfirmandenfreizeiten macht, kann sehen, wie beim Mittagessen gefüllte Schüsseln<br />
zurückgehen, weil alle schon von mitgebrachten Süßigkeiten und Chips satt sind.<br />
Das Wort „Gabe“ ist außer in der Kirche heute kaum noch in Gebrauch. Mit dem Wort ist<br />
auch dessen ursprüngliche Bedeutung verloren gegangen. Es drückt nämlich eine Beziehung<br />
aus; die Beziehung zwischen einem Geber und einem Be-Gabten, einem Beschenkten.<br />
Wer nun das Wort ‚Gabe’ aufgibt, der verliert auch die darin anklingende Beziehung. Er verliert<br />
den Geber aus den Augen.<br />
Ich denke, dass trifft die Situation heute wirklich: Wir erleben uns nicht mehr als abhängig,<br />
sondern als Macher und Könner. Als solche haben wir alles im Griff (sogar Missernten und<br />
ungünstiges Klima). Materiell steht uns alles zur Verfügung. Wir haben es nicht mehr nötig,<br />
uns beschenken zu lassen.<br />
In anderen Kulturen und Ländern sieht das ganz anders aus. Da ist das ursprüngliche Verständnis<br />
von den Dingen als guten Gaben noch lebendig. Eine europäische Missionarin beschreibt,<br />
wie sie das in Afrika zurückgewann: „Ich war im Norden von Südafrika gereist. Ein<br />
schwarzer Pfarrer hatte mir das Land, die karge Landwirtschaft und die armseligen Behausungen<br />
der Schwarzen gezeigt. Es war heiß und wir waren schon lange unterwegs, als wir in<br />
einem Haus einkehrten. Ich war durstig und müde und als uns unser Gastgeber einen Kaffee<br />
anbot, nahm ich erfreut an. Es dauerte sehr lange, bis er den Kaffee brachte. Im Gespräch<br />
hinterher erfuhr ich: Es gab kein Wasser im Haus; er hat es erst holen müssen. Es gab auch<br />
keine Elektrizität; er hatte einen Ofen mit Holz anheizen müssen um das Wasser zu kochen.<br />
Auch die Milch hatte er noch angewärmt. Es kam alles aus spärlichen Vorräten.“
Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 01.10.06<br />
Diese kleine Episode macht deutlich: Wer seinen Kaffee so empfängt, der erlebt ihn ja wirklich<br />
als Gabe. Was bei uns über die Kaffeemaschine zur selbstverständlichen Nebensächlichkeit<br />
geworden ist (wenn das Blubbern der Kaffeemaschine lauter wird, erinnert es uns<br />
daran, dass der Kaffee nebenbei fertig geworden ist), das ist dort in Afrika noch etwas Besonderes:<br />
Das Kaffeetrinken als ein bewusster Prozess – von der Vorratseinteilung über die<br />
Herstellung bis zum Teilen und gemeinsamen Genießen. Die Sache wird als „Gabe“ erlebt –<br />
und es geschieht noch mehr: Beziehungen wachsen und werden bewusst erlebt: im Geben<br />
auf der einen Seite, im Nehmen auf der anderen Seite.<br />
Im Grimmschen Wörterbuch heißt es unter dem Stichwort „Dankbarkeit“: „Wer nicht beweiset<br />
Dankbarkeit, ist wie ein Brunnen, der ohne Wasser steit.“ Das meint doch: Wer das, was er<br />
empfängt, nur noch als selbstverständlich hinnimmt, der trocknet aus; der wird leblos und<br />
einsam. Wer Dankbarkeit nicht mehr ausdrücken kann, der verkümmert; seine Beziehungen<br />
veröden – die zu Gott ebenso wie die zu den Mitmenschen.<br />
So führt uns das Erntedankfest auf die Grundlage und die Voraussetzung für das Gelingen<br />
alles Lebens zurück – nicht nur in Hinsicht der materiellen Gaben, sondern vor allem in der<br />
Beziehung zum Geber. Lasst uns die vor allem anderen pflegen und lebendig halten!<br />
Amen.
Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
in der<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am 20. Sonntag nach Trinitatis<br />
29. Oktober <strong>2006</strong><br />
Predigttext: 1. Korinther 7,29-31:<br />
Die Zeit ist kurz. Fortan sollen auch die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die<br />
weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen,<br />
als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn<br />
das Wesen dieser Welt vergeht.<br />
Liebe Gemeinde!<br />
Es scheint, als stünden wir mit dem Sonntag heute schon mit einem Fuß im Monat November.<br />
Der goldene Oktober ist schlagartig zu ende; Herbststürme und nasskaltes Wetter künden<br />
vom schweren Teil des Herbstes: die traurigen, die drückenden Tage sind nahe; das<br />
Denken an Tod und und Vergänglichkeit; Buß- und Bettag, Volkstrauertag, Ewigkeitssonntag<br />
...<br />
Der Predigttext von heute Morgen klingt wie der Auftakt von alledem: Paulus schreibt: „Die<br />
Zeit ist kurz. Fortan müssen die, die verheiratet sind, so sein als wären sie es nicht: und die,<br />
die weinen, als weinten sie nicht; und die, die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die<br />
etwas kaufen, als besäßen sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als gebrauchten sie<br />
sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.“<br />
In unserem Denken klingt das wirklich schwermütig, fast depressiv. Aber genau das ist das<br />
Problem, wenn kleine Verseinheiten aus dem Zusammenhang gerissen zu Predigttexten<br />
gemacht werden. Schon im Vers danach sagt Paulus: „Ich möchte aber, dass ihr ohne Sorge<br />
seid.“ Ihm geht es nicht darum, Angst zu schüren vor dem Ende der Welt oder seinen Lesern<br />
die Freude am Leben zu verderben. Ganz im Gegenteil: Ganz ausführlich nimmt er Stellung<br />
zu allen Lebensfragen aus der Gemeinde – zur Familie, Beruf, und Glaubensleben. Aus dem<br />
Glauben an Christus heraus soll all das neu beantwortet und gestaltet werden und das vor<br />
allem in einer positiven, sorglosen Grundstimmung.<br />
Das, was heute manchem Angst macht („die Zeit ist kurz“, „die Welt vergeht“), hatte für die<br />
Christen zur Zeit des Paulus einen ganz anderen Klang: Es weckte Freude! Man erwartete<br />
die Wiederkunft Christi noch zu eigenen Lebzeiten. Es war ein unruhiges, aufgeregtes Warten<br />
– geprägt von einer glühenden Liebe zu Christus und dementsprechend eine fieberhafte<br />
Ungeduld: Wann ist es endlich so weit, dass wir die vollkommene Gemeinschaft mit ihm erleben<br />
dürfen?! Das war die eine große Frage, die über allen anderen stand. Und auch wenn<br />
Paulus alle Fragen zu allen Lebensbereichen gründlich beantwortet, waren die doch nur von<br />
vorläufigem Interesse. Denn der, der Christi Wiederkunft noch zu Lebzeiten erwartet, kann<br />
getrost sagen: das ist doch alles nicht mehr so wichtig!<br />
Für uns hat sich viel verändert. Die Naherwartung der frühen Christen findet sich heute allenfalls<br />
noch bei einigen Sekten und Sektierern (wie den Zeugen Jehowas). Ja, man muss wohl<br />
radikaler fragen: Gibt es unter Kirchenchristen überhaupt noch einen Glauben an oder ein<br />
Bewusstsein von der Wiederkunft Christi?! Der christliche Glaube ist allgemein ja zurückgegangen,<br />
und schaut man mal auf die Glaubensinhalte, muss man wohl feststellen: der Glaube<br />
daran, dass Christus wiederkommt und das das Ende der Welt markiert, hat wohl die
Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 29.10.06<br />
größte Inflation erfahren. Weltuntergangsszenarien gibt es zuhauf (ernst zunehmende wissenschaftliche<br />
ebenso wie phantastische in Kino und Fernsehen). Christus spielt darin aber<br />
keine Rolle mehr.<br />
Können uns Paulus' Worte dennoch etwas sagen? Können sie auch unser Zeit- und Lebensgefühl<br />
erreichen? Ich denke schon!<br />
Manchmal geschieht es, dass die Welt, in der wir uns einigermaßen sicher eingerichtet haben,<br />
aus den Fugen gerät. Das kann ganz unterschiedliche Ursachen haben – positive oder<br />
negative, glückliche Ereignisse oder persönliche Katastrophen. Sich zu verlieben etwa verwirrt,<br />
bringt durcheinander, macht alles anders. Ebenso das plötzliche Ende einer Partnerschaft,<br />
das Zerbrechen einer alten Freundschaft, eine schlimme Diagnose, ein ungewollter<br />
Berufswechsel ... Wir versuchen dann, so schnell es geht, „das“ (d.h. uns, unser Leben) wieder<br />
in den Griff zu kriegen, zu einem geordneten Alltag („zur Tagesordnung“, denn diese<br />
Ordnung brauchen wir) zurückzufinden. Oft dauert das, braucht seine Zeit und wir merken,<br />
wie schwer es ist, auf einem schwankenden Lebensboot auszuhalten.<br />
Es können aber auch Alltagserfahrungen Signale einer Not sein. Jüngere Menschen mögen<br />
darüber schmunzeln, älteren dagegen das Lebensboot gehörig ins Schwanken bringen:<br />
schon wieder diese Brille verlegt, dieses unsichtbare Ding; schon wieder ist der Schlüsselbund<br />
nicht an seinem Haken; schon wieder einen ganz wichtigen Namen vergessen ... Wer<br />
das ständig (und sich häufend) erlebt, erfährt das als ganz große persönliche Not.<br />
Ich glaube, dass Paulus' Worte für all solche verunsichernden Lebenslagen wirklich hilfreich<br />
sind. Er kann sie nicht ändern, aber er nimmt ihnen ihren bedrohlichen Stellenwert; er relativiert<br />
sie. „Weinen, als weinte man nicht ... denn das Wesen der Welt vergeht.“ Das meint<br />
doch: Alles, was wir leben, was wir erleben, ist nur vorläufig. Denn seit Christus auf der Welt<br />
war, wissen wir: Das Wesen dieser Welt vergeht. Alles, was wir Welt nennen, wird einmal zu<br />
ende sein. Vielleicht sogar morgen schon.<br />
Das hat nichts Pessimistisches oder gar Depressives. Im Gegenteil: es macht frei – frei von<br />
der Zeit und von sich selbst. Wir erleben heute vielfältig, was es heißt, „sich an die Welt zu<br />
verlieren“. Paulus setzt ein anderes dagegen. Im selben Kapitel sagt er: „Ihr seid teuer erkauft,<br />
werdet nicht Sklaven der Menschheit“ (der Welt) [Vers 23]. Jetzt bringt er es im Blick<br />
auf die verschiedenen Lebensbereiche auf den Punkt:<br />
• Ehe: eine Partnerschaft zu haben als hätte man nicht ... Daraus höre ich die Frage,<br />
wie wir in Beziehungen miteinander umgehen. Das Wort „haben“ erinnert an die Gefahr,<br />
in der jede Beziehung schwebt: dass der Partner als Besitz angesehen wird und<br />
einer sich das Recht herausnimmt, den anderen mit Erwartungen und Ansprüchen zu<br />
überschütten – so sehr, dass der andere nicht mehr frei ist, er selbst zu sein. Wieviel<br />
Druck, Zwang und Abhängigkeit können entstehen, wenn einer den anderen binden<br />
will – etwa durch Sätze wie: „Ich brauche dich“, „Ich kann ohne dich nicht leben“ ...<br />
Was manchmal im Gewand vermeintlicher Liebe daherkommt, ist oft in Wirklichkeit<br />
nur die egozentrische Angst um sich selbst; Angst vor Verlust und die Gier zu haben,<br />
zu besitzen.<br />
• Diese Gier zu haben und zu besitzen schwingt auch mit bei Paulus' Mahnung „zu<br />
kaufen, als besäße man nicht“. Die zurzeit mit so viel erbittertem Eifer geführte Diskussion<br />
über die sogenannte „Unterschicht“ hat ihren Grund unter anderem doch darin,<br />
dass wir uns heute in wachsendem Maße nur noch über das definieren, was wir<br />
uns leisten oder nicht leisten können. Auch hier sind Paulus' Worte ein gutes Korrektiv.<br />
Immer wenn's ums Haben und Besitztn geht, sollen wir uns daran erinnern: Das<br />
hat nur einen vorläufigen Wert. Das Wesen dieser Welt vergeht! Danach kommt Gottes<br />
neue Welt – schon angesagt in dem was Jesus gelebt hat, schon angebrochen in<br />
seiner Auferstehung.<br />
Dieser Ausblick, diese Erwartung und Hoffnung hilft uns, frei zu werden von falschen Zwängen<br />
und Abhängigkeiten; hilft uns loszulassen, was uns beherrschen will; hilft uns freizugeben,<br />
was wir meinen, festhalten zu müssen; hilft uns, einander als freie Menschen zu<br />
begegnen und zu lieben; hilft uns, „zu haben, als hätten wir nicht“.
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Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 29.10.06<br />
In den letzten Tagen fiel mir die Urlaubswerbung eines Reiseveranstalters ins Auge. Eigentlich<br />
nicht mehr als ein Werbespruch, aber – mit paulinischem Vorzeichen sozusagen – zum<br />
Nachdenken wert: „Ich treffe im Urlaub immer wieder einen besonders netten Menschen:<br />
mich selbst. Es gibt viel zu entdecken, wenn man fühlt, dass man lebt. Und wie man lebt.“<br />
Wie gesagt nachdenkenswert – mit paulinischen Vorzeichen.<br />
Amen.
Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
in der<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am 21. Sonntag nach Trinitatis<br />
04. November <strong>2006</strong><br />
Predigttext: Jeremia 29,1+4-7+10-14:<br />
Dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von Jerusalem sandte an den<br />
Rest der Ältesten, die weggeführt waren, an die Priester und Propheten und an das ganze<br />
Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte:<br />
So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu den Weggeführten, die ich von Jerusalem<br />
nach Babel habe wegführen lassen: Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst<br />
ihre Früchte; nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen,<br />
und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehret euch dort,<br />
dass ihr nicht weniger werdet. Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen,<br />
und betet für sie zum HERRN; denn wenn's ihr wohlgeht, so geht's auch euch wohl.<br />
Denn so spricht der HERR: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, so will ich euch heimsuchen<br />
und will mein gnädiges Wort an euch erfüllen, dass ich euch wieder an diesen Ort bringe.<br />
Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken<br />
des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe das Ende, des ihr wartet. Und ihr<br />
werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten, und ich will euch erhören. Ihr werdet<br />
mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich<br />
mich von euch finden lassen, spricht der HERR, und will eure Gefangenschaft wenden und<br />
euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe,<br />
spricht der HERR, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen<br />
lassen.<br />
Liebe Gemeinde!<br />
Zeilen für Heimatvertriebene hören wir heute Morgen. Absender des Briefes ist der Prophet<br />
Jeremia. Er schreibt aus der Heimat Jerusalem an die seiner Landsleute, die weggeführt<br />
wurden, zwangsumgesiedelt nach Babel, gezwungen zu Fronarbeit und Götzendienst. Er<br />
weiß genau, wie sich die Deportierten fühlen: entwurzelt, allein gelassen, all dessen beraubt,<br />
was ihnen wichtig war, von Gott bestraft, kaum fähig, sich Lebensmut zu bewahren, innerlich<br />
erstarrt, resigniert. „Selbst Gott ist gegen uns“, klagen sie. „er hat uns verlassen. Wir müssen<br />
die Schuld unseres Volkes tragen.“<br />
Daneben sieht Jeremia noch eine zweite Gruppe: solche, die die Wirklichkeit einfache leugnen.<br />
„Babels Macht wird schnell zerbrechen“, behaupten sie und sie versprechen: „Schon<br />
bald sind wir alle zurück in der Heimat.“<br />
Jeremia wendet sich gegen beide. Es ist, als wolle er sie geradezu wachrütteln: „Richtet<br />
euch ein auf eine lange Zeit in der Fremde. Baut Häuser, pflanzt Gärten, gründet Familien!“ –<br />
Schon das wird die meisten überfordert haben, aber Jeremia setzt noch eine Zumutung o-<br />
bendrauf: Sorgt auch für Babel! „Suchet der Stadt Bestes … und betet für sie zum Herrn;<br />
denn wenn es ihr gut geht, dann geht es euch gut.“<br />
Das ging nun wirklich zu weit und es hat mit Sicherheit alle aufgerüttelt, die Resignierten wie<br />
die Träumer. Ich kann ihre Proteste förmlich hören: Sollen wir die Schande der Deportation<br />
einfach vergessen? Ist es nicht unsere Pflicht, im Exil Tag und Nacht daran zu arbeiten, den
Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 04.11.06<br />
Feind zu schwächen? Und müssen wir nicht allein Abscheu und Ekel zeigen, bei allem, was<br />
Babel lebt, seiner Kultur, seinen Göttern?!<br />
Jeremias Brief wird nicht viel Begeisterung ausgelöst haben, im Gegenteil. Grund ist nicht<br />
nur die Anweisung: Setzt euch ein für eure Gegner, wohnt in Babel und betet für diese Stadt.<br />
Mehr noch ist es eine große Enttäuschung. Von prophetischer Post aus der geliebten Heimat<br />
hatte man sich sicher einiges erhofft und erwartet, vor allem Trost. Aber gerade in dieser<br />
Hinsicht enttäuschen die Zeilen: Siebzig Jahre soll die Zeit der Vertreibung währen (etwa<br />
drei Generationen), frühestens dann wird sich das Blatt wenden. Die Nachkommen der<br />
Nachkommen werden vielleicht heimkehren dürfen. Von den Deportierten selbst wird das<br />
aber keiner mehr erleben.<br />
Ein schwacher Trost nur und dennoch, denke ich, ein ganz wichtiger Brief. Manchmal brauchen<br />
wir einen, der uns aufrüttelt, der uns die Wahrheit ins Gesicht sagt. Manchmal brauchen<br />
wir einen, der uns den „Tunnelblick“ wieder öffnet. Ein Teil der Deportierten hatte resigniert,<br />
sah nur noch ein schwarzes Loch, andere malten sich ihre Zukunft rosarot. Jeremia<br />
stellt beide zurück auf den Boden der Tatsachen; er öffnet ihnen die Augen. Und erst jetzt<br />
können sie seinen eigentlichen Trost hören und sehen: Gott ist da; er ist bei euch in Babel;<br />
wo ihr ihn sucht, da ist er zu finden. Ihr müsst erkennen: Die Zeit in Babel ist keine Wartezeit.<br />
Sie ist Gottes Zeit – und das heißt: sie ist Lebenszeit (und nicht etwa für Israel eine Art „Auszeit“<br />
der Geschichte.<br />
„Auszeit“ – das heißt im Sport: das Spiel wird unterbrochen. Man kann sich beraten und neu<br />
formieren. Die Uhr wird angehalten, und nachher geht es mit konzentrierter Aufmerksamkeit<br />
weiter. Aber die Geschichte kennt keine Auszeit. Gottes Geschichte läuft weiter und auch die<br />
Babel-Zeit ist gültige (Spiel-)Zeit. Deshalb Jeremias Aufforderung, die Zeit in Babel wirklich<br />
zu leben, und das meint: sich auf Dauer da einzurichten.<br />
Babel und Jerusalem sind zu Symbolen geworden. Vom „Sündenbabel“ sprechen wir einerseits,<br />
vom „himmlischen Jerusalem“ andererseits. Babel steht für Gottesferne und Gottlosigkeit,<br />
ja für das Böse schlechthin; Jerusalem für die Hoffnung, die Bestand hat oder (anders<br />
gesagt) Hoffnung, die sich erfüllt.<br />
So gesehen findet sich der Gegensatz in unserem Leben wieder: Babel-Zeiten, in denen ich<br />
herausgerissen werde aus meinem Lebensrhythmus; Zeit der Krankheit, Zeit der Einsamkeit,<br />
Zeit des Versagens. Babel-Zeit ist die Trauer, wenn ich einen geliebten Menschen verloren<br />
habe. Babel-Zeit ist die Zeit ungestillter Sehnsucht. Wie wichtig, jetzt Jeremia zu hören! Auch<br />
diese gestörte Zeit ist Lebenszeit, ist Zeit aus Gottes Hand, ist Zeit mit Zukunft. Auch Wartezeit<br />
(von der wir manchmal sagen, wir möchten oder müssen sie „totschlagen“) ist Zeit für<br />
uns. Jede Lebenszeit ist Zeit mit Zukunft. Zu jeder Zeit ist Gott bei uns, an jedem Ort.<br />
Mag sein, dass das Ziel meiner Sehnsucht weit weg ist. In jedem Fall aber kann ich Gott in<br />
mir finden. „Wenn ihr mich von ganzem Herzen sucht, will ich mich von euch finden lassen“,<br />
lesen wir bei Jeremia. Das ist doch ein klares Gotteswort! Auch in der schlimmsten Babel-<br />
Zeit bin ich euch ganz nahe: da, wo euer Herz schlägt, am Lebenskern.<br />
Aber (und das ist entscheidend!): Jeremia predigt nicht nur einfach Anpassung und Eintauchen<br />
im Fremden. Er sagt nicht einfach nur: Richtet euch ein in Babel! Er sagt auch: Hofft<br />
auf Jerusalem!<br />
Wohnt in Babel und hofft auf Jerusalem – das heißt: lebt da, wo ihr seid, richtig, bewusst, als<br />
ganze Menschen, aber vergesst nicht, woher ihr kommt. Ihr sollt in Babel leben aber Jerusalem<br />
im Herzen tragen. Wenn euch dieser Spagat gelingt, werdet ihr merken, dass sich etwas<br />
verändert: Wer sein Jerusalem im Herzen trägt, fängt an, diese Hoffnung zu leben, sie wenigstens<br />
ein Stück weit umzusetzen. Babel bricht auf und selbst in der schlimmsten Not<br />
kommt es zu Lichtblicken. Und so wie eine einzige Kerze Dunkelheit mit Licht und Wärme<br />
verwandeln kann, verwandelt ein einziger Lichtblick die Not von Babel.<br />
Ich denke auch, dass das nicht nur unsere persönlichen Babelzeiten betrifft (Krankheit,<br />
Trauer, Einsamkeit ...). Vielmehr geht es auch um das, was wir gemeinsam als Babel erleben,<br />
in Stadt und Land. Und das ist ausgesprochen viel: Derzeit können Sie in verschiede-
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Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 04.11.06<br />
nen Sendern Serien verfolgen, in denen Familien gezeigt werden, die Deutschland den Rücken<br />
kehren und einen Neuanfang in fernen Landen wagen. Einzelne Aussteiger hat es immer<br />
gegeben, das ist nicht das Problem. Hier geht es um mehr: Um ganze Wellen von Auswanderern,<br />
die hier im Land keine Perspektive mehr sehen, denen das eigene Land zum<br />
fremden Babel geworden ist. Die Politik nimmt das – so weit ich sehen kann – nicht zur<br />
Kenntnis; sie ignoriert es.<br />
Gibt es von Jeremias Worten her eine Alternative? Wie ließe sich das konkret leben: aushalten<br />
in Babel, aber gleichzeitig von Jerusalems Hoffnung her Lichtblicke setzen, die die Not<br />
verändern?!<br />
Ein Beispiel dafür will ich Ihnen nennen, ein Beispiel aus der engen Nachbarschaft der eigenen<br />
Gemeinde: Unsere Carl-Cohn-Schule hat mit der City-Nord ein Gebiet mitzuversorgen,<br />
in dem sehr viele sozial Schwache, zudem auch viele Ausländerfamilien wohnen. Im Schulunterricht<br />
gibt es Probleme: Schüler, die kaum Deutsch sprechen, dem Unterricht nicht folgen<br />
können, von zu Hause keine Förderung erhalten. Bei immer mehr Schülern zeichnet<br />
sich ab, dass kaum ein erfolgreicher Hauptschulabschluss erzielt werden kann. Was das für<br />
die weitere Lebensperspektive bedeutet, ist klar: kein Ausbildungsplatz, kein Beruf, das soziale<br />
Abseits.<br />
Diese „Babel-Not“ erkannt, hat sich eine Initiative gebildet: Ein Dutzend Gymnasiasten vom<br />
Heilwig-Gymnasium hat sich zusammengefunden und bietet unter dem Motto „Schüler helfen<br />
Schülern“ jeden Tag Hausaufgabenhilfe in der Carl-Cohn-Schule an. Und noch mehr hat sich<br />
getan: Für weniger als einen Euro können Kinder aus sozial schwachen Familien zwischen<br />
Schule und Hausaufgabenhilfe ein warmes Mittagessen bekommen. Hier engagiert sich eine<br />
Reihe von Müttern.<br />
Solche Initiativen gibt es nicht nur in Winterhude, sondern auch in Jenfeld und an vielen anderen<br />
Stellen im Land. Das macht Mut. Und es zeigt, dass wir nicht nur hilflos gefangen sind<br />
in babylonischen Zuständen. „Suchet der Stadt Bestes“, fordert uns Jeremia auf, und schon<br />
das eine Beispiel zeigt, wie wichtig die einzelnen Lichtblicke sind. Nur durch solche werden<br />
wir zum „Licht der Welt“ als das Jesus uns beschreibt; nur durch solche wird Babel seine<br />
Grenzen finden.<br />
Amen.
Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
in der<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am vorletzten Sonntag im Kirchenjahr<br />
19. November <strong>2006</strong><br />
Predigttext: Offenbarung 2,8-11:<br />
Dem Engel der Gemeinde in Smyrna schreibe: Das sagt der Erste und der Letzte, der tot war<br />
und ist lebendig geworden: Ich kenne deine Bedrängnis und deine Armut - du bist aber reich<br />
- und die Lästerung von denen, die sagen, sie seien Juden, und sind's nicht, sondern sind<br />
die Synagoge des Satans. Fürchte dich nicht vor dem, was du leiden wirst! Siehe, der Teufel<br />
wird einige von euch ins Gefängnis werfen, damit ihr versucht werdet, und ihr werdet in Bedrängnis<br />
sein zehn Tage. Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.<br />
Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt! Wer überwindet, dem soll<br />
kein Leid geschehen von dem zweiten Tode.<br />
Liebe Gemeinde!<br />
„In Berlin können sie jetzt rund um die Uhr einkaufen!“ – Diese Meldung scheint so sensationell,<br />
so weltbewegend zu sein, dass sie in allen Nachrichtensendungen der letzten Tage an<br />
erster Stelle stand. Schon in den letzten Wochen hatte man den Eindruck, dass alle am<br />
Weihnachtsgeschäft Beteiligten unruhig in den Startlöchern scharren: Wann endlich geht’s<br />
los?! Wann endlich fällt der Startschuss für die wirtschaftswichtigste Zeit im Jahr?! Wann<br />
endlich ist die Vorweihnachtszeit eröffnet? Und überhaupt: Warum eigentlich nicht jetzt<br />
schon?!<br />
Dass im November ganz andere Töne anklingen, dafür gibt es kaum noch ein Bewusstsein.<br />
Im Besonderen gilt das für den Tag heute: Heldengedenktag hieß er früher, Volkstrauertag<br />
heißt er heute offiziell, und weil auch damit immer weniger etwas anfangen können, haben<br />
kirchliche Gruppen versucht, ihn als „Friedenssonntag“ zu etablieren. In jedem Fall soll es<br />
ein Tag des stillen Erinnerns sein; ein Tag, der an das millionenfache Leid der Weltkriege<br />
erinnert und jeden, der sich dem stellt, zum Verstummen bringt. Ein Tag „sprachloser Trauer“<br />
also (vielleicht trifft es das am besten).<br />
Warum ist das so schwer geworden? Warum wird es von Jahr zu Jahr schwerer, solche Gedenktage<br />
zu bewahren? Ich glaube, es liegt vor allem daran, dass den jüngeren Generationen<br />
mehr und mehr der lebendige Bezug zur Geschichte verloren gegangen ist. Es ist etwas<br />
anderes, ob das Erleben von ein oder sogar zwei Weltkriegen (mit allem persönlichen Leid,<br />
was daran hängt) ein Teil der eigenen Geschichte ist – oder ob es nur (mehr oder weniger<br />
widerwillig) im Fach Geschichte als „totes“ Wissen mühsam angelernt ist. Und dort, wo nicht<br />
einmal das gelingt, schießt Unsägliches ins Kraut wie der massive Anstieg von Neonazigruppen,<br />
deren Ideologie und Gewaltbereitschaft zeigt.<br />
Aber das Problem ist nicht nur das mangelnde Geschichtsbewusstsein. Ich denke, es liegt<br />
noch tiefer. Ende der sechziger Jahre erschien ein sehr bemerkenswertes Buch: „Die Unfähigkeit<br />
zu trauern“. Darin beschreibt das Ehepaar Mitscherlich unsere Gesellschaft sehr treffend<br />
als eine, in der die Trauer immer mehr verdrängt wird. Das betrifft jede Art von Trauer:<br />
Die tägliche Trauer über uns, über den Tod (unseren eigenen wie den naher Menschen), die<br />
Trauer über die jüngste Geschichte und den Umgang mit ihr in diesem Land und schließlich<br />
auch die Trauer über den Zustand dieser Welt.
Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 19.11.06<br />
Mittlerweile wissen wir das, wir fühlen und wir erleiden die Unfähigkeit zu trauern, aber es<br />
hilft uns nichts. Weiterhin versuchen wir Trauer und Traurigkeit möglichst aus unserem Leben<br />
zu verbannen. Ja wir werden geradezu zu Verdrängungskünstlern. Das zeigt sich am<br />
Umgang mit Sterbenden und Verstorbenen, am rapiden Zerfall unserer Bestattungskultur<br />
und eben auch in der so genannten historischen Vergangenheitsbewältigung. Schuld einzugestehen,<br />
Verantwortlichkeiten beim Namen zu nennen, ist schwer. Sogar das bloße Sich-<br />
Erinnern fällt schwer.<br />
„Versöhnung kommt durch Erinnern“ hat Simon Wiesenthal einmal sehr treffend formuliert.<br />
Und das meint nicht nur die Versöhnung zwischen Völkern und Religionen. Es meint auch<br />
ein ganz persönliches Sich-Versöhnen, ein Mit-sich-eins-Werden. Nur der, der die Kraft und<br />
Mühe aufbringt, sich dem Vergangenen in allen seinen Teilen zu stellen, nur der wird auch<br />
sein inneres Gleichgewicht finden; nur der wird auch von da aus ein Fundament haben, (seine)<br />
Zukunft zu gestalten.<br />
Die Unfähigkeit zu trauern korrespondiert mit einer anderen Unfähigkeit – nämlich der Unfähigkeit<br />
getröstet zu werden beziehungsweise sich trösten zu lassen. Wie soll oder kann ich<br />
denn traurig sein, wenn niemand meine Tränen sieht und sehen soll? Wahrscheinlich hat<br />
sich dieser Missstand, die Unfähigkeit zu trauern, auch deshalb so verfestigt, weil wir der<br />
Welt um uns den Trost nicht (mehr) zutrauen. Die Welt ist heute eine Trauerwüste – und sie<br />
ist trostlos. Kein Wunder, dass wir den Volkstrauertag, den Tag „sprachloser Trauer“ auch<br />
am liebsten loswerden wollen.<br />
Das muss aber nicht sein! Die Bibel zeigt uns, dass es eine Alternative gibt. Denn die Bibel<br />
ist voll von trauernden Menschen – und sie ist zugleich voll von Trost. Von einem Beispiel<br />
hören wir heute Morgen. Da wendet sich die Gemeinde von Smyrna in ihrer Not an den Bischof<br />
Johannes. Die Gemeinde besteht aus ausgesprochen armen Menschen. Sie erleben<br />
sich als Benachteiligte, als Außenseiter in der reichen Hafenstadt. Zudem droht Lebensgefahr,<br />
sie haben Angst vor der nächsten Christenverfolgung und vermuten Verräter in den eigenen<br />
Reihen. Ihr Bischof steht selbst in arger Bedrängnis. Er wurde von den Römern auf<br />
die Insel Patmos verbannt, und seine Möglichkeiten, von dort aus für die Seinen als guter<br />
Hirte zu wirken, sind sehr begrenzt.<br />
Dennoch, das Kunststück gelingt ihm. Tatsächlich kann er der Gemeinde Trost spenden. Sicher,<br />
sagt er, ihr seid arm und ihr müsst viel leiden. Aber seid gewiss: Euer Leiden ist nicht<br />
umsonst. „Fürchtet euch nicht ... Seid getreu bis in den Tod, dann wird es für euch die Krone<br />
des Lebens geben.“<br />
Das ist nun freilich kein Trost, der sich 1:1 auf uns übertragen lässt. Die einen werden sich<br />
(zu Recht) nicht abspeisen lassen wollen mit der Aussicht auf ein besseres, ewiges Leben<br />
nach dem Tod („Das ist doch Vertröstung, keine echter Trost!“). Für andere werden ungute<br />
Erinnerungen wach. „Getreu bis in den Tod ...“ – das klingt allzu sehr nach früheren Treueparolen.<br />
Im ersten Weltkrieg sollte man dem Kaiser „treu bis in den Tod“ dienen, im zweiten<br />
Weltkrieg dem Führer. Da wurde der hohe Wert „Treue“ oft missbraucht, zu Recht bildete<br />
sich später das Schlimme, aber so treffende Wort vom „Kadavergehorsam“ heraus.<br />
Wir wollen (so schwer es auch fällt) dieses negative Vorverständnis einmal beiseite schieben<br />
und bei dem Wort bleiben. Johannes meint ja wirklich nur das Eine: Die Treue gegenüber<br />
dem Herrn der Kirche, Christus. Nichts anderes. Alles und alle daneben haben sich dieser<br />
Treue unterzuordnen, wie sehr sie uns auch bedrängen mögen. So gesehen ist es dann tatsächlich<br />
hilfreich, einer solchen Absolutsetzung zu folgen (egal, ob man im ganz persönlichen<br />
Bereich eine Werteordnung sucht oder ob man debattiert um Ladenöffnungszeiten und<br />
den Beginn der Vorweihnachtszeit). Christus treu zu sein bis zum letzten Lebenstag, ihn als<br />
obersten, maßgebenden Wert zu bewahren ist eine gute Lebenshilfe.<br />
Aber auch das Weitere ist hilfreich, das Wort vom „ewigen Leben“. Das ist viel mehr als nur<br />
eine Vertröstung. Ich höre darin auch einen wichtigen Protest. Er sagt: Dieses Leben in seiner<br />
Unbarmherzigkeit kann nicht das sein, das für uns gemeint ist. Hier wird das eingeklagt,<br />
worauf Menschen hoffen: Eines Tages wird sich das ändern – Gott hilft Leuten wie uns.
Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 19.11.06<br />
Die „Krone des Lebens“ – das ist für mich weniger die Siegerkrone dessen, der sich nicht hat<br />
unterkriegen lassen. Eher ist es für mich eine Art Lichterkrone. Zu Lebzeiten ist und bleibt<br />
uns vieles dunkel, verborgen, unverständlich. Dann aber bei Gott werden auch die letzten<br />
Geheimnisse gelüftet, alle Fragen beantwortet und alle Tränen getrocknet werden. Da wird<br />
uns manches Licht aufgehen. Dann wird es hell werden. Deshalb: Fürchtet euch nicht!<br />
Liebe Gemeinde, es ist interessant zu sehen, dass Treue, Trost und Trauer in unserer Sprache<br />
alle den selben Wortstamm haben. Was zuerst wie ein Gegeneinander, unversöhnlich<br />
und gegensätzlich aussieht, gehört im Grunde zusammen. Geistlich hat das, finde ich, der<br />
Heidelberger Katechismus für uns sehr gut auf den Punkt gebracht: „Was ist dein einziger<br />
Trost im Leben und Sterben?“ heißt es da in der Frage eins. Und die Antwort darauf: “Dass<br />
ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem treuen Heiland<br />
Jesus Christus gehöre.“<br />
Amen.
Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
in der<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am Ewigkeitssonntag<br />
26. November <strong>2006</strong><br />
Predigttext: Jesaja 65,17-25:<br />
Siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht<br />
mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird. Freuet euch und seid fröhlich<br />
immerdar über das, was ich schaffe. Denn siehe, ich will Jerusalem zur Wonne machen und<br />
sein Volk zur Freude, und ich will fröhlich sein über Jerusalem und mich freuen über mein<br />
Volk. Man soll in ihm nicht mehr hören die Stimme des Weinens noch die Stimme des Klagens.<br />
Es sollen keine Kinder mehr da sein, die nur einige Tage leben, oder Alte, die ihre Jahre<br />
nicht erfüllen, sondern als Knabe gilt, wer hundert Jahre alt stirbt, und wer die hundert<br />
Jahre nicht erreicht, gilt als verflucht. Sie werden Häuser bauen und bewohnen, sie werden<br />
Weinberge pflanzen und ihre Früchte essen. Sie sollen nicht bauen, was ein anderer bewohne,<br />
und nicht pflanzen, was ein anderer esse. Denn die Tage meines Volks werden sein wie<br />
die Tage eines Baumes, und ihrer Hände Werk werden meine Auserwählten genießen. Sie<br />
sollen nicht umsonst arbeiten und keine Kinder für einen frühen Tod zeugen; denn sie sind<br />
das Geschlecht der Gesegneten des HERRN, und ihre Nachkommen sind bei ihnen. Und es<br />
soll geschehen: ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören. Wolf<br />
und Schaf sollen beieinander weiden; der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind, aber die<br />
Schlange muss Erde fressen. Sie werden weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem<br />
ganzen heiligen Berge, spricht der HERR.<br />
Liebe Gemeinde!<br />
„Letzter Sonntag im Kirchenjahr“, „Totensonntag“, „Ewigkeitssonntag“, „Sonntag vom Jüngsten<br />
Tag“ ... der Sonntag heute hat viele Namen. Sollte Jesaja über den gültigen Namen entscheiden,<br />
ich bin sicher, er würde den Sonntag „Ewigkeitssonntag“ nennen. Gewiss, es waren<br />
vor allem immer wieder die Propheten, die dem Volk Gottes Jüngsten Tag ankündigten<br />
(auch wenn es keiner hören wollte) und die Klage um die Toten war groß zu Jesajas Zeit. Er<br />
aber will dem Elend nicht noch mehr Raum geben als es ohnehin schon hat. Die schwere<br />
Zeit der babylonischen Gefangenschaft war vorbei, endlich war man zurück in der Heimat<br />
Israel. Aber die Begeisterung war schnell vorbei. Resignation machte sich breit angesichts<br />
der Probleme: niedergebrannte Wohnhäuser, ein zerstörter Tempel, aber kein Baumaterial<br />
zum Wiederaufbau; verwüstete Felder und Weinberge, im Ergebnis also Hunger und Elend.<br />
Viele starben, zuerst die Älteren, die Schwachen und Kranken, auch viele Kinder, Trauer ü-<br />
berall, keine Perspektive für die Zukunft. Ist das der Jüngste Tag? fragen viele. Sie beklagen<br />
ihre Toten und rechnen damit, ihnen bald zu folgen.<br />
Jesaja ist einer der wenigen, die dagegen halten. Er will nicht einstimmen in eine endlose<br />
Totenklage und hält das Reden vom Jüngsten Tag für gefährlich. Wer sich darin einrichtet,<br />
hat sich und seine Welt schon aufgegeben.<br />
Nein, sagt er, Gott hat ganz anderes mit uns vor (auch wenn jetzt noch aller Augenschein<br />
dagegen spricht): einen neuen Himmel und eine neue Erde will er schaffen. Jerusalem (also<br />
auch der Tempel!) soll wieder zur Freude für das Volk werden. Die Kindersterblichkeit soll<br />
ein Ende haben; die Menschen werden leicht hundert Jahre alt werden. Sie werden in den
Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 26.11.06<br />
Häusern wohnen, die sie selbst gebaut haben und werden gut leben von dem, was sie gesät<br />
und geerntet haben. Ein großer, ein allumfassender Friede wird sein (sogar in der Natur).<br />
Wie mögen solche Worte gewirkt haben auf seine Zuhörer? Nur als Vertröstung auf rosige<br />
Aussichten eines sehr fernen Tages? Oder ist es Jesaja gelungen, seine Zuhörer aufzurütteln<br />
sie aus ihrer Resignation herauszuholen?<br />
Sicher, das was Jesaja hier vorträgt, ist Zukunftsmusik. Aber dabei klingen besondere Töne<br />
an; Töne, die einladen mit zu musizieren. Ob es die Kinder oder die Alten sind, die Wohnhäuser<br />
oder die Felder – Jesaja nennt das beim Namen, was alle bewegt. Seine Zuhörer<br />
merken: sein Bild vom Paradies ist kein Wolkenkuckucksheim, das ist tatsächlich unser<br />
Land, es ist unsere Stadt, wir sind es, um die es hier geht. Das setzt Kräfte frei, das lässt<br />
neue Hoffnung wachsen. Die Menschen merken: Es muss nicht alles beim Alten bleiben.<br />
Versöhnen, etwas verändern, etwas neu einrichten ... das geht anfangs vielleicht nur in sehr<br />
kleinen Schritten, aber durch Jesajas Bild hat es eine Perspektive gewonnen. In seiner Zukunftsmusik<br />
ist es Teil einer Melodie.<br />
Wie geht es Ihnen mit Jesajas Zukunftsmusik?<br />
Erst einmal glaube ich, dass die verbreitete Stimmung im Land heute gar nicht so verschiedene<br />
ist von der zu Zeiten Jesajas. Auch heute sehen viele schwarz, wenn es um die Zukunft<br />
geht. Da ist zum einen der eigene Schmerz, eigenes Leiden, unverarbeitete Trauer, die<br />
den Blick nach vorn trüben. Zum anderen aber (und das noch viel mehr!) ist es das Leiden<br />
an der Welt.<br />
Zweidrittel der Weltbevölkerung hungert, die natürlichen Ressourcen (Öl, Wasser ...)<br />
schwinden; immer neue Krisenherde entstehen, die Kämpfe in den bestehenden werden<br />
immer erbitterter; die Klimakatastrophe spitzt sich zu, aber die Weltklimakonferenz endet ohne<br />
ein Ergebnis ... Kein Wunder, dass wir schwarz sehen im Blick auf die Zukunft – und<br />
„schwarz“ sehen heißt ja nichts anderes als: nichts sehen.<br />
Die Prophetenworte sind aber (über die Jahrtausende hinweg) auch an uns gerichtet. Auch<br />
wir sollen aufgerüttelt werden. Dabei fällt mir schon das erste kleine Wort des Textes ins Auge:<br />
„siehe“, steht da. Das ist wie eine Art Vorzeichen! Vielleicht erinnern sie es aus dem Mathematikunterricht<br />
früher: So ein Vorzeichen vor einer Klammer war wie ein stilles Ausrufungszeichen.<br />
Es stand über allem, was folgte, gab allem einen neuen Wert.<br />
„Siehe“ durchzieht hundertfältig die biblische Verkündigung – so als müssten wir immer wieder<br />
darauf aufmerksam gemacht werden: Es geht um verborgene Wirklichkeiten; um das,<br />
was sich nicht auf den ersten Blick erschließt, sondern was man erst im Nachdenken und im<br />
zweiten Hinsehen erkennt.<br />
Sieh auf Gott; öffne deine Augen für Gottes gute Pläne mit dir und der Welt! Lass dich nicht<br />
gefangen nehmen von Schwarzseherei und Schwarzmalerei! Wer im Glauben schaut, dem<br />
öffnet sich der Horizont und das schon in dieser Welt. Das Vertrauen zu Gott gibt Kraft für<br />
Visionen und Träume; die wiederum beflügeln das eigene Handeln. Wir wollen uns darauf<br />
einlassen und die Einladung annehmen (auch wenn sich der Realitätssinn des modernen<br />
Menschen noch so dagegen sperrt!)<br />
Zudem ist die Zukunftsmusik des Jesaja doch erstaunlich realistisch. Mit seinem Paradiesbild<br />
verspricht er uns nicht das Ende des Sterbens, wohl aber ein gesegnetes Sterben. Das<br />
ist nicht utopisch. Im Gegenteil: gerade hier können wir gute Zeichen sehen. Das Bewusstsein<br />
dafür, dass kein Mensch isoliert und allein gelassen sterben soll, ist in wenigen Jahren<br />
enorm gewachsen. Die Hospizbewegung ist ein gutes Beispiel dafür: Die Spendenbereitschaft<br />
ist groß, immer mehr Häuser werden eröffnet, immer mehr Menschen sind bereit, andere,<br />
auch fremde, im Sterbeprozess zu begleiten. Das gilt auch im Blick auf jene, die noch<br />
vor wenigen Jahren im Leben wie im Sterben allzu oft ausgegrenzt wurden, aidskranke Menschen<br />
etwa. Auch ihnen wird mehr und mehr die Gemeinschaft zuteil, die Gott verspricht –<br />
Gemeinschaft in den eigenen Familien und Hospizen.<br />
Dann spricht der Prophet vom Wohnen in den Häusern und dem Genießendürfen der eigenen<br />
Ernte. Für uns mag das selbstverständlich sein, für viele Menschen in Afrika und Süd-
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Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 26.11.06<br />
amerika aber ganz und gar nicht. Die Klage über Missstände ist laut und berechtigt. Aber sie<br />
sollte nicht alles sein. Wir sollten aufzeigen, wo sichtbar Gottes neue Welt beginnt: wo Missionsgesellschaften,<br />
wo „Brot für die Welt“ ganze Dörfer und fruchtbare Kulturen anlegen, und<br />
wie auch immer mehr Jugendliche freiwillig soziale Jahre in Dritte-Welt-Ländern ableisten –<br />
Aufbauarbeit, die zugleich Verständigungs- und Friedensarbeit ist.<br />
Was ist mit dem dritten Bild? Der Stroh fressende Löwe, die enge Gemeinschaft zwischen<br />
Wölfen und Schafen ... Ich denke, das muss man nicht wörtlich nehmen. Für mich sind das<br />
Sinnbilder für großen Frieden und Harmonie. Sie illustrieren sozusagen den letzten Vers:<br />
„Weder Bosheit noch Schaden“ soll es in der neuen Welt geben. Zugegeben, davon sind wir<br />
weit entfernt. Und doch gibt es einen wichtigen Punkt: Wir wissen um die Gefahr. Es gibt ein<br />
Bewusstsein und dieses Bewusstsein wächst. Der Blick fürs Ganze, für die lebenswichtigen<br />
Zusammenhänge setzt sich durch. Auch das gehört für mich zu den guten Zeichen von Gottes<br />
lebendiger Wirklichkeit. Und wer einmal anfängt, solche Punkte zu sammeln, der wird<br />
bald eine Art „Segensliste“ aufstellen können.<br />
Resignation heißt Rückzug; heißt, sich selbst und das, was einem wichtig war, aufgeben (es<br />
kommt aus der lateinischen Militärsprache: re-signa: die Feldzeichen zurücknehmen). Resignation<br />
ist Kapitulation, der Verlust von allem. Genau das ist die Gefahr der Schwarzmalerei.<br />
Wenn wir dagegen trotz aller Trauer und gegen alle Katasprophen auf Gottes neue Welt zuleben,<br />
wirken wir ganz selbstverständlich an ihr mit. Jesajas Zukunftsmusik will uns dazu inspirieren,<br />
uns dabei begleiten.<br />
Mich hat ein Gebet von Solschenizyn sehr beeindruckt, das erst vor einigen Jahren veröffentlicht<br />
wurde. In der schwärzesten Zeit seines Lebens (in der Gefangenschaft) hat er es<br />
regelmäßig gebetet. Heute sieht Solschenizyn in diesem Gebet die wichtigste Kraftquelle für<br />
sein Weiterleben:<br />
Amen<br />
„Wenn mein Verstand matt wird und aufhört zu verstehen;<br />
wenn die klügsten Menschen nicht weiter zu sehen vermögen<br />
als bis zum Abend des Tages und nicht wissen, was morgen wird –<br />
dann sendest du, Gott, mir die Gewissheit,<br />
dass du da bist und für mich sorgen wirst,<br />
dass nicht alle Wege zum Guten verschlossen sind.“
Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
in der<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am 1. Advent<br />
03. Dezember <strong>2006</strong><br />
Predigttext: Lukas 1,67-79:<br />
Und sein Vater Zacharias wurde vom heiligen Geist erfüllt, weissagte und sprach: Gelobt sei<br />
der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk und hat uns aufgerichtet<br />
eine Macht des Heils im Hause seines Dieners David wie er vorzeiten geredet hat durch den<br />
Mund seiner heiligen Propheten -, dass er uns errettete von unsern Feinden und aus der<br />
Hand aller, die uns hassen, und Barmherzigkeit erzeigte unsern Vätern und gedächte an<br />
seinen heiligen Bund und an den Eid, den er geschworen hat unserm Vater Abraham, uns zu<br />
geben, dass wir, erlöst aus der Hand unsrer Feinde, ihm dienten ohne Furcht unser Leben<br />
lang in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor seinen Augen. Und du, Kindlein, wirst ein Prophet<br />
des Höchsten heißen. Denn du wirst dem Herrn vorangehen, dass du seinen Weg bereitest<br />
und Erkenntnis des Heils gebest seinem Volk in der Vergebung ihrer Sünden, durch die<br />
herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes, durch die uns besuchen wird das aufgehende Licht<br />
aus der Höhe, damit es erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes,<br />
und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.<br />
Liebe Gemeinde!<br />
Wem die Freude am Singen abhanden gekommen ist, dem empfehle ich, ab und zu einen<br />
Kindergarten aufzusuchen. Bedenken wie „ich kann gar nicht singen“, „ich komm mir blöd<br />
dabei vor“ sind da schnell über Bord geworfen. Die Freude der Kinder am Singen hat etwas<br />
Ansteckendes, da muss man einfach einstimmen. „Blöd“ kommt sich nur noch der vor, der<br />
unter den erwartungsvollen Blicken der Kinder stumm bleibt.<br />
Machen Sie mal ein Weiteres und fragen Sie die Kinder, wann und mit wem sie zu Hause<br />
singen. Da gibt’s einen zweiten Aha-Effekt. Die wenigsten singen nämlich mit ihren Eltern,<br />
vielmehr sind es die Großeltern. Die kennen noch viele alte Liedtexte, die haben Freude am<br />
Singen, die bringen die Zeit und Geduld auf, sich die Lieder der Kinder anzuhören. Die Gottesdienste<br />
und unsere Feiern mit Senioren bestätigen mir das. Wie gern wird da gesungen!<br />
Und wenn der <strong>Pastor</strong> (aus welchen Gründen auch immer) von einem Lied nur einige Strophen<br />
aussucht, wird auch mal Protest laut: Warum denn nicht alle, bitte schön?! Es scheint<br />
die Regel: Je älter die Menschen sind, desto lieber singen sie (und stecken mit ihrer Begeisterung<br />
wieder die ganz kleinen an).<br />
Unser Predigtext heute Morgen bestätigt das. Es ist ein Lied, gesungen von einem sehr alten<br />
Mann. Sein Gesang damals war schon etwas sehr Besonderes. Immerhin hatte er vorher<br />
monatelang kein Wort gesagt, geschweige denn gesungen. Die Ankündigung der Geburt eines<br />
Sohnes hatte ihm – im wahrsten Sinne des Wortes – „die Sprache verschlagen“. Dass<br />
das noch wahr werden sollte, worauf er und seine Frau seit Jahrzehnten gewartet und gehofft<br />
hatten, das wollte, das konnte Zacharias einfach nicht glauben. Sein Unglaube, berichtet<br />
Lukas, war der Grund für sein Verstummen. Jetzt aber die Wende: Das Unglaubliche ist<br />
tatsächlich geschehen. Der Sohn ist da und das Herz des Vaters quillt über vor Freude. Er<br />
singt, oder besser noch: Es singt aus ihm heraus.<br />
Damit sind wir eigentlich schon beim zweiten Wunder. Jeder hätte verstanden, wenn Zacharias<br />
sich – überglücklich wie er ist – „eins pfeift“ oder wenn er eins der damals zahlreichen
Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 03.12.06<br />
Lob- Danklieder (einen Psalm etwa) angestimmt hätte. Aber nichts von alledem. Was Zacharias<br />
da anstimmt, wird von Lukas „Weissagung“ genannt; eine Weissagung, die „vom Heiligen<br />
Geist“ erfüllt ist. Tatsächlich unterscheidet sich der Gesang des Zacharias von allen uns<br />
bekannten Dankliedern.<br />
Die besondere Geburt, selbst Vater und Sohn treten in den Hintergrund. Stattdessen wird die<br />
ganze Heilsgeschichte entfaltet: von der Befreiung des Volkes aus Ägypten über die Erzväter<br />
und den König David wird ein großer Bogen hin zum Neugeborenen geschlagen. Dabei wird<br />
deutlich: Immer wenn das Volk ganz am Ende war, hat Gott einen Neuanfang gesetzt. Dann,<br />
wenn es ganz finster war, kam von Gott her ein Licht.<br />
Das Vorzubereiten, das anzukündigen, wird Aufgabe des Neugeborenen sein – und wenn<br />
sein Vater Zacharias jetzt schon davon singt, hat das wirklich den Charakter einer Weissagung.<br />
Versuchen wir uns einmal hineinzufühlen in das, was Zacharias hier erlebt. Kennen sie das<br />
auch: Augenblicke in Ihrem Leben, wo Sie bei dem, was Sie gerade erleben, auf einmal das<br />
Gefühl der Nähe, der Gegenwart Gottes haben? Das sind sehr seltene Augenblicke, aber es<br />
gibt sie. Sehr schnell merken wir, dass sie leider nicht festzuhalten sind. Und dennoch sind<br />
solche Erlebnisse der Nährboden für die Überzeugung: Die biblische Hoffnung hat Recht.<br />
Gott handelt, mehr noch: Gott kommt, er sucht die Seinen auf.<br />
Mir sind Beispiele dafür in den Sinn gekommen; zum großen Teil sehr private Beispiele für<br />
Gottes Nähe und Gegenwart. Mir ist dabei aber auch bewusst geworden: Von Momenten<br />
erlebter Gottesnähe lässt sich kaum angemessen sprechen. In Worte gefasst klingen sie<br />
entweder banal oder allzu pathetisch.<br />
Zacharias wird das ähnlich erlebt haben (vielleicht drückt er sich deshalb in Gesang aus).<br />
Aber als er seinen staunenden Zuhörern sein Lied vorträgt, sehen diese nur einen Säugling.<br />
Ein Kind wie jedes andere. Er allein hatte die Gottesnähe erlebt. Nur er sieht, was aus dem<br />
Kind werden wird; nur er sieht, wer diesem Kind folgen wird (auch wenn er dem Messias weder<br />
Gesicht noch Namen geben kann).<br />
Dennoch: das Beispiel des Zacharias will uns Anstoß sein, uns die Momente der Gottesnähe<br />
im eigenen Leben bewusst zu machen. Das wird wohl in den wenigsten Fällen in einen<br />
lauten Lobgesang münden, aber vielleicht doch in manch stilles Dankgebet.<br />
Für mich ist im Beispiel des Zacharias noch ein zweiter wichtiger Anstoß enthalten. Zacharias<br />
ist Vorbild für uns, Vorbild in zweierlei Hinsicht.<br />
Erstens: Es gibt heute einen unseligen Trend zu einem sehr engen und egoistischen<br />
Glücksgefühl. Ich sehe die Sparkassenwerbung vor mir, in der ein Vater mit einem Sprössling<br />
auf seinem Arm jubelt: „Mein Sohn! Mein Stammhalter! Meine Altersversorgung!“ Oder<br />
eine andere, in der sich zwei alte Schulfreunde gegenübersitzen und Fotos auf den Tisch<br />
knallen: „Mein Haus! Mein Auto! Meine Yacht!“<br />
Ganz anders Zacharias. Er nimmt die anderen mit in sein Glück hinein. Er stellt sein (im Vergleich)<br />
kleines privates Glück in den weiten Horizont des Handelns Gottes an seinem Volk.<br />
Damit sagt er: So wie ich Gott erlebt habe, so wunderbar, so nah, so beglückend, so ist er<br />
auch für euch da – für das ganze Volk ebenso wie für jeden einzelnen. Ich wünschte mir, eine<br />
solche Sehnsucht, Glück zu teilen, gäbe es auch heute, wenigstens ab und an.<br />
Noch ein Weiteres ist vorbildhaft: Zacharias bleibt nicht in der Vergangenheit stehen; kein<br />
wehmütiger Rückblick: „Wisst ihr noch, wie es geschehen ist …“ Und er versucht auch nicht,<br />
sein übergroßes Glück zu fixieren, sich an der Gegenwart festzuklammern. Nein, dieser alte<br />
Mann, dessen eigene Lebenszeit zu Ende geht, blickt nach vorn. Er wird geradezu mitgerissen<br />
von einer gewaltigen Hoffnung und Erwartung. Die Geburt seines kleinen Johannes ist<br />
für Zacharias nur der Beginn eines viel Größeren. Gottes Heilshandeln fängt jetzt eigentlich<br />
erst an. Das will er, das muss er weitersagen.<br />
Gerade heute am ersten Adventssonntag ist das für mich ein entscheidender Punkt. Zacharias<br />
setzt Maßstäbe für unsere Lieder. Er macht mit seinem Lied deutlich: Adventslieder sind
Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 03.12.06<br />
Sehnsuchtslieder; Lieder von Menschen gesungen, die sehnsüchtig auf den Retter warten,<br />
auf eine Verwandlung der Welt durch ihn. „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“ singen<br />
wir in fast jedem Adventsgottesdienst, in jeder Adventsfeier. Wir haben uns über die Jahre<br />
leider daran gewöhnt, dabei an eine Art „Herzenstür“ zu denken – in dem Sinne, dass jeder<br />
von uns sich ganz persönlich etwas Licht, etwas Erleichterung erhofft bei dem, was ihm das<br />
Leben schwer macht. Das Lied meint aber viel mehr; die Hoffnung darin ist viel größer: es<br />
soll zu Heilung und Rettung der Stadt, ja der ganzen Welt kommen!<br />
Im Hoffen dürfen wir unbescheiden sein! Es gilt, mit Zacharias die große Hoffnung des Advents<br />
wieder zu entdecken. Gott setzt seine Heilsgeschichte fort – für jeden einzelnen von<br />
uns, aber auch für die ganze Welt. Unsere Zeit ist hoffnungsarm geworden. Die Pessimisten<br />
und Schwarzmaler sind als Realisten anerkannt. Hoffende sind lieber leise, und auch Christen<br />
lassen sich ihre Hoffnung verkürzen auf eine kleine, ganz private Glaubensperspektive.<br />
Dabei ist unsere Hoffnung so groß, so mächtig, so weltumspannend – sie ist ja Christus<br />
selbst!<br />
Vor einiger Zeit las ich ein fiktives Interview. Das Schicksal wurde da interviewt. „Meine<br />
Schläge“, gab das Schicksal zu, „sind hart. Meine Rechte ist ebenso gefürchtet wie meine<br />
Linke. Treue, Glaube, Liebe – kurz, auch die schwersten Brocken habe ich auf die Bretter<br />
geschickt. Sie wurden sämtlich ausgezählt. Nur mit einem bin ich nicht fertig geworden. So<br />
oft ich ihn auch k.o. schlage und davon überzeugt bin, dass er nun endgültig ausgezählt liegen<br />
bleibt – spätestens bei ‚9’ ist er wieder auf den Beinen.“ „Und wer“, fragt der Interviewer<br />
das Schicksal, „ wer ist dieser Unbezwingbare?“ „Die Hoffnung“, antwortete das Schicksal.<br />
Aus ihrer Kraft leben wir. Ihren Sieg feiern wir im Advent.<br />
Amen.
Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
in der<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am Heiligen Abend<br />
24. Dezember <strong>2006</strong><br />
(Christvesper um 17 Uhr)<br />
Bildbetrachtung zu Sieger Köder: Geburt Jesu (Rosenberger Altar)<br />
Liebe Gemeinde!<br />
Seien sie einmal ehrlich: Brauchen sie nicht auch die<br />
Weihnachtsidylle?!<br />
Sicherlich, manchmal mokieren wir uns über ein allzu<br />
üppig geratenes Lichterspektakel auf dem Nachbarbalkon<br />
oder über Weihnachtsbäume, die so überladen<br />
geschmückt sind, dass ihre Zweige schon<br />
durchhängen. Aber unser Protest hat etwas Halbherziges,<br />
wissen wir doch nur zu gut, dass jeder sein<br />
Weihnachtsidyll braucht.<br />
Krippendarstellungen gehören dazu. Dabei hatte die<br />
Szenerie vor 2000 Jahren in Bethlehem wenig Idyllisches.<br />
Arme Leute suchen Unterschlupf in einem<br />
Stall, weil die Frau ein Kind zur Welt bringt. Hatten<br />
sie zu essen, hatten sie überhaupt Wasser? Welche<br />
Überlebenschancen hatten sie (vor allem das Kind)<br />
unter normalen Umständen?<br />
Die Situation der Not wurde im Laufe der Geschichte<br />
zur Idylle stilisiert: mit Hirten und Königsbesuch, mit<br />
Engelscharen und stolzen Eltern. Alle Jahre wieder<br />
holen wir unsere Krippen hervor, bauen sie liebevoll<br />
auf und genießen jeden Blick darauf. Die Krippendarstellung<br />
hier vorne reiht sich da ein. Sieger Köder<br />
heißt der Künstler; seine „Geburt Jesu“ schmückt<br />
den Rosenberger Altar. In Warmen Farben hat er<br />
sein Bild gemalt. Es ist nicht überladen, beschränkt<br />
sich aufs Wesentliche. In der Mitte Maria mit dem<br />
Jesuskind. Das Kind wendet sich uns zu mit einem<br />
Lächeln im Gesicht und einer einladenden Geste: Ist<br />
es ein Winken, ein Grüßen, ein Segnen?<br />
Es geht viel Ruhe aus von dem Bild; die Geste des<br />
Kindes scheint die einzige Bewegung zu sein. Außer<br />
ihr fällt nur noch die des Josef ins Auge: Merkwürdig
Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 24.12.06<br />
verdreht hält er den Kopf nach oben. Träumt er selig oder wendet er sich an Gott, dankend<br />
oder bittend?<br />
Es ist die Weihnachtsidylle, wie wir sie schätzen und genießen. Wer sie aber länger anschaut<br />
, dem werden nach und nach Einzelheiten an den Bildrändern auffallen; Einzelheiten,<br />
die irritieren.<br />
Die Idylle hält nur dem ersten Hinsehen stand. Unten fällt uns die Krippe ins Auge. Sie sieht<br />
nicht aus, wie die Krippen, die wir sonst kennen. Vor allem: Sie trägt einen Schriftzug: INRI<br />
(die Abkürzung für „Jesus von Nazareth, König der Juden“). Das ist nicht Weihnachten, das<br />
ist Karfreitag! Das ist der Schriftzug vom Kreuzesbalken Jesu. Wer das einmal erkannt hat,<br />
sieht seinen Blick nach oben gezogen: Dort oben das Dachgebälk – erinnert es nicht an die<br />
drei Kreuze auf Golgatha?<br />
Spätestens jetzt wir uns auch die Figur am unteren Bildrand verdächtig. Anfangs dachten wir<br />
vielleicht, es handele sich da um einen anbetenden Hirten. Jetzt erkennen wir: Es ist König<br />
David mit Purpur und Gebetsschal. Er ist die „Wurzel Jesse“; aus ihm erwächst der Stamm,<br />
aus dem Jesus hervorgeht. Deshalb ist er es, der hier auf dem Bild die Krippe trägt. Sogar<br />
Kleinigkeiten erhalten jetzt eine neue Deutung. Die fünf Christrosen am unteren Bildrand sind<br />
nicht nur Weihnachtsdeko. Sie stehen für die fünf Wundmale des Gekreuzigten.<br />
Wir merken schon: der Maler bildet hier nicht nur ein traditionelles Motiv ab. Vielmehr steigt<br />
er tief ein in die Verkündigung. Seine Botschaft: Lasst euch nicht gänzlich einhüllen von der<br />
Weihnachtsidylle! Schaut genauer hin, hinter die Fassade! Begreift etwas von dem, was<br />
Weihnachten auch ist: die Geburt des Gottessohnes, der mit dem Tag seiner Geburt für euch<br />
einen schweren Weg antritt. Für den Maler ist klar: Mit dem Tag der Geburt steht das<br />
Schicksal Jesu fest; mit dem Tag der Geburt beginnt der Leidensweg. Die Krippe steht bereits<br />
im Schatten des Kreuzes.<br />
Das können die Hirten noch nicht erkennen, nicht einmal die drei Weisen erahnen es. Während<br />
die himmlischen Heerscharen jubeln, tun sie das, was die Stunde gebietet: sie feiern,<br />
sie danken, sie leben auf in neuer Hoffnung. Bei uns ist es nicht anders. Feiern und danken,<br />
aufleben und träumen – das ist auch für uns das Gebot der Stunde. Natürlich genießen wir<br />
unser Weihnachtsidyll. Wir brauchen das für unsere Seelen. Und doch sind wir zweitausend<br />
Jahre später in einer anderen Situation als die ersten Besucher im Stall von Bethlehem. Wir<br />
wissen, wie die Geschichte weitergeht, wir wissen, wie sie ausgeht und wir wissen, was der<br />
Weg Jesu, sein Tod und seine Auferstehung bedeuten.<br />
Deshalb lasst uns den Mut aufbringen und der Einladung des Malers folgen. Lasst uns das<br />
Weihnachtsidyll ein Stück weit aufbrechen und schauen, was dahinter zutage kommt.<br />
„Friede und Liebe gibt es nicht“, lese ich dieser Tage in der Zeitung. Der darauf folgende Artikel<br />
spricht über das Bethlehem unserer Tage. Da verblasst das Idyll der weihnachtlichen<br />
Krippe; da treten die Kreuze von Golgatha hervor. Es ist einige Jahre her, dass ich Bethlehem<br />
besucht habe. Höhepunkt für alle Christen, die Bethlehem besuchen, ist natürlich ein<br />
Gang durch die Geburtskirche. Damals selbstverständlich, heute ist das kaum noch möglich.<br />
Bethlehem ist jetzt von einer zehn Meter hohen Mauer umgeben. Nur ein Stahltor gibt es als<br />
Eingang zur Stadt. Das Stahltor steht am Ende eines Tunnels aus Stacheldraht. „Anti-Terror-<br />
Sicherheitswall“ ist der amtliche Name dieser martialischen Grenzbefestigung.<br />
Er soll dazu dienen, Juden und Palästinenser zu trennen. Christen gibt es schon lange nicht<br />
mehr. In den 50er Jahren waren noch 80 Prozent der Bevölkerung von Bethlehem Christen,<br />
heute sind es nur noch wenige, nämlich die, die es sich aus finanziellen Gründen nicht leisten<br />
können zu fliehen.<br />
Aber das ist noch nicht alles. Was wir als Außenstehende kaum nachvollziehen können: In<br />
den letzten Wochen ist ein Bürgerkrieg der Palästinenser untereinander hinzugekommen.<br />
Die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Hamas und Fatah drohen in diesen Tagen auf<br />
Bethlehem überzugreifen. Das so genannte Peace-Center (Friedenszentrum) in Bethlehem<br />
ist geschlossen worden.
Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 24.12.06<br />
Zugegeben, das ist weit weg. Für die meisten von uns sind es Nachrichten aus einer fremden<br />
Welt, die uns da täglich über die Medien erreichen. Aber gerade jetzt, wo wir uns in unseren<br />
Kirchen und Wohnzimmern ein Stück Bethlehem aufbauen, rückt es uns ganz nahe<br />
und kann uns nicht kalt lassen. Da merken wir plötzlich sehr deutlich: Die Weihnachtsidylle<br />
ist ausgesprochen brüchig.<br />
Ich mag die Darstellung Sieger Köders sehr. Einfach, weil sie beidem gerecht wird: meinem<br />
Bedürfnis, Weihnachten als Idylle zu sehen, aber auch der Realität, die diese Idylle immer<br />
wieder bricht. Weihnachten verliert dadurch nicht, im Gegenteil: Durch Darstellungen wie<br />
diese gewinnt Weihnachten an Tiefe. Das ist tatsächlich bildgewordene Verkündigung!<br />
Wir haben gesehen: Das Leiden Jesu (und mit ihm das Leiden der Welt) ist im Bild präsent<br />
(durch die Kreuze, durch die Kreuzesinschrift, durch die Wundmale, durch David als Symbol<br />
für die Geschichte Israels). Aber auch die Idylle hat ihren Verkündigungswert. Sie ist mehr<br />
als nur Fassade und schöner Schein, und sie will mehr sein, als ein bisschen Balsam für unsere<br />
Seelen.<br />
Was wir in unseren Kirchen und Wohnzimmern errichten, ist ein Stück weit „heile<br />
Welt“ – im besten Sinne des Wortes. In dem Sinne nämlich, dass es Gottes Welt abbildet<br />
– die Welt, die er für uns will; die Welt, die er für uns bereithält; die Welt, auf<br />
die er mit uns zusteuert.<br />
Angesichts des Zustands unserer Welt mag es manchem schwerfallen, daran zu<br />
glauben. Zu groß, zu übermächtig sind die Leidenskreuze. Und dennoch, die Bo t-<br />
schaft der Engel spricht eine klare Sprache: „Frieden auf Erden ...!“<br />
Das ist nicht nur ein Weihnachtswunsch oder -gruß. Das ist eine Programmansage;<br />
das legt offen, was Gott vorhat; das gibt Einblick in die Heilsgeschichte. Viel können<br />
wir nicht sehen, aber doch genug. Es ist wie ein Blick durchs Schlüsselloch ins<br />
Weihnachtszimmer. Man ist geblendet von dem Glanz. Alles wirkt neu und anders im<br />
strahlenden Licht (selbst das Altbekannte).<br />
So ist es tatsächlich mit der Geburt Christi. Sie macht alles neu; sie ist der Höhepunkt<br />
in Gottes Heilsgeschichte.<br />
Und wenn uns mal wieder die Verzweiflung zu überkommen droht angesichts der<br />
schlimmen Nachrichten aus aller Welt, schauen wir auf unser Weihnachtsidyll, die<br />
Krippe und den Stall. Nicht um uns davon einlullen zu lassen, sondern zur Erinn e-<br />
rung daran, dass Gottes Ziel ein anderes ist, nämlich Frieden auf Erden, Frieden für<br />
alle Menschen.<br />
Amen.
Evangelisch-Lutherische<br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
Hamburg-Winterhude<br />
in der<br />
E. Felix <strong>Moser</strong><br />
<strong>Pastor</strong><br />
Predigt am 2. Weihnachtstag<br />
26. Dezember <strong>2006</strong><br />
Predigttext: Jesaja 11,1-9:<br />
Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel<br />
Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des<br />
Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht<br />
des HERRN. Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des HERRN. Er wird nicht richten<br />
nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren<br />
hören, sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den E-<br />
lenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und<br />
mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden<br />
sein und die Treue der Gurt seiner Hüften. Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen<br />
und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und<br />
Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen<br />
beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder. Und ein Säugling wird<br />
spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle<br />
der Natter. Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge;<br />
denn das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein, wie Wasser das Meer bedeckt.<br />
Liebe Gemeinde!<br />
Stimmungsvolle Texte gehören zu Weihnachten wie die guten alten stimmungsvollen Lieder<br />
und die besondere Stimmung im Weihnachtszimmer. Unsere alttestamentliche Lesung heute<br />
Morgen ist so ein Text, ein „verträumter Text“, eine traumhafte Vision. Wir genießen die Lieder<br />
und derart verträumte Texte. Selbst hart gesottene Weihnachtsabstinenzler lassen sich<br />
spätestens am Heiligabend in die Weihnachtsstimmung hineinziehen. Keiner sollte sich aufkommender<br />
sentimentaler Gefühle schämen. Im Gegenteil, es ist doch gut, dass uns wenigstens<br />
einmal im Jahr die Sehnsucht nach der heilen Welt mit Wucht packt. Darin drückt sich<br />
ein tiefes Verlangen nach Harmonie und Frieden aus. Dazu gehören auch überschäumende<br />
Bilder, Träumereien und ein weiter Hoffnungshorizont.<br />
Als wir Kinder waren, haben wir das noch viel intensiver erlebt als heute. Das Weihnachtszimmer<br />
war von einem besonderen Geheimnis umgeben. Es war schon Stunden oder sogar<br />
Tage vorher fest verschlossen und durfte nicht betreten werden. Drinnen wurde das Zimmer<br />
von Eltern und Großeltern regelrecht auf den Kopf gestellt. Es wurde ausgeräumt und in ein<br />
'“Weihnachtsparadies“ verwandelt – mit Christbaum und Krippe, mit Eisenbahn und Kaufmannsladen.<br />
Wenn man die Großen so hört, sagen sie (bis heute) immer dasselbe: „Weihnachten<br />
– das ist das Fest für die Kinder.“ Aber wenn man genau hinsieht, merkt man<br />
schnell: die Erwachsenen genießen es genauso. Viele Große genießen es, mal wieder wie<br />
kleine Kinder genießen zu dürfen.<br />
Weihnachten – das ist wie der Vorglanz einer ganz anderen, neuen Welt; einer Welt, in der<br />
alles in eine gute, schöne, harmonische Ordnung gebracht ist.
Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />
Paul-Gerhardt Gemeinde<br />
<strong>Pastor</strong><br />
Hamburg-Winterhude Predigt am 2612.06<br />
Genau das ist die Sehnsucht, die auch im Traum des Jesaja zum Ausdruck kommt. Die Welt<br />
seiner Zeit war eine ungeordnete, zutiefst bedrohte. Katastrophen standen unmittelbar bevor.<br />
Vor allen anderen hat Jesaja den Zerfall des Königshauses vor Augen. Er sieht darin ein<br />
Strafgericht Gottes. Denn Gottesfurcht und Gotteserkenntnis waren geschwunden im Volk;<br />
es fehlte an Weisheit und Einsicht: Recht und Gerechtigkeit waren vergessen. Zunehmend<br />
setzten sich Gewalttätige durch und bereicherten sich auf Kosten der Armen.<br />
Jesaja ist darüber zutiefst bekümmert. Gegen seine Trauer setzt er den Traum, ein Zeichen<br />
von Hoffnung und aufkeimender Freude: Es wird einer kommen, auf dem der Geist Gottes<br />
ruht. Endlich ein gerechter Friedenskönig nach so vielen Gewaltherrschern! Einer, der Versöhnung<br />
mit Gott bringen wird und Friede unter den Menschen. Sogar die Natur ist einbezogen:<br />
Mensch und Tier wird er miteinander versöhnen.<br />
Jedoch, so wie der Prophet sich den Friedensbringer vorgestellt hat, kam er nicht. Sicher, da<br />
gab es in der Geschichte Israels immer mal wieder Geistesträger – solche, die die eine oder<br />
andere Geistesgabe mitbrachten. Aber einer, bei dem alle Gaben da sind (bei dem alles zusammenkommt<br />
und zusammenstimmt, was bei uns durcheinanderfällt), so einer war nicht<br />
dabei.<br />
Die Messlatte liegt aber auch wirklich hoch! Was nennt der Prophet nicht alles! „Weisheit“<br />
soll er haben, also die Erkenntnis in die Ordnung unserer Welt, um sachgerecht unterscheiden<br />
zu können. Dazu „Einsicht und Verstand“ – die Gabe also zu sehen, worauf es ankommt.<br />
Schließlich „Rat“ – das meint die Fähigkeit, angemessen und wirkungsvoll vorauszudenken;<br />
„Stärke“ – die Entschlossenheit und Kraft, das als richtig erkannte umzusetzen und<br />
dann noch - das Schwerste wohl – „Erkenntnis und Furcht des Herrn“. Darunter verstehe<br />
ich, das eigene Leben und die Welt in der rechten Einordnung vor Gott zu begreifen und von<br />
daher eine praktische Frömmigkeit zu leben. Der da verheißen wird, hat den Durchblick des<br />
Herzens und den Einblick in die Herzen.<br />
Als wäre diese Liste noch nicht lang genug, setzt Jesaja noch ein Thema obenauf: Recht<br />
und Gerechtigkeit. Gerechtigkeit wird der Verheißene schaffen, weil er nicht nach dem bloßen<br />
Augenschein geht und auch nicht auf das hört, was andere reden. Er wird ein Erlöser<br />
sein, nicht korrupt, nicht von Eigeninteressen bestimmt. Das ist wie Musik in den Ohren! Das<br />
ist wirklich ein Traum – für die Menschen damals wie heute!<br />
Die zweite Hälfte des Traumes beschreibt eine große Harmonie, einen ewigen Frieden. Von<br />
unserer Weihnachtskrippe kennen wir Ochs und Esel, vielleicht noch ein paar Schafe und<br />
Kamele. Bei Jesaja kommen eine ganze Reihe neuer, ganz ungewohnter „weihnachtlicher“<br />
Tiere dazu: Wolf und Panther, Kuh und Bär, Otter und Natter. Es geht um Bewahrung der<br />
Schöpfung in ganz neuer Dimension: Die Schöpfung bleibt bewahrt vor dem tödlichen Gesetz<br />
von Fressen und Gefressen werden.<br />
Jesajas Traumbild geht aber über die Harmonie in der Natur hinaus. Es spricht auch von<br />
uns, genauer: vom Bösen in unserer Natur. Auch das wird einst überwunden sein.<br />
Mich erinnert das an ein Wort, das Franz von Assisi zugeschrieben wird. „Umarmt den Wolf<br />
in euch,“ soll er gesagt haben. Das meint: Wirklich friedensfähig werden wir erst dann sein,<br />
wenn wir die Gegensätze und Zerrissenheiten in uns überwunden haben; wenn (um im Bild<br />
zu bleiben) auch in uns Wolf und Lamm Seite an Seite weiden können.<br />
Der große Traum des Jesaja – ist es mehr als nur eine verträumte Utopie?<br />
Es ist mehr. Und genau das feiern wir zu Weihnachten. Der Traum. die Utopie ist wahr geworden<br />
durch die Geburt des Gottessohnes. Da kam tatsächlich einer, dem es gelang, all die<br />
hohen Werte zu leben und die Gegensätze unserer Natur zu vereinen. Und jedes Weihnachtsparadies<br />
bei uns zu hause ist immer auch Erinnerung an den, der das hat wahr werden<br />
lassen, von dem alle nur träumen.<br />
Viele der Älteren werden noch etwas mit dem Namen Heinrich Albertz anfangen können, einer<br />
der wenigen, dem es gelang, ein politisches Amt trefflich mit dem geistlichen zusammenzubringen.<br />
Heinrich Albertz war <strong>Pastor</strong> und zudem auch Bürgermeister von Berlin. In einer<br />
seiner Weihnachtspredigten hat er gesagt: „Wir leben nach Christus, und das war die Zeit-
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Hamburg-Winterhude Predigt am 2612.06<br />
wende, die einzig reale Wende. Ja, die vernünftige Wende: Nämlich die Wende zu der Vernunft,<br />
sich seine Utopien nicht ausreden zu lassen. Genau das ist Weihnachten!“ – „Sich<br />
seine Utopien nicht ausreden lassen ...“, es ist immerhin ein so genannter Realpolitiker, der<br />
uns das rät.<br />
Wem das Ziel, wem solche Utopien allzu üppig sind, der halte sich an das andere Bild im<br />
Traum des Jesaja: an den kleinen Zweig, der aus dem Stamm hervorgehen wird. Das ist<br />
kaum mehr als ein Zeichen der Hoffnung. Aber es hat ja auch wirklich etwas Anrührendes<br />
(oder besser: Mut machendes), wenn wir auf einem Waldspaziergang einen Baumstumpf<br />
sehen, an dessen Seite oder Rand ein kleiner grüner Zweig zu sehen ist. So ein Stumpf wirkt<br />
auf den ersten Blick tot. Es hat etwas Deprimierendes zu sehen, was von einem manchmal<br />
Jahrhunderte alten Baum übrig geblieben ist. Aber dann der kleine grüne Zweig! Er beweist<br />
doch, wie sehr der erste Eindruck täuschen kann. Das ist Leben, Kraft zum Leben – und das<br />
setzt sich durch gegen die Macht von Vernichtung und Tod.<br />
Auch darin erkenne ich ein Sinnbild für den Menschen. Unsere Sprache hat den Stumpf als<br />
Eigenschaftswort übernommen. Wir sprechen manchmal von „abgestumpften“ Menschen<br />
oder solchen, die „stumpf“ geworden sind. Dabei denken wir an solche, die nur noch isoliert<br />
vor sich hin leben, denen alles egal geworden ist. Nicht einmal für Schmerz sind sie empfindlich.<br />
Sie strahlen Apathie und Verdrossenheit aus.<br />
Gerade auch diesen Menschen verspricht die Verheißung: Da ist noch Leben im tot wirkenden<br />
Stumpf. Ihr nehmt es nur nicht wahr. Vielleicht fehlten nur mehr Licht und Wasser, und<br />
das meint: Aufmerksamkeit und Zuwendung. Vielleicht muss das Leben nur „hervor gelockt“<br />
werden, eine Verheißung, eine Perspektive haben.<br />
Jesaja verspricht: „Gott wird ein rechtes Urteil sprechen den Elenden.“ Das ist vor allem an<br />
die gerichtet, die „stumpf“ oder „abgestumpft“ sind. Resigniert nicht! Neues Leben wächst<br />
euch zu! Verlasst euch darauf; freut euch darüber!<br />
Auch der, der erst einmal nichts anfangen kann mit Jesajas großer Utopie, kann so vielleicht<br />
einen Zugang finden; erste kleine, ganz persönliche Schritte wagen. Wer dann die ersten<br />
Veränderungen erlebt, der weiß, dass Weihnachten wahr ist.<br />
Amen.