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Predigten Pastor Moser 2006 - Alsterbund

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Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am Neujahrstag<br />

01. Januar <strong>2006</strong><br />

Jahreslosung <strong>2006</strong>: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht. (Josua 1,5)<br />

Predigttext: Josua 1, 1-9<br />

Nachdem Mose, der Knecht des HERRN, gestorben war, sprach der HERR zu Josua, dem<br />

Sohn Nuns, Moses Diener: Mein Knecht Mose ist gestorben; so mach dich nun auf und zieh<br />

über den Jordan, du und dies ganze Volk, in das Land, das ich ihnen, den Israeliten, gegeben<br />

habe. Jede Stätte, auf die eure Fußsohlen treten werden, habe ich euch gegeben, wie<br />

ich Mose zugesagt habe. Von der Wüste bis zum Libanon und von dem großen Strom Euphrat<br />

bis an das große Meer gegen Sonnenuntergang, das ganze Land der Hetiter, soll euer<br />

Gebiet sein. Es soll dir niemand widerstehen dein Leben lang. Wie ich mit Mose gewesen<br />

bin, so will ich auch mit dir sein. Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht. Sei getrost<br />

und unverzagt; denn du sollst diesem Volk das Land austeilen, das ich ihnen zum Erbe geben<br />

will, wie ich ihren Vätern geschworen habe. Sei nur getrost und ganz unverzagt, dass du<br />

hältst und tust in allen Dingen nach dem Gesetz, das dir Mose, mein Knecht, geboten hat.<br />

Weiche nicht davon, weder zur Rechten noch zur Linken, damit du es recht ausrichten<br />

kannst, wohin du auch gehst. Und lass das Buch dieses Gesetzes nicht von deinem Munde<br />

kommen, sondern betrachte es Tag und Nacht, dass du hältst und tust in allen Dingen nach<br />

dem, was darin geschrieben steht. Dann wird es dir auf deinen Wegen gelingen, und du wirst<br />

es recht ausrichten. Siehe, ich habe dir geboten, dass du getrost und unverzagt seist. Lass<br />

dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der HERR, dein Gott, ist mit dir in allem, was<br />

du tun wirst.<br />

Liebe Gemeinde!<br />

Josua ist in einer äußerst schwierigen Lage. Mose hat das Volk vierzig Jahre lang auf seinem<br />

äußerst schwierigen Weg durch die Wüste geführt. Aber nun, kurz vor dem Ziel, ist er<br />

verstorben. Mose selbst hat derartiges wohl geahnt. Schon zu Lebzeiten hat der den noch<br />

jungen Josua zu seinem Nachfolger bestimmt; denn der hatte sich bewährt auf dem langen<br />

Marsch durch die Wüste: Erfolgreich hatte er die Israeliten angeführt im Kampf gegen das<br />

mächtige Volk der Amalekiter, danach gehörte er zu den ersten Kundschaftern, die in das<br />

Land Kanaan geschickt wurden. Und Mose war es auch, der Josua das Vertrauen in den<br />

Gott Jahwe lehrte und schließlich Josua seinen Namen gab. Ursprünglich hieß Josua Hosea<br />

(= „Hilfe“); zusammengesetzt mit dem Gottesnamen Jahwe „Jah_Hosea“ wird daraus Josua<br />

(= „Der Herr ist Hilfe“). Das ist ein klares Zeichen: Darauf soll Josua sich verlassen.<br />

Das Volk steht kurz vor der Überschreitung des Jordan. „Mach dich auf und zieh mit dem<br />

ganzen Volk durch den Jordan!“ – so lautet der Auftrag Gottes an Josua. Das ist leichter gesagt<br />

als getan. Der Jordan liegt etwa 400 Meter unter dem Meeresspiegel und ist in der tiefer<br />

gelegenen Senke ein reißender Fluss. Er ist schwer zu überschreiten – besonders in der Zeit<br />

der Schneeschmelze. Es sind weder Brücken noch Boote vorhanden. Vor allem für Menschen<br />

wie die Israeliten, die aus der Wüste kommen, ist die Überschreitung ein besonders<br />

großes Risiko. Und wie sieht es auf der anderen Seite aus? Im „gelobten Land“sind die Ka-


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 01.01.06<br />

naanäer. Sie werden den Israeliten keinesfalls freiwillig Land Überlassen. Sie haben sich gut<br />

und sicher eingerichtet in befestigten Städten und ihre Heere verfügen über schlagkräftige<br />

Einheiten von Streitwagen.<br />

Man wird gut verstehen, dass Josua in dieser Situation gezögert hat. Ausgerechnet er soll<br />

als neuer Führer seines Volkes den entscheidenden und zugleich kritischsten Punkt des<br />

Weges in die Freiheit meistern?!<br />

Zweierlei wird ihm beim mutigen Schritt nach vorn schließlich geholfen haben: Das eine ist<br />

sein Stehen in einer alten Glaubenstradition. Alle Israeliten lebten seinerzeit aus der starken<br />

Hoffnung: Gott wird seine Zusage an Abraham einlösen. An Mose hatte er sie erneuert;<br />

vom“Land, da Milch und Honig fließen“ war gar die Rede! Nun endlich war es so weit, das<br />

Ziel greifbar vor Augen.<br />

Das Zweite ist die aktuelle Zusage. Nur nach rückwärts zu schauen und der alten Zusage an<br />

die Erzväter zu vertrauen, wäre wohl zu wenig. Gott tut mehr: Er öffnet Josua den Blick nach<br />

vorn. „Sei getrost und unverzagt“ (dreimal steht das im Text!) „Lass dir nicht grauen und entsetze<br />

dich nicht; denn der Herr, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tust.“<br />

Das ist der Punkt, liebe Gemeinde, an dem mich der Text gerade zum Jahreswechsel anspricht.<br />

Unsere Situation ist der des Josua vergleichbar: auf der Schwelle sozusagen; der<br />

Schritt vom Alten ins Neue. Und genau wie er können und sollen wir uns dabei der Hilfe Gottes<br />

versichern. Es ist die Tradition, unsere Glaubensgeschichte, die uns Mut macht (Gott hat<br />

uns gut geleitet; seine Verheißungen sind wahr geworden), und es ist heute seine aktuelle<br />

Zusage: Habt Vertrauen! Schaut nach vorne! Wagt mutig die nächsten Schritte – denn „ich<br />

lasse euch nicht fallen und verlasse euch nicht.“<br />

Gerade jetzt zum Jahreswechsel melden sich unsere führenden Politiker zu Wort. Die letzten<br />

Jahre hieß es, das Anspruchsdenken aufzugeben und den Gürtel enger zu schnallen, diesmal<br />

werden wir zu mehr Anstrengungen für unser Land aufgefordert. Von all solchen Reden<br />

unterscheidet sich unsere Jahreslosung wohltuend. Gottes Rede an Josua (und uns!) ist weder<br />

ein Appell noch ein guter Ratschlag. Sie ist vor allem ein großes Versprechen.<br />

Gott verspricht uns viel an den Übergängen des Lebens: Er gibt und die Zusage, bei uns zu<br />

sein und uns zu halten, wenn wir zu fallen drohen; er wird uns unterstützen, wenn wir Hilfe<br />

brauchen und uns begleiten, wenn wir alleine sind. Und wir haben erfahren; das sind Zusagen,<br />

auf die wir setzten können. So wie Gott mich bis hierher geführt hat, wird er mich auch<br />

in ein neues Jahr leiten.<br />

Die Israeliten wussten nicht, was sie im neuen Land erwartet; welche Gefahren und Prüfungen<br />

vor ihnen liegen. Uns geht es da nicht viel anders:<br />

• Gesundheit wünschen wir uns vor allem zum Jahreswechsel. Aber was wird das neue<br />

Jahr schließlich bringen? Wird die Schwäche mit zunehmendem Alter mehr werden?<br />

Werde ich damit umgehen können?<br />

• Bei Jüngeren stehen andere Sorgen im Vordergrund: Was wird nach dem Schulabschluss<br />

sein? Werde ich einen Ausbildungsplatz, einen Beruf finden, der mich ausfüllt? Und die,<br />

die im Beruf stehen, wünschen sich nichts sehnlicher als die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes<br />

– so viel hängt daran: die Absicherung der Familie, die Zukunftsplanung, das eigene<br />

Selbstwertgefühl ...<br />

Gott kennt all diese „Schwellenängste“; er weiß um unser banges Schauen nach vorne. Unsere<br />

zahlreichen Wünsche wird er uns nicht erfüllen, und er wird uns auch keineswegs alle<br />

Belastungen aus dem Weg räumen. Sein Wort aber gilt: „Ich lasse dich nicht fallen und verlasse<br />

dich nicht.“<br />

In dieser Gewissheit wollen wir getrost und mutig unser „neues Land“, das Jahr <strong>2006</strong>, beschreiten.<br />

Amen


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am 2. Sonntag nach Epiphanias<br />

15. Januar <strong>2006</strong><br />

Predigttext: 1. Korinther 2,1-10<br />

Auch ich, liebe Brüder, als ich zu euch kam, kam ich nicht mit hohen Worten und hoher<br />

Weisheit, euch das Geheimnis Gottes zu verkündigen. Denn ich hielt es für richtig, unter<br />

euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten. Und ich war bei euch in<br />

Schwachheit und in Furcht und mit großem Zittern; und mein Wort und meine Predigt geschahen<br />

nicht mit überredenden Worten menschlicher Weisheit, sondern in Erweisung des<br />

Geistes und der Kraft, damit euer Glaube nicht stehe auf Menschenweisheit, sondern auf<br />

Gottes Kraft. Wovon wir aber reden, das ist dennoch Weisheit bei den Vollkommenen; nicht<br />

eine Weisheit dieser Welt, auch nicht der Herrscher dieser Welt, die vergehen. Sondern wir<br />

reden von der Weisheit Gottes, die im Geheimnis verborgen ist, die Gott vorherbestimmt hat<br />

vor aller Zeit zu unserer Herrlichkeit, die keiner von den Herrschern dieser Welt erkannt hat;<br />

denn wenn sie die erkannt hätten, so hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt.<br />

Sondern es ist gekommen, wie geschrieben steht (Jesaja 64,3): «Was kein Auge gesehen<br />

hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet<br />

hat denen, die ihn lieben.» Uns aber hat es Gott offenbart durch seinen Geist; denn der Geist<br />

erforscht alle Dinge, auch die Tiefen der Gottheit.<br />

Liebe Gemeinde!<br />

Was ist Weisheit? Was macht einen weisen Menschen aus? Keine leichte Eingangsfrage, –<br />

mit Sicherheit keine, die mit einem Wort zu beantworten wäre. Verschiedenes kommt einem<br />

in den Sinn: Intelligenz, Klugheit gehört zur Weisheit, aber auch eine gehörige Portion Lebenserfahrung;<br />

nicht umsonst bringen wir Weisheit mit Alter in Verbindung. Die Fähigkeit,<br />

Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden rechne ich dazu, aber auch die „Weisheit des<br />

Herzens“ (echte Gefühle, Feinfühligkeit). Eine gewisse Selbstsicherheit, ein In-sich-selbst-<br />

Ruhen, das Kraft ausstrahlt gehört dazu wie auch die Fähigkeit, sich mit wenig Aufwand Gehör<br />

zu verschaffen und sich ausdrücken zu können… Würde ich jetzt unter uns eine Umfrage<br />

starten, könnten Sie wahrscheinlich noch etliche weitere Aspekte ergänzen. Weisheit ist<br />

wirklich ein komplexer Begriff!<br />

Nicht erst in unseren Tagen wird darum gerungen. Heute Morgen hören wir Paulus’ Gedanken<br />

dazu. Er richtet sie an die Gemeinde in Korinth, und er kann sich sicher sein, dass das,<br />

was er zu sagen hat, mit größter Aufmerksamkeit gehört wird. „Weisheit“ war schon seit<br />

Jahrhunderten das Lieblingswort (oder besser noch: Lieblingsthema) der Griechen. Einzelne<br />

Philosophen und ganze Philosophenschulen, Politiker und Theaterleute stritten darum, und<br />

dieser Streit war beileibe kein abstrakter und bloß akademischer. Es ging letztlich um das<br />

Wichtigste überhaupt: um eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. Die Auseinandersetzung<br />

wurde in allen Häusern geführt und ging durch alle Schichten – sogar unter<br />

Sklaven wurde sie geführt, die ja nicht selten als Lehrer der Kinder ihrer Herren Dienst taten.<br />

Auch vor den Türen der wirklich noch jungen Gemeinde in Korinth machte der Streit nicht<br />

halt. Die in den Häusern, auf den Straßen und Marktplätzen gehörten Positionen wurden in


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 15.01.06<br />

die Gemeindeversammlungen getragen. Nicht selten vermischten sie sich auf obskure Weise<br />

mit dem Christusglauben einzelner Gemeindeglieder. Mit der Zeit bildeten sich Parteien heraus<br />

mit rhetorisch begabten, wortgewaltigen Anführern. Die Auseinandersetzung eskalierte<br />

derart, dass die Gemeinde auseinander zu brechen drohte.<br />

Paulus, der Gemeindegründer, wird um Rat gefragt. Er muss sich zum heiklen Thema äußern;<br />

es bleibt ihm gar nichts anderes übrig. Über seine Antwort wird die Gemeinde nicht<br />

schlecht gestaunt haben. Wahrscheinlich hat jede der Parteien gehofft, durch den Mund der<br />

obersten Autorität endlich Recht zu bekommen. Aber Paulus macht ihnen allen einen Strich<br />

durch die Rechnung.<br />

Der Glaube der Christen, sagt er, beruht auf einer Weisheit ganz eigener Art, und diese<br />

Weisheit ist nicht von dieser Welt. Folglich kann von ihr auch nicht in herkömmlicher Weise<br />

gesprochen werden. Mögen die Rhetoriker auch noch so gut geschult sein und die Gelehrten<br />

auch noch so viele neue und tiefe Erkenntnisse haben, zur Weisheit der Christen werden sie<br />

so nicht finden.<br />

„Gleiches kann nur Gleiches erkennen“, sagt Paulus. Mit anderen Worten: Der menschliche<br />

Verstand kann nur das an Weisheit erkennen, was ihm entspricht. Er kann neue Erfindungen<br />

machen, technischen Fortschritt leisten, philosophische Systeme erstellen und all das am<br />

Maßstab der Logik überprüfen. An der christlichen Weisheit aber versagen diese Denkmuster,<br />

denn da kommt der Verstand an seine Grenze. Wie sollte denn die Frage nach Gott mit<br />

den Mitteln des Verstandes zu klären sein?!<br />

Paulus findet einen ganz anderen Ansatz, er zeigt einen ganz anderen Weg zur Weisheit<br />

auf. „Ich kam nicht mit hohen Worten, nicht mit hoher Weisheit, euch das Wort Gottes zu<br />

verkündigen“, schreibt er. Nicht als Rhetoriker, nicht mit Überredungskunst will er auftreten,<br />

sondern in „Schwachheit“ (Vers 3); das meint: Ohne Fassade, ohne eine Rolle zu spielen,<br />

sondern so, wie er eben ist. Zudem mit „Furcht und Zittern“, was nicht meint, dass er Angst<br />

gehabt hätte vor den Korinthern. Vielmehr ist damit die Treue zu seinem Auftrag gemeint, die<br />

Verbindlichkeit, die er eingegangen ist – mir Ehrfurcht vor Gott und höchster Anspannung, ob<br />

er seiner Aufgabe gerecht wird.<br />

Bei seinem neuen Ansatz geht es Paulus gar nicht darum, alle menschliche Weisheit zu verteufeln.<br />

Ebenso wenig will er alles Reden über Gott verbieten (schließlich ist er selbst ein<br />

bedeutender Theologe und Prediger!). Er will nur die Grenze solchen Denkens und Redens<br />

aufzeigen: Die Sinn-Frage ist so nicht zu lösen. Erlösung wird keiner auf diese Weise finden.<br />

Auch der brillanteste Denker findet nicht allein aus sich heraus den Weg zu Gott.<br />

Die eigenen Grenzen erkennen, zu den eigenen Schwächen stehen, Furcht und Zittern zuzulassen<br />

… das ist der Weg des Paulus. „Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig“, schreibt<br />

er wenig später und erinnert damit an Erfahrungen, die er selber gemacht hat. Unser Gott ist<br />

in den Schwachen mächtig, weil er selbst die Schwäche am Kreuz durchlitten hat. Darüber<br />

lässt sich nur schwer reden; es lässt sich schon gar nicht logisch beweisen. Das lässt sich<br />

nur im eigenen Leben erfahren, dass im gekreuzigten Christus eine Kraft steckt, die hilft und<br />

rettet. Insofern hat Gott auch ein ganz eigenes Wort für solches Reden über Gottes Weisheit:<br />

„martyrein“ – ein griechisches Wort, aber sie hören schon: da klingt das uns bekannte Wort<br />

„Märtyrer“ an, zu deutsch: Zeugnis ablegen. Nur so lässt sich also angemessen von der<br />

Christus-Weisheit sprechen: dass man etwas über sich sagt; darüber, was Gott und Glaube<br />

im eigenen Leben bewirkt hat, wo Fehler und Schwächen überwunden, ja verwandelt wurden<br />

in Lebensmut und -kraft; das ist martyrein (Zeugnis ablegen).<br />

„Dann steht euer Glaube nicht auf menschlicher Weisheit, sondern auf Gottes Kraft“ (Vers 5),<br />

sagt Paulus. Es wird euch dazu führen, eigene Möglichkeiten und Fähigkeiten auch dort zu<br />

finden, wo ihr euch schwach fühlt. Wenn ihr den Versuch wagt, eurem je eigenen Auftrag<br />

Gottes zu entsprechen, werdet ihr euren Lebenssinn finden – vielleicht sogar im Scheitern<br />

wie Jesus am Kreuz.


Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 15.01.06<br />

Den Lebenssinn finden, vielleicht sogar im Scheitern … ist das noch zu verstehen? Nach<br />

dem Maßstab der Weisheit dieser Welt sicher nicht, wohl aber nach Gottes Weisheit. Für<br />

diese Welt war der Gott am Kreuz nicht mehr als ein gescheiterter, entthronter Gott. Erst der<br />

Glaube erkennt ihn neu und anders: als den sich opfernden und in der Auferstehung siegreichen<br />

Gott.<br />

Den Lebenssinn finden – also durch das Scheitern hindurch … Manche haben es uns vorgelebt.<br />

In diesen Tagen werden wir häufig an Dietrich Bonhoeffer erinnert, sein Geburtstag jährt<br />

sich zum hundertsten Mal. Nach dem Maßstab dieser Welt ist er in seinem Widerstand gegen<br />

die Hitler-Diktatur im Dritten Reich gescheitert, als er hingerichtet wurde. An Gottes<br />

Weisheit gemessen tritt anderes hervor: der im Glauben gefundene und gelebte Sinn, das<br />

Martyrein, die Gotteskraft. Aber wir sollten uns nicht zu sehr auf Beispiele wie Bonhoeffer<br />

fixieren. Das erweckt zu sehr den Eindruck, nur wenige Große und Berühmte könnten solches<br />

leisten. Genau das Gegenteil ist der Fall: Der Gott am Kreuz verlangt nicht das große<br />

Lebenswerk; er will nicht den „Macher“ und „Manager“ in Glaubensfragen, nicht den „Superstar“.<br />

Er will uns – einen jeden mit seinen Fehlern, Defiziten und Lasten, jeden, der – wie<br />

Paulus von sich sagt: „Ich komme nicht mit großen Worten und hoher Weisheit, sondern mit<br />

Schwachheit, Furcht und Zittern.“ Das entspricht dem Gott am Kreuz; das ist der Boden, auf<br />

dem Gottes Weisheit wurzeln und Früchte tragen kann. An solchen wird sich die Verheißung<br />

erfüllen (Vers 9): „Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und was in keines Menschen<br />

Herz gekommen ist, das hat Gott bereitet denen, die ihn lieben.“<br />

Amen.


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

in der<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am 4. Sonntag nach Epiphanias<br />

29. Januar <strong>2006</strong><br />

Predigttext: Epheser 1,15-20a<br />

Der Apostel schreibt: Darum auch ich, nachdem ich gehört habe von dem Glauben bei euch<br />

an den Herrn Jesus und von eurer Liebe zu allen Heiligen, höre ich nicht auf, zu danken für<br />

euch, und gedenke euer in meinem Gebet, dass der Gott unseres Herrn Jesus Christus, der<br />

Vater der Herrlichkeit, euch gebe den Geist der Weisheit und der Offenbarung, ihn zu erkennen.<br />

Und er gebe euch erleuchtete Augen des Herzens, damit ihr erkennt, zu welcher Hoffnung<br />

ihr von ihm berufen seid, wie reich die Herrlichkeit seines Erbes für die Heiligen ist und<br />

wie überschwänglich groß seine Kraft an uns, die wir glauben, weil die Macht seiner Stärke<br />

bei uns wirksam wurde, mit der er in Christus gewirkt hat.<br />

Liebe Gemeinde!<br />

Vielleicht erinnern Sie das aus Ihrer Schulzeit und die Konfirmanden können das vielleicht<br />

aus ihrer Erfahrung bestätigen: Es hatten die Lehrer bei uns sofort einen Stein im Brett, die<br />

sich „richtig“ einführten. „Richtig“ – das heißt: nicht mit Strenge, nicht mit Kritik, nicht mit<br />

Verweis auf unsere Defizite, sondern im Gegenteil: mit Lob, mit Vorfreude auf den Unterricht<br />

und einer Art gespannter Erwartung auf das, was wir einbringen würden.<br />

Vielleicht war es bei manchen nur ein pädagogischer Trick, bei vielen unserer Lehrer empfanden<br />

wir das aber als echt. Und wir haben uns dann alle Mühe gegeben, den in uns gesetzten<br />

Erwartungen gerecht zu werden. Ein guter Einstieg kann wirklich die Herzen öffnen<br />

und Kräfte mobilisieren.<br />

Das weiß auch der Verfasser des Epheserbriefes. Seinen Brief an die Gemeinde beginnt er<br />

mit einem großen Gebet. In dem, wofür er Gott dankt, steckt indirekt ein Lob des Glaubens<br />

und der Liebe der Gemeinde in Ephesos. So viel Gutes ist überall von der Gemeinde zu hören!<br />

Der Briefschreiber kann sich sicher sein: die Aufmerksamkeit der Adressaten ist geweckt.<br />

Das Lob stärkt sie, baut auf; sie werden empfänglich sein für das, was er ihnen zu<br />

sagen hat. Das beginnt mit dem zweiten Gebetsteil, der Fürbitte. Direkt ist Gott angesprochen,<br />

indirekt aber die Gemeinde – und sie wird es richtig verstanden haben.<br />

Unter den vielen Bitten fällt eine besonders ins Auge, so gewichtig und so schön formuliert,<br />

dass sie regelrecht Geschichte gemacht hat: Der Briefschreiber bittet für die Christen um „erleuchtete<br />

Augen des Herzens“. – Was ist darunter zu verstehen?<br />

Vielen wird auf Anhieb „der kleine Prinz“ von Saint-Exupéry in den Sinn kommen. Darin sagt<br />

der schlaue Fuchs in seinen Abschiedsworten zum kleinen Prinzen: „ Hier ist mein Geheimnis.<br />

Es ist ganz einfach: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen<br />

unsichtbar.“ Und der kleine Prinz wiederholt es noch einmal, um es sich zu merken.<br />

Ist es das, was der Verfasser des Epheserbriefes meint? Ja und nein. Natürlich gehört es<br />

zum Christsein dazu, „mit dem Herzen zu sehen“. Das meint: sich nicht zufrieden zu geben<br />

mit dem ersten Eindruck, der doch allzu oft täuscht. Menschen nicht vorschnell und nur nach<br />

ihrem Äußeren zu beurteilen; Menschen nicht vorzuverurteilen und in Schubladen zu ste-


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 29.01.06<br />

cken..., sondern vielmehr hinter die Fassade zu schauen und einen Eindruck davon zu gewinnen,<br />

wer dieser Mensch wirklich ist.<br />

• Wie oft sind wir erschrocken vor den grimmigen Gesichtern, denen wir begegnen und<br />

schnell wenden wir uns ab. Würden wir näher hinschauen mit den „Augen des Herzens“,<br />

würden wir die Ursachen für die Verbitterung sehen oder auch erkennen, dass das grimmige<br />

Gesicht nur die Maske ist für ganz viel Unsicherheit oder auch Angst.<br />

• Ähnlich verhält es sich mit Stolz und Arroganz. Keiner mag sich mit arroganten Menschen<br />

auseinandersetzten. Wer es aber wagt, wird merken: ganz oft verbirgt sich hinter der Arroganz<br />

ein sehr einsamer, ängstlicher Mensch.<br />

• Auch die Obdachlosen kommen mir in den Sinn. Mit einem scheuen Blick hasten wir an<br />

ihnen vorbei. Schmutzige Kleider, strenger Geruch, Krankheiten... das ist allzu abstoßend.<br />

Die „Augen des Herzens“ aber schauen durch die abstoßende Oberfläche hindurch. Sie<br />

sehen den Menschen dahinter mit seiner ganz eigenen verzweifelten Lebensgeschichte;<br />

vielleicht dringen sie sogar noch weiter vor und erkennen den Menschen, wie Gott ihn<br />

gewollt hat.<br />

Viele weitere Beispiele ließen sich anführen. Wir sehen: mit den erleuchteten Augen des<br />

Herzens erkennen, ist keine Sache nur des Scharfsinns und der Intelligenz. Vielmehr umfasst<br />

es Gemüt und Intellekt. Dem „Herzen“ (also den Gefühlen, der Liebe) kommt dabei eine<br />

besondere Rolle zu: Es korrigiert den Verstand, weil es andere Ebenen erreicht und andere<br />

Maßstäbe anlegt. Nach Liebe und Menschlichkeit zu urteilen ist etwas anderes als ein Einteilen<br />

nach logischen Kriterien. Wer mit „erleuchteten Herzensaugen“ sieht, sieht mehr und<br />

sieht anders: im Zerbrochenen das Heile, im Schwachen die Kraft...<br />

Eine Gemeinde, die das erfasst hat, hat schon viel erreicht. Da wird es weniger finstere Gesichter<br />

geben, weniger Rechthaberei und Besserwisserei; da wird man sich nicht abschotten<br />

gegen eine „feindliche“ Umwelt, sondern hell und einladend sein, anderen freundlich und erfreut<br />

gegenübertreten und man wird von dieser Grundhaltung her viel leisten können für die,<br />

die Hilfe brauchen.<br />

Mit solchen, die mit dem Herzen gut sehen, ist schon viel erreicht. Aber das, was der Epheserbrief<br />

mit den „erleuchteten Augen des Herzens“ meint, geht darüber hinaus.<br />

Vielleicht gehören Sie auch zu den Lesern der Herrnhuter Losungen. Darin stand gestern ein<br />

schwieriger Vers als Tageslosung: „Das aber ist das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen<br />

ist“ (Joh. 3,19). Das kann nur verstehen, wer das Johannesevangelium als Ganzes<br />

in den Blick nimmt. Für Johannes ist das Gericht nicht erst das große Ereignis am Ende aller<br />

Zeit. Vielmehr nimmt es seinen Anfang in dem Moment, wo Gottes Sohn zur Welt kommt.<br />

Jesus Christus ist das Licht. Und „Gericht“ ereignet sich dort, wo dieses Licht auf ein bestimmtes<br />

Leben fällt, es offen legt, es durchleuchtet, es hell macht.<br />

Die „erleuchteten Augen des Herzens“ sind von diesem Licht erfasst. Wenn der Verfasser<br />

des Epheserbriefes darum bittet, weiß er, was das heißt: Selbsterkenntnis. Wer von diesem<br />

Licht erfasst ist, wird sein Leben – im wahrsten Sinne des Wortes – in „neuem Licht“ sehen.<br />

Da sind Fehler und Versäumnisse schonungslos aufgedeckt (das ist das „Gericht“!); das<br />

kann zu Gewissensbissen, Selbstzerknirschung, vielleicht sogar zur Verzweiflung führen;<br />

das ist wirklich eine Art „Sterben“.<br />

Dann aber auch das Andere: Das Wiederauferstehen. Das Licht, heißt es im Epheserbrief,<br />

„lässt euch erkennen, zu welcher Hoffnung ihr durch Jesus Christus berufen seid und welchen<br />

Reichtum er (euch) den Heiligen beschieden hat...“<br />

Jetzt sehen wir, um was es tatsächlich bei den „erleuchteten Augen des Herzens“ geht: Das<br />

ist doch weit mehr, als die Aufforderung zu mehr Mitmenschlichkeit! Es geht um ein ganz<br />

neues Leben. Derart neu, dass es wirklich keiner selbst „machen“ kann. Das muss tatsächlich<br />

von Gott erbeten sein; da ist die Fürbitte wirklich der richtige Weg. „Gott gebe euch den<br />

Geist der Weisheit und der Offenbarung“, „die überschwängliche Größe seiner Kraft“, „die<br />

Macht seiner Stärke“ ... der Apostel ringt regelrecht um große Worte: wie soll er nur das Ü-<br />

berwältigende des neuen Lebens ausdrücken?!


Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 29.01.06<br />

Er findet es schließlich in der Anrede. „Heilige“ nennt er die Adressaten. Wir müssen schwer<br />

schlucken, wenn wir das lesen, und den Ephesern wird es nicht viel anders gegangen sein.<br />

Werden wir mit unserem jetzigen „christlichen“ Leben einem derartigen Titel auch nur annähernd<br />

gerecht?! Der Apostel antwortet mit einem klaren Ja, denn nicht die Anzahl oder die<br />

Qualität guter Taten entscheidet über unseren Status, sondern allein das von Gott geschenkte<br />

Licht. Wer sich von ihm hat erfassen lassen, der hat das neue Leben in Jesus Christus;<br />

dem ist Heiligkeit geschenkt.<br />

Liebe Gemeinde, Weihnachten liegt jetzt schon über einen Monat zurück. Das Kerzenlicht<br />

der Weihnachtszimmer spiegelt sich nicht mehr in unseren Augen. Aber das Epiphanias-<br />

Licht ist da – das Licht, das der Welt einen neuen Schein gegeben hat. Darum geht es heute<br />

Morgen: Mit den erleuchteten Augen des Herzens können wir in diesem Licht die Welt sehen<br />

als Welt Gottes – jenseits aller Weihnachtsseligkeit.<br />

Amen.


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

in der<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am Sonntag Septuagesimä<br />

12. Februar <strong>2006</strong><br />

.<br />

Liebe Gemeinde!<br />

Jeder von uns braucht ein Selbstwertgefühl. Wer das nicht hat, der kann nichts geben; weder<br />

die Familie noch der Freundeskreis können viel von ihm erwarten. Das Schlimmste aber:<br />

Wer kein Selbstwertgefühl hat, der ist schon für sich allein kaum lebensfähig. Er wird Mühe<br />

haben, Partnerschaften aufzubauen, im Beruf Profil und Leistung zu zeigen, ja schon im alltäglichen<br />

Leben, sich und seine Interessen zu vertreten. Wer kein Selbstwertgefühl hat, wird<br />

auch von anderen nicht wert geschätzt. So viel ist sicher, so dreht sich die Welt. Die Frage<br />

ist nur: Worauf gründe ich mein Selbstwertgefühl; worauf gründe ich mein Leben? Eine Frage,<br />

der nachzugehen ich Sie einladen möchte…<br />

Was kommt Ihnen in den Sinn? Erfolge im Beruf? Ein gutes finanzielles Polster? Eine gute<br />

Familie, ein treuer Freundeskreis? Ein sicheres Auftreten? Da ließe sich eine ganze Menge<br />

nennen, aber kaum haben wir eine Antwort für die nicht leichte Frage gefunden, da wird sie<br />

wieder vom Tisch gewischt. Hören wir den Predigttext von heute morgen:<br />

Predigttext: Jeremia 9,22-23<br />

So spricht der HERR: Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich<br />

nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums. Sondern wer sich rühmen<br />

will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der HERR bin,<br />

der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht<br />

der HERR.<br />

Weder unserer Weisheit, noch unseres Reichtums, noch irgendeiner Art von Stärke dürfen<br />

wir uns rühmen, sagt der Prophet und gibt mit diesen Worten eine Weisheit wieder, zu der zu<br />

finden sein Volk viele (und vor allem) leidgeprägte Jahre gebraucht hat. Was für das Volk<br />

gilt, gilt in gleicher Weise für den einzelnen. Es braucht Jahrzehnte an Lebenszeit und das<br />

Durchstehen mancher Krisen bis man erkennt: Weder Weisheit noch Reichtum, noch irgendeine<br />

Stärke bietet einen verlässlichen Grund für mein Selbstwertgefühl, für mein Leben.<br />

‣ Wie schnell machen wir Fehler und müssen erkennen, wie lückenhaft und fadenscheinig<br />

unser Wissen ist!<br />

‣ Wie schnell verlieren manche ihren Beruf und damit ihre finanzielle Grundlage!<br />

‣ Wie schnell geht im Alter oder bei Krankheit eine Stärke verloren, auf die man stolz und<br />

dank der man von anderen besonders geachtet war!<br />

Und wieder müssen wir sagen: was für den einzelnen gilt, gilt auch für ganze Völker und Kulturen:<br />

Mit Entsetzen haben wir gestern am Bildschirm mitverfolgt, wie im Iran der „Tag der<br />

Atompolitik“ gefeiert wurde. Hat die Geschichte nicht hinreichend gezeigt, wie gefährlich ein<br />

Sich Rühmen auf das Wissen sein kann?! Einstieg in die Atompolitik bedeutet ja nicht nur<br />

mehr Energie, sondern auch – zumal in den falschen Händen – erhöhte Kriegsgefahr, Massen-<br />

oder sogar Weltvernichtung. Oder denken wir an die Gentechnologie: Die Begeisterung


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 12.02.06<br />

über die großen wissenschaftlichen Fortschritte lässt die mahnenden Worte der Kritiker nicht<br />

durchkommen. Wohin die rasant zunehmenden Freilandversuche führen, kann heute keiner<br />

sagen. In jedem Fall verändern sie in kürzester Zeit unseren empfindlichen Naturkreislauf.<br />

Jahrmillionen hat es gebraucht, dass er sich entwickeln konnte. Jetzt besteht die reale Gefahr,<br />

dass er zerbricht, denn eine plötzliche, einschneidende Veränderung an nur einem<br />

Glied kann eine lange Serie von Kettenreaktionen zur Folge haben. Da ist nicht weniger als<br />

unsere gesamte Lebensgrundlage in Gefahr!<br />

Wir sind so stolz auf den Fortschritt, auf die Leistungen menschlichen Wissens, aber wenn<br />

wir an die Folgen denken, wird uns angst und bange. Goethes Zauberlehrling kommt uns in<br />

den Sinn. Wir wissen nicht mehr, wie wir der Geister Herr werden sollen, die wir gerufen haben.<br />

Und je mehr wir darüber nachdenken, desto besser verstehen wir die energische Warnung<br />

des Propheten: Rühmt euch nicht menschlicher Weisheit, eures Reichtums, eurer Stärken!<br />

Das kann keine Lebensgrundlage sein, das darf euer Selbstwertgefühl nicht bestimmen!<br />

Ja – aber was dann, fragen wir. Wir haben doch eingangs gehört, wie wichtig das Selbstwertgefühl<br />

ist. Was bleibt denn, wenn all das, woran wir so viel Mühe und Energie verwenden,<br />

dafür nicht taugt?!<br />

Der Prophet antwortet wiederum mit drei Worten: Rühme dich der Barmherzigkeit, des<br />

Rechts und der Gerechtigkeit Gottes! Dieses Sich Rühmen ist heute kaum noch verständlich.<br />

Luther übersetzt es so für seine Zeit. Das hebräische Wort an dieser Stelle kann aber gleichermaßen<br />

mit „vertrauen“, „sich verlassen auf“ übersetzt werden. Das macht es viel leichter,<br />

den Gegenentwurf zu verstehen. Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit, auf Gottes Recht<br />

und seine Gerechtigkeit! Merken Sie, welche Befreiung, welche erlösende Kraft in diesen<br />

Worten steckt?!<br />

Es kommt nicht mehr darauf an, wie gut wir in der Schule sind, wie schnell wir die Karriereleiter<br />

emporklettern, wie dick unser finanzielles Polster ist, wie stark, wie schön, wie imposant<br />

wir sind. Nichts ist davon so wichtig, dass es über unseren Wert entscheidet. In einer Welt, in<br />

der es keine absoluten Sicherheiten gibt und geben kann, in einer solchen Welt bietet Gott<br />

sich uns als der einzig Verlässliche, das einzig Beständige, als der unbeirrbar Treue.<br />

Gott fragt nicht danach, ob einer mehr oder weniger weise ist, mehr oder weniger stark, mehr<br />

oder weniger reich. Er fragt nach all dem nicht, was hier auf dieser Erde und unter uns Menschen<br />

so wichtig ist und die Wertmaßstäbe setzt.<br />

Seine Gerechtigkeit heißt Erbarmen – und das bedeutet: Jeder Mensch ist ihm wichtig und<br />

wert, unabhängig von seinen Leistungen, Qualitäten und Erfolgen. Zu diesem Gott darf jeder<br />

von uns kommen, in seinem Elend, seiner Bedürftigkeit, seiner Not. Er darf alle seine Sorgen<br />

auf ihn werfen und er darf wissen: Ich bin wertvoll, ich bin geliebt und ich bin angenommen,<br />

so wie ich bin. Ich brauche mein Leben nicht gering zu schätzen, auch wenn ich in vielem<br />

nicht so tüchtig, nicht so stark und leistungsfähig wie andere bin. Ich bin wertvoll bei Gott und<br />

darum darf ich es auch bei mir selber sein. Das ist die neue und ganz andere Grundlage für<br />

ein Selbstwertgefühl, das sich von Gott her und nicht vom Menschen her definiert.<br />

Dein Taufwort, Christine, nimmt eines der drei Prophetenworte auf (das erste, das Luther mit<br />

„Barmherzigkeit“ oder auch „Gnade“ übersetzt) und beschreibt Gott, den unbeirrbar Treuen,<br />

in einem Bild: „Deine Gnade reicht so weit der Himmel ist, und deine Treue, so weit die Wolken<br />

gehen“ (Psalm 108,5). Mit anderen Worten: Sie ist unendlich, sie hat keine Grenze. Gott<br />

wird dich lieben – so wie du bist – in alle Ewigkeit.<br />

Dein Taufwort, Justus, baut darauf auf (es ist wie eine Art Kommentar dazu): „Lobe den Herren,<br />

meine Seele, und vergiss nicht, was er dir gutes getan hat: der dir alle deine Sünde vergibt<br />

und heilet alle deine Gebrechen“ (Psalm 103,2+3).<br />

In der Tat, so wird Gottes Gnade und Barmherzigkeit konkret: in der Vergebung etwa, an den<br />

Punkten, an die wir kaum rühren möchten, die anzusprechen uns auch untereinander<br />

schwerfällt. Wie dürfen dennoch frei und gelöst weiterleben, denn unser Selbstwertgefühl<br />

sagt: Gottes Gnade umschließt sogar das. Er vergibt mir auch das ganz Schwere – einfach,<br />

weil er mich liebt.


Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 12.02.06<br />

Lillys Taufspruch schließlich kann ich wie eine Zusammenfassung, wie ein Resümee des<br />

Gesagten lesen: „Gottes Wort ist wahrhaftig und was er zusagt, hält er gewiss“ (Psalm 33,4).<br />

Möge sich für Lilly und für uns alle die tiefe Wahrheit dieses Wortes erschließen und ein<br />

Selbstwertgefühl in uns stiften, das – im besten Sinne des Wortes – nicht von dieser Welt ist.<br />

Amen


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

in der<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am Sonntag Oculi<br />

19. März <strong>2006</strong><br />

Predigttext: 1. Petrus 1,13-21<br />

Darum umgürtet die Lenden eures Gemüts, seid nüchtern und setzt eure Hoffnung ganz auf<br />

die Gnade, die euch angeboten wird in der Offenbarung Jesu Christi. Als gehorsame Kinder<br />

gebt euch nicht den Begierden hin, denen ihr früher in der Zeit eurer Unwissenheit dientet;<br />

sondern wie der, der euch berufen hat, heilig ist, sollt auch ihr heilig sein in eurem ganzen<br />

Wandel. Denn es steht geschrieben (3. Mose 19,2): «Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig.»<br />

Und da ihr den als Vater anruft, der ohne Ansehen der Person einen jeden richtet nach seinem<br />

Werk, so führt euer Leben, solange ihr hier in der Fremde weilt, in Gottesfurcht; denn<br />

ihr wisst, dass ihr nicht mit vergänglichem Silber oder Gold erlöst seid von eurem nichtigen<br />

Wandel nach der Väter Weise, sondern mit dem teuren Blut Christi als eines unschuldigen<br />

und unbefleckten Lammes. Er ist zwar zuvor ausersehen, ehe der Welt Grund gelegt wurde,<br />

aber offenbart am Ende der Zeiten um euretwillen, die ihr durch ihn glaubt an Gott, der ihn<br />

auferweckt hat von den Toten und ihm die Herrlichkeit gegeben, damit ihr Glauben und Hoffnung<br />

zu Gott habt.<br />

Liebe Gemeinde!<br />

Wie lebt man als Christ? – Die Frage klingt im ersten Moment banal, aber wer versucht eine<br />

Antwort zu geben, wird schnell merken, wie schwierig sie tatsächlich ist. Eine umfassende<br />

Antwort zu geben, wird kaum jemandem gelingen, aber vielleicht lassen sich ja wenigstens<br />

ein paar wichtige Aspekte nennen.<br />

Heute Morgen sehen wir Petrus mit dieser Frage konfrontiert. Er schreibt einen Brief an<br />

Christen in einer ausgesprochen schwierigen Situation. In den römischen Provinzen Kleinasiens<br />

leben sie als kleine angefeindete Minderheit. Sie sind Verfolgungen ausgesetzt, vor<br />

allem, weil sie sich standhaft weigern, die staatlichen Götter anzubeten. Aber diese Entschiedenheit<br />

beginnt zu bröckeln. Es ist kein geistlicher Führer da, und der Druck von außen wird<br />

immer stärker und bedrohlicher.<br />

Petrus muss also vieles in seinem Brief zusammenbringen: Er will trösten und stärken, muss<br />

aber auch mit gewisser Strenge ermahnen. Die Frage „Wie lebt man als Christ?“ ist hier sozusagen<br />

unter verschärften Bedingungen zu beantworten.<br />

Erst einmal setzt er klein an. „Umgürtet eure Lenden“, schreibt er. Für unsere Ohren klingt<br />

das ausgesprochen fremd. Es heißt aber nur:“Kommt in Bewegung! Seid zum Aufbruch bereit!“<br />

Gar nicht so fremd für die Christen damals. Denn sie erinnerten sich sofort an den Auszug<br />

des Volkes Israel aus der Sklaverei in die Freiheit. Die Aufforderung zum Weg in die<br />

Freiheit begann mit diesen Worten. Petrus aber benutzt sie im übertragenen Sinn: „Umgürtet<br />

die Lenden eures Gemüts“, sagt er und meint damit: Geht in eurem Denken und Fühlen<br />

neue Wege, die von der Masse nicht begangen werden. Die nötige Stärke habt ihr, denn ihr<br />

seid schon frei – „freigekauft“ durch Jesus Christus. Sein Leiden, sein Tod hat euch die neuen<br />

Wege zu Gott freigelegt.<br />

Die Frage “Wie lebt man als Christ?“ ist damit aber noch lange nicht beantwortet. Wenn Sie<br />

jemanden nach dem Weg fragen, wird es Ihnen nicht viel helfen, wenn der Gefragte nur fröh-


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 19.03.06<br />

lich bestätigt, es gäbe einen wunderbaren Weg und sich dann abwendet. Wir brauchen auch<br />

eine Wegbeschreibung; bei schwierigen Wegen möglichst Schritt für Schritt.<br />

Über den ersten von Petrus genannten Schritt wollte ich erst gar nicht predigen, jedenfalls<br />

nicht heute Morgen. „Seid nüchtern und wachsam“ – das knüpft allzu sehr an die damalige<br />

Endzeiterwartung an; das passt besser ans Ende des Kirchenjahres. Es lässt sich aber auch<br />

sehr viel schlichter übersetzen. „Seid aufmerksam!“ und in dieser schlichten Form finde ich<br />

es ausgesprochen aktuell. Zudem sagt es etwas aus zu der Frage: Wie lebt man als Christ?<br />

In einem Artikel über „Manieren“ aus dem Oktober 2003 lese ich: „Die Aufmerksamkeit ist<br />

keine Regel, die man einhält oder verletzt; sie gehört vielmehr zum Fundament der Person.<br />

Aufmerksamkeit ist eine Grundhaltung des Menschen gegenüber der Welt.“ Das klingt gut<br />

und richtig. Aber das, was hier so optimistisch dem Grundwesen des Menschen zugesprochen<br />

wird, ist doch eher Theorie. Einen aufmerksamen Menschen nennen wir auch einen<br />

„höflichen“ oder zumindest einen, de sich nicht selber im Blick hat, sondern mindestens<br />

ebenso sehr die anderen. Ein Aufmerksamer hat ein Auge für die, die ihm begegnen. Es gibt<br />

für ihn keine unwichtigen Menschen, keine unwichtigen Beobachtungen. Auch was jeweils<br />

vernachlässigt werden kann, muss zunächst einmal wahrgenommen werden.<br />

Vielleicht merken Sie schon, worauf ich hinaus will: Der in diesem Sinne „aufmerksame“<br />

Mensch wird immer seltener. Allzu viele sind allzu sehr mit sich und den eigenen Problemen<br />

beschäftigt. Immer mehr geraten ganz aus dem Blickfeld. Im Blick auf die alten Menschen ist<br />

die Klage nicht neu. Es leben so viele krank, abgeschieden, einsam. Wenn sie sterben,<br />

fehlen sie niemandem, ja es fällt nicht einmal auf, dass sie nicht mehr da sind. Oft werden<br />

sie erst nach Monaten oder Jahren gefunden. Aber das Problem hat sich verschärft. Es<br />

häufen sich die Meldungen von verwahrlosten, vereinsamten, zu Tode gekommenen<br />

Kindern. Es sind die Schwächsten, die es trifft. Es geht um die, die lebensnotwendig auf die<br />

Aufmerksamkeit der anderen angewiesen sind. Wenn diese Aufmerksamkeit – so traurig es<br />

ist! – als menschlicher Grundzug nicht mehr einfach vorausgesetzt werden kann, muss sie<br />

neu gefunden werden – als notwendiger Schritt von uns als Christen auf unserem Weg. Aufmerksam<br />

sein ist eine erste Antwort auf die Frage „Wie lebt man als Christ?“<br />

„Wandelt als Heilige“, fährt Petrus fort. Wiederum schwer verständlich. Mancher wird sich<br />

gleich überfordert fühlen. Selbst wenn man nicht sofort die Heiligen assoziiert, die von der<br />

katholischen Kirche nach sorgfältiger Überprüfung ihres gesamten Lebens dazu ernannt<br />

werden. Vorbildlicher Lebenswandel, das Einhalten der Gebote wenigstens sollte doch dazu<br />

gehören. Wer hielte so einer Prüfung stand?!<br />

Petrus hat da ein anderes Verständnis. Er knüpft an Paulus an. Für ihn sind die „heilig“, die<br />

sich zum Glauben an den einen Gott bekennen und aus diesem Glauben leben. Das allein<br />

ändert so viel, dass es ein besonderes Attribut rechtfertigt: „heilig“.<br />

Lassen Sie es mich an einem Beispiel verdeutlichen. Die meisten von Ihnen werden schon<br />

mal von dem Dichter und Schriftsteller Oscar Wilde gehört haben. Als Genussmensch ist er<br />

bekannt, als einer, der im Übermaß alles mitnehmen wollte, was das Leben zu bieten hatte.<br />

Was weniger bekannt ist, ist sein Lebensende. Er wurde nur 46 Jahre alt und starb im Gefängnis.<br />

Kurz vor seinem Tod fand er zum Glauben, und die Briefe, die er in diesem Zusammenhang<br />

aus dem Gefängnis schrieb, gehören zum tiefsinnigsten Teil seines umfangreichen<br />

Werkes. In einem Brief an einen Freund etwa vergleicht er rückblickend sein Leben mit<br />

einem Gang durch einen Garten. Viele Bäume gab es da, schreibt er, aber sein Fehler sei es<br />

gewesen, sich ausschließlich den Bäumen zuzuwenden, die auf der Sonnenseite des<br />

Gartens standen. Ihre Früchte habe er genossen. Die auf der Schattenseite aber habe er gemieden.<br />

„Versagen, Schande, Armut, Leid, Verzweiflung, Schmerzen, selbst Tränen, Reue,<br />

das Gewissen ... Seelenpein – vor alledem hatte ich Angst ... Ich nährte mich von Honig.<br />

Doch dieses Leben weiterzuführen, wäre falsch gewesen, denn es hätte mich zum Stillstand<br />

gebracht. Ich musste weiter. Auch der andere Teil des Gartens barg Geheimnisse für mich.“<br />

Das würde ich unserer Tage gern manch einem ins Stammbuch schreiben. Allzu sehr wird<br />

uns vorgegaukelt, der Lebenssinn bestünde darin, die schönsten Früchte zu pflücken und<br />

sich von Honig zu ernähren (um es mit Oscar Wilde zu sagen). Aber wer das Leben nur als


Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 19.03.06<br />

süßes kennt und will, wird bei Krisen und Belastungen untergehen. Wer nur Parties, Musik,<br />

die neuesten Moden kennt, hat kein Fundament, sich den Schattenseiten des eigenen<br />

Lebens zu stellen; geschweige denn Aufmerksamkeit aufzubringen für das, was andere zu<br />

tragen haben.<br />

„Wandelt als Heilige!“ sagt Petrus. Damit erinnert uns daran, dass wir ein anderes<br />

Fundament haben. Wer weiß, dass Gott mit ihm ist, kann sich getrost den Belastungsproben<br />

stellen. Er kann sich auch auf die dunklen Wegstrecken wagen. „Geheimnisse“ nennt Oscar<br />

Wilde das, was er dort fand. Überraschend wird es in jedem Fall sein – immer wieder überraschend<br />

auch für den, der schon längst im Glauben lebt. Denn dass mir Kraft zuwächst, gerade<br />

dann, wenn ich ganz am Ende bin, das bleibt überraschend. Das wird immer wieder als<br />

Wunder erlebt.<br />

Die Christen damals in Kleinasien wurden verfolgt, ja gehasst – allein ihres Andersseins<br />

wegen. Ihr gelebter Glaube stellte das in Frage, was alle so selbstverständlich lebten.<br />

Genau das wünsche ich mir für heute; dass wir als Christen in unserer Art zu glauben und zu<br />

leben so auffällig sind, dass Missstände wie soziale Kälte, Teilnahmslosigkeit, Oberflächlichkeit<br />

fragwürdig werden. Möge uns die Freiheit, die Christus uns geschenkt hat, stark und mutig<br />

machen, dass wir zu Wegweisern für viele werden.<br />

Amen.


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

in der<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am Sonntag Judika<br />

2. April <strong>2006</strong><br />

Predigttext: 4. Mose 21,4-9<br />

Da brachen die Israeliten auf von dem Berge Hor in Richtung auf das Schilfmeer, um das<br />

Land der Edomiter zu umgehen. Und das Volk wurde verdrossen auf dem Wege und redete<br />

wider Gott und wider Mose: Warum hast du uns aus Ägypten geführt, dass wir sterben in der<br />

Wüste? Denn es ist kein Brot noch Wasser hier, und uns ekelt vor dieser mageren Speise.<br />

Da sandte der HERR feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk, dass viele aus<br />

Israel starben. Da kamen sie zu Mose und sprachen: Wir haben gesündigt, dass wir wider<br />

den HERRN und wider dich geredet haben. Bitte den HERRN, dass er die Schlangen von<br />

uns nehme. Und Mose bat für das Volk. Da sprach der HERR zu Mose: Mache dir eine eherne<br />

Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der<br />

soll leben. Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden<br />

eine Schlange biss, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.<br />

Liebe Gemeinde!<br />

Jeder von uns kennt sie: die ewigen Nörgler, die Schlechtgelaunten, die, die an allem etwas<br />

auszusetzen haben und stets der Meinung sind, dass früher sowieso alles besser war als<br />

heute. Jeder kennt sie und jeder meidet sie, soweit es geht. Denn schlechte Laune hat etwas<br />

Ansteckendes, zumindest trübt sie die Atmosphäre, manchmal vergiftet sie die Stimmung.<br />

Wer sich dem nicht rechtzeitig entzieht, wird erst zum Opfer und – einmal angesteckt –<br />

selbst zum Täter. Er stimmt ein in das Wehgeschrei oder strahlt, wenn es ihm gelingt zu<br />

schweigen, wenigstens dieselbe Düsternis aus.<br />

Heute wird uns das vom Volk Israel erzählt. Vierzig Jahre Wüstenwanderung haben die Geduld<br />

und die Kräfte aufgezehrt. Das Vertrauen in das von Gott genannte Ziel, das gelobte<br />

Land, ist geschwunden, das große Ziel verblasst. Verdrossenheit macht sich breit, das Murren<br />

wird lauter und lauter. Früher war alles besser: Die Gefangenschaft in Ägypten wird zur<br />

Zeit „an den Fleischtöpfen Ägyptens“ verklärt. Die Zukunft dagegen in düsteren Farben gemalt.<br />

Zwölf Kundschafter waren ausgeschickt worden, elf von ihnen berichten, sie hätten<br />

Riesen gesehen, in deren Augen die Israeliten nicht mehr als lästige Heuschrecken sind.<br />

Anzunehmen, dass sie sie auch entsprechend behandeln werden. Das ersehnte Ziel verblasst;<br />

an dessen Stelle tritt Angst vor der Zukunft.<br />

Ein Text, der den Nerv auch unserer Zeit trifft. Die meisten von uns erinnern sich noch gut an<br />

die Zeit der Wiedervereinigung. Groß war die Begeisterung, nicht minder groß die Pläne für<br />

die Zukunft. Die Rede von den „blühenden Landschaften“ hatte schon was vom „gelobten<br />

Land“. Aber was ist davon geblieben?! Auf einem beschwerlichen Weg sind immer mehr Hindernisse,<br />

immer neue Sorgen offenbar geworden. Die Kraft der Geduld ist bei vielen erlahmt,<br />

die Zuversicht geschwunden. Eine lahmende Wirtschaft, ein Heer von Arbeitslosen, ein marodes<br />

Gesundheits- und Rentensystem ... die Unzufriedenheit wird größer, das Murren<br />

immer lauter.<br />

Es ist so nah, so dicht, dass man sich dem kaum entziehen kann. Wie soll man damit umgehen?


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 02.04.06<br />

Luther rät, zu erkennen, dass solch „böse und traurige Gedanken nicht von Gott sind, sondern<br />

vom Teufel.“ Am besten sei es, sie gar nicht zu beachten oder gar erforschen zu wollen;<br />

einfach an ihnen vorüberzugehen und sie „zu verachten wie das Zischen einer Gans“. Wer<br />

sie dagegen beachtet oder sogar anfängt, darüber zu diskutieren, würden sie nur reizen und<br />

stärken. Solches schreibt Luther in einem Brief an einen Freund, der über anhaltende Traurigkeit<br />

geklagt hat.<br />

Ja, wenn das denn so einfach wäre! Die eigenen üblen, traurigen Gedanken, das wehklagende<br />

Murren um einen herum einfach ignorieren „wie das Zischen einer Gans“ ... Meistens<br />

packt es uns doch, oft genug mit Gewalt, und will uns gar nicht mehr loslassen. Uns<br />

geht es wie den Israeliten: die Angst vor der Zukunft wächst (Umfragen zufolge bei uns mehr<br />

als bei all unseren Nachbarn: „die Deutschen – die Alterspessimisten Europas“ titelte eine<br />

Zeitung gestern), das ist das eine. Unser Gottvertrauen schwindet, das ist das andere, das,<br />

was viel zu selten zur Sprache kommt.<br />

Genau das aber ist das Entscheidende in unserem Bibeltext. Und wir müssen mit Erschrecken<br />

lesen, wie Gott darauf reagiert. Als alle Dankbarkeit schwindet, die Israeliten das Manna<br />

sogar, das ihnen gerade noch das Leben rettete, als „Ekelspeise“ abtun, reagiert Gott wie<br />

ein zutiefst verletzter und gekränkter Wohltäter. Er stellt stellt seine Wohltaten ein, mehr<br />

noch, er wendet sie ins Gegenteil: statt des lebenserhaltenden Manna kommen feurig giftige<br />

Schlangen, die den Tod verbreiten.<br />

Ich verstehe das als Bild. Tatsächlich ist es doch so, dass Undankbarkeit, ungerechtfertigtes<br />

Murren, Angstmacherei die Atmosphäre „vergiftet“, wie wir sagen. Beziehungen gehen kaputt<br />

– zum einen die Beziehungen der Menschen untereinander, zum anderen die Beziehung<br />

zu Gott.<br />

Der Künstler A. Paul Weber hat das im Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus sehr sinnfällig<br />

zum Ausdruck gebracht. Vielleicht kennen Sie sein Bild „Das Gerücht“ (oder allgemeiner<br />

gesagt „Gerede“, „Gemurre“). Er stellt es als eine Art feurige Schlange dar, die<br />

riesengroß und kraftvoll durch die Straßen einer Großstadt zischt. Sie wächst und nimmt an<br />

Kraft dadurch zu, dass ihr von allen Seiten Menschen zuströmen und gleichsam mit ihr<br />

verschmelzen. Die Menschen selbst sind das todbringende, giftige Ungeheuer.<br />

Die Israeliten betonen – damals wie heute – einen anderen Aspekt: Für sie ist die Schickung<br />

der Schlangen eine Strafe Gottes. Immer wieder interpretieren sie das in ihrer Geschichte<br />

erfahrene Unheil so. Ich gebe zu, dass mir diese Sicht Gottes und diese Art, die Geschichte<br />

zu verstehen, schwerfällt. Aber die jüdischen Texte sind da eindeutig. Im babylonischen Talmud<br />

etwa sagt Rabbi Jochanan: „Warum wird Israel mit einem Ölbaum verglichen? Um dir<br />

zu sagen: Wie ein Ölbaum sein Öl nicht hergibt als durch Stoßen, so kommt Israel auch nicht<br />

anders zum Guten zurück als durch Züchtigung.“<br />

Diese Züchtigung aber geschieht allein aus Liebe. Im selben Zusammenhang heißt es im<br />

Talmud von Rabbi Jehoschua: „Warum wird Israel mit einem Ölbaum verglichen? (also<br />

dieselbe Frage!) Um dir zu sagen: Wie die Blätter eines Ölbaums nicht in der Sonnenzeit und<br />

nicht in der Regenzeit abfallen, so gibt es auch für Israel kein Ende, nicht in der hiesigen<br />

Welt und nicht in der kommenden Welt.“<br />

Harte Strafe also dicht neben ewiger Liebe; Gott züchtigt sein Volk, zugleich aber erhält er es<br />

durch alle Katastrophen hindurch. In unserem Predigttext heute hat das befremdliche, magische<br />

Züge: Mose soll eine eherne Schlange aufrichten. Wer die anschaut, der wird überleben,<br />

selbst wenn er von den giftigen Schlangen gebissen wurde.<br />

Gottes Liebe also siegt über seinen Zorn. Und es ist interessant, wie er mit dem Bösen verfährt:<br />

Er macht es anschaulich und damit entmachtet er es. Den Menschen gibt er einen<br />

lebenswichtigen Rat; Wem es gelingt, das Böse anzuschauen, die Begegnung auszuhalten,<br />

der bannt es und besiegt es.<br />

Ich denke, die Erfahrung, die das Volk Israel hier in der Wüste macht, kennen die meisten<br />

von uns. Solange wir vor unseren Ängsten weglaufen, haben sie Macht über uns. Ja, je<br />

länger wir weglaufen, desto größer wird ihre Macht, eine Macht, die krank machen, auf Dau-


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Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 02.04.06<br />

er sogar tödlich sein kann. Gelingt es uns aber stehen zu bleiben, „Position zu beziehen“, der<br />

Angst ins Gesicht zu schauen und uns mit ihr auseinanderzusetzen, wird sie kleiner und<br />

kleiner. So lässt sich die Angst besiegen (im Grunde ist das, was die Psychologen lehren<br />

und praktizieren, nichts anderes).<br />

„Gott will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen.“<br />

– Dieses Wort aus dem ersten Timotheusbrief haben Sie, liebes Ehepaar O.-H., für<br />

Ihren Henri als Taufspruch ausgesucht.<br />

Ein gutes Beispiel dafür haben wir heute Morgen gehört in der Geschichte von der Heimsuchung<br />

des Volkes Israel in der Wüste. Gott will helfen, Leben retten und erhalten; so bannt er<br />

das Böse und offenbart uns den Weg dazu.<br />

Was ist denn die „Wahrheit“? Haben sie sich bei der Wahl des Taufspruches gefragt, und sie<br />

haben eine Antwort gefunden, die in die gleiche Richtung zielt. Wahrheit, sagen Sie, ist die<br />

Fähigkeit, gut und böse unterscheiden zu können und dementsprechend zu handeln. Damit<br />

haben Sie zweifelsohne Recht. Und doch geht der biblische Begriff von „Wahrheit“ noch weiter.<br />

Die Erkenntnis von gut und böse ist ein erster, ein notwendiger Schritt. Aber um handeln<br />

zu können, um Hilfe zu finden und Hilfe geben zu können, braucht man mehr als Erkenntnis,<br />

nämlich viel Kraft, Kraft, die wir im Glauben finden, also im Vertrauen auf Gottes gute Führung.<br />

Dass genau das die entscheidende Wahrheit ist, lernen die Israeliten hier auf so erschreckende<br />

und schmerzhafte Weise – ein Lernen aber, das sie fähig macht, die letzte Wüstenwegstrecke<br />

gut zu meistern und ihr gelobtes Land zu finden.<br />

Wir wünschen Henri heute, dass er diesen weiteren, tiefen Sinn von Wahrheit erfasst: dass<br />

in ihm ein lebendiger Glaube, ein gutes Gottvertrauen wächst und ihm zur Hilfe wird auf<br />

einem langen, gesegneten Lebensweg.<br />

Amen.


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

in der<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am Sonntag Palmarum<br />

9. April <strong>2006</strong><br />

Predigttext: 4. Mose 21,4-9<br />

Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den<br />

Müden zu rechter Zeit zu reden. Alle Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger<br />

hören. Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche<br />

nicht zurück. Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen,<br />

die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. Aber<br />

Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht<br />

hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde. Er ist<br />

nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer<br />

will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will<br />

mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie Kleider zerfallen, die die Motten fressen.<br />

Liebe Gemeinde!<br />

Es ist zum Verzweifeln! Wenn einer Wichtiges (vielleicht Lebenswichtiges) zu sagen hat, a-<br />

ber keinen findet, der ihm Gehör schenkt, wenn er vielleicht immer wieder neu Anlauf nimmt,<br />

sich an immer mehr und andere Menschen wendet und doch sehen muss: Es bringt alles<br />

nichts. Da ist kein fruchtbarer Boden für meine Wahrheit. – Das ist wirklich zum Verzweifeln.<br />

Heute Morgen hören wir eines der so genannten „Gottesknechtlieder“. Jesaja spricht darin<br />

von dieser schmerzhaften Erfahrung. Sein Auftrag ist es, die Müden, Resignierten zu trösten.<br />

Die Israeliten hatten ihr Land verloren, waren mit Gewalt nach Babylon umgesiedelt worden,<br />

hatten miterleben müssen, wie sich ihre Lage immer weiter verschlechterte. Anfangs gab es<br />

noch Hoffnung auf Veränderung. Der Glaube war stark und auch die Erinnerung an das eigene<br />

gelobte Land. Aber das Hoffen und Harren über so viele Jahre hat die Israeliten müde<br />

gemacht. Hoffnungslosigkeit, Depression hat sich wie eine bleierne Decke über das Volk gebreitet.<br />

Man will nichts mehr hören, schon gar nicht die Trostworte irgendwelcher Propheten.<br />

Was hatte denn all das Reden von besseren Zeiten bisher gebracht?!<br />

Und noch einer Gruppe ist der Prophet ein Dorn im Auge. Die Mächtigen, die Profiteure der<br />

politischen Lage können keinen gebrauchen, der dem Volk Mut zuspricht. Müde und Resignierte<br />

lassen sich leicht lenken und für die eigenen Ziele einsetzen. Gelingender Trost aber<br />

weckt neue gefährliche Kräfte: ein Unruhepotential, das zu Ausschreitungen führen kann.<br />

Jesaja bekommt die Folgen der breiten Ablehnung zu spüren. Schon im zweiten Gottesknechtlied<br />

hören wir von der Erfolglosigkeit seines Wirkens; jetzt erfahren wir, dass ihm der<br />

Prozess gemacht wurde, dass er inhaftiert und gefoltert wurde. Die Wahrheit scheint es, hat<br />

keine Chance.<br />

Aber damit ist nicht das Schlusswort gesprochen. Jesaja macht weiter. Er singt sein Lied in<br />

der Zelle; er singt es aus der Zelle heraus: Gott wird die Gefangenen erlösen. Er wird euch<br />

wieder nach Hause bringen. Er selbst wird eure Resignation aufbrechen.<br />

Jesaja hat nicht viel in der Hand, womit er argumentieren könnte. Nachdem die Visionen im<br />

Volk blass und der Glaube schwach geworden ist, bleibt ihm nur eines: der Verweis auf die


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Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 09.04.06<br />

eigene Person. Er erzählt, welche Erfahrungen er selbst mit Gott gemacht hat. Und er hofft,<br />

dass sich die Israeliten dabei an die anderen Propheten ihrer Geschichte erinnern. Gott hat<br />

nicht klein beigegeben, sondern ihnen die Kraft gegeben, die sie für ihr Amt brauchten. Bis<br />

zuletzt waren sie konsequent für die Wahrheit eingetreten, und auch wenn sie zu Lebzeiten<br />

kaum Gehör fanden, gab die Geschichte ihnen Recht. Die Wahrheit setzte sich durch; Gott<br />

setzte sich durch.<br />

Interessant ist für uns vor allem, wie der Prophet die Stärkung durch Gott erfährt. Gott öffnet<br />

ihm die Sinne. Jeden Morgen weckt er ihm das Ohr, sodass er sich ihm ganz nah weiß. Gott<br />

schenkt ihm die rechten Worte, dass er auch weitergeben kann, was ihm aufgetragen ist.<br />

Und im Gefängnis hilft Gott ihm in der Folter: Er spürt Gottes Güte und Trost wie einen<br />

schützenden Mantel. Nicht einmal Schläge können ihm etwas anhaben, denn Gott macht<br />

sein Gesicht hart wie einen Kieselstein.<br />

Den meisten von uns wird so eine Erfahrung recht fremd sein. Einige aber haben genau das,<br />

was der Prophet beschreibt, am eigenen Leib erfahren. Jochen Klepper etwa notiert im April<br />

1938 in seinem Tagebuch: „Ich schrieb heute ein Morgenlied über Jesaja 50, 4 – 9; die Worte,<br />

die mir den ganzen Tag nicht aus dem Kopf gegangen sind.“ „Er weckt mich alle Morgen...“<br />

ist aber viel mehr als ein Morgenlied; es ist auch mehr als eine Neuauflage des alten<br />

Gottesknechtlieds. Im Gesangbuch steht es nicht im Kapitel „Passion“, auch nicht unter<br />

„Kreuz“ oder „Tod und Ewigkeit“. Viel eher würde ich es unter den Osterliedern einordnen,<br />

denn es spricht in vielen Bildern von der Kraft Gottes und dem Wunder neuen Lebens. Von<br />

Licht, Treue, Glück und – das vor allem – von Liebe wird gesungen (Gott, der liebende Vater,<br />

der sein Kind morgens zärtlich weckt). Eine absolut unerschütterliche Hoffnung findet ihren<br />

Ausdruck – am stärksten wohl im letzten Vers: „Sein Wort wird helle strahlen, wie dunkel<br />

auch der Tag.“ Wir werden es nachher singen.<br />

Bedenken wir, auf welchem Hintergrund dieses Lied entstanden ist! Für Jochen Klepper waren<br />

die Tage wirklich dunkel: Ganz bewusst hatte er eine Jüdin geheiratet, er hatte an seiner<br />

Liebe festgehalten, sich ganz bewusst in Widerspruch zum Nationalsozialismus gestellt. Wie<br />

Jesaja wusste er: das ist der Weg der Wahrheit; Gott ist auf meiner Seite.<br />

Er hatte einen Antrag auf Ausreise gestellt. Als aber im letzten Moment von höchster Stelle<br />

aus die Ausreisegenehmigung für ihn und seine Familie vereitelt wurde, nahm er sich mit<br />

seiner Frau und der Tochter das Leben. Überliefert ist von ihm sein letzter Satz: „Über uns<br />

steht in den letzten Stunden das Bild des segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen<br />

Anblick endet unser Leben.“<br />

Der leidende Christus am Kreuz – der segnende Christus im Angesicht des eigenen Todes.<br />

Für mich ist das kein Widerspruch. Denn unsere Hilfe im Leben und Sterben kommt nicht im<br />

Triumph. Es ist nicht die gesteigerte, die euphorische Stimmung, in der das neue Leben beginnt.<br />

Sondern mitten in der Nacht beginnt der Anfang, entsteht das Neue, „der neue Morgen“<br />

(Klepper).<br />

Gotteserfahrung an der Todesgrenze... das, was Jesaja, was Jochen Klepper, was Jesus<br />

erleben, hat von uns wohl kaum einer zu berichten. Und doch ist es uns keineswegs fremd.<br />

Ich mache das fest an den Bildern im Gottesknechtlied, an dem, was beiläufig, manchmal<br />

fast anstößig klingt: z.B. (um nur ein Beispiel aus dem Text aufzugreifen) das Gesicht „hart<br />

machen wie einen Kieselstein“. Das weckt unangenehme Assoziationen; man denkt an Gefühllosigkeit,<br />

an Tod und Erstarrung. Wer mag einem gegenübersitzen, dessen Miene wie zu<br />

Stein erstarrt ist?! Gemeint ist hier etwas anderes: die Festigkeit im Standpunkt. Wer Gott<br />

auf seiner Seite weiß, hält stand. Keine Versuchung, keine Bestechung, nicht einmal die Androhung<br />

von Gewalt können dem gegenüber etwas ausrichten. Konsequent glauben heißt,<br />

entsprechend konsequent leben. Eine solche Festigkeit lässt sich im Gesicht ablesen. Wir<br />

wissen das und wir kennen es sehr gut – sowohl in positiver Form, wie auch in negativer.<br />

Versuchen Sie einmal, sich die Gesichter derer ins Gedächtnis zu rufen, die Sie in ihrem<br />

persönlichen Glauben geprägt, vielleicht sogar geleitet haben. Ich glaube, in ganz vielen Fällen<br />

werden Sie sehen: Der Glaube hinterlässt Spuren; sie sind wie „eingemeißelt“ im Gesicht.


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Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 09.04.06<br />

Aber ich denke auch an die negative Seite. Ich sehe Gesichter von Glaubensfanitikern vor<br />

mir. Da, wo der Glaube den Weg der Liebe verlässt, wird ein Mensch tatsächlich zu Stein,<br />

gefühllos, mitleidlos, selbst instrumentalisierbar als tödliche Waffe. Davon ist im Gottesknechtlied<br />

sicher nicht die Rede.<br />

Uns führt das Gottesknechtlied in die letzte Passionswoche. Zu Recht hat die Tradition unserer<br />

Kirche in diesen prophetischen Texten eine Vorausnahme des Weges Jesu gesehen.<br />

Dieser Weg findet am Karfreitag seinen Höhepunkt. Jesu Tod am Kreuz ist der Moment äußerster<br />

Gottverlassenheit – auf den ersten Blick. Für den Glaubenden aber eröffnet sich ein<br />

zweiter Blick. Jesus hält fest an Gott bis zuletzt (wie der Prophet, wie Jochen Klepper). Er<br />

zeigt, wie weit Gottvertrauen gehen kann, nämlich bis hin zu einem Hoffen auf Gott auch gegen<br />

allen Augenschein, ja man kann sagen: Auf Gott hoffen wider alle Hoffnung. Die Israeliten<br />

durften das neu lernen durch ihren Gottesknecht Jesaja. Gott gebe uns, dass wir durch<br />

Christus zu dieser großen Kraft der Hoffnung kommen – dann, wenn wir sie besonders brauchen.<br />

Amen.


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

in der<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am Ostersonntag<br />

16. April <strong>2006</strong><br />

.<br />

Liebe Gemeinde!<br />

Viele Menschen (vor allem wir Norddeutsche!) haben Probleme mit bunten Farben. Ob bei<br />

der Wahl der eigenen Kleidung oder Einrichtung zu hause, wir achten sorgfältig darauf, dass<br />

alles zueinander passt. Ton in Ton zu gehen (möglichst in gedämpften Farben), gilt als vornehm.<br />

Wehe, eine Dame kleidet sich zu bunt. Sie muss mit Spott rechnen (zumindest hinter


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Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 16.04.06<br />

vorgehaltener Hand): „Rot, grün, gelb, blau, ist des Hanswurst seine Frau.“ zischten die<br />

Frauen – wenigstens noch zu der Zeit als ich klein war.<br />

Eine Ausnahme gab es von der Regel. Einmal im Jahr durfte es so bunt wie möglich sein:<br />

das war der Frühling, insbesondere am Osterfest. Man kleidete sich farbiger und man lebte<br />

mit Ostereiern, Frühlingsbeeten und Frühlingssträußen die Freude an den Farben richtiggehend<br />

aus.<br />

Deshalb kann ich es wohl wagen, Ihnen heute Morgen ein ausgesprochen farbiges Bild zuzumuten.<br />

Sattes Rot, üppig aufgetragen von Purpur- bis Karminrot in allen Schattierungen.<br />

Direkt daneben, aber auch durchbrochen von Gelbtönen, dem Weißgelb in der Mitte bis hin<br />

zum rötlichen Gold weiter unten.<br />

„Hoffnung für alle“ nennt die Künstlerin ihr Osterbild. Das wird vor allem am Kreuz deutlich.<br />

Das Kreuz vom Karfreitag wird dünn und brüchig, so dünn, dass es zur Mitte wegfällt. Im o-<br />

beren Teil des Kreuzes scheinen einige Stellen im Holz wieder zu grünen. Dort, wo das Osterlicht<br />

am stärksten ist, hat der Tod keine Chance mehr. Selbst am toten Kreuzesstamm<br />

kündigt sich neues Leben an. Aber auch die Farben selbst stehen für Hoffnung. Seit Alters<br />

her ist das Purpurrot Farbe der Kaiser und Könige, in christlichen Bildern von daher Farbe<br />

vor allem für den obersten König, für Gott. Das Rot bezeichnet aber nicht nur sein König<br />

sein, es steht auch für seine Liebe, eine flammende Liebe, die stärker nicht sein kann. Aus<br />

Liebe zu uns ist Gottes Sohn am Kreu gestorben; aus Liebe zu seinem Sohn und zu uns erweckt<br />

Gott-Vater ihn zu neuem Leben. Mit Ostern bricht für die Menschen eine ganz neue<br />

Zeit an. Der Kirchenvater Ambrosius besingt das in einer der ältesten Osterhymnen: „Der<br />

Himmel strahlt im Purpurschein der Morgenröte...“ Sie sehen die Morgenröte hinter dem<br />

Kreuz auch auf der Osterkerze, die wir heute neu entzündet haben. Alles wird zum Licht: Die<br />

Ostersonne ebenso wir der durchglühte Himmel.<br />

Das fallende Kreuz und die leuchtenden Farben – das wäre schon genug für ein Osterbild.<br />

Hier aber fehlt das Entscheidende noch. Wer sich eine Weile in das Bild „hineingeschaut“<br />

hat, wessen Augen sich an die intensiven Farben gewöhnt haben, der entdeckt noch mehr<br />

darin: Die Ostersonne über dem Kreuz wirft Schatten. Und diese Schatten lassen ahnen,<br />

dass das Kreuz zur Leiter geworden ist. (Wenn Sie das mit dem Kreuz an unserem Altar<br />

vergleichen, dann sieht dessen Schatten auch wie eine Leiter aus.)<br />

Es sind Menschen angedeutet: Wir sehen sie auf der einen Seite dem Kreuz, der Leiter zustreben;<br />

wir sehen sie auf der anderen Seite am Fuß des Kreuzes liegen oder abseits stehen<br />

(die schwangere Frau) und wir sehen sie an der Kreuzesleiter nach oben steigen, in die Mitte<br />

des göttlichen Lichtes hinein. So realisiert sich „die Hoffnung für alle“.<br />

Die Kreuzesleiter lässt uns denken an Jakobs Traum von der Himmelsleiter. Erinnern wir<br />

uns: Jakob ist auf der Flucht. Er hat seinen Bruder um das Erstgeburtsrecht und den väterlichen<br />

Segen gebracht. Er muss mit allem rechnen: mit dem tödlichen Zorn des Bruders e-<br />

benso wie mit Gottes Zorn. In der Einsamkeit der Wüste kommt er zum ersten mal zur Ruhe.<br />

Und da ist dann dieser Traum von der Leiter, die in den Himmel führt. Engel steigen hinauf<br />

und hernieder und Jakob darf eine besondere Offenbarung erleben. An der obersten Sprosse<br />

der Leiter steht Gott und macht ihm eine Lebenszusage: „Ich bin mit dir; ich behüte dich,<br />

wohin du auch gehst; ich bringe dich zurück in dieses Land. Ich verlasse dich nicht, bis ich<br />

vollbringe, was ich dir versprochen habe.“ (1. Mose 28, 15)<br />

Das ist wirklich eine besondere Offenbarung. Denn Jakob darf erfahren, dass Gott ganz anders<br />

reagiert als er es erwartet hat. Nicht als der rächende Gott, sondern als einer, dessen<br />

Treue und Liebe stärker ist als alle todbringenden Gefühle.<br />

An diesem Punkt wird der alttestamentliche Text zutiefst österlich. Denn was von Jakob gesagt<br />

ist, gilt in der einen oder anderen Form für uns alle. Beladen schleppen wir uns durch<br />

Wüstenzeiten, belastet von Sorgen und Ängsten, einem schlechten Gewissen womöglich, oft<br />

genug ohne Perspektive auf eine Besserung. Von Gottes Gegenwart merken wir nichts, fühlen<br />

uns gottverlassen, mancher gar von Gott bestraft. Wir sind am Boden. Es geht uns wie<br />

den Schatten auf dem Bild, die am Fuße des Kreuzes liegen.


Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 16.04.06<br />

Ostern aber öffnet den Horizont. Es lässt die Niedergeschlagenen aufblicken, es richtet sie<br />

auf. Mögen sie auch anfangs nur schwankende Schatten sein, es zieht sie zum Kreuz.<br />

Ostern ist kein „Wisch-und-weg-Halleluja“. Kreuz und Leid werden bleiben. Aber nicht als<br />

Gabe, nicht als Bleibe. Vielmehr werden sie – dank Christus – zur Leiter. Wir haben den<br />

Weg zu Gott wieder – seine Liebe macht den Neuanfang möglich (nicht nur einmal, sondern<br />

immer wieder) und sie bereitet uns die letzte Heimat, das ewige Leben.<br />

Manch einem geht das vielleicht etwas zu schnell. Allzu schwer lastet der Stein auf dem<br />

Herzen, als dass schon an ein Aufstehen oder gar an ein Leiterersteigen zu denken wäre.<br />

Ja, selbst das Einschlafen macht manchen Angst. Oft genug begegnen uns im Traum unsere<br />

„Angstgegner“, zwingen uns das zu bearbeiten, was wir Alltags allzu gründlich vermieden<br />

haben. Vertane Chancen, kaputte Beziehungen, tote Menschen, Schuldgefühle – all das<br />

kommt im Traum wieder, gewinnt Gestalt (im wahrsten Sinne des Wortes).<br />

Wie ist Jakob damit umgegangen? Er hat die Begegnung ausgehalten; hat sich dem gestellt,<br />

was Gott ihm sagen wollte; hat da hindurch seinen Weg gefunden. Wieder erwacht, findet<br />

das einen ganz sinnfälligen Ausdruck. Jakob nimmt den Stein auf, er weiht ihn Gott, er salbt<br />

ihn sogar. Das soll „Beth-el“ (= Haus Gottes) sein!<br />

Auch gerade hierin sehe ich einen ausgesprochen österlichen Akt. „All eure Sorgen werfet<br />

auf ihn, denn er sorgt für euch“, heißt es im Neuen Testament. Was hindert uns, Gott beim<br />

Wort zu nehmen und die Steine, die uns auf dem Herzen liegen, ihm zu übergeben? Ostern<br />

macht uns Mut dazu. Versuchen Sie es einmal (etwa im Gebet): Gott diese Last ist zu<br />

schwer für mich. Ich habe mein Bestes getan, aber meine Kraft ist zu ende. Nimm du das,<br />

was ich aus eigener Kraft nicht bewältigen kann.<br />

Sie werden merken, wie erleichternd, wie befreiend das ist, wirklich ein Stück Ostern mitten<br />

im Leben. Und wenn sie dann Ruhe finden, vielleicht sogar Licht am Horizont sehen, wissen<br />

Sie: Sie sind auf der Himmelsleiter angekommen. Ostern – das ist tatsächlich „Hoffnung für<br />

alle“.<br />

Amen.


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

in der<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt zur Konfirmation<br />

am Sonntag Misericordias Domini<br />

30. April <strong>2006</strong><br />

Predigttext: Markus 10,17-27<br />

Als Jesus sich auf den Weg machte, lief einer herbei, kniete vor ihm nieder und fragte ihn:<br />

Guter Meister, was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe? Aber Jesus sprach zu<br />

ihm: Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein. Du kennst die Gebote: «Du<br />

sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch<br />

Zeugnis reden; du sollst niemanden berauben; ehre Vater und Mutter.» Er aber sprach zu<br />

ihm: Meister, das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf. Und Jesus sah ihn an und<br />

gewann ihn lieb und sprach zu ihm: Eines fehlt dir. Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und<br />

gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach!<br />

Er aber wurde unmutig über das Wort und ging traurig davon; denn er hatte viele Güter. Und<br />

Jesus sah um sich und sprach zu seinen Jüngern: Wie schwer werden die Reichen in das<br />

Reich Gottes kommen! Die Jünger aber entsetzten sich über seine Worte. Aber Jesus antwortete<br />

wiederum und sprach zu ihnen: Liebe Kinder, wie schwer ist's, ins Reich Gottes zu<br />

kommen! Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins<br />

Reich Gottes komme. Sie entsetzten sich aber noch viel mehr und sprachen untereinander:<br />

Wer kann dann selig werden? Jesus aber sah sie an und sprach: Bei den Menschen ist's<br />

unmöglich, aber nicht bei Gott; denn alle Dinge sind möglich bei Gott.<br />

Liebe Gemeinde!<br />

Wir <strong>Pastor</strong>en diskutieren manchmal darüber, ob es Bibeltexte gibt, die sich bestimmten Altersgruppen<br />

zuordnen lassen. Tatsächlich ist es ja auffallend, dass einem in verschiedenen<br />

Lebensphasen ganz unterschiedliche Teile der Bibel wichtig werden. Junge Menschen etwa<br />

werden besonders von der Bergpredigt bewegt (jedenfalls war das in meiner Jugend so); alte<br />

Menschen entdecken vor allem den Inhaltsreichtum der Psalmen. Da fragt man sich als <strong>Pastor</strong><br />

natürlich auch, welcher Text ist besonders für Konfirmanden geeignet.<br />

Dabei bin ich auf die Geschichte vom reichen Mann gestoßen. Ein junger Mann ist es,<br />

schreibt Markus, der Jesus begegnet; ein junger Mann, auf der Schwelle zum Erwachsensein,<br />

dem gewichtige Fragen („Lebensfragen“) auf dem Herzen liegen. Das ist eine Situation,<br />

die der euren ganz ähnlich ist. So haben wir uns ein ganzes Wochenende lang mit dieser<br />

Geschichte beschäftigt.<br />

„Was muss ich tun, um das ewige Leben zu haben?“ fragt der junge Mann Jesus. Wir erfahren,<br />

dass er reich ist also keine materielle Not leidet, aber damit ist für diesen jungen Mann<br />

keineswegs alles erledigt. Im Gegenteil, er weiß (oder spürt wenigstens), dass es um mehr<br />

geht: um den Sinn des Lebens; um das Verhältnis zu Gott; um die Frage, was einem nach<br />

diesem Leben erwartet. „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu haben?“ fragt er, und in<br />

dieser einen großen Lebensfrage schwingen ganz viele Unterfragen mit.


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 30.04.06<br />

Kein junger Mensch würde heute (2000 Jahre später) seine große Lebensfrage so formulieren<br />

wie der junge Mann. Und doch sind eure Fragen sehr ähnlich und haben das gleiche<br />

Gewicht: „Wer oder was ist Gott?“ hat einer gefragt; „Wo ist das Ende des Universums?“ ein<br />

anderer. „Was ist der Sinn des Lebens?“ „Gibt es ein Leben nach dem Tod?“ „Was wäre der<br />

richtige Weg, den Menschen in Afrika zu helfen?“ oder sogar: „Wie lässt sich die Welt retten?“<br />

Daneben können auch vergleichsweise kleine, sehr persönliche Fragen zur großen<br />

Lebensfrage werden: „Wie erkenne ich, wer meine wahre Freundin ist?“ fragt eine von euch.<br />

Ja, gäbe es eine gute Fee, die uns die Beantwortung einer Lebensfrage verspräche, wir<br />

wüssten schon, was wir sie fragen würden.<br />

Wie reagiert Jesus auf die Frage des reiche Jünglings? Dazu fällt mir erst einmal ein Halbsatz<br />

ins Auge, der allzu oft überlesen wird. Jesus schaut ihn an, heißt es da, und er gewinnt<br />

ihn lieb. Das ist ganz wichtig, denn das heißt doch: Er wird nicht zurückgewiesen; er muss<br />

sich nicht schämen; egal, wie er sich nach Jesu Antwort auch entscheiden wird, Jesu Liebe<br />

ist ihm sicher. Jesu Liebe – das ist keine Belohnung für Wohlverhalten, sie steht nicht am<br />

Ende der Geschichte. Sie steht am Anfang, d.h. sie wird dem zuteil, der sich ernsthaft Gedanken<br />

macht und dabei bei Jesus und im Glauben Rat sucht.<br />

Das macht es viel leichter, dann auch mit Jesu harter Antwort umzugehen. „Gib alles, was du<br />

hast, den Armen und folge mir nach!“ Das ist eine radikale Forderung; ein so unbedingter,<br />

kompromissloser Anspruch, dass sich keiner von uns darüber gewundert hat, dass sich der<br />

junge Mann abwendet und traurig abzieht. „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr<br />

geht, als dass ein Reicher in den Himmel kommt.“<br />

Viele hören das als eine Abrechnung mit den Reichen – und sie hören es gerne, fast mit einer<br />

gewissen Häme und Schadenfreude. Endlich wird's den Begüterten mal richtig gegeben!<br />

Das ist bei denen, die sich als Zukurzgekommene fühlen, leider ziemlich verbreitet. Meistens<br />

wird das eher verschwiegen, aber manchmal platzt es auch aus einem heraus.<br />

Als ich vor zwei Tagen in einem Gespräch über mein Entsetzen übe die Anschläge in den<br />

Ferienorten in Ägypten sprach, antwortete mir eine Frau ganz unverblümt: Mich berührt das<br />

nicht Herr <strong>Pastor</strong>. Ich kann mir keine weite Fernreise leisten, im Gegenteil, jetzt geht es<br />

erstmal den Reichen an den Kragen. Jetzt kommen die ins Zittern. Endlich einmal ist nicht<br />

der kleine Mann dran.<br />

Wer Jesu Antwort an den reichen Mann so verstehen will, liegt gründlich falsch. Er muss nur<br />

ein paar Zeilen weiter lesen, da erfährt er, dass Jesu Jünger über die Antwort ebenso erschrecken<br />

wie der Reiche. Und das, obwohl sie alles zurückgelassen haben und Jesus bedingungslos<br />

nachgefolgt sind!<br />

Der Grund für ihr Erschrecken liegt tiefer. Sie erkennen, dass es keineswegs nur um die Reichen<br />

geht. Vielmehr auch um Neid und um Gier nach Besitz, etwas, das als Gefahr in jedem<br />

da ist. Reichtum und Besitz an sich sind nicht böse – genauso wenig wie „die“ Technik oder<br />

„jene“ Nutzung der Ressourcen. „Böse“ kann es erst werden durch unseren Umgang damit;<br />

d.h. durch die Art, wie wir es gebrauchen; durch die Beziehung, die wir dazu aufbauen. Konkret:<br />

Reichtum verdirbt dann unser Leben, wenn wir ihm den höchsten Wert darin zumessen.<br />

Vor genau 30 Jahren erschien ein Buch, das viele meiner Generation sehr geprägt hat: „Haben<br />

oder Sein“ von Erich Fromm. Dieses Buch macht eindrucksvoll klar, was die Jünger Jesu<br />

in unserer Geschichte schlagartig begreifen: Unser Leben verdirbt, wenn wir es vom Haben<br />

her begreifen. Wenn wir etwa den Wert anderer Menschen nur noch nach deren Besitz,<br />

Beruf und gesellschaftlicher Position bestimmen. Und uns selbst auch nur danach einstufen,<br />

was wir erreicht haben und vorweisen können.<br />

Der Mensch ist nicht das, was er hat; der Mensch ist das, was er lebt. Das meint Erich<br />

Fromm mit „Sein“; das meint Jesus, als er dem reichen Jüngling gerade die Gebote aufzählt,<br />

die mit dem menschlichen Miteinander zu tun haben.<br />

Ich finde, ihr habt das sehr gut erfasst: Man sieht es an euren Konfirmationssprüchen: „Lasst<br />

uns einander lieben, so wie Christus uns geliebt hat.“ „Lasset uns aufeinander achtgeben,<br />

dass wir uns anreizen zur Liebe und zu guten Werken.“ Christus spricht: „Wie ich euch ge-


Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 30.04.06<br />

liebt habe, so sollt auch ihr euch gegenseitig lieben.“ Und man sieht es auch an den Herzen<br />

auf dem Lebensweg, sie tauchen da überall auf, z.B. als Symbole für die erste Liebe zwischen<br />

den Zeugnissen, oder die Herzen mit den Eheringen und den kleinen Herzen als<br />

Symbol für die Familie. Aber nicht nur darum geht es beim rechten „Sein“, nicht nur um das<br />

direkte Miteinander.<br />

Es geht auch um die Freude<br />

am Kleinen, am (aus materieller<br />

Sicht) Nutzlosen, am Selbstgeschaffenen,<br />

an den eigenen<br />

schöpferischen Fähigkeiten...<br />

Ich habe euch versprochen,<br />

keine Namen zu nennen, aber<br />

ich möchte doch einige eurer<br />

Gaben aufzählen: die Freude<br />

am Gesang; viele von euch<br />

spielen ein Instrument und beherrschen<br />

es sehr gut; dass<br />

Malen und Zeichnen zu euren<br />

Begabungen gehören, sehen<br />

wir vorn an den Lebenswegen;<br />

viele von euch haben eine noch<br />

kindliche Freude am Spielen und ich hoffe, dass sie euch erhalten bleibt; aber auch Freude<br />

an der Sprache, Neugier und Forscherdrang.<br />

Und – last not least – geht es um die Ziele, die ihr euch setzt. Ihr habt viel dazu geschrieben<br />

und gemalt; das lässt sich heute gar nicht alles würdigen. Vieles dreht sich dabei um Familie<br />

und Freunde, um Ausbildung und Beruf. Kleinere, kurzfristige Ziele waren dabei („unseren<br />

Fußballplatz retten“), die meisten aber waren eher langfristige. Sehr positiv ist mir aufgefallen,<br />

dass die Berufsziele zwar oft hoch gesteckt sind (auf beiden Lebenswegbildern ist der<br />

Doktorhut zu entdecken!), sogar vom Traumjob ist die Rede, aber der definiert sich nicht ü-<br />

ber die Gehaltshöhe. Dass er einem liegt, dass er Freude macht und sinnvoll ist, dass er mit<br />

anderen Menschen zu tun hat, das macht ihn zum „Traumjob“.<br />

Mich hat gefreut, wie engagiert und erwartungsvoll ihr darüber gesprochen habt, obwohl viele<br />

eurer Ängste sich besonders auf den Komplex Arbeit und Beruf beziehen. Ich glaube<br />

kaum, dass wir seinerzeit, hätte man uns aufgefordert unseren Lebensweg zu malen, als<br />

wichtiges Symbol für eine Station das Arbeitsamt mit eingezeichnet hätten. Da werdet ihr<br />

euch tatsächlich neuen Problemen und Sorgen stellen müssen.<br />

Als wir uns nach unserem Wochenende die Fotos davon anschauten, fragte einer treffend:<br />

„Wieso sehen wir eigentlich alle so ernst aus? Da war doch immer eine fröhliche Stimmung!“<br />

Ich denke, die Antwort liegt am Thema: Ihr habt erfasst, dass es bei dieser Begegnung Jesu<br />

mit dem jungen Mann auch um euch selber geht: Dass seine Frage – so oder anders gestellt<br />

– auch eure ist; dass ihr wie er dabei seid, eure Lebensweichen zu stellen. Und ich bin guter<br />

Hoffnung, dass ihr euch nicht wie er traurig abwendet. Nicht, weil es unter euch keine Reichen<br />

gibt; sondern weil euer Reichtum ein anderer ist, einer, der sich nicht in Euros ausdrücken<br />

lässt.<br />

Ich habe euch versprechen müssen, keinen namentlich zu nennen. Daran will ich mich halten.<br />

Dennoch will ich (als Schlüsselwort sozusagen) einen eurer Antwortzettel wörtlich vorlesen.<br />

Zur Frage nach dem Lebensziel findet sich da doch tatsächlich das Wort „reich werden“.<br />

Die ganze Antwort aber lautet: „Ich möchte reich werden, um ein paar Tieren zu helfen.“ Ü-<br />

ber so eine Antwort hätte Jesus sich von Herzen gefreut!<br />

Amen.


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

in der<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am Sonntag Kantate<br />

14. Mai <strong>2006</strong><br />

Predigttext: Apostelgeschichte 16, 23-34<br />

Nachdem man Paulus und Silas hart geschlagen hatte, warf man sie ins Gefängnis und befahl<br />

dem Aufseher, sie gut zu bewachen. Als er diesen Befehl empfangen hatte, warf er sie<br />

in das innerste Gefängnis und legte ihre Füße in den Block. Um Mitternacht aber beteten<br />

Paulus und Silas und lobten Gott. Und die Gefangenen hörten sie. Plötzlich aber geschah<br />

ein großes Erdbeben, so dass die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Und sogleich<br />

öffneten sich alle Türen, und von allen fielen die Fesseln ab. Als aber der Aufseher aus dem<br />

Schlaf auffuhr und sah die Türen des Gefängnisses offenstehen, zog er das Schwert und<br />

wollte sich selbst töten; denn er meinte, die Gefangenen wären entflohen. Paulus aber rief<br />

laut: Tu dir nichts an; denn wir sind alle hier! Da forderte der Aufseher ein Licht und stürzte<br />

hinein und fiel zitternd Paulus und Silas zu Füßen. Und er führte sie heraus und sprach: Liebe<br />

Herren, was muss ich tun, dass ich gerettet werde? Sie sprachen: Glaube an den Herrn<br />

Jesus, so wirst du und dein Haus selig! Und sie sagten ihm das Wort des Herrn und allen,<br />

die in seinem Hause waren. Und er nahm sie zu sich in derselben Stunde der Nacht und<br />

wusch ihnen die Striemen. Und er ließ sich und alle die Seinen sogleich taufen und führte sie<br />

in sein Haus und deckte ihnen den Tisch und freute sich mit seinem ganzen Hause, dass er<br />

zum Glauben an Gott gekommen war.<br />

Liebe Gemeinde!<br />

Die meisten werden es schon während der Lesung bemerkt haben:<br />

Die Dramatik des heutigen Predigttextes haben wir in unserer<br />

Paul-Gerhardt-Kirche stets vor Augen. Paulus und Silas im<br />

Gefängnis, mit gebundenen Händen und von der Folter geschunden<br />

– das ist das Motiv auf unserem großen Kirchenfenster<br />

im Altarraum. Besonders wenn die Sonne scheint, wenn die<br />

Farben zu spielen beginnen und in Bewegung geraten, meint<br />

man, etwas von der Erzählung mitzuerleben: das Erdbeben, das<br />

Bersten der Mauern, das Herabfallen des Heiligen Geistes… Ja,<br />

das Tanzen der Farben auf der Wand lässt auch etwas erahnen<br />

vom Gesang der Apostel mitten in der Nacht. Alles gerät in Bewegung,<br />

im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn, vor allem<br />

am späten Nachmittag, wenn die Sonne durch das Fenster<br />

scheint und das bunte Licht auf die Altarwand fällt.<br />

Und doch ist für mich nicht das aufwühlende Geschehen das<br />

Wichtigste und auch nicht der laute Lobgesang zu mitternächtlicher<br />

Stunde. Vielmehr sind es die leisen Töne, die kurzen<br />

Wortwechsel, die fast nebenbei anklingen. Das, was im ersten<br />

Moment nur wie ein Nachhall wirkt, erweist sich bei näherem<br />

Hinsehen als Auslegung des Geschehens.<br />

Geschildert wird ein großes Wunder. Nicht anders ist es zu werten,<br />

wenn zu Unrecht Inhaftierte durch ein Naturphänomen aus


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 14.05.06<br />

dem Gefängnis befreit werden. Die Freude über ein derartiges Wunder wird aber nicht von<br />

allen geteilt. Der Kerkermeister, verantwortlich für die Folter und die sichere Verwahrung der<br />

Häftlinge, steht mit seiner ganzen Person für sein Amt ein. Konkret heißt das: Gelingt den<br />

Inhaftierten die Flucht, verliert er nicht nur sein Amt, sondern muss an ihrer Statt Folter und<br />

Haft erdulden. Kein Wunder, dass der Kerkermeister in Panik gerät. Er sieht keinen anderen<br />

Ausweg als den Tod; er will sich in sein Schwert stürzen. Im letzten Moment fährt Paulus’<br />

Wort dazwischen: „Tu dir nichts an, wir sind alle hier.“<br />

Das ist nur ein Satz mitten in einem hochdramatischen Geschehen. Und doch steht er als<br />

Wunder dem Erdbeben kaum nach, wenigstens für den Kerkermeister. Natürlich musste er<br />

annehmen, als er die geborstenen Mauern, aufgesprungene Türen, zerbrochene Ketten sah,<br />

dass alle Häftlinge, so schnell sie konnten, das Weite gesucht hatten. Nach menschlichem<br />

Ermessen hätte doch jeder so reagiert!<br />

Aber das Gegenteil ist der Fall. Sie sind geblieben. Und fragen wir nach dem Grud dafür,<br />

bleibt eigentlich nur eine Antwort: Sie sind aus Liebe geblieben. Das ist keine Liebe, die wir<br />

allein nach unseren Kriterien verstehen können. Paulus hätte allen Grund zur Schadenfreude<br />

oder wenigstens zu einem Gefühl der Genugtuung, wenn er den Kerkermeister seinem<br />

Schicksal überließe. Aber er reagiert mit Liebe, er bleibt und rettet den Kerkermeister – aus<br />

der Kraft einer Liebe heraus, die tiefer ist, als alles menschliche Fühlen.<br />

Der Theologe Ernst Lange hat einen guten Satz zum Verständnis dessen geschrieben: „Das<br />

Evangelium ist der Einspruch Gottes gegen die Selbstzerstörung des Menschen.“ Das Evangelium<br />

(das ist die frohe Botschaft) wird in dem Moment laut, wo Selbstzerstörung droht.<br />

Gottes Liebe gebietet dem Tod Einhalt.<br />

Aktueller lässt sich das Evangelium kaum formulieren. Keiner von uns ist – dem wörtlichen<br />

Sinne nach – im Gefängnis. Wohl aber sind wir im übertragenen Sinne „gefangen“. Individuell<br />

sieht das sehr unterschiedlich aus; jeder von uns würde nach eingehender Prüfung etwas<br />

anders nennen, was ihn gefangen nimmt oder gefangen hält. Abhängigkeiten, Leidenschaften,<br />

Sehnsüchte… Allen gemeinsam aber ist uns das Leiden unter der Macht des Todes,<br />

oder ( um es noch genauer auf die Geschichte des Kerkermeisters zu beziehen): verführerisch<br />

bietet sich uns der Tod in ausweglos scheinenden Situationen als „Lösung“ an:<br />

• Krieg und Völkermord als „Lösung“ internationale Konflikte;<br />

• der hohe Preis an Lebenskraft , den wir für unsere hohe Zivilisation bezahlen;<br />

• Tausende von Verkehrstoten in einer Welt, die stolz ist auf ihre Mobilität;<br />

• oder auch: die immer wieder neu aufflammende Diskussion um die „Euthanasie“ im<br />

Sinne einer aktiven Sterbehilfe.<br />

Sie haben es direkt miterlebt in den vergangenen Wochen: Der ehemalige Hamburger Justizsenator<br />

gründet eine eigene Partei; eines seiner ersten und wichtigsten Themen, mit denen<br />

er um Wähler wirbt, ist eine Erweiterung der Sterbehilfe. Das klingt verführerisch: selbstbestimmtes<br />

Sterben – verführerisch nicht nur für die Betroffenen, deren Wunsch es ist, (aus<br />

welchen Gründen auch immer) sterben zu wollen, verführerisch auch für alle anderen: denn<br />

wer einwilligt in das weitgehende Selbstbestimmungsrecht, ist die Sorge und Last los, sich in<br />

begleitender Weise mit dem Sterbewilligen auseinanderzusetzen.<br />

Jahrzehntelang war das ein Tabuthema in Deutschland – aus gutem Grund nach dem tausendfachen<br />

Missbrauch so genannter „Euthanasie“ im Dritten Reich. Jetzt aber scheint es<br />

wieder hoffähig zu sein, auf alle Fälle lohnt es sich wohl, damit um Wähler zu werben. Dabei<br />

werden wohlweißlich die schlimmen aktuellen Erfahrungen verschwiegen. Unsere Nachbarländer<br />

(Belgien und die Niederlande zum Beispiel) haben zum Teil wieder eine erweiterte<br />

Sterbehilfe im Gesetz verankert. Das aber hat schlimme Ausmaße angenommen; in den<br />

Niederlanden wurde einer fünfzehnjährigen Magersüchtigen Sterbehilfe gewährt und in Belgien<br />

einem achtzigjährigen ehemaligen Politiker, der sterben wollte, weil er sich schlicht<br />

langweilte. Mit „Euthanasie“ (das heißt: guter Tod) hat das nichts mehr zu tun.<br />

Hier muss aus christlicher Verantwortung Gottes Wort laut werden: „Tu dir nichts an, wir sind<br />

hier.“ Wir lassen nicht zu, dass du die schnelle, vermeintlich einfache Lösung des Todes er-


Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 14.05.06<br />

greifst. Gott will das Leben; wir wollen das Leben. Wir sind für dich da – mit Begleitung in der<br />

Krise, mit Therapien, mit Angeboten, die dir zeigen, was das Leben zu bieten hat. Wir sind<br />

da für dich mit unserer Liebe, und das ist Gottes Liebe zu dir. Im Falle des Kerkermeisters<br />

konnte die Macht des Todes gebrochen werden, auf vielfache Weise sogar.<br />

Wir erleben, dass die Wirklichkeit plötzlich ganz anders ist, als es scheint. Der Kerkermeister,<br />

eben noch Täter, droht zum Opfer zu werden. Auf jeden Fall leidet er; er ist innerlich gefangen<br />

von seinem Amt, dem Zwang zur Gewalt, dem Ausgeliefertsein an die Macht des Todes.<br />

Er braucht Hilfe und da spürt er: „Was muss ich tun, damit ich gerettet werde?“ fragt er.<br />

Umgekehrt sehen wir: Die Gefangenen (Paulus und Silas) erweisen sich als die eigentlich<br />

Freien. Die, denen die Opferrolle zugedacht war, werden zu Tätern – zu Tätern im besten<br />

Sinne des Wortes, nämlich zu Tätern der Liebe. Ihr Lobgesang zeigt: selbst in dunkelster<br />

Nacht schafft der Tod es nicht, Angst über sie zu breiten. Und als sich der Weg in die Freiheit<br />

öffnet, müssen sie ihn nicht gehen, weil sie innerlich längst frei sind.<br />

Die Erzählung endet in einer Gemeinschaft von Täter und Opfer; es ist ein Bild, über das es<br />

sich lohnen würde, ein zweites Kirchenfenster anzufertigen. Täter und Opfer waschen sich<br />

gegenseitig: Der Gefängniswärter wäscht den Aposteln die Wunden und Striemen; die Apostel<br />

„waschen“ – denn nichts anderes ist die Taufe – ihn und die Seinen. Damit ist wirklich ein<br />

Neuanfang gesetzt. Die Gemeinschaft aus Täter und Opfern – nach unserem Maßstab ist<br />

das kaum vorstellbar; aus der Kraft der Liebe Gottes heraus aber ist es möglich.<br />

Der Sonntag Kantate ist eingebettet in die so genannte „österliche Freudenzeit“, die Zeit im<br />

Kirchenjahr, die wie keine andere den Sieg des Lebens über den Tod feiert. Heute vor allem<br />

mit lautem Gesang: „Singet dem Herrn ein neues Lied…“ (Psalm 98,1) steht über dem Gottesdienst<br />

und über der nächsten Woche. Das ist weniger eine Aufforderung zum Dichten und<br />

Komponieren neuer Kirchenlieder. So schön das sein mag, es ist nicht das Entscheidende.<br />

Vielmehr geht es um eine neue Haltung. Anders gesagt: Es geht um die Frage, ob uns die<br />

Lieder, die wir singen und hören, aus dem alten Trott, in dem wir uns bewegen, hinausführen.<br />

Das ist der Sinn der österlichen Freudenzeit: uns zum Leben hinzuführen; das neue Leben,<br />

das mit Jesu Auferstehung angebrochen ist, konkret zu machen.<br />

Der Kerkermeister, Paulus und Silas finden zu einer neuen, lebendigen Gemeinschaft. Gott<br />

gebe, dass uns das gelingt – zuerst in der Gemeinde, dann vielfach in der Welt.<br />

Amen.


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

in der<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am Sonntag Rogate<br />

21. Mai <strong>2006</strong><br />

Predigttext: Kolosser 4,2-4<br />

Seid beharrlich im Gebet und wacht in ihm mit Danksagung! Betet zugleich auch für uns,<br />

dass Gott uns eine Tür für das Wort auftue und wir das Geheimnis Christi sagen können, um<br />

dessentwillen ich auch in Fesseln bin, damit ich es offenbar mache, wie ich es sagen muss.<br />

Liebe Gemeinde!<br />

Vor zwei Tagen hatte ich ein Taufvorgespräch. Es war in verschiedener Hinsicht ein ganz<br />

typisches: Die Eltern haben keine besonders starke Beziehung zu Gottesdienst und Kirche,<br />

aber die Geburt ihres Kindes haben sie als etwas Besonderes erlebt. Ihre Dankbarkeit ist so<br />

groß, dass sie Ausdruck finden soll. In der Taufe wollen wir Gott danken für dieses Kind.<br />

Aber es gibt ein Problem: Der, der eigentlich Pate hätte werden sollen, ist nicht mehr Mitglied<br />

der Kirche. Wir kommen darüber ins Gespräch. Ich frage nach den Gründen. Zwei seien es<br />

eigentlich gewesen, sagt der Betreffende. Nie habe er Gott mit seinen persönlichen Angelegenheiten<br />

behelligt, aber zweimal, als es wirklich nötig war, habe er mit aller Kraft gebetet:<br />

einmal, als der Vater schwer erkrankte, zum anderen Mal, als die Arbeitsstelle in Gefahr war.<br />

Der Vater sei verstorben, der Arbeitsplatz ging verloren. Danach sei er aus der Kirche ausgetreten.<br />

Die Enttäuschung war allzu groß.<br />

Die Erfahrung, die hier im Taufgespräch anklingt, ist, glaube ich, gar nicht so selten. Viele<br />

von Ihnen werden sie so oder so ähnlich aus Gesprächen im Freundes- und Familienkreis<br />

kennen. Es sind vielfach sehr bittere und ernstzunehmende Erfahrungen. Sie decken Verletzungen<br />

auf, die behutsam und doch gründlich zu bearbeiten sind. Sie decken aber auch<br />

noch etwas anderes auf, nämlich ein fatales Fehlverständnis von dem, was Beten ist. Beten<br />

– das ist für manche das Aufsagen eines Wunschzettels (der „liebe Gott“ hört es und erfüllt<br />

dann umgehend, was wir so dringend begehren). Oder auch, um es noch stärker auf den<br />

Punkt zu bringen; viele halten das Gebet für eine Art Fallschirm im Notkoffer des Lebens. In<br />

höchster Not (kurz vor dem Aufprall sozusagen) kann man dann die Reißleine ziehen – und<br />

wird gerettet. In der Tat, Gebetserhörungen solcher Art gibt es. Aber wir müssen doch ehrlich<br />

sein: das sind Ausnahmen. Wer sie zur Regel erheben will, der wird enttäuscht werden.<br />

Das ist der Punkt, an dem uns der heutige Predigttext weiterhelfen will. Er will uns zu einer<br />

Art des Betens führen, die nicht enttäuscht. Das wichtigste Wort steht gleich am Anfang:<br />

Seid beharrlich im Gebet! Beharrlichkeit – mit Sicherheit eine der Tugenden, die es heute<br />

besonders schwer haben. Die Vielfalt der Angebote vor allem in der Freizeitgestaltung legen<br />

anderes nahe: Probiere aus; erlebe möglichst viel; schöpfe deine Möglichkeiten aus; gönn dir<br />

die Abwechslung...<br />

Und was in der Freizeit gilt, im Beruflichen vielleicht sogar notwendig wird, schlägt sich auch<br />

im Partnerschaftlichen nieder: Lange und feste Beziehungen, das gemeinsame Durch-Dickund-Dünn-Gehen<br />

werden immer seltener. Ruhelosigkeit und Unzufriedenheit sind die fatalen<br />

Folgen im Alltäglichen. Erst recht fatal wird es im Blick auf Glaube und Gebet. Denn ohne<br />

Beharrlichkeit kann da nichts wachsen.


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 21.05.06<br />

Beten, sagt der Kolosserbrief, das ist eine Beziehung, in die man beharrlich, mit Geduld hineinwachsen<br />

muss. Deren ganz eigene Sprache man lernen muss. Das meint zuerst einmal<br />

die Aufforderung, regelmäßig zu beten. Davon sind wir als „moderne“ Christen (zumal in der<br />

evangelisch-lutherischen Kirche) sehr weit abgekommen. Wir legen viel Wert auf die Freiheit<br />

im Glauben – und beziehen diese Freiheit sehr schnell auch auf die Häufigkeit des Gebets.<br />

Das feste tägliche Gebet (etwa am späten Abend) ist für die meisten schon die höchste Stufe<br />

der Verbindlichkeit, die man zugestehen will.<br />

In der alten Kirche sah das noch anders aus. Da gab es über den ganzen Tag (und auch die<br />

Nacht) verteilte Gebetszeiten. Die Stundengebete der Mönche sind daraus erwachsen.<br />

Wichtig daran aber: Nicht die Häufigkeit zählt, auch nicht das exakte Einhalten von Zeiten.<br />

Entscheidend ist vielmehr: Im regelmäßigen Beten drückt sich eine Kontinuität der Gottesbeziehung<br />

aus. Das heißt: Wer kontinuierlich betet, bleibt mit Gott im Gespräch und pflegt einen<br />

lebendigen Glauben; der lernt, was es heißt, mit Gott „durch Dick und Dünn zu gehen“.<br />

Der merkt auch, dass es beim Beten nicht nur um eine Sache des Kopfes geht, ja dass die<br />

Worte immer weniger wichtig sind. Das Gebet wird zu einer Sache des Herzens: da fasst es<br />

Fuß, da wächst es, da bringt es Früchte.<br />

In der russisch-orthodoxen Kirche gibt es die Tradition des „immerwährenden Jesus-<br />

Gebets“. Es heißt auch „Herzensgebet“ und hat einen hohen Stellenwert. Da kommt es weder<br />

auf die Länge noch auf einen Reichtum an Worten an. Es besteht nur aus einem einzigen<br />

Satz: „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner.“ Allein das soll ständig<br />

(„beharrlich“) wiederholt werden. So wandert es aus dem Bewusstsein, dem Verstand ins<br />

Herz. Schließlich ist es das Herz, das sich im ständigen Gebet mit Christus befindet.<br />

Die Beharrlichkeit ist das erste und wichtigste, was der Kolosserbrief nennt. Aber sie ist nicht<br />

das einzige. Damit das Beten nicht zur Enttäuschung wird, muss anderes hinzukommen. Betet<br />

„mit Dankbarkeit“, schreibt Paulus, „und zugleich auch für uns...“ Dank – und Fürbitte also!<br />

Mal ehrlich, wessen Gebet lässt tatsächlich das Danken und das Beten für die anderen<br />

vor den eigenen Belangen rangieren?! In den allermeisten Fällen sind es doch die eigenen<br />

Wünsche, die an erster Stelle stehen.<br />

Auch wer kein Fußballfan ist, kommt derzeit nicht umhin, sich mit Fußball zu beschäftigen.<br />

Die Weltmeisterschaft steht vor der Tür – und da muss es wohl so sein, dass sich jeder Sender<br />

und jede Zeitschrift damit befasst. Selbst christliche Blätter machen da keine Ausnahme.<br />

Gestern hielt ich „Chrismon“ in der Hand, ein evangelisches Magazin. Unter dem Titel<br />

„Jungs, ihr schafft das!“ bringt es sogar dieses Blatt zustande, fünfundfünfzig Seiten mit<br />

Fußball (bzw. der Verbindung von Fußball und Glauben) zu füllen. Besonders absurd wird es<br />

dann, wenn's ums Beten geht. Natürlich betet jede Mannschaft, jeder Spieler, jeder Fan um<br />

den Sieg und das Weiterkommen der eigenen Leute. Und wieder sind viele dabei, die offen<br />

bekennen, sonst nie zu beten, aber in dieser besonderen Situation sei das was anderes...<br />

Aber, bitte schön, wer will denn hier tatsächlich mit „Gebetserhörungen“ rechnen?! Kein noch<br />

so „lieber“ und „gerechter“ Gott wäre imstande alle Wunschlisten gleichermaßen zu erfüllen.<br />

Beten als „Ego-Trip“, das ist in jedem Fall eine Sackgasse, denn es nimmt Gott alle Freiheit.<br />

Interessant dagegen der Gebetswunsch des Paulus. Seine Fürbitte ist sehr offen gehalten.<br />

Er selbst sitzt im Gefängnis ein, als er den Brief an die Kolosser schreibt, aber er bittet nicht<br />

einmal darum, die Kolosser mögen für seine Freilassung beten. Ihm geht es vielmehr darum,<br />

dass sich „eine Tür auftue für das Wort“; „das Geheimnis Christi“ soll Verbreitung finden.<br />

Hier ist es wirklich die Formulierung, die Wahl der Worte, die mich so anspricht. Im Vaterunser<br />

beten wir stets „Dein Wille geschehe“. Paulus nimmt das ernst, er ordnet sich dem unter,<br />

er lässt Gott die Freiheit, aber er bittet zugleich, „dass sich eine Tür auftue“. Ich glaube, hier<br />

liegt der Schlüssel, Gebetsenttäuschungen zu vermeiden. Wer Gott darum bittet, eine möge<br />

eine Tür auftun, wo er selbst nicht weiter weiß, der wird erhört werden. Vielleicht nicht gleich;<br />

sicher braucht es wieder Beharrlichkeit. Aber die Beharrlichkeit, die im festen Vertrauen auf<br />

Gottes guten Willen gründet, wird von Gebetserhörungen in diesem Sinne sprechen können<br />

und wird von da aus auch ganz automatisch zum Danken kommen.


Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 21.05.06<br />

„Wer nicht betet, verweigert Gott die Antwort“, las ich einmal. Das trägt dem Rechnung, dass<br />

Gott immer schon da ist mit aller nötigen Fürsorge, denn er weiß, wessen wir bedürfen. Vielleicht<br />

sollten wir darauf erst einmal antworten. Dann wird das Beten ganz schnell zur regelmäßigen<br />

Herzenssache.<br />

Amen.


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

in der<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am Himmelfahrtstag<br />

25. Mai <strong>2006</strong><br />

Predigttext: Offenbarung des Johannes 1,4-8<br />

Johannes an die sieben Gemeinden in der Provinz Asien: Gnade sei mit euch und Friede<br />

von dem, der da ist und der da war und der da kommt, und von den sieben Geistern, die vor<br />

seinem Thron sind, und von Jesus Christus, welcher ist der treue Zeuge, der Erstgeborene<br />

von den Toten und Herr über die Könige auf Erden! Ihm, der uns liebt und uns erlöst hat von<br />

unsern Sünden mit seinem Blut und uns zu Königen und Priestern gemacht hat vor Gott,<br />

seinem Vater, ihm sei Ehre und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen. Siehe, er kommt mit<br />

den Wolken, und es werden ihn sehen alle Augen und alle, die ihn durchbohrt haben, und es<br />

werden wehklagen um seinetwillen alle Geschlechter der Erde. Ja, Amen. Ich bin das A und<br />

das O, spricht Gott der Herr, der da ist und der da war und der da kommt, der Allmächtige.<br />

Liebe Gemeinde!<br />

Sie haben richtig gehört; da ist uns keine Verwechslung unterlaufen. Tatsächlich ist uns am<br />

Himmelfahrttag ein Abschnitt aus der Offenbarung des Johannes als Predigttext aufgegeben.<br />

Als wäre es nicht schon schwierig genug, über die Himmelfahrt Jesu nachzudenken, bekommen<br />

wir nun auch noch eine Art „Antitext“ dazu auferlegt. Denn in der Offenbarung des<br />

Johannes geht es um die Wiederkunft Jesu, um seine Rückkehr zur Erde. „Christus wird<br />

kommen“, das ist die Botschaft des Johannes. „Jesus ist fort“ dagegen die Realität am Himmelfahrtstag.<br />

Natürlich haben sich die verantwortlichen Theologen etwas dabei gedacht, gerade diesen<br />

Text für den Himmelfahrtstag auszuwählen. Aber zu entfalten, wie beides zusammengehört,<br />

ist gar nicht so einfach. Da wird uns einiges zugemutet.<br />

Das fängt schon an bei dem Wort „Himmel“. Was meint das eigentlich? Im Evangelium von<br />

der Himmelfahrt Jesu können wir es uns bildlich vorstellen: von einer Wolke ist da die Rede,<br />

die Jesus aufnimmt auf der Bergspitze. So schwer das im Einzelnen nachzuvollziehen ist, es<br />

knüpft wenigstens an Bildern an, die uns vertraut sind.<br />

Anders ist es, wenn Johannes vom „Himmel“ spricht. In seiner Offenbarung geht es nicht um<br />

das Firmament, hier ist mit Himmel der präzise geordnete Herrschaftsbereich Gottes gemeint.<br />

„Himmel“ umfasst alles: das Irdische wie das Überirdische; zeitlich gesehen Vergangenheit,<br />

Gegenwart und Zukunft; die Ewigkeit. Das machen die Symbole deutlich: Von sieben<br />

Gemeinden ist die Rede – sieben, das ist die heilige Zahl, die für das Ganze steht, die<br />

ganze Erde. Danach sind „die sieben Geister“ genannt; sie stehen entsprechend für das<br />

Ganze des überirdischen Raums.<br />

Die Fülle der Zeit, die Ewigkeit, ist durch A und O symbolisiert. Die 24 Buchstaben des griechischen<br />

Alphabets standen seinerzeit für die 24 Tagesstunden; A und O, der erste und letzte<br />

Buchstabe, für Anfang und Ende.<br />

Damit ist klar, worum es geht: In räumlichen und zeitlichen Dimensionen wird der Herrschaftsbereich<br />

Christi beschrieben. Es ist eine in jeder Hinsicht umfassende Herrschaft. Und<br />

die Aufgabe der Himmelfahrtspredigt ist es, uns das Ewige zu vergegewärtigen. „Das Ewige<br />

vergegenwärtigen“ – was für große Worte!


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 25.05.06<br />

Jemand hat mal gesagt: zu Himmelfahrt wird der Glaube erwachsen. Dahinter steht das treffende<br />

Bild von Wachsen im Glauben. Als wir Kinder waren, haben die meisten von uns sich<br />

Gott als weißhaarigen Mann vorgestellt. Spätestens als Konfirmand nimmt man langsam Abschied<br />

davon. Gott wird unsichtbar, verschwindet hinterm Sternenhimmel in den Tiefen des<br />

Universums. Aber er taucht als Stimme des Gewissens wieder auf. Dazu gewinnt Jesus an<br />

Bedeutung – als Vorbild, als Wegweiser, als Mensch, der tatsächlich und vorbildlich gelebt<br />

hat. Mit den Jüngern können wir sagen: Da hat unser Glaube etwas Handfestes: Jesus ist<br />

Gott als Mensch, Gott zum anfassen sozusagen. Doch damit ist an Himmelfahrt Schluss.<br />

Nun muss der Glaube ohne den sichtbaren Jesus auskommen; er muss sich als wirklicher<br />

Glaube bewähren. Der Glaube wird erwachsen.<br />

„Was steht ihr da und guckt in den Himmel?“ werden die Jünger gefragt, als Jesus ihren Blicken<br />

entschwunden ist. Das ist der Wendepunkt; sie begreifen es langsam. Jetzt hat das<br />

Glauben neue Qualität. Dem erwachsenen Glauben wird einiges abverlangt und zugemutet.<br />

Die Zeilen des Johannes sind ein Beispiel dafür: „Das Ewige vergegenwärtigen...“ das meint:<br />

dem Glauben wird zugemutet, alte Sicherheiten loszulassen und sich nach vorne auszurichten<br />

auf die Verheißungen hin. „Wir leben im Vorletzten und glauben das Letzte“, so hat Bonhoeffer<br />

das ausgedrückt. Erwachsener Glaube versucht, diese Welt und die Verheißungen<br />

zusammenzubringen, vor allem die Verheißung von der Wiederkunft Christi und seinem<br />

neuen Reich. Anders (und leichter verständlich) gesagt: Erwachsener Glaube heißt, mit dem<br />

Herzen im Himmel sein, mit den Füßen auf der Erde und mit dem Kopf in der Realität.<br />

Jetzt sind wir endlich bei uns. Jetzt haben wir so etwas wie eine Positionsbestimmung in diesem<br />

schwierigen Text. Der Text geizt nicht mit großen Worten, wo es um uns geht. „Erlöste“<br />

nennt er die Christen mit erwachsenem Glauben, „Bürger des Reiches Gottes“ und sogar<br />

„Könige und Priester“.<br />

Ich kann diese großen Worte nur so verstehen, dass ich sie auf die drei Zeitebenen beziehe:<br />

„Erlöste sind wir durch unsere Vergangenheit (wir sind getauft worden), seitdem sind wir –<br />

auch jetzt, gegenwärtig – „Bürger in Gottes Reich“. Aber das ist nur das Vorletzte, das Letzte<br />

steht aus. Was es heißt, „Priester“ und „König“ zu sein, werden recht erst bei Jesu Wiederkunft<br />

erfahren.<br />

Mal ehrlich: Erkennen Sie sich wieder in diesen großen Worten?!<br />

Etwas als dogmatisch richtig anzuerkennen ist das eine. Es aber auch tatsächlich zu spüren<br />

und zu leben, das ist das andere. Wir wissen, dass uns die Taufe zu „Erlösten“ macht, aber<br />

wie und wo zeigt es sich in unserem Leben?<br />

Ein Mann wie Bonhoeffer lebt tatsächlich einen erwachsenen Glauben. „Wir leben im Vorletzten<br />

und glauben das Letzte“, sagt er. Die große Verheißung von der Wiederkunft Christi<br />

(das ist das Leben) konnte ihm tatsächlich die Kraft geben, das Vorletzte auszuhalten, seinen<br />

Weg als Christ konsequent zu gehen trotz Gefängnisses, Folter und Tod. Aber was ist<br />

mit uns?<br />

Ich persönlich spüre sehr deutlich, wie mich das Vorletzte gefangen nimmt. Da reicht schon<br />

die Lektüre meiner Tageszeitung, um das Bewusstsein „Erlöster“ zu sein, verblassen zu lassen.<br />

„Fünfzehn Millionen Menschen in Deutschland von Altersarmut betroffen“ (in zehn Jahren<br />

schon); „Erwärmung des Weltklimas viel schneller als erwartet“, neue terroristische Anschläge<br />

befürchtet“ – das sind nur einige der Schlagzeilen von gestern. Das geht nicht spurlos<br />

an uns vorüber. Wir spüren: unsere Welt ist ein Kampfplatz von Mächten und Gewalten.<br />

Aber wir erstarren darüber nicht vor Angst.<br />

Erlöst sein, also losgebunden und frei zu sein, bringt uns dazu, unser Leben in einer eigentümlichen<br />

Spannung zu gestalten; es ist die Spannung zwischen „Jesus ist weg“ und „Jesus<br />

kommt wieder“. Die Erinnerung an Jesus gibt uns Stärke; sie lässt manches gelingen, was<br />

wir mit Liebe und Einstzbereitschaft anpacken. Zugleich schauen wir nach vorne: Jesus<br />

kommt wieder. Das gibt Hoffnung und lässt uns froh sein – trotz noch so vieler und bedenklicher<br />

Entwicklungen. Sorgen machen wir uns zu Recht; sie lassen uns wachsam und tätig


Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 25.05.06<br />

sein. Lähmende Angst aber wird sich nicht einstellen, denn wir wissen: das letzte Wort<br />

spricht Christus.<br />

Himmelfahrt Christi fällt in die österliche Freudenzeit, und es lohnt sich, noch einmal ganz<br />

bewusst einen Blick auf unsere Osterkerze zu werfen. Auch sie umgreift alle drei Zeitdimensionen:<br />

Sie erinnert uns an unsere eigene zurückliegende Taufe (Vergangenheit); sie brennt<br />

als Zeichen für unseren Status: Wir sind Erlöste (Gegenwart) und sie bildet ab, was vor uns<br />

liegt (Zukunft). Die aufgehende Sonne steht für die Wiederkunft Christi, für das absolut Neue,<br />

auf das wir uns freuen dürfen. Alles ist umgriffen von dem, der Anfang und Ende ist (A und<br />

O), von Christus. Wir sehen etwas vom „Morgenglanz der Ewigkeit.“<br />

Das ist zugleich Titel eines alten Liedes, das vor 350 Jahren getextet wurde. In unserem Gesangbuch<br />

finden wir es unter den Morgenliedern. Lesen und singen wir aber die weniger bekannten<br />

Strophen, sehen wir: es geht um viel mehr als um ein Begrüßen des morgendlichen<br />

Sonnenscheins. Damals, kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg, in einer Zeit größte Not, fand<br />

man Trost und Hoffnung im Ausblick auf die „Gnadensonne“.Das „Tränenfeld“, von dem das<br />

Lied spricht, wird jeder in seinem Leben individuell benennen können. Tausende von Tränenfeldern<br />

sehen wir um uns her; damals wie heute.<br />

Aber seid getrost, seid froh und voller Hoffnung. Denn: im Vorletzten leben wir zwar, aber wir<br />

glauben das Letzte.<br />

Amen.


Evangelisch-lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

in der<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am Sonntag Trinitatis<br />

Feier der goldenen Konfirmation<br />

11. Juni <strong>2006</strong><br />

Liebe Gemeinde!<br />

Die meisten von Ihnen sind gebürtige Hamburger, und wer in Hamburg groß geworden ist,<br />

der kennt auch den Hamburger Dom. Heute ist das Angebot dort geradezu unüberschaubar<br />

geworden, früher aber (zumindest in den Sechziger, als ich Kind war) waren es einige wenige<br />

Attraktionen, die den Charakter des Doms prägten. Dazu gehörte das Spiegellabyrinth.<br />

Ich erinnere mich noch sehr gut an meinen ersten Besuch darin. Nachdem ich mir mehrmals<br />

die Nase gestoßen hatte und meine verzerrten Spiegelbilder eher erschreckend als komisch<br />

empfunden hatte, brach ich in lautes Schluchzen aus und musste schließlich von Erwachsenen<br />

„gerettet“ werden. Mit Labyrinthen wollte ich seitdem nichts mehr zu tun haben.<br />

Das hat sich erst geändert, als mich viele Jahre später ein befreundeter Theologe aufgeklärt<br />

hat: Das Spiegellabyrinth verdient streng genommen seinen Namen gar nicht. Denn es ist


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 11.06.06<br />

gar kein Labyrinth, sondern ein Irrgarten. Da wird der Besucher ganz bewusst mit vielen<br />

Sackgassen und Fehlleitungen an der Nase herumgeführt. Ein Labyrinth hingegen ist nur auf<br />

den ersten Blick verwirrend. Schaut man genauer hin, erkennt man: Es hat nur einen Weg<br />

und der führt immer zum Ziel.<br />

Bestes Beispiel dafür sind die großen Labyrinthe, die in die Fußböden mittelalterlicher Kirchen<br />

eingelegt sind. Sie sind da aber keineswegs nur zur Zierde. Vielmehr beschreiben sie<br />

den Lebensweg des Menschen. So verschlungen wie ein Labyrinth ist der Lebensweg des<br />

Menschen: mal wähnt er sich seinem Ziel sehr nahe, im nächsten Moment weiß er sich weit<br />

davon entfernt. Und doch nähert er sich Schritt für Schritt der Mitte.<br />

Ein sehr gelungenes Beispiel ist das Labyrinth in Chartres. Sie finden es auf Ihrem Gottesdienstzettel.<br />

Es diente ganz praktischen Zwecken: Der Glaubende (oft waren es damals Pilger)<br />

bekam eine Kerze in die Hand und wurde aufgefordert, das Labyrinth zu betreten. Meditierend<br />

sollte er dann dem verschlungenen Weg folgen. Er sollte dabei über seinen Lebensweg<br />

nachdenken, zugleich aber den Weg in sein inneres Selbst finden. Ziel war die Mitte und<br />

das bedeutete: Erleuchtung, Erlösung; ja es bedeutete: Gott zu finden. Deshalb ist die Mitte<br />

im Labyrinth von Chartres als Blume gestaltet. Die heilige Blume, die heilige Mitte des Menschen<br />

wie der Welt (von Mikrokosmos wie Makrokosmos) ist Gott. Wer seine Mitte gefunden<br />

hatte, war am Ziel. Denn er hatte Gott gefunden.<br />

Ich denke mir, das ist ein gutes Symbol für einen Gottesdienst anlässlich einer goldenen<br />

Konfirmation. Vor fünfzig Jahren etwa sind Sie konfirmiert worden – eine schwierige Zeit, eine<br />

Zeit mit zwei Gesichtern sozusagen: zum einen geprägt von Optimismus (Wiederaufbau,<br />

Wirtschaftswunder), zum anderen aber auch von den Erinnerungen an den Krieg (geboren<br />

und aufgewachsen in den Kriegsjahren; nächtlicher Alarm, Bombenangriffe, Flucht und –<br />

noch lange nach dem Krieg – das Spielen zwischen Trümmern, der Hunger, die beengten<br />

Wohnverhältnisse – war man doch froh, überhaupt überlebt und ein Dach über dem Kopf zu<br />

haben; heute kann man sich gar nicht mehr vorstellen, wie viele Menschen in diesen kleinen<br />

Wohnungen hier gelebt haben).<br />

Die kirchliche Arbeit blühte und sie war wichtiger denn je. Gab es doch sonst kaum Angebote<br />

– vor allem kaum solche, die über den täglichen Überlebenskampf hinausgingen.<br />

In diesen Jahren sind Sie eingesegnet worden; viele von Ihnen nebenan im Gemeindesaal,<br />

der früheren Paul-Gerhardt Kapelle. Wissen Sie noch, was Ihnen dabei durch den Kopf<br />

ging? Waren Sie als Jugendliche eher die Optimisten, die nach vorne schauten oder zählten<br />

Sie zu denen, die traumatisiert von den Kriegseindrücken mehr litten, als zu hoffen wagten. -<br />

Es wird nachher drüben Gelegenheit sein, darüber zu sprechen.<br />

Dass Sie heute hier sind, zeigt mir aber, dass Sie Wesentliches vom Segen damals erfasst<br />

und erlebt haben. Es ist tatsächlich wie im Labyrinth: Man geht innerlich seinen Lebensweg<br />

ein zweites Mal. Und dabei erlebt man Zeiten, in denen man sich Gott ganz nahe weiß, aber<br />

auch solche, wo man schreien möchte: Gott wo bist du? Wie kannst du das zulassen? Zeige<br />

doch deine Macht – gegen Krieg und Not, gegen Krankheit und Zerstörung!<br />

Das allein macht aber kein Bewusstsein vom Segen aus; das wären dann nur zwei Waagschalen,<br />

die im besten Falle ausgeglichen (=auf einer Ebene) stünden. Ein drittes muss hinzukommen:<br />

Das Bewusstsein, Gott mit jedem Tag des Lebens ein Stück näher zu kommen;<br />

die Gewissheit, irgendwann die heilige Blume, die Gottesmitte zu finden. Das gilt auch, wenn<br />

der Weg dahin noch so beschwerlich ist. Es ist sicher kein Zufall, dass wir in der Grundform<br />

des Labyrinths in den schwarzen Steinen auch ein großes Kreuz erkennen. Tatsächlich, so<br />

ist es: solange wir leben, haben wir unser Kreuz zu tragen. Das aber ist identisch mit dem<br />

Kreuz Christi – und so führt es uns (auch ohne dass wir es merken) zur Mitte hin.<br />

Ihnen wird es auf Ihrem Lebensweg ähnlich dem Pilger im mittelalterlichen Labyrinth ergangen<br />

sein: oft haben Sie Ihre Mitte, Ihr Ziel, nur unsicher umkreist; oft wähnten Sie sich auf<br />

Abwegen, waren gezwungen, neue Richtungen einzuschlagen. Erst im Rückblick durften Sie<br />

erkennen: da war doch Gottes Führung im Spiel. Ich habe meinen Weg gefunden, bin meinem<br />

Ziel näher gekommen. „Gott schreibt auch auf krummen Linien gerade,“ sagt der<br />

Volksmund. Im Blick auf unser Labyrinth-Symbol bekommt das einen ganz neuen tiefen


Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 11.06.06<br />

Sinn. Der Psalmbeter drückt es biblisch aus: „Befiehl dem Herren deine Wege, er wird’s wohl<br />

machen.“ (Psalm 37,5)<br />

Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Schritt weitergehen: Der mittelalterliche Pilger begnügt<br />

sich nicht damit, die Mitte gefunden zu haben. Er wusste: so schön, so aufbauend es<br />

ist, ein Stück weit Erleuchtung und Erlösung zu haben, der Weg ist damit nicht zu ende. Wer<br />

die Heilige Gottesblume in der Mitte erreicht hatte, durfte sich stärken, musste dann aber<br />

weiter: zurück uns Leben, erneut auf den wechselvollen, verschlungenen Pfad.<br />

Ich wünsche mir sehr, dass Sie den Gottesdienst heute so erleben: als Zielpunkt einer längeren,<br />

verschlungenen Wegstrecke, an dem Sie einen Moment verharren und auftanken können.<br />

Sie werden hier Stärkung erfahren: durch die Gemeinschaft untereinander, durch das<br />

Gotteslob in der Musik, durch die Wortverkündigung, durch die erneute Einsegnung und<br />

nachher durch das Abendmahl. Das alles soll Ihnen Kraftquelle sein. Es soll sie stark machen<br />

für die Wegstrecke, die vor Ihnen liegt.<br />

Die Pilger damals hatten lange Zeit, auf dem Weg durch's Labyrinth ihr Leben zu meditieren<br />

(manche der alten Labyrinthe waren über einen Kilometer lang und manche Pilger haben<br />

diese Strecke nicht zu Fuß, sondern auf den Knien zurückgelegt). Viel Zeit also für eine<br />

gründliche Einkehr. Das aber war mehr als nur eine fromme Übung – etwa zum Buße tun.<br />

Man erhoffte sich durch die lange Meditation neue Sichtweisen, viele fanden sogar ein neues<br />

Selbstverständnis und formulierten ihr Lebensziel nach der Labyrinthbegehung anders als<br />

vorher.<br />

Das alles kann ein Gottesdienst natürlich nicht leisten (auch kein noch so festlicher). Aber<br />

vielleicht kann er Anstoß sein in diese Richtung. Auf alle Fälle dahingehend, dass er Gott<br />

wieder mehr in die Mitte unseres Denkens und Strebens rückt. Er ist es, der uns führt; er ist<br />

zugleich das Ziel unseres Weges. So mag auch das Teil eines neuen Selbstverständnisses<br />

sein, dass wir uns führen lassen und die Sorge um unseren Weg abgeben. Das meint der<br />

Psalmbeter mit seinem Vers: „Befiehl dem Herren deine Wege, er wird’s wohl machen.“<br />

Amen.


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

in der<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am 1. Sonntag nach Trinitatis<br />

18. Juni <strong>2006</strong><br />

Predigttext: Jeremia 23,16-29<br />

So spricht der HERR Zebaoth: Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch weissagen!<br />

Sie betrügen euch; denn sie verkünden euch Gesichte aus ihrem Herzen und nicht aus dem<br />

Mund des HERRN. Sie sagen denen, die des HERRN Wort verachten: Es wird euch wohlgehen<br />

-, und allen, die nach ihrem verstockten Herzen wandeln, sagen sie: Es wird kein Unheil<br />

über euch kommen. Aber wer hat im Rat des HERRN gestanden, dass er sein Wort gesehen<br />

und gehört hätte? Wer hat sein Wort vernommen und gehört? Siehe, es wird ein Wetter<br />

des HERRN kommen voll Grimm und ein schreckliches Ungewitter auf den Kopf der Gottlosen<br />

niedergehen. Und des HERRN Zorn wird nicht ablassen, bis er tue und ausrichte, was<br />

er im Sinn hat; zur letzten Zeit werdet ihr es klar erkennen. Ich sandte die Propheten nicht,<br />

und doch laufen sie; ich redete nicht zu ihnen, und doch weissagen sie. Denn wenn sie in<br />

meinem Rat gestanden hätten, so hätten sie meine Worte meinem Volk gepredigt, um es<br />

von seinem bösen Wandel und von seinem bösen Tun zu bekehren. Bin ich nur ein Gott, der<br />

nahe ist, spricht der HERR, und nicht auch ein Gott, der ferne ist? Meinst du, dass sich jemand<br />

so heimlich verbergen könne, dass ich ihn nicht sehe? spricht der HERR. Bin ich es<br />

nicht, der Himmel und Erde erfüllt? spricht der HERR. Ich höre es wohl, was die Propheten<br />

reden, die Lüge weissagen in meinem Namen und sprechen: Mir hat geträumt, mir hat geträumt.<br />

Wann wollen doch die Propheten aufhören, die Lüge weissagen und ihres Herzens<br />

Trug weissagen und wollen, dass mein Volk meinen Namen vergesse über ihren Träumen,<br />

die einer dem andern erzählt, wie auch ihre Väter meinen Namen vergaßen über dem Baal?<br />

Ein Prophet, der Träume hat, der erzähle Träume; wer aber mein Wort hat, der predige mein<br />

Wort recht. Wie reimen sich Stroh und Weizen zusammen? spricht der HERR. Ist mein Wort<br />

nicht wie ein Feuer, spricht der HERR, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?<br />

Liebe Gemeinde!<br />

Gibt es heute noch Propheten? – Ich denke, wer in den alten Prophetenbüchern liest, wird<br />

sich diese Frage sehr bald stellen. Vor allem heute bei diesem Jeremiatext stellt sich die<br />

Frage mit Nachdruck, geht es hier doch um die Unterscheidung von wahren und falschen<br />

Propheten.<br />

Gibt es heute noch Propheten? – Das ist keine Frage, die sich schnell und eindeutig beantworten<br />

lässt. Zu unterschiedlich sind allein die Zeitverhältnisse. Wie sollte man die politischen<br />

Verhältnisse zur Zeit des Königs Zedekia, als Jeremia lebte, vergleichen mit den Verhältnissen<br />

unserer neuzeitlichen Demokratie?! Zur Zeit des Königs Zedekia gab es die Propheten<br />

als feste politische Institution. Der König selbst hielt sich festangestellte Propheten<br />

am Hof. Offiziell war es ihre Aufgabe, den König in außenpolitischen Frage zu beraten. De<br />

facto sah es etwas anders aus: Sie hatten das als gut und richtig, als „heilbringend“ abzusegnen,<br />

was der König beschlossen hatte. Vor allem mussten sie das Volk ruhighalten – dadurch,<br />

dass sie immer wieder erklärten, dass des Königs Politik ganz und gar mit Gottes Willen<br />

übereinstimme.<br />

Da gab es nur ein Problem: neben den linientreuen Staatspropheten gab es noch andere,<br />

sozusagen „freischaffende“ Propheten wie Jeremia. Sie waren bei niemandem angestellt,<br />

bekamen kein Gehalt und sahen gerade in ihrer Bindungslosigkeit eine wichtige Vorausset-


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 19.06.06<br />

zung, ihrem Auftrag gerecht zu werden. Diesen Auftrag erhielten sie allein von Gott. Meist<br />

war es ein unbequemer Auftrag: Worte waren zu sagen, die niemand hören wollte (Warnungen,<br />

Drohungen, Ankündigungen von Katastrophen, von Unheil und Strafe).<br />

Keine Frage – es musste zwangsläufig zu Konkurrenzsituationen kommen zwischen den<br />

Heilspropheten am Königshof und den Unheilspropheten draußen im Land. Die königlichen<br />

Heilspropheten hatten die politische Macht auf ihrer Seite, und die nutzten sie. Unliebsame<br />

Konkurrenten wurden gnadenlos verfolgt, viele gar getötet. Da spielte es keine Rolle, dass<br />

die Unheilspropheten letztlich Recht behielten. Entscheidend war, dass sie durch das unbequeme<br />

Gotteswort die öffentliche Ruhe störten, und das musste unter allen Umständen unterbunden<br />

werden.<br />

In unserem Bibeltext heute Morgen kommt sozusagen mal die unterlegene Seite zu Wort.<br />

Jeremia war zwar vom König angehört worden, der aber hatte schließlich doch ganz auf seine<br />

beamteten Propheten gesetzt. Ein folgenschwerer Entschluss, wie sich später herausstellte,<br />

Israel wurde im Kampf der Großmächte Babel und Ägypten aufgerieben.<br />

Jeremia ist wütend. Er sieht diese Entwicklung voraus und doch kann er nichts tun. So macht<br />

er hier seiner Ohnmacht Luft. Er schreit seinen Ärger über die Heilspropheten heraus. „Falsche<br />

Propheten“ sind es für ihn, denn sie reden nicht in Gottes Auftrag, sehen sich selbst im<br />

Mittelpunkt; die eigenen wünsche und Bedürfnisse geben den Ausschlag. Berufen tun sie<br />

sich dabei auf das, was sie geträumt haben. – Das war die Situation damals. Ein Konflikt, der<br />

lange zurückliegt und mit keiner politischen Auseinandersetzung heute zu vergleichen ist.<br />

Und doch gibt es Parallelen! Ungebrochen ist der Wunsch der Menschen, einen Blick in die<br />

Zukunft zu tun; Entwicklungen soweit abzusehen, dass sie in den Griff zu bekommen sind.<br />

Das Angebot selbsternannter Wahrsager, Heiler und Astrologen ist groß wie nie.<br />

Und ungebrochen ist dabei auch die Einäugigkeit ihrer Kunden: Die Tendenz der Menschen,<br />

nur das hören und sehen zu wollen, was Gutes verheißt und Heil bringt. Kritische Töne oder<br />

gar die Warnung vor Fehlentwicklungen werden überhört, denn sie sind unbequem. Würde<br />

man sie ernstnehmen, hieße das ja, sich ändern zu müssen. Je schlechter die Zeiten, desto<br />

goldener der Boden für die Werbung. Begierig wird aufgenommen, was ein Stückchen Paradies<br />

verspricht. Welcher Preis dafür zu zahlen ist, will keiner hören. Dem, der die goldene<br />

Zukunft „prophezeit“ (sei es religiös, politisch oder einfach durch Konsum), strömen die Massen<br />

zu.<br />

Viele sind durch die Erfahrungen der letzten Jahre und Jahrzehnte misstrauisch geworden.<br />

Es ist eine merkwürdige Mischung bei uns: Eigentlich glauben wir solch platter Heilsprophetie<br />

längst nicht mehr – und doch lassen wir uns nur allzu gern in der falschen Sicherheit wiegen,<br />

die sie verspricht. Wir wissen, dass die Probleme unserer Zeit (politische wie persönliche)<br />

nicht mit einfachen Formeln zu lösen sind – und doch strömen wir gerade denen zu, die<br />

genau das versprechen. Jeremia ist an diesem Punkt konsequenter: Ganz radikal spricht er<br />

den falschen Heilspropheten das Recht ab, ihre Botschaft zu sagen. Und ebenso konsequent<br />

verurteilt er das Volk, das sich auf solche Sprüche blind verlässt.<br />

Aber das ist nicht alles. Kritik ist nur wenig hilfreich, wenn sie nur kritisiert. Jeremia will mehr:<br />

Er will, dass seine Hörer (damals wie heute) lernen, zwischen wahren und falschen Propheten<br />

zu unterscheiden. Deshalb formuliert er Kriterien, an denen sich jedes prophetische Wort<br />

messen lassen muss.<br />

Der falsche Prophet „betrügt“ den Hörer (so steht es in der Übersetzung Martin Luthers in<br />

Vers 16). Nimmt man den hebräischen Text wörtlich, so steht da nicht „betrügen“, sondern<br />

„einnebeln“ – ein treffender Ausdruck für das, was mit dem Hörer geschieht: Wer einmal benebelt<br />

ist, kann Sinne und Verstand nicht mehr recht gebrauchen. Wie im Rausch erliegt er<br />

Sinnestäuschungen.<br />

Der wahre Prophet dagegen handelt und spricht in Gottes Auftrag. Seine Botschaft ist unbequem<br />

aber notwendig. Sie öffnet dem Hörer die Augen, vertreibt Nebel und Rausch. Das ist<br />

oft genug ein schmerzhafter Prozess, weil es mit Änderungen des eigenen Verhaltens verbunden<br />

ist.


Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 19.06.06<br />

Aber genau das gehört für Jeremia zur echten Prophetie dazu: ein Stück weit ist sie immer<br />

auch Buß- und Bekehrungspredigt. Sie muss zur Umkehr auffordern, muss zeigen, wo eingeschliffene<br />

Verhaltensweisen unbedingt aufgegeben werden müssen.<br />

An diesem Punkt führt das Wort weiter, das Sie für Celina als Taufspruch ausgesucht haben<br />

(es steht in den Sprüchen Salomos Kapitel 2 Vers10):<br />

„Weisheit wird in dein Herz eingehen und Erkenntnis wird deiner Seele lieblich sein.<br />

Besonnenheit wird dich bewahren und Einsicht dich behüten.“<br />

Große Worte, hier als Wunsch formuliert! Weisheit und Erkenntnis, Besonnenheit und Einsicht<br />

– das sind zugleich Werte, die unser erwachsenes Leben bestimmen sollen; Gegenwerte<br />

zu dem, was uns betrügerisch einnebeln will. Wer um Weisheit ringt und besonnen<br />

prüft, was ihm Heilspropheten versprechen, der wird seinen Weg mit Gott finden. Was für<br />

uns gilt, gilt erst recht für die nachfolgende Generation (also auch für Celina). Es ist ja alles<br />

andere als ein leichtes Erbe, was sie antreten. Sozialpolitisch wie weltpolitisch müssen sie<br />

Jeremias Weg finden: Über die Umkehr, über Einsicht und Besonnenheit zu Weisheit und<br />

neuer Erkenntnis.<br />

Da, wo das gelingt, findet sich eine überraschende Antwort auf unsere Eingangsfrage (Gibt<br />

es heute noch Propheten?). Kein geringer als Martin Luther gibt sie:<br />

„Welche nun an Christus glauben, die sind alle Propheten, denn sie haben das, was Propheten<br />

haben sollen... Denn durch den einen Glauben sind wir alle Christi Brüder, sind Könige<br />

und Priester und dazu auch alle Propheten. Denn wir können alle sagen, was zur Seligkeit,<br />

was zu Gottes Ehre und zum christlichen Glauben dazugehört. Dazu auch von den zukünftigen<br />

Dingen (so viel es nottut, davon zu wissen): dass der jüngste Tag kommt und wir von<br />

den Toten auferstehen werden“.<br />

Es gibt also heute noch Propheten! Wir selbst sind es, als Christen. Dabei spielt es gar keine<br />

Rolle, ob wir viel „prophezeien“ (also vorhersagen) können. Entscheidend ist ein anderes:<br />

dass wir wissen und bewahren, was zum christlichen Glauben dazugehört. Das klingt nur im<br />

ersten Moment banal. Wer es ernst nimmt und lebt, wird merken: in der Praxis ist das tatsächlich<br />

ein unbequemes Prophetenamt. Unangenehme Wahrheiten zu sagen, die keiner<br />

hören will; besonnen zu prüfen, wo andere den Rausch der Begeisterung genießen; weise<br />

nach Erkenntnis zu suchen, wo andere sich in fertigen Lösungen eingerichtet haben... das<br />

macht einsam, das ist manchmal schwer auszuhalten. Aber genau solche brauchen wir,<br />

wenn wir Zukunft haben wollen: Mutige Christen, die das Amt des Jeremia antreten, so wie<br />

Luther es beschreibt.<br />

Amen.


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

in der<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am 3. Sonntag nach Trinitatis<br />

02. Juli <strong>2006</strong><br />

Predigttext: 1. Johannesbrief 1,5-2,6<br />

Das ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben und euch verkündigen: Gott ist Licht, und<br />

in ihm ist keine Finsternis. Wenn wir sagen, dass wir Gemeinschaft mit ihm haben, und wandeln<br />

in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit. Wenn wir aber im Licht wandeln,<br />

wie er im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft untereinander, und das Blut Jesu, seines<br />

Sohnes, macht uns rein von aller Sünde. Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen<br />

wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir aber unsre Sünden bekennen,<br />

so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit.<br />

Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und<br />

sein Wort ist nicht in uns. Meine Kinder, dies schreibe ich euch, damit ihr nicht sündigt. Und<br />

wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus, der<br />

gerecht ist. Und er ist die Versöhnung für unsre Sünden, nicht allein aber für die unseren,<br />

sondern auch für die der ganzen Welt. Und daran merken wir, dass wir ihn kennen, wenn wir<br />

seine Gebote halten. Wer sagt: Ich kenne ihn, und hält seine Gebote nicht, der ist ein Lügner,<br />

und in dem ist die Wahrheit nicht. Wer aber sein Wort hält, in dem ist wahrlich die Liebe<br />

Gottes vollkommen. Daran erkennen wir, dass wir in ihm sind. Wer sagt, dass er in ihm<br />

bleibt, der soll auch leben, wie er gelebt hat.<br />

Liebe Gemeinde!<br />

Vielleicht erinnern sie sich noch: sechs oder sieben Jahre ist es her, da durften wir ein seltenes<br />

kosmisches Ereignis erleben, eine Sonnenfinsternis. Schon lange davor gab es viel Aufregung.<br />

Weltweite Katastrophen wurden vorhergesagt, manche sprachen gar vom Untergang<br />

der Welt. Aber auch all jene, die sich nicht an solcher Hysterie beteiligten, wurden nach<br />

und nach angesteckt von der neugierigen Erwartung überall. Gläser wurden geschwärzt,<br />

Termine verlegt, ein besonderer Platz ausgesucht; keiner wollte sich das Naturschauspiel<br />

entgehen lassen.<br />

Ich kann mich noch sehr gut erinnern. Bis zuletzt hatte ich mich gewehrt gegen die allgemeine<br />

Aufregung. Als es dann aber so weit war, erfasste es mich auch. Das war schon ein<br />

merkwürdiges Gefühl, als es mitten am Tag plötzlich dunkler und dunkler wurde; nicht ganz<br />

dunkel, eher wie in ein fahles Licht getaucht. Langsam aber spürbar schob sich da etwas<br />

zwischen das Licht und die Wärme der Sonne und uns. Man muss nicht gleich an den Weltuntergang<br />

glauben, um in so einem Moment ein Gefühl zu bekommen für die Bedeutung der<br />

Sonne. Das fahle Licht hatte etwas Bedrückendes, Unheimliches, etwas Totes. Es ließ einen<br />

spüren: Ohne die Licht- und Wärmeeinstrahlung der Sonne wäre kein Leben auf der Erde.<br />

Zwischen die Sonne und uns darf sich nichts dauerhaft schieben.<br />

Zwischen uns und Gott auch nicht. Es ist, als habe der Verfasser des Johannesbriefes selbst<br />

eine Sonnenfinsternis miterlebt, denn seine Bilder knüpfen direkt an diesen Erfahrungen an.<br />

Gott – das ist für ihn Licht, belebendes, wärmendes Licht und zugleich erhellendes Licht:<br />

Wahrheit. Er weiß: genau das brauchen wir zum Leben.<br />

Aber er sieht auch die Realität: Tatsächlich ist es so, dass sich jeden Tag wieder etwas zwischen<br />

uns und Gott schiebt. Das Leben, das wir so nötig zum Leben brauchen, wird fahl –


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 02.07.06<br />

und das durch unsere eigene Schuld. Halbwahrheiten, Unwahrheiten, Verletzungen durch<br />

unbedachte Äußerungen, all das verdunkelt unser Leben und macht unsere Gemeinschaft<br />

krank. Das Schlimmste dabei (und das ist das, was die Bibel eigentlich mit „Sünde“ meint):<br />

Dass Gott nicht mehr die entscheidende Rolle in unserem Leben spielt, bei manchen sogar<br />

gar keine Rolle mehr. Wenn wir nicht mehr nach ihm und seinem Willen fragen, wenn wir uns<br />

nicht auf ihn besinnen, trennen wir uns von ihm. Wir lassen zu, dass sich etwas zwischen<br />

Gott und uns schiebt. Das Ergebnis ist dann zwar keine Sonnenfinsternis, aber es ist so etwas<br />

wie eine Gottesfinsternis. Die Trennung von Gott verdunkelt das Licht, das von ihm her<br />

auf mich fällt. Ich bin in fahles Licht getaucht; ich bin im Finstern unterwegs.<br />

Ich glaube, den meisten Menschen unserer Tage ist dieser Zusammenhang gar nicht bewusst.<br />

Viele haben sich schon allzu sehr eingerichtet in ihrem Halbdunkel und halten das für<br />

den normalen Zustand. Und doch ist zugleich das Gefühl für eine Sehnsucht nach etwas anderem<br />

da.<br />

Mir fällt auf, in welchem Zusammenhang heute vom Licht die Rede ist. Ganz viel davon bezieht<br />

sich auf den religiösen Raum. Da gibt es medizinische und spirituelle Angebote, sogenannte<br />

„Lichttherapien“. Das Wort „Therapie“ lässt tief blicken. Die Anbieter haben es erkannt:<br />

Hier geht es um einen Mangel, der krank macht. Das ist ein Leiden der Zeit. Damit<br />

lässt sich Kasse machen. Andere Angebote vom Esoterik-Markt bestätigen das: „Lichtkreise“<br />

und „Lichtpyramiden“ werden angeboten und tatsächlich sind es nicht wenige, die dem zuströmen<br />

und bereit sind, viel Geld dafür auszugeben.<br />

Aber die Sehnsucht nach Licht findet sich nicht nur im religiösen Bereich, sondern ebenso in<br />

ganz weltlichen Zusammenhängen. Es genügt, allein die tagespolitischen Meldungen daraufhin<br />

abzuhören, etwa die Diskussion um die Gesundheitsreform. Mehrfach mittlerweile hat<br />

die Kanzlerin versichert, „Licht am Ende des Tunnels“ zu sehen. Wer dem Glauben schenkt,<br />

soll aufatmen, soll Ruhe finden. Denn „Licht“ steht auch in diesem Zusammenhang für Klarheit<br />

und Wahrheit; für Helligkeit, die Leben erst möglich macht.<br />

Gibt es einen Weg dahin? Wie lässt sich der Weg zum lebenspendenden Licht finden? Der<br />

Johannesbrief antwortet darauf mit einem Wort, das uns die Sache nicht leichter macht. Auf<br />

der Seite von Dunkelheit und Sünde spricht der Johannesbrief von „Schuld“. Für den, der<br />

zurück zum Licht will, gibt es keinen anderen Weg als den, die eigene Schuld zu sehen, sie<br />

einzugestehen und sie sich vergeben zu lassen. Das hört sich so leicht an. Ich denke aber,<br />

dass gerade unsere Zeit heute damit immense Schwierigkeiten hat. Von Schuld und Sünde<br />

mag keiner mehr reden. Das sind überholte moralische Begriffe, selbst in der Pädagogik und<br />

Psychologie kaum noch zu finden. Da hat sich – fast unmerklich – etwas verschoben, und<br />

nur der merkt es, der genau hinhört. Achten Sie mal darauf: Heute wird nicht mehr von<br />

„Schuld“ gesprochen, sondern von „Schuldgefühlen“. Das ist schon ein Unterschied! Bloße<br />

Gefühle geben beileibe nicht das wieder, was tatsächlich existiert. Entsprechend ist dann<br />

auch nicht von Vergebung die Rede. Vielmehr davon, dass solche Gefühle von der Umwelt<br />

„übertragen“ oder gar aufgenötigt worden seien; nun müssen sie „bearbeitet“ oder „aufgearbeitet“<br />

werden. „Ich bin Schuld“ – das gilt in der Regel als ein unzutreffender Satz; wenn ü-<br />

berhaupt, sind es andere („die Gesellschaft“, „der Zeitgeist“, oft genug auch „die Kirche“),<br />

jedenfalls nicht ich persönlich.<br />

Ein kluger Mann hat geschrieben: „Gott ist Licht. Wir dagegen bewegen uns sehr oft im Zwielicht.<br />

Bei uns besteht Verdunkelungsgefahr“. Ich denke, damit hat er Recht. Da, wo wir statt<br />

von Schuld nur noch von Schuldgefühlen sprechen, verdunkeln wir die tatsächlichen Verhältnisse.<br />

Zugleich machen wir uns den Weg zum Licht unendlich schwer. Wer dahin will,<br />

muss auch die dunkelsten Anteile „ans Licht bringen“ lassen. Deshalb ist es gut, wenn wir<br />

das Sündenbekenntnis, das am ersten Sonntag im Monat am Anfang unseres Gottesdienstes<br />

steht, nicht nur als regelmäßige fromme Übung verstehen. Das ist schon ein besonderer<br />

Akt! Es stellt mich direkt vor Gott. In dem Moment, wo ich Gott gleichsam „Auge in Auge“ gegenübertrete<br />

und meine Sünden als mein eigen es Tun bekenne, trete ich in das Licht der<br />

Wahrheit. Das ist das Besondere bei diesen Johannesversen. Er beschreibt das Sündenbekenntnis<br />

als ungeheuren Befreiungsschlag: mit einem Schritt vom Dunkel ins Licht; mit einem<br />

Schritt ins Leben.


Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 02.07.06<br />

Manchmal schaffen wir das nicht alleine. Wir brauchen Hilfe. Sie, liebes Ehepaar W., haben<br />

für Ihre Lia zwei Verse aus dem 91. Psalm als Taufspruch ausgesucht:: „Gott hat seinen Engeln<br />

befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen; dass sie dich auf Händen tragen<br />

und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.“<br />

Hier geht es natürlich um den klassischen Schutzengel. Das ist Ihr Wunsch für Lia: Dass<br />

Gottes Hilfe für sie da ist – möglichst immer, in jeder Situation. Vor allem den gefährlichen<br />

(das bedeutet „an einen Stein stoßen“). Aber die Aufgabe so eines Schutzengels geht ja weiter.<br />

Er ist nicht nur in den gefährlichen Situationen wichtig, sondern auch in den schwierigen.<br />

Dann etwa, wenn wir an Kreuzungen auf unserem Lebensweg angekommen sind, wenn wir<br />

(manchmal sehr plötzlich) vor wichtigen Entscheidungen stehen. Wie sehr wünschen wir uns<br />

dann einen, der uns an der Hand nimmt und sagt: „Da geht’s lang! Das ist der richtige Weg<br />

für dich.“<br />

Die Bibel, vor allem das Alte Testament, gibt da einen wertvollen Hinweis. Sie sagt: Gottes<br />

Engel brauchen keine Flügel. Mit anderen Worten: Sie begegnen dir meist wie ganz normale<br />

Menschen. Kein überirdisches Leuchten, kein Flügelschlagen, keine himmlische Begleitmusik...<br />

(wer auf derartige Erscheinungen wartet, muss lange und vergeblich warten). Nein, ein<br />

Mensch wie du und ich ist einfach zur rechten Zeit am rechten Ort. Er gibt dir die Hilfe, das<br />

rechte Wort, das du gerade brauchst. Von solchen Erfahrungen ist im alten Testament die<br />

Rede – sehr oft sogar, damit wir durch solche Berichte lernen, offen zu sein für Engel und<br />

ihre Hilfe in unserem Leben. Manchmal sind wir so „vernagelt“, so absolut verschlossen,<br />

dass wir das Licht nicht sehen, selbst wenn es direkt vor unserer Nase ist. Dann brauchen<br />

wir einen Engel, der uns darauf stößt. Vielleicht wird es auch mal einer sein, der uns ermuntert,<br />

eine Schuld einzugestehen und so den Weg freizumachen für einen Neuanfang in einer<br />

guten, lebendigen Gemeinschaft.<br />

Wir merken schon: Die Bibel weiß viel mehr von Engeln als das, was wir gemeinhin unter<br />

Schutzengeln verstehen. Und wir wollen Ihrer Lia heute wünschen, dass sie Gottes guten<br />

Segen in seiner ganzen lebendigen Vielfalt kennen lernt. Liebende Menschen, helfende<br />

Menschen, weise Menschen... Eltern, Verwandte, Freunde – und immer wieder überraschende,<br />

segensreiche Begleiter.<br />

Amen.


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

in der<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am 7. Sonntag nach Trinitatis<br />

30. Juli <strong>2006</strong><br />

Predigttext: Philipper 2,1-4<br />

Ist nun bei euch Ermahnung in Christus, ist Trost der Liebe, ist Gemeinschaft des Geistes, ist<br />

herzliche Liebe und Barmherzigkeit, so macht meine Freude dadurch vollkommen, dass ihr<br />

eines Sinnes seid, gleiche Liebe habt, einmütig und einträchtig seid. Tut nichts aus Eigennutz<br />

oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte einer den andern höher als sich<br />

selbst, und ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient.<br />

Liebe Gemeinde!<br />

Briefe sind für Inhaftierte etwas ganz Besonderes – und zwar nicht nur Briefe, die sie bekommen,<br />

sondern ebenso sehr Briefe, die sie selbst schreiben. Sie geben den Gefangenen<br />

Gelegenheit, sich mitzuteilen, über Sorgen und Ängste zu sprechen und auch über Gefühle,<br />

die im Gespräch zu äußern ihnen schwerfällt (über Reue etwa oder auch über Liebe). eines<br />

aber ist sicher ausgesprochen selten: dass einer aus dem Gefängnis über seine Freude<br />

schreibt und zwar so ausführlich und begeistert, dass sein Brief als „Freudenbrief“ in die Geschichte<br />

eingegangen ist.<br />

Den haben wir heute vor uns. Vier Verse haben wir daraus gehört. Paulus schreibt an seine<br />

Gemeinde in Philippi. In immer neuen Worten und Wendungen bringt er seine Freude über<br />

die Gemeinde zum Ausdruck, die er selbst auf seiner zweiten Missionsreise (etwa im Jahr<br />

50) gegründet hat. Das ist nicht leicht nachzuvollziehen. Dass die Gemeinde so vorbildlich<br />

lebt, dass es ein Grund zur Freude ist, mag ja sein, aber dass diese Freude für Paulus in<br />

seiner notvollen Situation alles andere in den Schatten stellt, das ist schwer nachzuvollziehen.<br />

Klage hätte man erwartet, Bitte um Hilfe, vielleicht eine Art letzte Verfügung... Denn<br />

Paulus sitzt im Gefängnis in Ephesus. Grund dafür ist seine engagierte Missionsarbeit. Kein<br />

schweres Verbrechen nach heutigem Maßstab. Anders damals: Erregung öffentlichen Aufruhrs<br />

wird ihm vorgeworfen. Ein beschwerlicher Gefangenentransport nach Rom steht ihm<br />

bevor. Dort soll ihm der Prozess gemacht werden, ein Prozess mit ungewissem Ausgang.<br />

Paulus muss sogar damit rechnen, zum Tode verurteilt zu werden.<br />

Wer könnte in dieser Situation einen „Freudenbrief“ zu Papier bringen?! Paulus kann es. Es<br />

gibt ihm Kraft, an seine Gemeide in Philippi zu denken. Er liebt die Menschen dort und er<br />

freut sich, weil diese Menschen es schaffen, seinem Traum von einer christlichen Gemeinde<br />

so weitgehend zu entsprechen. „Herzliche Liebe“, „Gemeinschaft des Geistes“, Barmherzigkeit<br />

findet er dort im Gemeindeleben, ein guter Boden für Einmütigkeit, Demut und Nächstenliebe.<br />

Er will die Gemeinde stärken mit seinen Worten, merkt wohl aber auch, dass es ihm<br />

selbst Kraft gibt, sich der Gemeinde so mitzuteilen. Es ist eine Art Rückblick, ein Bilanzziehen.<br />

Immerhin hier, darf sich Paulus sagen, ist es gelungen, ein ganzes Stück weit das lebendig<br />

werden zulassen, was Jesus verkündigt hat. Zweitrangig, was mit mir selbst geschieht,<br />

die Sache Jesu geht weiter, ein wichtiges Lebensziel ist erreicht.<br />

Wagen wir den Sprung in unsere Zeit. Können wir einstimmen in die Freude des Paulus? Ist<br />

das, was Jesus wollte, bei uns verwirklicht? – Sicher nicht in vollem Maße, schon gar nicht<br />

weltweit, aber doch wenigstens so, dass wir sagen können: es gibt eine Art christlichen<br />

Common Sense, eine Übereinstimmung im Blick auf die wichtigsten christlichen Werte?


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 30.07.06<br />

Ich habe daran erhebliche Zweifel. Lassen sie mich dazu zwei Beispiele anführen, Einzelfälle<br />

sicherlich und doch halte ich sie für sypmptomatisch. Erstens: ein Kurort, Fußgängerzone am<br />

Sonntagnachmittag. Eine Patientin eines Rehazentrums einer orthopädischen Klinik ist unterwegs<br />

– sie geht an zwei Krücken. Als sie vor einem Schaufenster steht, bemerkt sie, dass<br />

der Schnürsenkel eines Schuhs sich gelöst hat. Sie darf auf keinen Fall stürzen, sieht aber<br />

keine Bank oder eine andere Möglichkeit, den Schnürsenkel zu binden. Deshalb hält sie eine<br />

andere Passantin an und bittet sie, den Schnürsenkel zuzubinden. „Ich selber kann es nicht<br />

und habe Angst zu fallen“, sagt sie. Die angesprochene lächelt sie an und erwidert: „Verstehen<br />

Sie mich bitte nicht falsch, aber – nein, das geht nicht. Man könnte ja meinen, wir gehören<br />

zusammen“, dreht sich um und geht weiter.<br />

Zweitens: Ein <strong>Pastor</strong> aus Nordfriesland, einer ländlichen Gemeinde, erzählt aus seinem Religionsunterricht<br />

in der Realschule. Er behandelt die Bergpredigt, darunter das Jesus-Wort:<br />

„Wenn dich einer auf deine rechte Wange schlägt, so biete ihm auch die andere dar.“ Er behandelt<br />

das Thema so, dass er die rhetorische Frage stellt, wer bereit wäre, nach vorne zu<br />

kommen und ihn, den <strong>Pastor</strong> ins Gesicht zu schlagen. Gegen seine Erwartung meldet sich<br />

tatsächlich ein Schüler. Er schlägt den <strong>Pastor</strong> nicht nur auf die rechte Wange, sondern –<br />

nach Verlesung des Bibelwortes – auch auf die linke. Und das nicht nur einmal, sondern eineinhalb<br />

Minuten lang – (und wohl noch länger, hätte der <strong>Pastor</strong> dem nicht Einhalt geboten).<br />

Kein Einschreiten, nicht einmal Protest aus der Klasse, vielmehr die allgemeine Überzeugung,<br />

der <strong>Pastor</strong> habe ja selbst Schuld, habe er doch das Verhalten des Schülers selbst provoziert.<br />

Zwei aktuelle Beispiel aus jüngster Zeit (tatsächlich so geschehen, nicht konstruiert). Ich bin<br />

sicher: Sie sind über jedes einzelne ebenso entsetzt wie ich. Ich will sie nicht überbewerten,<br />

muss sie dennoch aber ernst nehmen – als Symptome einer Lieblosigkeit und Unbarmherzigkeit,<br />

die uns immer öfter begegnet. Lange schon reden wir nicht mehr von einer „christlichen<br />

Gesellschaft“ bei uns, aber können wir überhaupt noch von einer „christlich geprägten“<br />

Gesellschaft reden?! Können wir überhaupt noch ein Mindestmaß an christlichen Wertvorstellungen<br />

voraussetzen?<br />

Es hilft mir, wenn ich sehe, dass Paulus seinen Brief an eine christliche Gemeinde richtet. Er<br />

sieht einen deutlichen Unterschied im Leben der Gemeinde zum Leben der römischen Gesellschaft<br />

um sie herum. Tatsächlich sind es unterschiedliche Werte, die hier und dort gelebt<br />

werden. Und wenn ich mich umschaue, muss ich sagen: Diese Unterscheidung müssen wir<br />

(so traurig es ist) wohl mittlerweile auch wieder treffen. Wir sind verständlicherweise traurig<br />

darüber, dass wir weniger werden in den christlichen Gemeinden. Aber wir müssen und dürfen<br />

auch das andere sehen: Dass es in den Gemeinden unsichtbare Netze eines gelebten<br />

Glaubens gibt, Netze, die Menschen tragen und auffangen. Dort, wo Menschen andere in<br />

stiller Selbstverständlichkeit besuchen, helfen, wo es nötig ist, miteinander sprechen, miteinander<br />

beten vielleicht. Netze in den einzelnen Gemeinden, aber auch darüber hinaus: in der<br />

Stadt beziehungsweise der Region (Diakonie), weltweit („Brot für die Welt“). Überall dort, wo<br />

Menschen der Sache Jesu treu bleiben, wo sie ihm nachfolgen, einfach indem sie den Menschen<br />

treu bleiben, für die er sein Leben eingesetzt hat.<br />

Der Sache Jesu treu zu bleiben, das kann auch heißen: sich selbst treu sein und zu dem<br />

stehen, was man als wahr und richtig erkannt hat (selbst dann – oder besser: gerade dann! –<br />

wenn um einen herum diese Werte nach und nach verloren gehen).<br />

Paulus hat hier ein besonderes Wort für diese Haltung (ein Wort, das in unserer Sprache fast<br />

in Vergessenheit geraten ist): Er spricht von „Demut“. Das Wort kommt kaum noch vor –<br />

wohl auch, weil es den Geruch von Schwäche, von Angepasstheit, von ängstlichem Wegducken<br />

enthält. Doch christliche Demut will auf gar keinen Fall, dass jemand gedemütigt wird.<br />

Gemeint ist viel mehr der Mut, sich selbst und die eigenen Ansprüche ein Stück weit zurückzunehmen,<br />

um anderen eine bessere Chance zur Entfaltung zu geben. Es ist der Mut, nicht<br />

so sehr auf sich und die eigene Kraft zu vertrauen, sondern anzuerkennen, dass ohne Gottes<br />

Beistand nichts gelingen kann. Es ist der Mut, aus freiem Antrieb und eigener Entscheidung<br />

etwas von sich selbst für andere zu opfern – Zeit, Engagement, Liebe. Kurz: Es ist der<br />

Mut, das Du größer zu schreiben als das Ich.


Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 30.07.06<br />

Dort, wo das gelingt, dürfen wir Hoffnung haben – nicht nur für uns selbst als christliche Gemeinde,<br />

sondern auch für unser Umfeld: Dass etwas ausstrahlt vom gelebten Glauben und<br />

sich Jesu Werte so wieder durchsetzen gegen die Kälte und Unbarmherzigkeit unserer Zeit.<br />

Amen.


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

in der<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am 8. Sonntag nach Trinitatis<br />

06. August <strong>2006</strong><br />

Predigttext: 1. Korinther 6, 9-12.14-18<br />

Oder wisst ihr nicht, dass die Ungerechten das Reich Gottes nicht ererben werden? Lasst<br />

euch nicht irreführen! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, Ehebrecher, Lustknaben, Knabenschänder,<br />

Diebe, Geizige, Trunkenbolde, Lästerer oder Räuber werden das Reich Gottes<br />

ererben. Und solche sind einige von euch gewesen. Aber ihr seid reingewaschen, ihr seid<br />

geheiligt, ihr seid gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch<br />

den Geist unseres Gottes. Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir<br />

erlaubt, aber es soll mich nichts gefangennehmen. Flieht die Hurerei! Alle Sünden, die der<br />

Mensch tut, bleiben außerhalb des Leibes; wer aber Hurerei treibt, der sündigt am eigenen<br />

Leibe. Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist, der in euch ist<br />

und den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört? Denn ihr seid teuer erkauft;<br />

darum preist Gott mit eurem Leibe.<br />

Liebe Gemeinde!<br />

Ich kann die Empörung, die Proteste förmlich hören: „Da haben wir's mal wieder! Das ist<br />

doch die altbekannte Sache! Typisch Kirche! Da wird mal wieder das moralische Schwert<br />

geschwungen und alles auf einmal niedergemäht – Unzucht, körperliche Liebe, Alkohol, Lästerei...<br />

Bald jeder bekommt sein Fett weg. Geknickt, mit schlechtem Gewissen stehen wir da.<br />

Gesenkten Hauptes gehen wir. Wir wissen doch selbst, wie schwach wir sind. Hat Paulus,<br />

hat die Kirche nicht mehr zu bieten?!“<br />

Ich kann diese Proteste gut verstehen. Was Paulus hier an die Korinther schreibt, klingt sehr<br />

moralisch und nach der frohen Botschaft darin muss man schon etwas suchen. Vor allem<br />

aber muss man sehen: Diese Bibelverse sind in der Kirchengeschichte immer wieder missbraucht<br />

worden.<br />

Paulus hatte die Korinther mahnen und warnen wollen vor einer schlimmen Fehlentwicklung.<br />

In der Hafenstadt Korinth ging es hoch her: Da gab es Prostitution (sogar in den Tempeln),<br />

es wurden Nächte durchgefeiert, wobei der Alkohol in Strömen floss, es kam zu Überfällen<br />

und Diebstahl. Das ist nun mal so in Hafenstädten, mag man sagen und auch Paulus ist Realist<br />

genug, das so zu sehen. Was ihm aber Angst macht, ist, dass er sieht: diese Misstände<br />

greifen auch in der kleinen christlichen Gemeinde mehr und mehr um sich. Da gibt es doch<br />

tatsächlich Prediger, die das auch noch fördern: „Uns ist alles erlaubt!“ verkündigen sie. „Wir<br />

sind getauft, also errettet. Wir haben schon Anteil an Christi Auferstehung. In den Gottesdiensten<br />

erleben wir das. Wir singen und beten bis zur Ekstase. Wir werden eins mit Gott in<br />

einer anderen Welt. Was kümmert es uns da noch, wie es hier zugeht?“<br />

„Seht ihr nicht, wohin das führt?“ fragt Paulus. „Ihr missversteht die christliche Freiheit als<br />

Zügellosigkeit. Ihr werft die Werte über Bord, für die Christus gelebt hat, sogar die zehn Gebote.<br />

Erinnert euch: Euer Körper ist Tempel des Heiligen Geistes, da heißt doch,Gott und<br />

Jesus Christus wohnen in euch. Das muss an der Art, wie ihr lebt, deutlich werden.“<br />

Wir wissen nicht, wie die Korinther auf diese Mahnung reagiert haben. Was wir aber kennen,<br />

ist eine lange unheilvolle Tradition. Es scheint, als hätten sich die falschen Prediger von Korinth<br />

durchgesetzt. Das Motto: „Mir ist alles erlaubt!“ hat zu zwei Extremen geführt (gegen-


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 08.08.06<br />

sätzliche Extreme, die aber die gleiche Wurzel haben). Das eine ist die eben erwähnte Zügellosigkeit.<br />

Wenn mein Geist und meine Seele schon errettet sind, ist es ja egal, was mit<br />

dem Körper geschieht. Er ist eh nur ein Teil der vergänglichen Welt.<br />

Das andere Extrem missachtete den Körper ebenso. Es entwickelte sich unter Christen ein<br />

Lebensideal, das alle Formen von weltlicher Freude, jedoch jede Art von Genuss und Sinnlichkeit<br />

ablehnte. Als bester, eifrigster Christ galt der, der nur noch für die Innerlichkeit, für<br />

Glaube und Geist lebte, die ganze äußerliche materielle Welt dagegen möglichst ignorierte,<br />

dazu gehörte auch der eigene Leib. Seele und Geist galten als Sitz und Wirkungsstätte Gottes,<br />

der Leib dagegen als Quelle der Sünde.<br />

Folge davon war die Bekämpfung des eigenen Leibes und seiner Bedürfnisse. Das nahm<br />

kaum vorstellbare Formen an. Der Körper wurde bewusst vernachlässigt; er wurde dem<br />

Dreck gleichgesetzt – und das nicht nur im übertragenen Sinne.<br />

Einige Beispiele:<br />

• Der heilige Antonius, heißt es, habe in seinem Einsiedlerleben nie gebadet.<br />

• In den ersten Klöstern wurde das Baden drastisch beschränkt (in Monte Cassino zum<br />

Beispiel auf zwei bis drei Mal im Jahr).<br />

• Der heilige Hieronymus hielt ein verschmutztes Aussehen für ein Zeichen innerer<br />

Reinheit.<br />

• Und der heilige Assenius, ein Mönch, füllte gar seine Zelle mit Gestank an, um sich<br />

den Aasgeruch der Hölle zu ersparen.<br />

Aber die Leibfeindlichkeit beschränkte sich nicht auf Geruch und Aussehen. Es gehörte auch<br />

die Verachtung der Nahrung dazu, denn die ermöglichte es dem Körper ja, weiterzuexistieren.<br />

So gab es denn christliche Einsiedlermönche, die allein von Gras, Kräutern und rohen<br />

Getreidekörnern lebten. Das 6. Jahrhundert wurde das „goldene Zeitalter der Weidenden“<br />

genannt, denn da waren es schon sehr viele, denen es ganz natürlich erschien, ein christliches<br />

Leben mit Grasessen zu verbringen. Ein Mönch namens Petrus bezeichnete sich selbst<br />

als „Weidender am Jordan“ und von einem anderen hieß es: Er, Apasophronius, „graste“ ü-<br />

ber 70 Jahre lang am Toten Meer, zudem gänzlich nackt, denn er wollte seinem verachtenswerten<br />

Körper nicht den Genuss von Kleidung zukommen lassen.<br />

Zwei extreme Positionen – mit demselben Hintergrund: Der Aufspaltung des Menschen in<br />

einen guten (Geist/Seele) und einen schlechten (Leib) Teil. Für die christliche Tradition hatte<br />

das fatale Folgen: Alles, was dem Körper gut tut, was Spaß macht (gerade auch die Sexualität)<br />

galt als Verdächtig. Im Nachhinein hat man auch Paulus für die Entwicklung dieser Leibfeindlichkeit<br />

verantwortlich machen wollen.<br />

Gerade unser Predigttext heute Morgen zeigt aber, dass das nicht zu halten ist. Paulus<br />

nennt den Leib hier „Tempel des heiligen Geistes“. Das ist eine positive Wertung des Leibes<br />

wie wir sie uns stärker nicht denken können. Und wenn er uns dazu auffordert, „Preiset Gott<br />

an eurem Leib“, dann muss er doch wohl davon überzeugt sein, dass der Leib etwas so großes<br />

und Beachtliches ist, dass er dazu auch imstande ist. Von Leibfeindlichkeit kann da nicht<br />

die Rede sein. Der Leib als „Tempel des heiligen Geistes“ – was meint das eigentlich?<br />

Tempel – das ist die Stätte der Anbetung, Ort des Gottesdienstes. Es ist der Ort der Nähe<br />

Gottes, Gottes Wohnung, Stätte der Begegnung von Gott und Mensch. Paulus meint: Gott<br />

selbst hat unseren Leib dazu bestimmt, Stätte der Anbetung und Ort der Gottesbegegnung<br />

zu sein. Der Leib ist also nicht gleichgültig, schon gar nicht schlecht, im Gegenteil: Ich habe<br />

große Verantwortung für ihn. Gott hat mich mit Leib und Seele geschaffen, folglich bin ich<br />

auch mit Leib und Seele verantwortlich.<br />

Ich höre schon manche aufjubeln. Wir leben ja in einer Zeit, die in mancher Hinsicht genau<br />

die Gegenposition einnimmt zu den ersten christlichen Jahrhunderten. Von einem neuen<br />

„Körperbewusstsein“ ist heute vielfach die Rede. Fitnesszentren sprießen allerorten aus dem<br />

Boden, „Beauty“ und „Wellness“ sind expandierende Märkte und die westliche Welt ist stolz<br />

auf ihre Freiheit, ihre Freizügigkeit in Sachen Sexualität.


Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 08.08.06<br />

Aber Vorsicht! Hier droht doch ein Abkippen ins andere Extrem. Zurecht warnen viele vor<br />

einem „Körperkult“. Dort, wo Muskelbildung, sportliche Höchstleistung um jeden Preis,<br />

Schönheitsoperationen und freie Sexualität zu obersten Werten werden, hat man einen neuen<br />

Götzen. Der Körperkult hat geistige Armut und das Erkalten der Seele als Kehrseite der<br />

Medaille.<br />

Wie aber ist nun der goldene Mittelweg zu beschreiben? Von den falschen Extremen haben<br />

wir genug gehört.<br />

Lassen wir dazu Luther zu Wort kommen, für den ja Paulus der wichtigste Theologe war. Luther<br />

knüpft an den Slogan: „Mir ist alles erlaubt“ an. Tatsächlich sagt er, ist es so, dass der<br />

Christ durch seinen Glauben zu einer besonderen Freiheit findet: „Ein Christenmensch ist ein<br />

freier Herr aller Dinge und niemandem untertan“, sagt er und fügt gleich darauf an: „Ein<br />

Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“.<br />

Das ist weder paradox noch ein Widerspruch. Es beschreibt den besonderen Charakter unserer<br />

Freiheit. Gottes Gnade macht uns zwar frei, aber sie entlässt uns nicht aus der Verantwortung<br />

für uns selbst und aus der Verantwortung für die Welt, in der wir leben. Ja, es ist<br />

gerade das unverdiente Geschenk der Liebe Gottes, das uns in den Dienst ruft. Noch einmal<br />

Luther: „Durch den Glauben fährt der Christenmensch aufwärts zu Gott, von Gott fährt er<br />

wieder abwärts durch die Liebe.“ Das ist exakt das, was Paulus meint.<br />

Wir sind geheiligt, wir sind gerecht bei Gott. Wir haben diesen Status, der uns eine Freiheit<br />

gewährt, wie die Welt sie nicht kennt. Nun ist es an uns, daraus etwas zu machen . Es lohnt,<br />

noch einmal den Wochenspruch zu hören: „Lebt als Kinder des Lichts; die Frucht des Lichts<br />

ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit.“<br />

So zeigt sich unsere besondere Freiheit. Kinder des Lichts können wir sein und dürfen wir<br />

sein; Kinder des Lichts, die etwas von Gottes Liebe ausstrahlen und an ihre Umgebung abgeben.<br />

Und das mit allem, was uns Gott gegeben hat: von ganzem Herzen, geistvoll und<br />

Kraft unseres Körpers.<br />

Amen.


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

in der<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am 9. Sonntag nach Trinitatis<br />

13. August <strong>2006</strong><br />

Predigttext: Jeremia 1, 4-10<br />

Und des HERRN Wort geschah zu Jeremia: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete,<br />

und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich<br />

zum Propheten für die Völker. Ich aber sprach: Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen;<br />

denn ich bin zu jung. Der HERR sprach aber zu mir: Sage nicht: «Ich bin zu jung», sondern<br />

du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. Fürchte dich<br />

nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR. Und der HERR<br />

streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine<br />

Worte in deinen Mund. Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du<br />

ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.<br />

Liebe Gemeinde!<br />

Vielleicht kennen sie den Roman (Ende der 80er Jahre wurde er viel gelesen) „Die unerträgliche<br />

Leichtigkeit des Seins“ von Milan Kundera. Darin kommt es in einer Schlüsselszene zu<br />

einer Auseinandersetzung zwischen dem Arzt Tomas und seiner Partnerin Teresa. Sie ist<br />

der Meinung, die beiden hätten in Zürich bleiben sollen, vor allem, weil er dort als Arzt so erfolgreich<br />

gearbeitet habe. „Du warst dazu berufen, zu operieren“, argumentiert sie. Er sieht<br />

es ganz anders. „Teresa“, antwortet er, „Berufung ist Blödsinn. Ich habe keine Berufung.<br />

Niemand hat eine Berufung. Und es ist eine ungeheure Erleichterung festzustellen, dass<br />

man frei ist und keine Berufung hat.“<br />

Ich hätte gern gewusst, was Jeremia diesem jungen Arzt antworten würde. Wahrscheinlich<br />

würde der Prophet ihm sogar ein Stück weit recht geben. Keine Berufung zu haben, ist eine<br />

Erleichterung und mag tatsächlich zu einem Gefühl von Freiheit führen.<br />

De facto aber sieht es anders aus. Berufungen gibt es durchaus. Jeremia weiß ein Lied davon<br />

davon zu singen. Er, ein einfacher Mann aus bürgerlichem Haus, erlebt sie aus heiterem<br />

Himmel. Als sensibel, zurückhaltend, verletzlich wird er uns vorgestellt, weder eine Kämpfernatur<br />

noch ein guter Redner. Dennoch sucht Gott gerade ihn aus für eine denkbar schwere<br />

Aufgabe. Er soll seinem Volk den Untergang ansagen. Er soll dem Volk den Spiegel vorhalten,<br />

soll Götzenverehrung, falsche Lebensweise und korrupte Politik beim Namen nennen<br />

und aufzeigen, wohin das führt: in den Krieg, in die Zerstörung Jerusalems, in die Verschleppung.<br />

Es wundert nicht, dass Jeremia sich wehrt. „Ach Herr, ich tauge nicht dazu, ich bin zu<br />

jung.“ Jeremia fühlt sich unfähig, unwürdig.<br />

Ich kann das gut nachempfinden, und ich glaube, den meisten geht es ebenso. Der Grund<br />

dafür ist: Es ist die nur allzu gut bekannte Neigung, plötzlich auftauchenden Anforderungen<br />

am liebsten aus dem Weg zu gehen. Schon aus unserer Schulzeit kennen wir das: Sobald<br />

ein Lehrer suchend den Blick schweifen ließ, sobald Gefahr drohte und einer „rangenommen“<br />

werden sollte, versuchte man abzutauchen. Die einen täuschten Geschäftigkeit vor<br />

(etwa, indem sie in den Tiefen ihrer Schultasche kramten), andere versuchten sich hinter<br />

dem Rücken des Vordermanns möglichst klein zu machen. Bloß nicht gesehen werden; nur<br />

nicht auffallen; es könnte ja mich treffen.


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 20.08.06<br />

Das ist ein Reaktionsmuster, das sich in späteren Jahren durchhält. Wenn plötzlich besondere<br />

Aufgaben auftauchen, neigen wir dazu, uns zurückzuziehen. „Warum gerade ich?“, „Ich<br />

schaffe das zurzeit wirklich nicht“, „Mir ist das zu unwichtig oder zu gefährlich oder zu aussichtslos...“,<br />

„ich bin doch viel zu jung (zu alt, zu beschäftigt, zu unerfahren...)“ so oder so<br />

ähnlich lauten die Entschuldigungen, die Ausflüchte. Ich denke, wohl jeder von uns hat sich<br />

mal auf diese Weise aus der Affäre gezogen. Meistens klappt es auch, wenngleich Enttäuschungen<br />

entstehen und auch bei uns selbst ein ungutes Gefühl, manchmal sogar ein<br />

schlechtes Gewissen zurückbleibt.<br />

Es klappt nicht, wenn Gott im Spiel ist. Gott schaut tiefer. Er entlarvt die Argumente als Ausreden.<br />

Vor allem: Gott weiß, wem er etwas zutrauen, zumuten kann, und was...<br />

Jeremia heißt wörtlich übersetzt: „Jahwe (das ist der Name Gottes im Alten Testament) richtet<br />

auf.“ Und der junge, so unsichere Jeremia darf jetzt erfahren, dass ein Name selten bloß<br />

Zufall ist, manchmal vielmehr ein Lebensmotto. Gott weiß, was in ihm steckt. Er berührt nur<br />

seinen Mund und macht ihn damit fähig zu seinem großen Auftrag.<br />

Liebe Gemeinde, diese Berufungsgeschichte ist nicht nur etwas für große Propheten. Ganz<br />

im Gegenteil. Sie ist uns als Predigtext aufgegeben, weil sie für jeden von uns wichtige Fragen<br />

und Gesichtspunkte aufwirft.<br />

Das fängt schon an beim mangelnden Selbstbewusstsein des Jeremia. Wir kennen es nur zu<br />

gut und müssen auch zugeben, dass uns die anderen (jene, die vollmundig und selbstbewusst<br />

auftreten) eher suspekt sind. Mangelndes Selbstvertrauen hingegen ist die Regel, gilt<br />

als normal.<br />

Davon will uns Gott als erstes befreien. „Ich habe dich gebildet“, sagt Gott zu Jeremia und<br />

„Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleib bereitete“, „schon da sonderte ich dich aus,<br />

schon da bestellte ich dich für diese Aufgabe. Wenn das keine Grundlage für ein gesundes<br />

Selbstvertrauen ist!<br />

Und es ist keineswegs beschränkt auf den Propheten. Es gilt jedem von uns. Umgangssprachlich<br />

hat sich ein Bewusstsein davon erhalten: Manchmal ist die Rede davon, einer sei<br />

zum Arzt „geboren“ oder gar zum Lehrer, zum Erzieher „berufen“; ja selbst im Wort „Beruf“<br />

ist ein Rest davon erhalten: vom Bewusstsein, dass man seine Arbeit nicht nur frei und beliebig<br />

als Job zum Geldverdienen wählt, sondern dass es ein ganzes Stück weit vorbereitet<br />

ist – nicht nur durch die Eltern oder die Gesellschaft, „die Umstände“, sondern auch von<br />

Gott, der uns bestimmte Gaben verleiht und uns zutraut, daraus etwas zum Gewinn für das<br />

Ganze zu machen. An uns ist es, das zu erkennen, die Berufung zu hören und daraus etwas<br />

zu machen. Eine alte Geschichte („Columbin“) erzählt von einem Königshof, an dem alles<br />

zum Besten war. Da gab es starke Leute und gescheite Leute. Der König war ein König, die<br />

Männer mutig, der Pfarrer fromm und die Untergebenen fleißig. Es gab nur eine Ausnahme:<br />

Columbin war nichts. Wenn jemand sagte: Columbin, kämpf mit mir, sagte er: Ich bin schwächer<br />

als du. Wenn jemand ihn fragte: Wie viel ist zwei mal sieben? sagte Columbin: Ich bin<br />

dümmer als du. Und wenn jemand von ihm verlangte: Spring über den Bach! sagte er nur:<br />

Nein, ich traue mich nicht. Und wenn der König fragte: Columbin, was willst du werden? antwortete<br />

Columbin: Ich will nichts werden, ich bin schon etwas: Ich bin Columbin.<br />

In dieser alten Geschichte ist etwas enthalten von der Weisheit aus der Berufung des Jeremia.<br />

Tatsächlich müssen wir nicht erst etwas besonderes leisten, um „wer“ zu sein. Wir sind<br />

es schon, von Gott her, von Anfang an. Und vielleicht ist gerade das Columbins besonderer<br />

Auftrag, sein prophetisches Amt: Dass er die anderen, die Fleißigen, die ihrer Berufung so<br />

Bewussten daran erinnert, dass hinter all ihrer Leistungsfähigkeit ein anderer steht: Gott.<br />

Das führt mich zum zweiten Punkt: Wer darf eigentlich reden? Wem steht es zu, das prophetische<br />

Amt auszuüben? Jeremia und Columbin zerstören manche feste Vorstellung. Allzu<br />

viele stellen sich die Propheten als starke Männer mit donnernder Stimme vor. Unsere Beispiele<br />

zeigen: Gott traut gerade den Kleinen und Schwachen das prophetische Reden zu.<br />

Ich muss daran denken, wie viele Kinder (etwa aus unserer Kinderkirche und dem Kindergarten)<br />

begeistert von Gott und ihrem Glauben reden, so begeistert, dass sie schon manche


Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 20.08.06<br />

Erwachsene (die Eltern zum Beispiel) beeindruckt und „angesteckt“ haben. Da finden Erwachsene<br />

über die Begeisterung der Kinder zurück zum Glauben!<br />

Oder ich denke zurück an die Jahre in der Stiftung Alsterdorf. Mehrfach habe ich erlebt, dass<br />

Mitarbeiter dort zum Glauben (zurück-)gefunden haben – einfach nur dadurch, dass sie die<br />

Begeisterung der ihnen anvertrauten Behinderten miterlebten und sich – im besten Sinne<br />

des Wortes – anstecken, hineinziehen ließen.<br />

Keiner soll also sagen, er eigne sich nicht dazu, Gottes Wort weiter zutragen. Das ist alles<br />

unser prophetisches Amt! Ein ganz aktuelles Beispiel haben wir gerade in diesen Tagen erlebt.<br />

Mit Mühe lassen sich ja nur Kriegsberichte aus Nahost ertragen und auch die Aufrufe<br />

zum Frieden (sei es von Seiten der UNO oder aus dem Mund des Papstes) verklingen ungehört.<br />

Eine Ausnahme gab es jetzt aber tatsächlich: Es waren Kinder, betroffene Kinder von<br />

beiden Seiten, die in ganz einfachen kindlichen Worten um Frieden baten. Ich glaube, da<br />

endlich hat die Welt aufgemerkt.<br />

Ende der 30er Jahre hat Dietrich Bonhoeffer zum „Konzil des Friedens“ ein Faltblatt verfasst.<br />

Er beginnt es mit der Frage: „Wer ruft zum Frieden, dass die Welt es hört, dass sie zu hören<br />

gezwungen ist?“ Hier lässt sich seine Frage beantworten: Es sind nicht die Vertreter der Supermächte,<br />

auch nicht die großen Institutionen, es sind die Kleinen und Schwachen.<br />

An uns ist es, das auch bewusst zu hören, um es dann weiter zutragen. Ja, auch das besondere<br />

Hören gehört zum prophetischen Auftrag. Eine Erzählung der Chassidim bringt das gut<br />

auf den Punkt. Da heißt es von einem Schüler: Er konnte zuhören wie kein anderer, „denn<br />

die Ohren waren ihm mit der Seele innig verbunden“. Es geht also um ein Hören, das nicht<br />

nur Informationen aufnimmt. Nur dann wird es auch die Kraft entwickeln, etwas zu verändern.<br />

Wir merken, was alles notwendig zur Berufung (auch zu unserer!) gehört: Erstens, Gottes<br />

Ruf zu hören (mit Herz und Seele); zweitens, der Entschluss, ihm zu folgen (gegen alle Bedenken<br />

und Minderwertigkeitsgefühle) und drittens, dem auch treu zu bleiben (durch Qualen<br />

und Belastungen hindurch).<br />

Für Jeremia war seine lebensbestimmende Berufung kaum auszuhalten. Neben allen persönlichen<br />

Qualen musste er miterleben, wie seine Prophezeihung in Erfüllung ging in der<br />

Zerstörung Jerusalems. Er selbst gehörte wahrscheinlich zu den Deportierten. Dennoch<br />

kann er auch die andere Seite benennen: neben (und vor allem nach) der großen Zerstörung<br />

steht Gottes Wille zur Errettung und Erhaltung des Ganzen. Jeremias Symbol dafür ist der<br />

Mandelzweig, bis heute eines der schönsten und wichtigsten Zeichen für den Frieden – einen<br />

Frieden, der nur durch Gottes Hilfe möglich wird.<br />

Amen.


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

in der<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am 10. Sonntag nach Trinitatis<br />

20. August <strong>2006</strong><br />

Predigttext: Römer 9,1-5 und 9,30-10,4:<br />

Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im heiligen<br />

Geist, dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe.<br />

Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine<br />

Stammverwandten sind nach dem Fleisch, die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört<br />

und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen,<br />

denen auch die Väter gehören, und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch,<br />

der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit. Amen.<br />

Was sollen wir nun hierzu sagen? Das wollen wir sagen: Die Heiden, die nicht nach der Gerechtigkeit<br />

trachteten, haben die Gerechtigkeit erlangt; ich rede aber von der Gerechtigkeit,<br />

die aus dem Glauben kommt. Israel aber hat nach dem Gesetz der Gerechtigkeit getrachtet<br />

und hat es doch nicht erreicht. Warum das? Weil es die Gerechtigkeit nicht aus dem Glauben<br />

sucht, sondern als komme sie aus den Werken. Sie haben sich gestoßen an dem Stein<br />

des Anstoßes, wie geschrieben steht (Jesaja 8,14; 28,16): «Siehe, ich lege in Zion einen<br />

Stein des Anstoßes und einen Fels des Ärgernisses; und wer an ihn glaubt, der soll nicht zuschanden<br />

werden.» Liebe Brüder, meines Herzens Wunsch ist, und ich flehe auch zu Gott<br />

für sie, dass sie gerettet werden. Denn ich bezeuge ihnen, dass sie Eifer für Gott haben, a-<br />

ber ohne Einsicht. Denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt, und suchen<br />

ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten und sind so der Gerechtigkeit Gottes nicht untertan.<br />

Denn Christus ist des Gesetzes Ende; wer an den glaubt, der ist gerecht.<br />

Liebe Gemeinde!<br />

Die Evangeliumslesung geht mir nach; sie lässt mich nicht los. Jesus weint um Jerusalem. Er<br />

schaut auf die Stadt und sieht zugleich das Leid, das auf sie zukommt. Er sieht die Stadtmauern<br />

fallen, die Häuser brennen, den Tempel in sich zusammenstürzen. und doch ist das<br />

nicht einmal das Schlimmste. Wie ich Jesus kenne, sind es vor allem die Menschen, um die<br />

es ihm geht. Das Schicksal der von Krieg und Untergang Betroffenen berührt ihn so, dass<br />

ihm die Tränen kommen.<br />

Wer von uns dächte dabei nicht an den Nahostkonflikt? Es scheint, als reiche Jesu prophetischer<br />

Blick bis in unsere Tage. Jerusalem und der Zion – gedacht als Nabel der Welt, als<br />

Wohnung Gottes, als Ort des Friedens – ist unter den Händen der Menschen zum Gegenteil<br />

geworden: zum Zankapfel, zur Quelle alter und neuer Streitigkeiten, zum Symbol eines weltweit<br />

eskalierenden Religionskonflikts. Jeden Tag bekommen wir Kriegsberichte zu hören von<br />

allen möglichen Orten der Erde. Wir leiden mit allen betroffenen Menschen. Und doch sticht<br />

der Nahostkonflikt heraus:<br />

• Er dauert schon so unendlich lange;<br />

• Frieden auf Dauer scheint so aussichtslos;<br />

• wir sind den Betroffenen in besonderer Weise verbunden: Dadurch, dass Jesus Jude<br />

war, haben wir als Christen ein ganzes Stück weit dieselbe Geschichte, dieselben<br />

heiligen Bücher, denselben Glauben wie die Israeliten. Vielleicht wäre es zu viel ge-


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 20.08.06<br />

sagt, von „Glaubensbrüdern“ zu sprechen. Halbgeschwister sind wir allemal. Ich denke,<br />

auch das ist ein Grund, dass wir in diesem Konflikt besonders mitleiden.<br />

Unser Predigttext heute Morgen ist nicht weniger von Gefühlen bestimmt. Jetzt ist es Paulus,<br />

der seinen Schmerz zum Ausdruck bringt. Überwältigendes hat er erlebt; das will er seinen<br />

Brüdern weitersagen. Jesus Christus selbst hat sich ihm vor Damaskus offenbart – so eindrücklich,<br />

dass es ihn (im wahrsten Sinne des Wortes) umgehauen hat. Jetzt weiß er: alles<br />

Warten hat ein Ende. Der Messias ist da. Die alten jüdischen Weissagungen haben sich erfüllt.<br />

Mit Jesus ist die neue Zeit angebrochen.<br />

Paulus wird nicht müde, das weiterzusagen. Aber er muss die enttäuschende Erfahrung machen,<br />

dass der Funke nicht überspringt – jedenfalls nicht im erhofften Maße. Denn gerade<br />

die, an die er sich als erste wendet, sperren sich gegen das Neue. Gottes Volk, Träger der<br />

messianischen Verheißung, will nichts wissen von dem, was Paulus erlebt hat – oder räumt<br />

ihm zumindest nicht die Bedeutung ein. Jesus wird von den Juden nicht anerkannt als der<br />

lang ersehnte Messias.<br />

So sind Paulus' Worte eine erschütterndes Dokument der Zerrissenheit und der Verzweiflung.<br />

Einerseits eine Art Liebeserklärung an seine (ehemaligen) Glaubensgeschwister, andererseits<br />

eine zornige Abrechnung. Mit einem Ehrentitel spricht er sie an („Israeliten“ das heißt<br />

Gottesstreiter, als Kinder Gottes), an ihre besondere Erwählung erinnert er sie (an die Bundesschlüsse<br />

durch die Erzväter) und an Gottes besondere Geschenke für sie (seine „Herrlichkeit“,<br />

die sie in der Wüstenwanderung begleitete und die im Tempel wohnt; das Geschenk<br />

der Gesetzestafeln und ihres besonderen Gottesdienstes); er lobt ihren großen<br />

Glaubenseifer...<br />

All das sieht er, schätzt er, würdigt er; und dennoch bricht seine Rede um in einen verzweifelten<br />

Zorn: Ihr lauft Gefahr, all das Großartige zu verspielen! Für Paulus steht und fällt alles<br />

mit dem Bekenntnis zu Jesus Christus. Wer ihn als den Messias, als seinen Retter anerkennt,<br />

der ist selbst gerettet; wer diesen Glauben verwirft, der ist verloren. Paulus' Schmerz,<br />

seine Trauer um Israel steigert sich bis zur Selbstverfluchung.<br />

Wie hören wir heute solche Zeilen? Ich glaube, ein ganzes Stück weit können wir Paulus folgen.<br />

Wir als Christen haben in Jesus unseren Retter gefunden und wünschen diese großartige<br />

Erfahrung jedem. Mehr noch: Was würde sich ändern in der Welt, wenn tatsächlich sich<br />

die Völker zu Jesus als ihrem Messias bekennen und ihre Politik, ihr Leben danach ausrichten<br />

würden! Das käme einer Friedensrevolution gleich; das wäre der sichtbare Anbruch der<br />

messianischen Zeit!<br />

Und doch unterscheiden wir uns von Paulus. Wir behalten unsere Begeisterung im Herzen.<br />

Unser Glaube ist uns ein wertvoller, doch sehr persönlicher Schatz. Das laute Werben um<br />

die Sache Jesu liegt uns nicht. Das mag viele, vor allem persönliche Gründe haben. Entscheidend<br />

ist wohl aber auch, dass uns das Missionieren an sich suspekt geworden ist. Allzu<br />

oft ist es in der Geschichte missbraucht worden. Die Erweiterung von Macht und Einfluss, die<br />

Sucht nach Geld und Gold, der Sklavenhandel – all das hat sich unter dem Deckmantel der<br />

Mission verborgen. Hinzu kommt das Denken unserer Zeit: in einer weltoffenen liberalen<br />

Demokratie kommt Missionieren schlecht an. Es riecht zu sehr nach Besserwisserei, nach<br />

Rechthaberei und Engstirnigkeit.<br />

Erst recht melden sich Bedenken beim Missionieren der Juden. Paulus kann das zu seiner<br />

Zeit ganz unvoreingenommen angehen. Aber wir Deutsche?! Was die Juden betrifft, blicken<br />

wir zurück auf eine Geschichte von Missverständnissen übereinander und Unverständnis<br />

füreinander, eine Geschichte von Auseinandersetzung und Verfolgung, die im millionenfachen<br />

Mord an den Juden gipfelte.<br />

Als jetzt weltweit über eine friedenspolitische Mission in Nahost nachgedacht wurde, konnten<br />

sich die Deutschen kaum entschließen, sich mit Soldaten daran zu beteiligen. Unvorstellbar<br />

ein Gegenüber bewaffneter jüdischer und deutscher Soldaten! Gleiche Bedenken gelten für<br />

den Glaubensstreit: Wer wollte sich nach 1945 anmaßen, Juden den allein wahren, guten,<br />

christlichen Weg zu propagieren?!


Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 20.08.06<br />

So tragen wir weiter unseren Glaubensschatz im Herzen, zurückhaltend, schamhaft fast –<br />

und suchen doch zaghaft nach einem Ansatz für einen Dialog mit den Juden. Wie sagt es ein<br />

Kollege: „Ich bin kein Jude, aber ich verdanke dem jüdischen Glauben und Volk, dass ich<br />

Christ bin.“ Das Bewusstsein der gemeinsamen Wurzel ist ihm Grund genug, anhaltend um<br />

einen Dialog zu werben.<br />

Die Mehrheit der Christen scheint mir dennoch allzu zurückhaltend. Wichtige Impulse finde<br />

ich eher auf jüdischer Seite – bei Martin Buber etwa oder auch bei dem Rabbiner Leo Baeck.<br />

Letzterer schreibt: „Judentum und Christentum sollten einander Ermahnung und Warnung<br />

sein. Das Christentum das Gewissen des Judentums. Das Judentum das Gewissen des<br />

Christentums.“ Das sieht er als gemeinsame Aufgabe, als Basis und Möglichkeit aufeinander<br />

zu zugehen. „Und dann“, schreibt er, „werden beide imstande sein, zusammen ihren Platz<br />

einzunehmen, nicht wider einander, sondern Seite an Seite vor dem Forum des Allmächtigen,<br />

dem Richterstuhl, vor dem Juden und Christen sich gleichermaßen jeden Tag geladen<br />

wissen.“<br />

Das Taufwort, das du Marek, dir ausgesucht hast, passt zu der Thematik dieses Sonntags<br />

und zur aktuellen politischen Lage: Es steht in den Sprüchen Salomos (16,32): „Ein Geduldiger<br />

ist besser als ein Starker; und einer, der sich selbst beherrscht, ist besser als ein Eroberer.“<br />

Salomo trug nicht umsonst den Beinamen „der Weise“. Unter David und Salomo erlebte das<br />

Volk Israel eine Zeit des Friedens und der kulturellen Blüte wie später nie mehr. Noch heute<br />

richten sich viele der jüdisch messianischen Erwartungen sehnsüchtig auf eine Art Renaissance<br />

gerade dieser Epoche.<br />

Und in der Tat: Wie viel wäre allein gewonnen, wenn Geduld und Selbstbeherrschung die<br />

tonangebenden Tugenden wären! Dann hätte die Diplomatie eine echte Chance, dann wäre<br />

Frieden machbar – nicht als brüchiger Waffenstillstand (wie derzeit), sondern Friede mit<br />

dauerhafter Perspektive. Jedoch: Stärke messen und die Eroberung umstrittener Gebiete<br />

prägen die Realität. Auch Israel scheint die Weisheit seiner alten Schriften vergessen zu haben.<br />

Umso wichtiger ist es, dass deine junge Generation die alten lebenswichtigen Tugenden<br />

wieder entdeckt. Wenn es euch gelingt, Werte wie Geduld und Selbstbeherrschung im privaten<br />

wie im politischen Leben wieder Praxis werden zu lassen, haben wir, hat die Welt wieder<br />

eine Perspektive. Und es passiert noch mehr: es wird das Wirklichkeit, was Juden und Christen<br />

eint; wir erleben tatsächlich ein Stück messianischer Zeit.<br />

Gott gebe dir seinen Segen dazu, dass es dir gelingt, die tiefe Wahrheit deines Taufspruchs<br />

zu leben!<br />

Amen.


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

in der<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am 13. Sonntag nach Trinitatis<br />

10. September <strong>2006</strong><br />

Predigttext: 1. Mose 4,1-16:<br />

Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und<br />

sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des HERRN. Danach gebar sie Abel, seinen<br />

Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann. Es begab sich<br />

aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes.<br />

Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR<br />

sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte<br />

Kain sehr und senkte finster seinen Blick. Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst<br />

du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist's nicht also? Wenn du fromm bist, so<br />

kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür,<br />

und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. Da sprach Kain zu seinem Bruder<br />

Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich<br />

Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein<br />

Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? Er aber sprach:<br />

Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. Und<br />

nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von<br />

deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag<br />

nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden. Kain aber sprach zu dem<br />

HERRN: Meine Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte. Siehe, du treibst mich<br />

heute vom Acker, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und muss unstet und<br />

flüchtig sein auf Erden. So wird mir's gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet. Aber der<br />

HERR sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden.<br />

Und der HERR machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände.<br />

So ging Kain hinweg von dem Angesicht des HERRN.<br />

Liebe Gemeinde!<br />

„Kain und Abel – das ist beinahe die Essenz der ganzen Weltgeschichte“, hat der Schriftsteller<br />

Stanislaw Lec einmal festgestellt. Es ist ein trauriges, zugleich nüchternes, realistisches<br />

Resümee. Die Weltgeschichte ist eine Geschichte der Kriege, die von der Urzeit bis in die<br />

Gegenwart reicht. Die Motive, die „Gesichter“ der Bedrohung wechseln, aber sie ist ständig<br />

da an wirkliche jedem Ort unserer Erde. Der morgige Tag, der 11. September, mahnt daran:<br />

Es gibt keinen sicheren und dauerhaften Frieden. Und selbst, wenn es einem Land gelingt,<br />

außenpolitisch Frieden zu wahren, muss es doch mit dem Unfrieden aus dem Inneren rechnen,<br />

mit unsichtbaren Fronten und Gegnern, die um so viel schwerer zu bekämpfen sind.<br />

Unser Predigttext, diese alte Geschichte von Kain und Abel, ist in besonderem Maße geeignet,<br />

grundsätzlich über Unfrieden, Krieg und Mord nachzudenken. Sie geht dem Problem im<br />

wahrsten Sinne des Wortes auf den Grund – dadurch, dass sie sich eben nicht festmacht an<br />

einem bestimmten Macht- oder Interessenkonflikt irgendeines Krieges, sondern tiefer geht:<br />

sie schaut auf und in das Herz des einzelnen Menschen. Das macht es uns auch unmöglich,<br />

abzuwinken und so zu tun, als ginge uns das Ganze nicht an. Nein, wer aufmerksam liest,


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 10.09.06<br />

merkt schnell: In dem, was Gott dem Kain zu sagen hat, kommen auch wir zur Sprache. Im<br />

Spiegel, der Kain vorgehalten wird, erkennen wir uns selbst.<br />

Schauen wir noch mal in den Text: Noch bevor es zur Bluttat kommt, wendet sich Gott an<br />

Kain. „Warum ergrimmst du?“ Warum senkst du deinen Blick?“ fragt er ihn, und er warnt ihn:<br />

„Es lauert die Sünde vor deinem Herzen. Sie hat Verlangen nach dir. Lerne, sie zu beherrschen.“<br />

Hier ist für mich der Kern der Geschichte. Hier will der Text Antwort geben auf die große<br />

Frage, wie die schlimmste der Sünden, der Mord, in die Welt kommt. Er tut es nicht durch<br />

Aufzählung vieler Motive, sondern er wählt ein sehr treffendes Bild: Wie ein Dämon lauert die<br />

Sünde vor dem Herzen.<br />

Das ist nicht nur im Blick auf Kain gesagt; das gilt jedem von uns. Kain kann nicht verstehen,<br />

dass Abels Opfer von Gott angenommen wird, seines hingegen nicht. Das ist auch nicht zu<br />

erklären, und es wird auch im Zuge der Geschichte nicht erklärt. Kain fühlt sich zurückgesetzt,<br />

ungerecht behandelt. Und wenn wir ehrlich sind: ein ganzes Stück weit können wir ihn<br />

gut verstehen. Natürlich sind wir entsetzt über seinen Jähzorn und den Brudermord. Aber für<br />

sein Motiv, für den Auslöser haben wir Verständnis.<br />

Diese Dämonen, die vor der Tür des Herzens lauern, kennen wir nur zu gut:<br />

• die tiefe Verletzung etwa, wenn man nicht beachtet wird; wenn viel Mühe und gut geleistete<br />

Arbeit nicht anerkannt wird;<br />

• die Konkurrenz, die eigentlich immer da ist (auch unter Geschwistern, auch unter<br />

Freunden, auch unter Partnern); kurz: die Ungleichbehandlung, die Ungleichheit von<br />

Gleichgestellten;<br />

• die Angst, zu kurz zu kommen; das „scheele Auge“ auf die um mich herum: haben sie<br />

mehr Glück, mehr Zufriedenheit; sind sie „gesegneter“?<br />

Wer solches erlebt, vielleicht immer wieder erlebt, der wird zornig; dessen Blick verändert<br />

sich. Er kann dem anderen nicht mehr offen ins Gesicht schauen. Die Augen würden verraten,<br />

was in ihm rumort. Die Sünde lauert wie ein Dämon vor der Tür des Herzens und rüttelt<br />

gewaltig an der Tür. „Lerne sie zu beherrschen“, mahnt Gott. „Mach aus deinem Herzen keine<br />

Mördergrube“, sagt der Volksmund.<br />

Da ist die Gefahr unverblümt beim Namen genannt. Wie schnell können Neid und Eifersucht,<br />

angestaute Wut und das Gefühl anhaltender Ohnmacht umschlagen in Hass und Aggression!<br />

Wir erkennen, dass Kains Sünde, seine Trennung von Gott, bereits eine ganze Zeit vor<br />

dem Brudermord einsetzt: in dem Moment, als der lauernde Dämon Macht über sein Herz<br />

gewinnt. Der Mord selbst bringt eigentlich nur noch das zum Ausdruck, was vorher schon<br />

vorhanden war.<br />

Unser Text ist damit aber nicht zu ende. Das Urproblem, den Kern aller Konflikte beim Namen<br />

zu nennen, ist wichtig, aber es ist nicht genug. Was ist denn der Weg, den Dämon vor<br />

des Herzens Tür beherrschen lernen? Was müssen wir tun, um nicht Opfer unseres Zorns<br />

zu werden?<br />

Darauf antwortet der zweite Teil der Erzählung. „Wo ist dein Bruder Abel?“ fragt Gott Kain.<br />

Gott kennt natürlich die Antwort. Dennoch ist das viel mehr als eine rhetorische Frage, denn<br />

sie richtet sich an uns. Mit dieser Frage werden wir als Geschwister aneinander gewiesen.<br />

Gott erinnert uns an die Verantwortung füreinander und fordert uns auf, mit schöpferischer<br />

Liebe dieser Verantwortung gerecht zu werden. Das ist eine Liebe, die in Vorleistung gehen<br />

muss. Damit meine ich: eine Liebe, die geübt, die praktiziert wird – auch auf die Gefahr hin,<br />

dass sie nicht erwidert wird.<br />

Kains Antwort ist brandaktuell. Sie passt in das Dilemma unserer Tage: „Soll ich meines<br />

Bruders Hüter sein?“ höre ich diejenigen fragen, die sich aus der Verantwortung füreinander<br />

und der Not der schöpferischen Liebe herausstehlen wollen. „Ich kenne meine Nachbarn<br />

kaum“, „hier im Haus kümmert sich jeder nur um seinen eigenen Kram“, „wir haben schon<br />

seit Jahren keinen Kontakt mehr“ ... so oder ähnlich klingen Kains Antworten heute. Und<br />

auch wenn dem keine Bluttat vorausgegangen ist, sind die Folgen kaum weniger grausam:


Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 10.09.06<br />

Vereinsamung, Isolation, sozialer Tod. Wenn jeder nur noch zusieht, dass er selbst zu seinem<br />

Recht kommt (oder zu dem, was er dafür hält), muss er mit der Schuld leben, dass dabei<br />

viele auf der Strecke bleiben. Und er wird sich für diese Schuld verantworten müssen.<br />

Auch Kain wird mit seiner Schuld konfrontiert. Er hatte alles getan, sie zu verbergen (Abel<br />

beiseite geführt; die Schuld geleugnet), aber die Erde selbst lässt sie laut werden: die Stimme<br />

des Blutes schreit zu Gott. Wir wissen, wie erschreckend hart die Strafen im Alten Testament<br />

ausfallen. Für unser Rechtsempfinden heute ist es manchmal schwer erträglich zu<br />

lesen, wie im Alten Testament vergleichsweise kleine Vergehen mit dem Tod bestraft werden.<br />

Umso mehr verwundert das Ende von der Erzählung. Kain wird hart bestraft, keine Frage.<br />

Unstet und flüchtig auf Erden, immer im Kampf mit der Erde ums tägliche Brot, zudem<br />

gezeichnet mit dem Mal, für jeden als Mörder erkennbar und dadurch isoliert; das ist sein<br />

Schicksal. Und dennoch bleibt er unter Gottes Schutz. Ja, das Kainszeichen wird fast zum<br />

Segenszeichen (wer Kain tötet, „soll siebenfältig gerächt werden“). So viel bleibt festzuhalten:<br />

Auch der Belastete, ja Verfluchte bleibt unter den Augen Gottes. Gott will, dass er lebt.<br />

Für mich hat der Text hier fast neutestamentliche Züge. Wir wissen, wie Jesus mit Schuldiggewordenen<br />

umgegangen ist und wie er immer wieder Gottes große Liebe und Vergebungsbereitschaft<br />

unserer Tendenz zum schnellen Aburteilen gegenübergestellt hat. Wer selbst<br />

ohne Schuld ist, der richte seine Waffe auf Kain ... ist man versucht, (sehr frei) zu formulieren.<br />

Auch das ist mir am Text wichtig: Die Warnung vor dem schnellen, selbstgerechten Urteilen.<br />

Wir sollten daran denken<br />

• dann etwa, wenn wir uns vollmundig an der Diskussion über die späte Lebensbeichte<br />

eines Günter Grass beteiligen;<br />

• dann, wenn uns die Wut blind zu machen droht, im ohnmächtigen Kampf gegen den<br />

Terrorismus, wenn so viele nach schnellen, radikalen, allzu einfachen Lösungen rufen;<br />

• aber auch dann, wenn wir laut und zornig reagieren, wenn (wie am vergangenen<br />

Sonntag) eine Kollekte für die Gefängnisseelsorge erbeten wird.<br />

Der Dämon der Sünde lauert vor der Tür jedes Herzens, und er hat viele Gesichter!<br />

Amen.


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

in der<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am 15. Sonntag nach Trinitatis<br />

24. September <strong>2006</strong><br />

Predigttext: Galater 5, 25-6,10:<br />

Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln. Lasst uns nicht nach eitler Ehre<br />

trachten, einander nicht herausfordern und beneiden. Liebe Brüder, wenn ein Mensch etwa<br />

von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist, ihr,<br />

die ihr geistlich seid; und sieh auf dich selbst, dass du nicht auch versucht werdest. Einer<br />

trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. Denn wenn jemand meint,<br />

er sei etwas, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst. Ein jeder aber prüfe sein eigenes<br />

Werk; und dann wird er seinen Ruhm bei sich selbst haben und nicht gegenüber einem<br />

andern. Denn ein jeder wird seine eigene Last tragen. Wer aber unterrichtet wird im<br />

Wort, der gebe dem, der ihn unterrichtet, Anteil an allem Guten. Irret euch nicht! Gott lässt<br />

sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten. Wer auf sein Fleisch sät,<br />

der wird von dem Fleisch das Verderben ernten; wer aber auf den Geist sät, der wird von<br />

dem Geist das ewige Leben ernten. Lasst uns aber Gutes tun und nicht müde werden; denn<br />

zu seiner Zeit werden wir auch ernten, wenn wir nicht nachlassen. Darum, solange wir noch<br />

Zeit haben, lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen.<br />

Liebe Gemeinde!<br />

Ich weiß nicht, wie es den Christen seinerzeit mit diesem Paulus-Brief ergangen ist. Ich<br />

könnte mir aber denken, dass sie erhebliche Verständnisschwierigkeiten hatten. Dabei klingt<br />

die Ausgangsfrage doch ganz einfach: Wer ist ein Christ? bzw. Wie lebt ein Christ? Das dürfte<br />

ja nicht allzu schwer zu beantworten sein, zumal von einem Apostel wie Paulus. Und in<br />

der Tat sind viele der Anweisungen und Mahnungen gut verständlich. Dann aber wagt Paulus<br />

den großen Schritt. Er merkt: Es lassen sich gar nicht alle Einzelpunkte aufzählen; dazu<br />

ist die Frage viel zu groß. Wer ist ein Christ? Wie lebt ein Christ? Paulus will darauf eine generelle<br />

Antwort geben – kurz soll sie sein, kurz und prägnant, eine Art Glaubensformel, die<br />

sich einprägt.<br />

Er findet sie auch, diese Antwort. Aber verstehen wir sie auch?<br />

„Wer auf das Fleisch sät, wird Verderben ernten.<br />

Wer auf den Geist sät, wird das ewige Leben ernten.“<br />

Das Säen auf Fleisch, Säen auf den Geist – zwei Bilder, jedoch schwierige Bilder, denn sie<br />

machen nichts anschaulich, wenigstens nicht auf den ersten Blick. Dabei treffen sie den entscheidenden<br />

Punkt, für uns moderne Menschen noch mehr als für die Christen in Galatien.<br />

Mit „Fleisch“ meint Paulus die Summe aller Eigenschaften, mit denen die Natur uns ausgestattet<br />

hat. Dazu gehört der Verstand, der – etwa durch Wissenschaft und Technik – einen<br />

enormen Fortschritt an Erkenntnis bewirkt hat. Dazu gehören aber auch Egoismus und<br />

Selbstsucht, Neid und Aggression.<br />

Wir staunen über die rasante Entwicklung der technischen Möglichkeiten. Da ist gerade die<br />

erste Raumfahrt-Touristin aus dem All zurückgekehrt! Da wird das menschliche Erbgut entschlüsselt!<br />

Erbkrankheiten werden mikrochirurgisch behandelt; chirurgische Eingriffe also in


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 24.09.06<br />

der einzelnen Körperzelle! Wer hätte all so etwas noch vor wenigen Jahren für möglich<br />

gehalten?!<br />

Die technischen Möglichkeiten werden immer unglaublicher – und dennoch ist der Mensch<br />

offensichtlich nicht imstande, seine eigentlichen Probleme zu lösen: ein Zusammenleben in<br />

Würde und Frieden zu gewährleisten und Hunger und Armut zu überwinden.<br />

Der Mensch steht sich selbst im Weg. Auch die größten Fortschritte in Wissenschaft und<br />

Technik können nicht verhindern, dass Selbstsucht, Gewinnstreben und Vorteilnahme sich<br />

durchsetzen. Natürlich gab es das auch schon zur Zeit des Paulus (er spricht es ja auch offen<br />

an), welches Ausmaß es aber annehmen würde, konnte damals keiner ahnen. In nicht<br />

einmal einem halben Jahrhundert haben wir es „geschafft“, ein Fünftel des fruchtbaren Bodens,<br />

ein Fünftel der tropischen Regenwälder und Zehntausende von Tier- und Pflanzenarten<br />

unwiederbringlich zu verlieren. Mit atemberaubendem Tempo wurden und werden die<br />

natürlichen Ressourcen und Energieträger abgebaut. Gleichzeitig erleben wir eine Verelendung<br />

und Not von unbeschreiblichem Ausmaß. Im gleichen Zeitraum (eines halben Jahrhunderts)<br />

hat sich die Weltbevölkerung fast verdoppelt. Die Konsequenzen werden uns nach<br />

und nach bewusst (z.B. der Klimawandel), aber es gibt genügend Anzeichen, die auf weitaus<br />

Schlimmeres hindeuten: Tagtäglich fliehen Tausende von Afrikanern meist unter Lebensgefahr<br />

aus ihren Ländern nach Europa, weil sie weder Nahrung noch Kleidung haben und vor<br />

allem, weil in ihren Ländern das Wichtigste ausgeht: das Trinkwasser.<br />

Die Menschheit ist von sich aus offenbar nicht in der Lage, das Verderben, das von ihr selbst<br />

verursacht auf sie zukommt, abzuwenden. Und einen Fortschritt in Sachen Menschlichkeit<br />

und Verantwortung gibt es kaum. Eher macht sich Resignation breit, das Gefühl, eh nichts<br />

ändern zu können an den katastrophalen Entwicklungen. Die Devise lautet: Augen zu, solange<br />

es geht. Als an den Urlaubsstränden auf den Kanaren halbtote afrikanische Flüchtlinge<br />

vor die Füße der sonnenbadenden Touristen gespült wurden, waren die es, die eine erste<br />

Notversorgung leisteten (die Behörden sehen sich dazu nicht mehr imstande). In den A-<br />

bendnachrichten wurden die entsprechenden Bilder gezeigt. Und es wurden einige Touristen<br />

interviewt. Auf die Frage, ob das Flüchtlingsdrama bei ihnen etwas verändert habe, antworteten<br />

gleich mehrere: Ja, sie hätten erkannt: hier könne man nicht mehr hinfahren zum Urlaub<br />

machen.<br />

Augen zu, solange es geht ...<br />

„Wer auf das Fleisch sät, wird Verderben ernten“, sagt Paulus. Und er meint damit, unsere<br />

verhängnisvolle Tendenz, ganz auf die eigenen Fähigkeiten, die eigene Stärke zu vertrauen.<br />

Wir sind dabei, in vollem Ausmaß zu erleben, wohin das führt.<br />

Aber Paulus hat auch etwas dagegen zu setzen: „Wer auf den Geist sät, der wird das ewige<br />

Leben ernten.“ Das „Fleisch“ samt seinen verhängnisvollen Folgen ist offenbar nicht alles. Im<br />

Menschen wohnt der Hang zur Destruktivität; sie kann viele Gesichter haben (Neid, Selbstgerechtigkeit,<br />

Selbstsucht, Gewinnstreben ...), aber wir sind dem nicht heillos ausgeliefert.<br />

Christen sind begabt mit Gottes Geist. Im Glauben an Jesus Christus wird er uns verliehen –<br />

und er bewirkt viel: Er lässt uns spüren, dass wir geliebt und von dieser Liebe getragen sind.<br />

Das entlastet. Plötzlich merken wir, dass wir frei sind von dem Zwang, in allem immer nur auf<br />

uns zu achten. Wer sich von Gottes Liebe gehalten weiß, der muss nicht dauernd Angst haben,<br />

zu kurz zu kommen. Dessen Blick wird frei für den anderen, für dessen Nöte und Belange.<br />

Wer im Geist lebt, spürt Kraft frei werden.<br />

„Wenn wir im Geiste leben, so lasst uns auch im Geiste wandeln“, sagt Paulus. Und er gibt<br />

an, worin der Wandel im Geist besteht. „Wandel im Geist“ vollzieht sich in der Befolgung der<br />

einfachen, selbstverständlichen Regeln von 'Anstand, Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft.<br />

Das klingt so simpel und banal – und doch muss es gesagt werden, gerade heute, wo uns<br />

das vermeintlich so Selbstverständliche abhanden zu kommen droht.<br />

Das Bild vom Säen und Ernten auf das Fleisch und auf den Geist hat mir anfangs viel Mühe<br />

gemacht. Jetzt aber, im Blick auf das Ergebnis, gibt es mir sehr viel. Ich finde es gut und hilfreich,<br />

dass Paulus vom „Ernten“ spricht. Ich glaube, er vermeidet es bewusst, von Erfolg zu


Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 24.09.06<br />

sprechen. Das klingt allzu sehr nach eigenem Verdienst. Es sind aber nicht wir selbst, es ist<br />

der Geist, der etwas bewirkt – durch uns. Wir dürfen (um im Bild vom Ernten zu bleiben) erleben,<br />

wie unser Leben im Geist Frucht bringt.<br />

Das kann manchmal dauern – länger als es uns lieb ist. Da wird von uns die Geduld erwartet,<br />

die der Bauer aufbringen muss. Er kann säen, er kann den Boden bearbeiten, die<br />

Fruchtansätze pflegen. Dann aber muss er warten, bis die Frucht reif ist. Dazu kann er nichts<br />

tun.<br />

Nicht anders geht es uns, wenn wir „im Geist leben“. Wer so lebt, wie Christus es von uns<br />

erwartet, kann nicht auf den schnellen Erfolg hoffen. Aber die Frucht seines Handelns ist ihm<br />

verheißen – und noch mehr: Gute, schöne Früchte üben eine besondere Anziehungskraft<br />

aus. Sie locken andere heran. Sie leuchten verheißungsvoll, wecken den Appetit, machen<br />

die Lust auf mehr. So ist es auch mit den Früchten, die durch den Geist gewirkt sind: Sie ü-<br />

ben auf andere eine große Anziehungskraft aus.<br />

Wir hören in diesen Tagen viel vom „starken“ Islam; oft genug wird dabei der „starke“ Islam<br />

gegen das „schwache“ Christentum abgesetzt. So ein Vergleich ist zu kurz gedacht, ist oberflächlich.<br />

Der Geist Christi verschafft sich nicht mit markigen Worten Geltung. Er arbeitet nicht mit<br />

Angst und Drohgebärden. Er ist an seinen Früchten erkennbar. Wo in den Familien und Gemeinden,<br />

in den Büros und Parlamenten anständig, menschlich, ehrlich und liebevoll miteinander<br />

umgegangen wird, gewinnt Gestalt, was Paulus mit dem Geist Gottes meint. Das, versichert<br />

er uns, kann viel bewirken. Deshalb: „Lasst uns Gutes tun an jedermann. Wir haben<br />

die Zeit dazu.“ Oder (mit Luther schärfer und für unsere Tage passender übersetzt): „Lasset<br />

uns Gutes tun, solange wir noch Zeit haben.“<br />

Amen.


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am Erntedankfest<br />

01. Oktober <strong>2006</strong><br />

Predigttext: 1. Timotheus 4,4-5<br />

Liebe Gemeinde!<br />

Der Predigttext zum Erntedankfest ist kurz, nur zwei Verse lang:<br />

Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen<br />

wird; denn es wird geheiligt durch das Wort Gottes und das Gebet.<br />

Das klingt unspektakulär, allzu selbstverständlich (wenigstens im ersten Moment). „War das<br />

schon alles?“ wird mancher insgeheim fragen.<br />

Ursprünglich aber waren diese wenigen Worte durchaus brisant und umstritten. Paulus<br />

schreibt sie an Timotheus. Der ist in einer schwierigen Situation: Er will Gemeinden in Ephesus<br />

(und Umgebung) aufbauen und festigen. Aber er kommt nicht recht weiter. Überall stößt<br />

er auf Widerstand, vor allem Irrlehrer machen ihm das Leben schwer.<br />

In Ephesus ist es vor allem eine Gruppe, die viel Einfluss hat. Sie lehrt, man könne durch<br />

Enthaltsamkeit und durch Einhaltung bestimmter Speisevorschriften schneller und sicherer<br />

zu Gott finden. Die sind es, gegenüber denen Paulus mit Nachdruck betont: „Alles, was Gott<br />

geschaffen hat, ist gut und nichts verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird.“ Mit anderen<br />

Worten: Ihr dürft alles zu euch nehmen, was euch schmeckt. Entscheidend ist nicht,<br />

was ihr esst, sondern mit welcher Haltung ihr es zu euch nehmt: Dankbar sollt ihr sein und<br />

euch bewusst machen, dass hinter allen guten Gaben ein Geber steht, Gott selbst.<br />

Irrlehrer, wie die in Ephesus haben wir heute nicht mehr. Und doch gibt es sie wieder – in<br />

anderer Gestalt und mit neuem Gesicht. Lehrer, die „Heilswege“ beschreiben; die uns sagen,<br />

wie wir unser Heil-Sein selbst machen.<br />

„Trainingsprogramme“ für Körper, Geist und Seele gibt es etliche, und die Vokabeln, mit denen<br />

sie angeboten werden, sind verräterisch. Von „Gesundheitsaposteln“ ist die Rede; Anführer<br />

der Bestsellerlisten werden sogar als „Gesundheitspäpste“ bezeichnet und die Boulevardpresse<br />

nennt ihre Bücher gerne „Evangelien“. Das ist selten scherzhaft gemeint. Etwas<br />

anderes zeigt sich: Der Verlust von Glaube und Bibel hat Lücken hinterlassen. Es fehlt an<br />

Sinn und Orientierung, an Lebenszielen. Doch auch wenn wir es uns nicht gerne eingestehen:<br />

Keiner kann leben ohne Orientierung und Zielvorstellungen. Und so werden die Lücken<br />

gefüllt durch neue Angebote. Das, was früher Askese und Enthaltsamkeit genannt wurde,<br />

heißt heute Diät und Fitness. Das ist an sich ja nichts schlechtes (maßvoll zu essen und für<br />

genügend Bewegung zu sorgen, ist sogar lebenswichtig). Gefährlich aber wird es, wenn es<br />

den obersten Stellenwert im Leben einnimmt. Dann wird es zu dem, was Luther „Götze“<br />

nennt: Das, woran mein Herz hängt; wenn Fitness zum „Körperkult“ wird, und Diäten zu Diätenwahn<br />

und Magersucht führen.<br />

Die neuen „Gesundheitsapostel“ sind in dem, was sie versprechen, ja nicht zimperlich:


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 01.10.06<br />

‣ Der, der sich an ihre Weisungen hält, wird von „wahrer“ Lebensenergie durchflutet<br />

(das meint Leistungsstärke, Gemütsruhe, Seelenfrieden …);<br />

‣ „ewige“ Gesundheit mit einem<br />

‣ Durchschnittsalter von 140 Lebensjahren.<br />

Wir merken schon: Hier geht es nicht mehr um seriöse Medizin und Wissenschaft, hier geht<br />

es um Glauben (im Sinne von: vertrauen auf). Fitness und Diäten, „Körperbewusstsein“, (wie<br />

es heute gern genannt wird) kann religiöse Züge annehmen, mehr noch: es ist zu einer Art<br />

neuer Religion geworden.<br />

Was haben Paulus und Timotheus dagegenzusetzen? Als Maßstab für unser Essen und<br />

Trinken nur das Eine: dass wir Gott von ganzem Herzen danken können. Das ist alles: ein<br />

Leben voller Dankbarkeit. Wenn der Timotheusbrief Recht hat, reicht das im Grunde aus, um<br />

fürs Leben fit zu sein.<br />

Einer, der sich beschenkt weiß und dankbar ist, hat wirklich eine Lebensgrundlage und wird<br />

das auch ausstrahlen. Gott hält mich, Gott sorgt für mich … ich muss mich nicht stark und<br />

schön trimmen, um vollwertig zu sein. Für Gott bin ich es längst.<br />

Das klingt sehr einfach. Aber gerade mit dem Wort ‚Dankbarkeit’ klingt ein sehr problematischer<br />

Punkt an. „Aus Gewöhnung entsteht Verwöhnung“, las ich kürzlich. So ist es doch tatsächlich:<br />

Wir haben uns längst daran gewöhnt, alles Lebensnotwendige zu haben. Mehr<br />

noch: Wir haben uns an einen gewissen Luxus gewöhnt; er ist uns ganz selbstverständlich.<br />

Wir sind verwöhnt, und bei Gewöhnung und Verwöhnung bleibt die Dankbarkeit schnell auf<br />

der Strecke.<br />

Dabei kennen gerade die Älteren unter uns auch noch ganz andere Zeiten. In der Kriegsund<br />

Nachkriegszeit war nicht einmal das zum Leben Allernötigste selbstverständlich. „Gib<br />

uns unser täglich Brot“ war oft die wichtigste Bitte im Vaterunser. Das hat auch noch die<br />

fünfziger und sechziger Jahre geprägt. Der heute so verpönte Satz „Es wird gegessen, was<br />

auf den Tisch kommt“ war allgemein im Gebrauch – einfach schon vom Bewusstsein her,<br />

dass es keineswegs selbstverständlich ist, dass überhaupt etwa auf den Tisch kommt.<br />

Das hat sich inzwischen gründlich geändert. Wir haben uns daran gewöhnt, auszuwählen<br />

aus einem reichen Angebot (um nicht zu sagen Überfluss), und der einzelne ist eher bedroht<br />

von der Maßlosigkeit im Essen als vom Hungern. Wofür also sollte man dankbar sein? Wer<br />

heute Konfirmandenfreizeiten macht, kann sehen, wie beim Mittagessen gefüllte Schüsseln<br />

zurückgehen, weil alle schon von mitgebrachten Süßigkeiten und Chips satt sind.<br />

Das Wort „Gabe“ ist außer in der Kirche heute kaum noch in Gebrauch. Mit dem Wort ist<br />

auch dessen ursprüngliche Bedeutung verloren gegangen. Es drückt nämlich eine Beziehung<br />

aus; die Beziehung zwischen einem Geber und einem Be-Gabten, einem Beschenkten.<br />

Wer nun das Wort ‚Gabe’ aufgibt, der verliert auch die darin anklingende Beziehung. Er verliert<br />

den Geber aus den Augen.<br />

Ich denke, dass trifft die Situation heute wirklich: Wir erleben uns nicht mehr als abhängig,<br />

sondern als Macher und Könner. Als solche haben wir alles im Griff (sogar Missernten und<br />

ungünstiges Klima). Materiell steht uns alles zur Verfügung. Wir haben es nicht mehr nötig,<br />

uns beschenken zu lassen.<br />

In anderen Kulturen und Ländern sieht das ganz anders aus. Da ist das ursprüngliche Verständnis<br />

von den Dingen als guten Gaben noch lebendig. Eine europäische Missionarin beschreibt,<br />

wie sie das in Afrika zurückgewann: „Ich war im Norden von Südafrika gereist. Ein<br />

schwarzer Pfarrer hatte mir das Land, die karge Landwirtschaft und die armseligen Behausungen<br />

der Schwarzen gezeigt. Es war heiß und wir waren schon lange unterwegs, als wir in<br />

einem Haus einkehrten. Ich war durstig und müde und als uns unser Gastgeber einen Kaffee<br />

anbot, nahm ich erfreut an. Es dauerte sehr lange, bis er den Kaffee brachte. Im Gespräch<br />

hinterher erfuhr ich: Es gab kein Wasser im Haus; er hat es erst holen müssen. Es gab auch<br />

keine Elektrizität; er hatte einen Ofen mit Holz anheizen müssen um das Wasser zu kochen.<br />

Auch die Milch hatte er noch angewärmt. Es kam alles aus spärlichen Vorräten.“


Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 01.10.06<br />

Diese kleine Episode macht deutlich: Wer seinen Kaffee so empfängt, der erlebt ihn ja wirklich<br />

als Gabe. Was bei uns über die Kaffeemaschine zur selbstverständlichen Nebensächlichkeit<br />

geworden ist (wenn das Blubbern der Kaffeemaschine lauter wird, erinnert es uns<br />

daran, dass der Kaffee nebenbei fertig geworden ist), das ist dort in Afrika noch etwas Besonderes:<br />

Das Kaffeetrinken als ein bewusster Prozess – von der Vorratseinteilung über die<br />

Herstellung bis zum Teilen und gemeinsamen Genießen. Die Sache wird als „Gabe“ erlebt –<br />

und es geschieht noch mehr: Beziehungen wachsen und werden bewusst erlebt: im Geben<br />

auf der einen Seite, im Nehmen auf der anderen Seite.<br />

Im Grimmschen Wörterbuch heißt es unter dem Stichwort „Dankbarkeit“: „Wer nicht beweiset<br />

Dankbarkeit, ist wie ein Brunnen, der ohne Wasser steit.“ Das meint doch: Wer das, was er<br />

empfängt, nur noch als selbstverständlich hinnimmt, der trocknet aus; der wird leblos und<br />

einsam. Wer Dankbarkeit nicht mehr ausdrücken kann, der verkümmert; seine Beziehungen<br />

veröden – die zu Gott ebenso wie die zu den Mitmenschen.<br />

So führt uns das Erntedankfest auf die Grundlage und die Voraussetzung für das Gelingen<br />

alles Lebens zurück – nicht nur in Hinsicht der materiellen Gaben, sondern vor allem in der<br />

Beziehung zum Geber. Lasst uns die vor allem anderen pflegen und lebendig halten!<br />

Amen.


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

in der<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am 20. Sonntag nach Trinitatis<br />

29. Oktober <strong>2006</strong><br />

Predigttext: 1. Korinther 7,29-31:<br />

Die Zeit ist kurz. Fortan sollen auch die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die<br />

weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen,<br />

als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn<br />

das Wesen dieser Welt vergeht.<br />

Liebe Gemeinde!<br />

Es scheint, als stünden wir mit dem Sonntag heute schon mit einem Fuß im Monat November.<br />

Der goldene Oktober ist schlagartig zu ende; Herbststürme und nasskaltes Wetter künden<br />

vom schweren Teil des Herbstes: die traurigen, die drückenden Tage sind nahe; das<br />

Denken an Tod und und Vergänglichkeit; Buß- und Bettag, Volkstrauertag, Ewigkeitssonntag<br />

...<br />

Der Predigttext von heute Morgen klingt wie der Auftakt von alledem: Paulus schreibt: „Die<br />

Zeit ist kurz. Fortan müssen die, die verheiratet sind, so sein als wären sie es nicht: und die,<br />

die weinen, als weinten sie nicht; und die, die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die<br />

etwas kaufen, als besäßen sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als gebrauchten sie<br />

sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.“<br />

In unserem Denken klingt das wirklich schwermütig, fast depressiv. Aber genau das ist das<br />

Problem, wenn kleine Verseinheiten aus dem Zusammenhang gerissen zu Predigttexten<br />

gemacht werden. Schon im Vers danach sagt Paulus: „Ich möchte aber, dass ihr ohne Sorge<br />

seid.“ Ihm geht es nicht darum, Angst zu schüren vor dem Ende der Welt oder seinen Lesern<br />

die Freude am Leben zu verderben. Ganz im Gegenteil: Ganz ausführlich nimmt er Stellung<br />

zu allen Lebensfragen aus der Gemeinde – zur Familie, Beruf, und Glaubensleben. Aus dem<br />

Glauben an Christus heraus soll all das neu beantwortet und gestaltet werden und das vor<br />

allem in einer positiven, sorglosen Grundstimmung.<br />

Das, was heute manchem Angst macht („die Zeit ist kurz“, „die Welt vergeht“), hatte für die<br />

Christen zur Zeit des Paulus einen ganz anderen Klang: Es weckte Freude! Man erwartete<br />

die Wiederkunft Christi noch zu eigenen Lebzeiten. Es war ein unruhiges, aufgeregtes Warten<br />

– geprägt von einer glühenden Liebe zu Christus und dementsprechend eine fieberhafte<br />

Ungeduld: Wann ist es endlich so weit, dass wir die vollkommene Gemeinschaft mit ihm erleben<br />

dürfen?! Das war die eine große Frage, die über allen anderen stand. Und auch wenn<br />

Paulus alle Fragen zu allen Lebensbereichen gründlich beantwortet, waren die doch nur von<br />

vorläufigem Interesse. Denn der, der Christi Wiederkunft noch zu Lebzeiten erwartet, kann<br />

getrost sagen: das ist doch alles nicht mehr so wichtig!<br />

Für uns hat sich viel verändert. Die Naherwartung der frühen Christen findet sich heute allenfalls<br />

noch bei einigen Sekten und Sektierern (wie den Zeugen Jehowas). Ja, man muss wohl<br />

radikaler fragen: Gibt es unter Kirchenchristen überhaupt noch einen Glauben an oder ein<br />

Bewusstsein von der Wiederkunft Christi?! Der christliche Glaube ist allgemein ja zurückgegangen,<br />

und schaut man mal auf die Glaubensinhalte, muss man wohl feststellen: der Glaube<br />

daran, dass Christus wiederkommt und das das Ende der Welt markiert, hat wohl die


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 29.10.06<br />

größte Inflation erfahren. Weltuntergangsszenarien gibt es zuhauf (ernst zunehmende wissenschaftliche<br />

ebenso wie phantastische in Kino und Fernsehen). Christus spielt darin aber<br />

keine Rolle mehr.<br />

Können uns Paulus' Worte dennoch etwas sagen? Können sie auch unser Zeit- und Lebensgefühl<br />

erreichen? Ich denke schon!<br />

Manchmal geschieht es, dass die Welt, in der wir uns einigermaßen sicher eingerichtet haben,<br />

aus den Fugen gerät. Das kann ganz unterschiedliche Ursachen haben – positive oder<br />

negative, glückliche Ereignisse oder persönliche Katastrophen. Sich zu verlieben etwa verwirrt,<br />

bringt durcheinander, macht alles anders. Ebenso das plötzliche Ende einer Partnerschaft,<br />

das Zerbrechen einer alten Freundschaft, eine schlimme Diagnose, ein ungewollter<br />

Berufswechsel ... Wir versuchen dann, so schnell es geht, „das“ (d.h. uns, unser Leben) wieder<br />

in den Griff zu kriegen, zu einem geordneten Alltag („zur Tagesordnung“, denn diese<br />

Ordnung brauchen wir) zurückzufinden. Oft dauert das, braucht seine Zeit und wir merken,<br />

wie schwer es ist, auf einem schwankenden Lebensboot auszuhalten.<br />

Es können aber auch Alltagserfahrungen Signale einer Not sein. Jüngere Menschen mögen<br />

darüber schmunzeln, älteren dagegen das Lebensboot gehörig ins Schwanken bringen:<br />

schon wieder diese Brille verlegt, dieses unsichtbare Ding; schon wieder ist der Schlüsselbund<br />

nicht an seinem Haken; schon wieder einen ganz wichtigen Namen vergessen ... Wer<br />

das ständig (und sich häufend) erlebt, erfährt das als ganz große persönliche Not.<br />

Ich glaube, dass Paulus' Worte für all solche verunsichernden Lebenslagen wirklich hilfreich<br />

sind. Er kann sie nicht ändern, aber er nimmt ihnen ihren bedrohlichen Stellenwert; er relativiert<br />

sie. „Weinen, als weinte man nicht ... denn das Wesen der Welt vergeht.“ Das meint<br />

doch: Alles, was wir leben, was wir erleben, ist nur vorläufig. Denn seit Christus auf der Welt<br />

war, wissen wir: Das Wesen dieser Welt vergeht. Alles, was wir Welt nennen, wird einmal zu<br />

ende sein. Vielleicht sogar morgen schon.<br />

Das hat nichts Pessimistisches oder gar Depressives. Im Gegenteil: es macht frei – frei von<br />

der Zeit und von sich selbst. Wir erleben heute vielfältig, was es heißt, „sich an die Welt zu<br />

verlieren“. Paulus setzt ein anderes dagegen. Im selben Kapitel sagt er: „Ihr seid teuer erkauft,<br />

werdet nicht Sklaven der Menschheit“ (der Welt) [Vers 23]. Jetzt bringt er es im Blick<br />

auf die verschiedenen Lebensbereiche auf den Punkt:<br />

• Ehe: eine Partnerschaft zu haben als hätte man nicht ... Daraus höre ich die Frage,<br />

wie wir in Beziehungen miteinander umgehen. Das Wort „haben“ erinnert an die Gefahr,<br />

in der jede Beziehung schwebt: dass der Partner als Besitz angesehen wird und<br />

einer sich das Recht herausnimmt, den anderen mit Erwartungen und Ansprüchen zu<br />

überschütten – so sehr, dass der andere nicht mehr frei ist, er selbst zu sein. Wieviel<br />

Druck, Zwang und Abhängigkeit können entstehen, wenn einer den anderen binden<br />

will – etwa durch Sätze wie: „Ich brauche dich“, „Ich kann ohne dich nicht leben“ ...<br />

Was manchmal im Gewand vermeintlicher Liebe daherkommt, ist oft in Wirklichkeit<br />

nur die egozentrische Angst um sich selbst; Angst vor Verlust und die Gier zu haben,<br />

zu besitzen.<br />

• Diese Gier zu haben und zu besitzen schwingt auch mit bei Paulus' Mahnung „zu<br />

kaufen, als besäße man nicht“. Die zurzeit mit so viel erbittertem Eifer geführte Diskussion<br />

über die sogenannte „Unterschicht“ hat ihren Grund unter anderem doch darin,<br />

dass wir uns heute in wachsendem Maße nur noch über das definieren, was wir<br />

uns leisten oder nicht leisten können. Auch hier sind Paulus' Worte ein gutes Korrektiv.<br />

Immer wenn's ums Haben und Besitztn geht, sollen wir uns daran erinnern: Das<br />

hat nur einen vorläufigen Wert. Das Wesen dieser Welt vergeht! Danach kommt Gottes<br />

neue Welt – schon angesagt in dem was Jesus gelebt hat, schon angebrochen in<br />

seiner Auferstehung.<br />

Dieser Ausblick, diese Erwartung und Hoffnung hilft uns, frei zu werden von falschen Zwängen<br />

und Abhängigkeiten; hilft uns loszulassen, was uns beherrschen will; hilft uns freizugeben,<br />

was wir meinen, festhalten zu müssen; hilft uns, einander als freie Menschen zu<br />

begegnen und zu lieben; hilft uns, „zu haben, als hätten wir nicht“.


Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 29.10.06<br />

In den letzten Tagen fiel mir die Urlaubswerbung eines Reiseveranstalters ins Auge. Eigentlich<br />

nicht mehr als ein Werbespruch, aber – mit paulinischem Vorzeichen sozusagen – zum<br />

Nachdenken wert: „Ich treffe im Urlaub immer wieder einen besonders netten Menschen:<br />

mich selbst. Es gibt viel zu entdecken, wenn man fühlt, dass man lebt. Und wie man lebt.“<br />

Wie gesagt nachdenkenswert – mit paulinischen Vorzeichen.<br />

Amen.


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

in der<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am 21. Sonntag nach Trinitatis<br />

04. November <strong>2006</strong><br />

Predigttext: Jeremia 29,1+4-7+10-14:<br />

Dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von Jerusalem sandte an den<br />

Rest der Ältesten, die weggeführt waren, an die Priester und Propheten und an das ganze<br />

Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte:<br />

So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu den Weggeführten, die ich von Jerusalem<br />

nach Babel habe wegführen lassen: Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst<br />

ihre Früchte; nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen,<br />

und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehret euch dort,<br />

dass ihr nicht weniger werdet. Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen,<br />

und betet für sie zum HERRN; denn wenn's ihr wohlgeht, so geht's auch euch wohl.<br />

Denn so spricht der HERR: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, so will ich euch heimsuchen<br />

und will mein gnädiges Wort an euch erfüllen, dass ich euch wieder an diesen Ort bringe.<br />

Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken<br />

des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe das Ende, des ihr wartet. Und ihr<br />

werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten, und ich will euch erhören. Ihr werdet<br />

mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich<br />

mich von euch finden lassen, spricht der HERR, und will eure Gefangenschaft wenden und<br />

euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe,<br />

spricht der HERR, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen<br />

lassen.<br />

Liebe Gemeinde!<br />

Zeilen für Heimatvertriebene hören wir heute Morgen. Absender des Briefes ist der Prophet<br />

Jeremia. Er schreibt aus der Heimat Jerusalem an die seiner Landsleute, die weggeführt<br />

wurden, zwangsumgesiedelt nach Babel, gezwungen zu Fronarbeit und Götzendienst. Er<br />

weiß genau, wie sich die Deportierten fühlen: entwurzelt, allein gelassen, all dessen beraubt,<br />

was ihnen wichtig war, von Gott bestraft, kaum fähig, sich Lebensmut zu bewahren, innerlich<br />

erstarrt, resigniert. „Selbst Gott ist gegen uns“, klagen sie. „er hat uns verlassen. Wir müssen<br />

die Schuld unseres Volkes tragen.“<br />

Daneben sieht Jeremia noch eine zweite Gruppe: solche, die die Wirklichkeit einfache leugnen.<br />

„Babels Macht wird schnell zerbrechen“, behaupten sie und sie versprechen: „Schon<br />

bald sind wir alle zurück in der Heimat.“<br />

Jeremia wendet sich gegen beide. Es ist, als wolle er sie geradezu wachrütteln: „Richtet<br />

euch ein auf eine lange Zeit in der Fremde. Baut Häuser, pflanzt Gärten, gründet Familien!“ –<br />

Schon das wird die meisten überfordert haben, aber Jeremia setzt noch eine Zumutung o-<br />

bendrauf: Sorgt auch für Babel! „Suchet der Stadt Bestes … und betet für sie zum Herrn;<br />

denn wenn es ihr gut geht, dann geht es euch gut.“<br />

Das ging nun wirklich zu weit und es hat mit Sicherheit alle aufgerüttelt, die Resignierten wie<br />

die Träumer. Ich kann ihre Proteste förmlich hören: Sollen wir die Schande der Deportation<br />

einfach vergessen? Ist es nicht unsere Pflicht, im Exil Tag und Nacht daran zu arbeiten, den


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 04.11.06<br />

Feind zu schwächen? Und müssen wir nicht allein Abscheu und Ekel zeigen, bei allem, was<br />

Babel lebt, seiner Kultur, seinen Göttern?!<br />

Jeremias Brief wird nicht viel Begeisterung ausgelöst haben, im Gegenteil. Grund ist nicht<br />

nur die Anweisung: Setzt euch ein für eure Gegner, wohnt in Babel und betet für diese Stadt.<br />

Mehr noch ist es eine große Enttäuschung. Von prophetischer Post aus der geliebten Heimat<br />

hatte man sich sicher einiges erhofft und erwartet, vor allem Trost. Aber gerade in dieser<br />

Hinsicht enttäuschen die Zeilen: Siebzig Jahre soll die Zeit der Vertreibung währen (etwa<br />

drei Generationen), frühestens dann wird sich das Blatt wenden. Die Nachkommen der<br />

Nachkommen werden vielleicht heimkehren dürfen. Von den Deportierten selbst wird das<br />

aber keiner mehr erleben.<br />

Ein schwacher Trost nur und dennoch, denke ich, ein ganz wichtiger Brief. Manchmal brauchen<br />

wir einen, der uns aufrüttelt, der uns die Wahrheit ins Gesicht sagt. Manchmal brauchen<br />

wir einen, der uns den „Tunnelblick“ wieder öffnet. Ein Teil der Deportierten hatte resigniert,<br />

sah nur noch ein schwarzes Loch, andere malten sich ihre Zukunft rosarot. Jeremia<br />

stellt beide zurück auf den Boden der Tatsachen; er öffnet ihnen die Augen. Und erst jetzt<br />

können sie seinen eigentlichen Trost hören und sehen: Gott ist da; er ist bei euch in Babel;<br />

wo ihr ihn sucht, da ist er zu finden. Ihr müsst erkennen: Die Zeit in Babel ist keine Wartezeit.<br />

Sie ist Gottes Zeit – und das heißt: sie ist Lebenszeit (und nicht etwa für Israel eine Art „Auszeit“<br />

der Geschichte.<br />

„Auszeit“ – das heißt im Sport: das Spiel wird unterbrochen. Man kann sich beraten und neu<br />

formieren. Die Uhr wird angehalten, und nachher geht es mit konzentrierter Aufmerksamkeit<br />

weiter. Aber die Geschichte kennt keine Auszeit. Gottes Geschichte läuft weiter und auch die<br />

Babel-Zeit ist gültige (Spiel-)Zeit. Deshalb Jeremias Aufforderung, die Zeit in Babel wirklich<br />

zu leben, und das meint: sich auf Dauer da einzurichten.<br />

Babel und Jerusalem sind zu Symbolen geworden. Vom „Sündenbabel“ sprechen wir einerseits,<br />

vom „himmlischen Jerusalem“ andererseits. Babel steht für Gottesferne und Gottlosigkeit,<br />

ja für das Böse schlechthin; Jerusalem für die Hoffnung, die Bestand hat oder (anders<br />

gesagt) Hoffnung, die sich erfüllt.<br />

So gesehen findet sich der Gegensatz in unserem Leben wieder: Babel-Zeiten, in denen ich<br />

herausgerissen werde aus meinem Lebensrhythmus; Zeit der Krankheit, Zeit der Einsamkeit,<br />

Zeit des Versagens. Babel-Zeit ist die Trauer, wenn ich einen geliebten Menschen verloren<br />

habe. Babel-Zeit ist die Zeit ungestillter Sehnsucht. Wie wichtig, jetzt Jeremia zu hören! Auch<br />

diese gestörte Zeit ist Lebenszeit, ist Zeit aus Gottes Hand, ist Zeit mit Zukunft. Auch Wartezeit<br />

(von der wir manchmal sagen, wir möchten oder müssen sie „totschlagen“) ist Zeit für<br />

uns. Jede Lebenszeit ist Zeit mit Zukunft. Zu jeder Zeit ist Gott bei uns, an jedem Ort.<br />

Mag sein, dass das Ziel meiner Sehnsucht weit weg ist. In jedem Fall aber kann ich Gott in<br />

mir finden. „Wenn ihr mich von ganzem Herzen sucht, will ich mich von euch finden lassen“,<br />

lesen wir bei Jeremia. Das ist doch ein klares Gotteswort! Auch in der schlimmsten Babel-<br />

Zeit bin ich euch ganz nahe: da, wo euer Herz schlägt, am Lebenskern.<br />

Aber (und das ist entscheidend!): Jeremia predigt nicht nur einfach Anpassung und Eintauchen<br />

im Fremden. Er sagt nicht einfach nur: Richtet euch ein in Babel! Er sagt auch: Hofft<br />

auf Jerusalem!<br />

Wohnt in Babel und hofft auf Jerusalem – das heißt: lebt da, wo ihr seid, richtig, bewusst, als<br />

ganze Menschen, aber vergesst nicht, woher ihr kommt. Ihr sollt in Babel leben aber Jerusalem<br />

im Herzen tragen. Wenn euch dieser Spagat gelingt, werdet ihr merken, dass sich etwas<br />

verändert: Wer sein Jerusalem im Herzen trägt, fängt an, diese Hoffnung zu leben, sie wenigstens<br />

ein Stück weit umzusetzen. Babel bricht auf und selbst in der schlimmsten Not<br />

kommt es zu Lichtblicken. Und so wie eine einzige Kerze Dunkelheit mit Licht und Wärme<br />

verwandeln kann, verwandelt ein einziger Lichtblick die Not von Babel.<br />

Ich denke auch, dass das nicht nur unsere persönlichen Babelzeiten betrifft (Krankheit,<br />

Trauer, Einsamkeit ...). Vielmehr geht es auch um das, was wir gemeinsam als Babel erleben,<br />

in Stadt und Land. Und das ist ausgesprochen viel: Derzeit können Sie in verschiede-


Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 04.11.06<br />

nen Sendern Serien verfolgen, in denen Familien gezeigt werden, die Deutschland den Rücken<br />

kehren und einen Neuanfang in fernen Landen wagen. Einzelne Aussteiger hat es immer<br />

gegeben, das ist nicht das Problem. Hier geht es um mehr: Um ganze Wellen von Auswanderern,<br />

die hier im Land keine Perspektive mehr sehen, denen das eigene Land zum<br />

fremden Babel geworden ist. Die Politik nimmt das – so weit ich sehen kann – nicht zur<br />

Kenntnis; sie ignoriert es.<br />

Gibt es von Jeremias Worten her eine Alternative? Wie ließe sich das konkret leben: aushalten<br />

in Babel, aber gleichzeitig von Jerusalems Hoffnung her Lichtblicke setzen, die die Not<br />

verändern?!<br />

Ein Beispiel dafür will ich Ihnen nennen, ein Beispiel aus der engen Nachbarschaft der eigenen<br />

Gemeinde: Unsere Carl-Cohn-Schule hat mit der City-Nord ein Gebiet mitzuversorgen,<br />

in dem sehr viele sozial Schwache, zudem auch viele Ausländerfamilien wohnen. Im Schulunterricht<br />

gibt es Probleme: Schüler, die kaum Deutsch sprechen, dem Unterricht nicht folgen<br />

können, von zu Hause keine Förderung erhalten. Bei immer mehr Schülern zeichnet<br />

sich ab, dass kaum ein erfolgreicher Hauptschulabschluss erzielt werden kann. Was das für<br />

die weitere Lebensperspektive bedeutet, ist klar: kein Ausbildungsplatz, kein Beruf, das soziale<br />

Abseits.<br />

Diese „Babel-Not“ erkannt, hat sich eine Initiative gebildet: Ein Dutzend Gymnasiasten vom<br />

Heilwig-Gymnasium hat sich zusammengefunden und bietet unter dem Motto „Schüler helfen<br />

Schülern“ jeden Tag Hausaufgabenhilfe in der Carl-Cohn-Schule an. Und noch mehr hat sich<br />

getan: Für weniger als einen Euro können Kinder aus sozial schwachen Familien zwischen<br />

Schule und Hausaufgabenhilfe ein warmes Mittagessen bekommen. Hier engagiert sich eine<br />

Reihe von Müttern.<br />

Solche Initiativen gibt es nicht nur in Winterhude, sondern auch in Jenfeld und an vielen anderen<br />

Stellen im Land. Das macht Mut. Und es zeigt, dass wir nicht nur hilflos gefangen sind<br />

in babylonischen Zuständen. „Suchet der Stadt Bestes“, fordert uns Jeremia auf, und schon<br />

das eine Beispiel zeigt, wie wichtig die einzelnen Lichtblicke sind. Nur durch solche werden<br />

wir zum „Licht der Welt“ als das Jesus uns beschreibt; nur durch solche wird Babel seine<br />

Grenzen finden.<br />

Amen.


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

in der<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am vorletzten Sonntag im Kirchenjahr<br />

19. November <strong>2006</strong><br />

Predigttext: Offenbarung 2,8-11:<br />

Dem Engel der Gemeinde in Smyrna schreibe: Das sagt der Erste und der Letzte, der tot war<br />

und ist lebendig geworden: Ich kenne deine Bedrängnis und deine Armut - du bist aber reich<br />

- und die Lästerung von denen, die sagen, sie seien Juden, und sind's nicht, sondern sind<br />

die Synagoge des Satans. Fürchte dich nicht vor dem, was du leiden wirst! Siehe, der Teufel<br />

wird einige von euch ins Gefängnis werfen, damit ihr versucht werdet, und ihr werdet in Bedrängnis<br />

sein zehn Tage. Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.<br />

Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt! Wer überwindet, dem soll<br />

kein Leid geschehen von dem zweiten Tode.<br />

Liebe Gemeinde!<br />

„In Berlin können sie jetzt rund um die Uhr einkaufen!“ – Diese Meldung scheint so sensationell,<br />

so weltbewegend zu sein, dass sie in allen Nachrichtensendungen der letzten Tage an<br />

erster Stelle stand. Schon in den letzten Wochen hatte man den Eindruck, dass alle am<br />

Weihnachtsgeschäft Beteiligten unruhig in den Startlöchern scharren: Wann endlich geht’s<br />

los?! Wann endlich fällt der Startschuss für die wirtschaftswichtigste Zeit im Jahr?! Wann<br />

endlich ist die Vorweihnachtszeit eröffnet? Und überhaupt: Warum eigentlich nicht jetzt<br />

schon?!<br />

Dass im November ganz andere Töne anklingen, dafür gibt es kaum noch ein Bewusstsein.<br />

Im Besonderen gilt das für den Tag heute: Heldengedenktag hieß er früher, Volkstrauertag<br />

heißt er heute offiziell, und weil auch damit immer weniger etwas anfangen können, haben<br />

kirchliche Gruppen versucht, ihn als „Friedenssonntag“ zu etablieren. In jedem Fall soll es<br />

ein Tag des stillen Erinnerns sein; ein Tag, der an das millionenfache Leid der Weltkriege<br />

erinnert und jeden, der sich dem stellt, zum Verstummen bringt. Ein Tag „sprachloser Trauer“<br />

also (vielleicht trifft es das am besten).<br />

Warum ist das so schwer geworden? Warum wird es von Jahr zu Jahr schwerer, solche Gedenktage<br />

zu bewahren? Ich glaube, es liegt vor allem daran, dass den jüngeren Generationen<br />

mehr und mehr der lebendige Bezug zur Geschichte verloren gegangen ist. Es ist etwas<br />

anderes, ob das Erleben von ein oder sogar zwei Weltkriegen (mit allem persönlichen Leid,<br />

was daran hängt) ein Teil der eigenen Geschichte ist – oder ob es nur (mehr oder weniger<br />

widerwillig) im Fach Geschichte als „totes“ Wissen mühsam angelernt ist. Und dort, wo nicht<br />

einmal das gelingt, schießt Unsägliches ins Kraut wie der massive Anstieg von Neonazigruppen,<br />

deren Ideologie und Gewaltbereitschaft zeigt.<br />

Aber das Problem ist nicht nur das mangelnde Geschichtsbewusstsein. Ich denke, es liegt<br />

noch tiefer. Ende der sechziger Jahre erschien ein sehr bemerkenswertes Buch: „Die Unfähigkeit<br />

zu trauern“. Darin beschreibt das Ehepaar Mitscherlich unsere Gesellschaft sehr treffend<br />

als eine, in der die Trauer immer mehr verdrängt wird. Das betrifft jede Art von Trauer:<br />

Die tägliche Trauer über uns, über den Tod (unseren eigenen wie den naher Menschen), die<br />

Trauer über die jüngste Geschichte und den Umgang mit ihr in diesem Land und schließlich<br />

auch die Trauer über den Zustand dieser Welt.


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 19.11.06<br />

Mittlerweile wissen wir das, wir fühlen und wir erleiden die Unfähigkeit zu trauern, aber es<br />

hilft uns nichts. Weiterhin versuchen wir Trauer und Traurigkeit möglichst aus unserem Leben<br />

zu verbannen. Ja wir werden geradezu zu Verdrängungskünstlern. Das zeigt sich am<br />

Umgang mit Sterbenden und Verstorbenen, am rapiden Zerfall unserer Bestattungskultur<br />

und eben auch in der so genannten historischen Vergangenheitsbewältigung. Schuld einzugestehen,<br />

Verantwortlichkeiten beim Namen zu nennen, ist schwer. Sogar das bloße Sich-<br />

Erinnern fällt schwer.<br />

„Versöhnung kommt durch Erinnern“ hat Simon Wiesenthal einmal sehr treffend formuliert.<br />

Und das meint nicht nur die Versöhnung zwischen Völkern und Religionen. Es meint auch<br />

ein ganz persönliches Sich-Versöhnen, ein Mit-sich-eins-Werden. Nur der, der die Kraft und<br />

Mühe aufbringt, sich dem Vergangenen in allen seinen Teilen zu stellen, nur der wird auch<br />

sein inneres Gleichgewicht finden; nur der wird auch von da aus ein Fundament haben, (seine)<br />

Zukunft zu gestalten.<br />

Die Unfähigkeit zu trauern korrespondiert mit einer anderen Unfähigkeit – nämlich der Unfähigkeit<br />

getröstet zu werden beziehungsweise sich trösten zu lassen. Wie soll oder kann ich<br />

denn traurig sein, wenn niemand meine Tränen sieht und sehen soll? Wahrscheinlich hat<br />

sich dieser Missstand, die Unfähigkeit zu trauern, auch deshalb so verfestigt, weil wir der<br />

Welt um uns den Trost nicht (mehr) zutrauen. Die Welt ist heute eine Trauerwüste – und sie<br />

ist trostlos. Kein Wunder, dass wir den Volkstrauertag, den Tag „sprachloser Trauer“ auch<br />

am liebsten loswerden wollen.<br />

Das muss aber nicht sein! Die Bibel zeigt uns, dass es eine Alternative gibt. Denn die Bibel<br />

ist voll von trauernden Menschen – und sie ist zugleich voll von Trost. Von einem Beispiel<br />

hören wir heute Morgen. Da wendet sich die Gemeinde von Smyrna in ihrer Not an den Bischof<br />

Johannes. Die Gemeinde besteht aus ausgesprochen armen Menschen. Sie erleben<br />

sich als Benachteiligte, als Außenseiter in der reichen Hafenstadt. Zudem droht Lebensgefahr,<br />

sie haben Angst vor der nächsten Christenverfolgung und vermuten Verräter in den eigenen<br />

Reihen. Ihr Bischof steht selbst in arger Bedrängnis. Er wurde von den Römern auf<br />

die Insel Patmos verbannt, und seine Möglichkeiten, von dort aus für die Seinen als guter<br />

Hirte zu wirken, sind sehr begrenzt.<br />

Dennoch, das Kunststück gelingt ihm. Tatsächlich kann er der Gemeinde Trost spenden. Sicher,<br />

sagt er, ihr seid arm und ihr müsst viel leiden. Aber seid gewiss: Euer Leiden ist nicht<br />

umsonst. „Fürchtet euch nicht ... Seid getreu bis in den Tod, dann wird es für euch die Krone<br />

des Lebens geben.“<br />

Das ist nun freilich kein Trost, der sich 1:1 auf uns übertragen lässt. Die einen werden sich<br />

(zu Recht) nicht abspeisen lassen wollen mit der Aussicht auf ein besseres, ewiges Leben<br />

nach dem Tod („Das ist doch Vertröstung, keine echter Trost!“). Für andere werden ungute<br />

Erinnerungen wach. „Getreu bis in den Tod ...“ – das klingt allzu sehr nach früheren Treueparolen.<br />

Im ersten Weltkrieg sollte man dem Kaiser „treu bis in den Tod“ dienen, im zweiten<br />

Weltkrieg dem Führer. Da wurde der hohe Wert „Treue“ oft missbraucht, zu Recht bildete<br />

sich später das Schlimme, aber so treffende Wort vom „Kadavergehorsam“ heraus.<br />

Wir wollen (so schwer es auch fällt) dieses negative Vorverständnis einmal beiseite schieben<br />

und bei dem Wort bleiben. Johannes meint ja wirklich nur das Eine: Die Treue gegenüber<br />

dem Herrn der Kirche, Christus. Nichts anderes. Alles und alle daneben haben sich dieser<br />

Treue unterzuordnen, wie sehr sie uns auch bedrängen mögen. So gesehen ist es dann tatsächlich<br />

hilfreich, einer solchen Absolutsetzung zu folgen (egal, ob man im ganz persönlichen<br />

Bereich eine Werteordnung sucht oder ob man debattiert um Ladenöffnungszeiten und<br />

den Beginn der Vorweihnachtszeit). Christus treu zu sein bis zum letzten Lebenstag, ihn als<br />

obersten, maßgebenden Wert zu bewahren ist eine gute Lebenshilfe.<br />

Aber auch das Weitere ist hilfreich, das Wort vom „ewigen Leben“. Das ist viel mehr als nur<br />

eine Vertröstung. Ich höre darin auch einen wichtigen Protest. Er sagt: Dieses Leben in seiner<br />

Unbarmherzigkeit kann nicht das sein, das für uns gemeint ist. Hier wird das eingeklagt,<br />

worauf Menschen hoffen: Eines Tages wird sich das ändern – Gott hilft Leuten wie uns.


Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 19.11.06<br />

Die „Krone des Lebens“ – das ist für mich weniger die Siegerkrone dessen, der sich nicht hat<br />

unterkriegen lassen. Eher ist es für mich eine Art Lichterkrone. Zu Lebzeiten ist und bleibt<br />

uns vieles dunkel, verborgen, unverständlich. Dann aber bei Gott werden auch die letzten<br />

Geheimnisse gelüftet, alle Fragen beantwortet und alle Tränen getrocknet werden. Da wird<br />

uns manches Licht aufgehen. Dann wird es hell werden. Deshalb: Fürchtet euch nicht!<br />

Liebe Gemeinde, es ist interessant zu sehen, dass Treue, Trost und Trauer in unserer Sprache<br />

alle den selben Wortstamm haben. Was zuerst wie ein Gegeneinander, unversöhnlich<br />

und gegensätzlich aussieht, gehört im Grunde zusammen. Geistlich hat das, finde ich, der<br />

Heidelberger Katechismus für uns sehr gut auf den Punkt gebracht: „Was ist dein einziger<br />

Trost im Leben und Sterben?“ heißt es da in der Frage eins. Und die Antwort darauf: “Dass<br />

ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem treuen Heiland<br />

Jesus Christus gehöre.“<br />

Amen.


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

in der<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am Ewigkeitssonntag<br />

26. November <strong>2006</strong><br />

Predigttext: Jesaja 65,17-25:<br />

Siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht<br />

mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird. Freuet euch und seid fröhlich<br />

immerdar über das, was ich schaffe. Denn siehe, ich will Jerusalem zur Wonne machen und<br />

sein Volk zur Freude, und ich will fröhlich sein über Jerusalem und mich freuen über mein<br />

Volk. Man soll in ihm nicht mehr hören die Stimme des Weinens noch die Stimme des Klagens.<br />

Es sollen keine Kinder mehr da sein, die nur einige Tage leben, oder Alte, die ihre Jahre<br />

nicht erfüllen, sondern als Knabe gilt, wer hundert Jahre alt stirbt, und wer die hundert<br />

Jahre nicht erreicht, gilt als verflucht. Sie werden Häuser bauen und bewohnen, sie werden<br />

Weinberge pflanzen und ihre Früchte essen. Sie sollen nicht bauen, was ein anderer bewohne,<br />

und nicht pflanzen, was ein anderer esse. Denn die Tage meines Volks werden sein wie<br />

die Tage eines Baumes, und ihrer Hände Werk werden meine Auserwählten genießen. Sie<br />

sollen nicht umsonst arbeiten und keine Kinder für einen frühen Tod zeugen; denn sie sind<br />

das Geschlecht der Gesegneten des HERRN, und ihre Nachkommen sind bei ihnen. Und es<br />

soll geschehen: ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören. Wolf<br />

und Schaf sollen beieinander weiden; der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind, aber die<br />

Schlange muss Erde fressen. Sie werden weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem<br />

ganzen heiligen Berge, spricht der HERR.<br />

Liebe Gemeinde!<br />

„Letzter Sonntag im Kirchenjahr“, „Totensonntag“, „Ewigkeitssonntag“, „Sonntag vom Jüngsten<br />

Tag“ ... der Sonntag heute hat viele Namen. Sollte Jesaja über den gültigen Namen entscheiden,<br />

ich bin sicher, er würde den Sonntag „Ewigkeitssonntag“ nennen. Gewiss, es waren<br />

vor allem immer wieder die Propheten, die dem Volk Gottes Jüngsten Tag ankündigten<br />

(auch wenn es keiner hören wollte) und die Klage um die Toten war groß zu Jesajas Zeit. Er<br />

aber will dem Elend nicht noch mehr Raum geben als es ohnehin schon hat. Die schwere<br />

Zeit der babylonischen Gefangenschaft war vorbei, endlich war man zurück in der Heimat<br />

Israel. Aber die Begeisterung war schnell vorbei. Resignation machte sich breit angesichts<br />

der Probleme: niedergebrannte Wohnhäuser, ein zerstörter Tempel, aber kein Baumaterial<br />

zum Wiederaufbau; verwüstete Felder und Weinberge, im Ergebnis also Hunger und Elend.<br />

Viele starben, zuerst die Älteren, die Schwachen und Kranken, auch viele Kinder, Trauer ü-<br />

berall, keine Perspektive für die Zukunft. Ist das der Jüngste Tag? fragen viele. Sie beklagen<br />

ihre Toten und rechnen damit, ihnen bald zu folgen.<br />

Jesaja ist einer der wenigen, die dagegen halten. Er will nicht einstimmen in eine endlose<br />

Totenklage und hält das Reden vom Jüngsten Tag für gefährlich. Wer sich darin einrichtet,<br />

hat sich und seine Welt schon aufgegeben.<br />

Nein, sagt er, Gott hat ganz anderes mit uns vor (auch wenn jetzt noch aller Augenschein<br />

dagegen spricht): einen neuen Himmel und eine neue Erde will er schaffen. Jerusalem (also<br />

auch der Tempel!) soll wieder zur Freude für das Volk werden. Die Kindersterblichkeit soll<br />

ein Ende haben; die Menschen werden leicht hundert Jahre alt werden. Sie werden in den


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 26.11.06<br />

Häusern wohnen, die sie selbst gebaut haben und werden gut leben von dem, was sie gesät<br />

und geerntet haben. Ein großer, ein allumfassender Friede wird sein (sogar in der Natur).<br />

Wie mögen solche Worte gewirkt haben auf seine Zuhörer? Nur als Vertröstung auf rosige<br />

Aussichten eines sehr fernen Tages? Oder ist es Jesaja gelungen, seine Zuhörer aufzurütteln<br />

sie aus ihrer Resignation herauszuholen?<br />

Sicher, das was Jesaja hier vorträgt, ist Zukunftsmusik. Aber dabei klingen besondere Töne<br />

an; Töne, die einladen mit zu musizieren. Ob es die Kinder oder die Alten sind, die Wohnhäuser<br />

oder die Felder – Jesaja nennt das beim Namen, was alle bewegt. Seine Zuhörer<br />

merken: sein Bild vom Paradies ist kein Wolkenkuckucksheim, das ist tatsächlich unser<br />

Land, es ist unsere Stadt, wir sind es, um die es hier geht. Das setzt Kräfte frei, das lässt<br />

neue Hoffnung wachsen. Die Menschen merken: Es muss nicht alles beim Alten bleiben.<br />

Versöhnen, etwas verändern, etwas neu einrichten ... das geht anfangs vielleicht nur in sehr<br />

kleinen Schritten, aber durch Jesajas Bild hat es eine Perspektive gewonnen. In seiner Zukunftsmusik<br />

ist es Teil einer Melodie.<br />

Wie geht es Ihnen mit Jesajas Zukunftsmusik?<br />

Erst einmal glaube ich, dass die verbreitete Stimmung im Land heute gar nicht so verschiedene<br />

ist von der zu Zeiten Jesajas. Auch heute sehen viele schwarz, wenn es um die Zukunft<br />

geht. Da ist zum einen der eigene Schmerz, eigenes Leiden, unverarbeitete Trauer, die<br />

den Blick nach vorn trüben. Zum anderen aber (und das noch viel mehr!) ist es das Leiden<br />

an der Welt.<br />

Zweidrittel der Weltbevölkerung hungert, die natürlichen Ressourcen (Öl, Wasser ...)<br />

schwinden; immer neue Krisenherde entstehen, die Kämpfe in den bestehenden werden<br />

immer erbitterter; die Klimakatastrophe spitzt sich zu, aber die Weltklimakonferenz endet ohne<br />

ein Ergebnis ... Kein Wunder, dass wir schwarz sehen im Blick auf die Zukunft – und<br />

„schwarz“ sehen heißt ja nichts anderes als: nichts sehen.<br />

Die Prophetenworte sind aber (über die Jahrtausende hinweg) auch an uns gerichtet. Auch<br />

wir sollen aufgerüttelt werden. Dabei fällt mir schon das erste kleine Wort des Textes ins Auge:<br />

„siehe“, steht da. Das ist wie eine Art Vorzeichen! Vielleicht erinnern sie es aus dem Mathematikunterricht<br />

früher: So ein Vorzeichen vor einer Klammer war wie ein stilles Ausrufungszeichen.<br />

Es stand über allem, was folgte, gab allem einen neuen Wert.<br />

„Siehe“ durchzieht hundertfältig die biblische Verkündigung – so als müssten wir immer wieder<br />

darauf aufmerksam gemacht werden: Es geht um verborgene Wirklichkeiten; um das,<br />

was sich nicht auf den ersten Blick erschließt, sondern was man erst im Nachdenken und im<br />

zweiten Hinsehen erkennt.<br />

Sieh auf Gott; öffne deine Augen für Gottes gute Pläne mit dir und der Welt! Lass dich nicht<br />

gefangen nehmen von Schwarzseherei und Schwarzmalerei! Wer im Glauben schaut, dem<br />

öffnet sich der Horizont und das schon in dieser Welt. Das Vertrauen zu Gott gibt Kraft für<br />

Visionen und Träume; die wiederum beflügeln das eigene Handeln. Wir wollen uns darauf<br />

einlassen und die Einladung annehmen (auch wenn sich der Realitätssinn des modernen<br />

Menschen noch so dagegen sperrt!)<br />

Zudem ist die Zukunftsmusik des Jesaja doch erstaunlich realistisch. Mit seinem Paradiesbild<br />

verspricht er uns nicht das Ende des Sterbens, wohl aber ein gesegnetes Sterben. Das<br />

ist nicht utopisch. Im Gegenteil: gerade hier können wir gute Zeichen sehen. Das Bewusstsein<br />

dafür, dass kein Mensch isoliert und allein gelassen sterben soll, ist in wenigen Jahren<br />

enorm gewachsen. Die Hospizbewegung ist ein gutes Beispiel dafür: Die Spendenbereitschaft<br />

ist groß, immer mehr Häuser werden eröffnet, immer mehr Menschen sind bereit, andere,<br />

auch fremde, im Sterbeprozess zu begleiten. Das gilt auch im Blick auf jene, die noch<br />

vor wenigen Jahren im Leben wie im Sterben allzu oft ausgegrenzt wurden, aidskranke Menschen<br />

etwa. Auch ihnen wird mehr und mehr die Gemeinschaft zuteil, die Gott verspricht –<br />

Gemeinschaft in den eigenen Familien und Hospizen.<br />

Dann spricht der Prophet vom Wohnen in den Häusern und dem Genießendürfen der eigenen<br />

Ernte. Für uns mag das selbstverständlich sein, für viele Menschen in Afrika und Süd-


Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 26.11.06<br />

amerika aber ganz und gar nicht. Die Klage über Missstände ist laut und berechtigt. Aber sie<br />

sollte nicht alles sein. Wir sollten aufzeigen, wo sichtbar Gottes neue Welt beginnt: wo Missionsgesellschaften,<br />

wo „Brot für die Welt“ ganze Dörfer und fruchtbare Kulturen anlegen, und<br />

wie auch immer mehr Jugendliche freiwillig soziale Jahre in Dritte-Welt-Ländern ableisten –<br />

Aufbauarbeit, die zugleich Verständigungs- und Friedensarbeit ist.<br />

Was ist mit dem dritten Bild? Der Stroh fressende Löwe, die enge Gemeinschaft zwischen<br />

Wölfen und Schafen ... Ich denke, das muss man nicht wörtlich nehmen. Für mich sind das<br />

Sinnbilder für großen Frieden und Harmonie. Sie illustrieren sozusagen den letzten Vers:<br />

„Weder Bosheit noch Schaden“ soll es in der neuen Welt geben. Zugegeben, davon sind wir<br />

weit entfernt. Und doch gibt es einen wichtigen Punkt: Wir wissen um die Gefahr. Es gibt ein<br />

Bewusstsein und dieses Bewusstsein wächst. Der Blick fürs Ganze, für die lebenswichtigen<br />

Zusammenhänge setzt sich durch. Auch das gehört für mich zu den guten Zeichen von Gottes<br />

lebendiger Wirklichkeit. Und wer einmal anfängt, solche Punkte zu sammeln, der wird<br />

bald eine Art „Segensliste“ aufstellen können.<br />

Resignation heißt Rückzug; heißt, sich selbst und das, was einem wichtig war, aufgeben (es<br />

kommt aus der lateinischen Militärsprache: re-signa: die Feldzeichen zurücknehmen). Resignation<br />

ist Kapitulation, der Verlust von allem. Genau das ist die Gefahr der Schwarzmalerei.<br />

Wenn wir dagegen trotz aller Trauer und gegen alle Katasprophen auf Gottes neue Welt zuleben,<br />

wirken wir ganz selbstverständlich an ihr mit. Jesajas Zukunftsmusik will uns dazu inspirieren,<br />

uns dabei begleiten.<br />

Mich hat ein Gebet von Solschenizyn sehr beeindruckt, das erst vor einigen Jahren veröffentlicht<br />

wurde. In der schwärzesten Zeit seines Lebens (in der Gefangenschaft) hat er es<br />

regelmäßig gebetet. Heute sieht Solschenizyn in diesem Gebet die wichtigste Kraftquelle für<br />

sein Weiterleben:<br />

Amen<br />

„Wenn mein Verstand matt wird und aufhört zu verstehen;<br />

wenn die klügsten Menschen nicht weiter zu sehen vermögen<br />

als bis zum Abend des Tages und nicht wissen, was morgen wird –<br />

dann sendest du, Gott, mir die Gewissheit,<br />

dass du da bist und für mich sorgen wirst,<br />

dass nicht alle Wege zum Guten verschlossen sind.“


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

in der<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am 1. Advent<br />

03. Dezember <strong>2006</strong><br />

Predigttext: Lukas 1,67-79:<br />

Und sein Vater Zacharias wurde vom heiligen Geist erfüllt, weissagte und sprach: Gelobt sei<br />

der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk und hat uns aufgerichtet<br />

eine Macht des Heils im Hause seines Dieners David wie er vorzeiten geredet hat durch den<br />

Mund seiner heiligen Propheten -, dass er uns errettete von unsern Feinden und aus der<br />

Hand aller, die uns hassen, und Barmherzigkeit erzeigte unsern Vätern und gedächte an<br />

seinen heiligen Bund und an den Eid, den er geschworen hat unserm Vater Abraham, uns zu<br />

geben, dass wir, erlöst aus der Hand unsrer Feinde, ihm dienten ohne Furcht unser Leben<br />

lang in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor seinen Augen. Und du, Kindlein, wirst ein Prophet<br />

des Höchsten heißen. Denn du wirst dem Herrn vorangehen, dass du seinen Weg bereitest<br />

und Erkenntnis des Heils gebest seinem Volk in der Vergebung ihrer Sünden, durch die<br />

herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes, durch die uns besuchen wird das aufgehende Licht<br />

aus der Höhe, damit es erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes,<br />

und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.<br />

Liebe Gemeinde!<br />

Wem die Freude am Singen abhanden gekommen ist, dem empfehle ich, ab und zu einen<br />

Kindergarten aufzusuchen. Bedenken wie „ich kann gar nicht singen“, „ich komm mir blöd<br />

dabei vor“ sind da schnell über Bord geworfen. Die Freude der Kinder am Singen hat etwas<br />

Ansteckendes, da muss man einfach einstimmen. „Blöd“ kommt sich nur noch der vor, der<br />

unter den erwartungsvollen Blicken der Kinder stumm bleibt.<br />

Machen Sie mal ein Weiteres und fragen Sie die Kinder, wann und mit wem sie zu Hause<br />

singen. Da gibt’s einen zweiten Aha-Effekt. Die wenigsten singen nämlich mit ihren Eltern,<br />

vielmehr sind es die Großeltern. Die kennen noch viele alte Liedtexte, die haben Freude am<br />

Singen, die bringen die Zeit und Geduld auf, sich die Lieder der Kinder anzuhören. Die Gottesdienste<br />

und unsere Feiern mit Senioren bestätigen mir das. Wie gern wird da gesungen!<br />

Und wenn der <strong>Pastor</strong> (aus welchen Gründen auch immer) von einem Lied nur einige Strophen<br />

aussucht, wird auch mal Protest laut: Warum denn nicht alle, bitte schön?! Es scheint<br />

die Regel: Je älter die Menschen sind, desto lieber singen sie (und stecken mit ihrer Begeisterung<br />

wieder die ganz kleinen an).<br />

Unser Predigtext heute Morgen bestätigt das. Es ist ein Lied, gesungen von einem sehr alten<br />

Mann. Sein Gesang damals war schon etwas sehr Besonderes. Immerhin hatte er vorher<br />

monatelang kein Wort gesagt, geschweige denn gesungen. Die Ankündigung der Geburt eines<br />

Sohnes hatte ihm – im wahrsten Sinne des Wortes – „die Sprache verschlagen“. Dass<br />

das noch wahr werden sollte, worauf er und seine Frau seit Jahrzehnten gewartet und gehofft<br />

hatten, das wollte, das konnte Zacharias einfach nicht glauben. Sein Unglaube, berichtet<br />

Lukas, war der Grund für sein Verstummen. Jetzt aber die Wende: Das Unglaubliche ist<br />

tatsächlich geschehen. Der Sohn ist da und das Herz des Vaters quillt über vor Freude. Er<br />

singt, oder besser noch: Es singt aus ihm heraus.<br />

Damit sind wir eigentlich schon beim zweiten Wunder. Jeder hätte verstanden, wenn Zacharias<br />

sich – überglücklich wie er ist – „eins pfeift“ oder wenn er eins der damals zahlreichen


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 03.12.06<br />

Lob- Danklieder (einen Psalm etwa) angestimmt hätte. Aber nichts von alledem. Was Zacharias<br />

da anstimmt, wird von Lukas „Weissagung“ genannt; eine Weissagung, die „vom Heiligen<br />

Geist“ erfüllt ist. Tatsächlich unterscheidet sich der Gesang des Zacharias von allen uns<br />

bekannten Dankliedern.<br />

Die besondere Geburt, selbst Vater und Sohn treten in den Hintergrund. Stattdessen wird die<br />

ganze Heilsgeschichte entfaltet: von der Befreiung des Volkes aus Ägypten über die Erzväter<br />

und den König David wird ein großer Bogen hin zum Neugeborenen geschlagen. Dabei wird<br />

deutlich: Immer wenn das Volk ganz am Ende war, hat Gott einen Neuanfang gesetzt. Dann,<br />

wenn es ganz finster war, kam von Gott her ein Licht.<br />

Das Vorzubereiten, das anzukündigen, wird Aufgabe des Neugeborenen sein – und wenn<br />

sein Vater Zacharias jetzt schon davon singt, hat das wirklich den Charakter einer Weissagung.<br />

Versuchen wir uns einmal hineinzufühlen in das, was Zacharias hier erlebt. Kennen sie das<br />

auch: Augenblicke in Ihrem Leben, wo Sie bei dem, was Sie gerade erleben, auf einmal das<br />

Gefühl der Nähe, der Gegenwart Gottes haben? Das sind sehr seltene Augenblicke, aber es<br />

gibt sie. Sehr schnell merken wir, dass sie leider nicht festzuhalten sind. Und dennoch sind<br />

solche Erlebnisse der Nährboden für die Überzeugung: Die biblische Hoffnung hat Recht.<br />

Gott handelt, mehr noch: Gott kommt, er sucht die Seinen auf.<br />

Mir sind Beispiele dafür in den Sinn gekommen; zum großen Teil sehr private Beispiele für<br />

Gottes Nähe und Gegenwart. Mir ist dabei aber auch bewusst geworden: Von Momenten<br />

erlebter Gottesnähe lässt sich kaum angemessen sprechen. In Worte gefasst klingen sie<br />

entweder banal oder allzu pathetisch.<br />

Zacharias wird das ähnlich erlebt haben (vielleicht drückt er sich deshalb in Gesang aus).<br />

Aber als er seinen staunenden Zuhörern sein Lied vorträgt, sehen diese nur einen Säugling.<br />

Ein Kind wie jedes andere. Er allein hatte die Gottesnähe erlebt. Nur er sieht, was aus dem<br />

Kind werden wird; nur er sieht, wer diesem Kind folgen wird (auch wenn er dem Messias weder<br />

Gesicht noch Namen geben kann).<br />

Dennoch: das Beispiel des Zacharias will uns Anstoß sein, uns die Momente der Gottesnähe<br />

im eigenen Leben bewusst zu machen. Das wird wohl in den wenigsten Fällen in einen<br />

lauten Lobgesang münden, aber vielleicht doch in manch stilles Dankgebet.<br />

Für mich ist im Beispiel des Zacharias noch ein zweiter wichtiger Anstoß enthalten. Zacharias<br />

ist Vorbild für uns, Vorbild in zweierlei Hinsicht.<br />

Erstens: Es gibt heute einen unseligen Trend zu einem sehr engen und egoistischen<br />

Glücksgefühl. Ich sehe die Sparkassenwerbung vor mir, in der ein Vater mit einem Sprössling<br />

auf seinem Arm jubelt: „Mein Sohn! Mein Stammhalter! Meine Altersversorgung!“ Oder<br />

eine andere, in der sich zwei alte Schulfreunde gegenübersitzen und Fotos auf den Tisch<br />

knallen: „Mein Haus! Mein Auto! Meine Yacht!“<br />

Ganz anders Zacharias. Er nimmt die anderen mit in sein Glück hinein. Er stellt sein (im Vergleich)<br />

kleines privates Glück in den weiten Horizont des Handelns Gottes an seinem Volk.<br />

Damit sagt er: So wie ich Gott erlebt habe, so wunderbar, so nah, so beglückend, so ist er<br />

auch für euch da – für das ganze Volk ebenso wie für jeden einzelnen. Ich wünschte mir, eine<br />

solche Sehnsucht, Glück zu teilen, gäbe es auch heute, wenigstens ab und an.<br />

Noch ein Weiteres ist vorbildhaft: Zacharias bleibt nicht in der Vergangenheit stehen; kein<br />

wehmütiger Rückblick: „Wisst ihr noch, wie es geschehen ist …“ Und er versucht auch nicht,<br />

sein übergroßes Glück zu fixieren, sich an der Gegenwart festzuklammern. Nein, dieser alte<br />

Mann, dessen eigene Lebenszeit zu Ende geht, blickt nach vorn. Er wird geradezu mitgerissen<br />

von einer gewaltigen Hoffnung und Erwartung. Die Geburt seines kleinen Johannes ist<br />

für Zacharias nur der Beginn eines viel Größeren. Gottes Heilshandeln fängt jetzt eigentlich<br />

erst an. Das will er, das muss er weitersagen.<br />

Gerade heute am ersten Adventssonntag ist das für mich ein entscheidender Punkt. Zacharias<br />

setzt Maßstäbe für unsere Lieder. Er macht mit seinem Lied deutlich: Adventslieder sind


Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 03.12.06<br />

Sehnsuchtslieder; Lieder von Menschen gesungen, die sehnsüchtig auf den Retter warten,<br />

auf eine Verwandlung der Welt durch ihn. „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“ singen<br />

wir in fast jedem Adventsgottesdienst, in jeder Adventsfeier. Wir haben uns über die Jahre<br />

leider daran gewöhnt, dabei an eine Art „Herzenstür“ zu denken – in dem Sinne, dass jeder<br />

von uns sich ganz persönlich etwas Licht, etwas Erleichterung erhofft bei dem, was ihm das<br />

Leben schwer macht. Das Lied meint aber viel mehr; die Hoffnung darin ist viel größer: es<br />

soll zu Heilung und Rettung der Stadt, ja der ganzen Welt kommen!<br />

Im Hoffen dürfen wir unbescheiden sein! Es gilt, mit Zacharias die große Hoffnung des Advents<br />

wieder zu entdecken. Gott setzt seine Heilsgeschichte fort – für jeden einzelnen von<br />

uns, aber auch für die ganze Welt. Unsere Zeit ist hoffnungsarm geworden. Die Pessimisten<br />

und Schwarzmaler sind als Realisten anerkannt. Hoffende sind lieber leise, und auch Christen<br />

lassen sich ihre Hoffnung verkürzen auf eine kleine, ganz private Glaubensperspektive.<br />

Dabei ist unsere Hoffnung so groß, so mächtig, so weltumspannend – sie ist ja Christus<br />

selbst!<br />

Vor einiger Zeit las ich ein fiktives Interview. Das Schicksal wurde da interviewt. „Meine<br />

Schläge“, gab das Schicksal zu, „sind hart. Meine Rechte ist ebenso gefürchtet wie meine<br />

Linke. Treue, Glaube, Liebe – kurz, auch die schwersten Brocken habe ich auf die Bretter<br />

geschickt. Sie wurden sämtlich ausgezählt. Nur mit einem bin ich nicht fertig geworden. So<br />

oft ich ihn auch k.o. schlage und davon überzeugt bin, dass er nun endgültig ausgezählt liegen<br />

bleibt – spätestens bei ‚9’ ist er wieder auf den Beinen.“ „Und wer“, fragt der Interviewer<br />

das Schicksal, „ wer ist dieser Unbezwingbare?“ „Die Hoffnung“, antwortete das Schicksal.<br />

Aus ihrer Kraft leben wir. Ihren Sieg feiern wir im Advent.<br />

Amen.


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

in der<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am Heiligen Abend<br />

24. Dezember <strong>2006</strong><br />

(Christvesper um 17 Uhr)<br />

Bildbetrachtung zu Sieger Köder: Geburt Jesu (Rosenberger Altar)<br />

Liebe Gemeinde!<br />

Seien sie einmal ehrlich: Brauchen sie nicht auch die<br />

Weihnachtsidylle?!<br />

Sicherlich, manchmal mokieren wir uns über ein allzu<br />

üppig geratenes Lichterspektakel auf dem Nachbarbalkon<br />

oder über Weihnachtsbäume, die so überladen<br />

geschmückt sind, dass ihre Zweige schon<br />

durchhängen. Aber unser Protest hat etwas Halbherziges,<br />

wissen wir doch nur zu gut, dass jeder sein<br />

Weihnachtsidyll braucht.<br />

Krippendarstellungen gehören dazu. Dabei hatte die<br />

Szenerie vor 2000 Jahren in Bethlehem wenig Idyllisches.<br />

Arme Leute suchen Unterschlupf in einem<br />

Stall, weil die Frau ein Kind zur Welt bringt. Hatten<br />

sie zu essen, hatten sie überhaupt Wasser? Welche<br />

Überlebenschancen hatten sie (vor allem das Kind)<br />

unter normalen Umständen?<br />

Die Situation der Not wurde im Laufe der Geschichte<br />

zur Idylle stilisiert: mit Hirten und Königsbesuch, mit<br />

Engelscharen und stolzen Eltern. Alle Jahre wieder<br />

holen wir unsere Krippen hervor, bauen sie liebevoll<br />

auf und genießen jeden Blick darauf. Die Krippendarstellung<br />

hier vorne reiht sich da ein. Sieger Köder<br />

heißt der Künstler; seine „Geburt Jesu“ schmückt<br />

den Rosenberger Altar. In Warmen Farben hat er<br />

sein Bild gemalt. Es ist nicht überladen, beschränkt<br />

sich aufs Wesentliche. In der Mitte Maria mit dem<br />

Jesuskind. Das Kind wendet sich uns zu mit einem<br />

Lächeln im Gesicht und einer einladenden Geste: Ist<br />

es ein Winken, ein Grüßen, ein Segnen?<br />

Es geht viel Ruhe aus von dem Bild; die Geste des<br />

Kindes scheint die einzige Bewegung zu sein. Außer<br />

ihr fällt nur noch die des Josef ins Auge: Merkwürdig


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 24.12.06<br />

verdreht hält er den Kopf nach oben. Träumt er selig oder wendet er sich an Gott, dankend<br />

oder bittend?<br />

Es ist die Weihnachtsidylle, wie wir sie schätzen und genießen. Wer sie aber länger anschaut<br />

, dem werden nach und nach Einzelheiten an den Bildrändern auffallen; Einzelheiten,<br />

die irritieren.<br />

Die Idylle hält nur dem ersten Hinsehen stand. Unten fällt uns die Krippe ins Auge. Sie sieht<br />

nicht aus, wie die Krippen, die wir sonst kennen. Vor allem: Sie trägt einen Schriftzug: INRI<br />

(die Abkürzung für „Jesus von Nazareth, König der Juden“). Das ist nicht Weihnachten, das<br />

ist Karfreitag! Das ist der Schriftzug vom Kreuzesbalken Jesu. Wer das einmal erkannt hat,<br />

sieht seinen Blick nach oben gezogen: Dort oben das Dachgebälk – erinnert es nicht an die<br />

drei Kreuze auf Golgatha?<br />

Spätestens jetzt wir uns auch die Figur am unteren Bildrand verdächtig. Anfangs dachten wir<br />

vielleicht, es handele sich da um einen anbetenden Hirten. Jetzt erkennen wir: Es ist König<br />

David mit Purpur und Gebetsschal. Er ist die „Wurzel Jesse“; aus ihm erwächst der Stamm,<br />

aus dem Jesus hervorgeht. Deshalb ist er es, der hier auf dem Bild die Krippe trägt. Sogar<br />

Kleinigkeiten erhalten jetzt eine neue Deutung. Die fünf Christrosen am unteren Bildrand sind<br />

nicht nur Weihnachtsdeko. Sie stehen für die fünf Wundmale des Gekreuzigten.<br />

Wir merken schon: der Maler bildet hier nicht nur ein traditionelles Motiv ab. Vielmehr steigt<br />

er tief ein in die Verkündigung. Seine Botschaft: Lasst euch nicht gänzlich einhüllen von der<br />

Weihnachtsidylle! Schaut genauer hin, hinter die Fassade! Begreift etwas von dem, was<br />

Weihnachten auch ist: die Geburt des Gottessohnes, der mit dem Tag seiner Geburt für euch<br />

einen schweren Weg antritt. Für den Maler ist klar: Mit dem Tag der Geburt steht das<br />

Schicksal Jesu fest; mit dem Tag der Geburt beginnt der Leidensweg. Die Krippe steht bereits<br />

im Schatten des Kreuzes.<br />

Das können die Hirten noch nicht erkennen, nicht einmal die drei Weisen erahnen es. Während<br />

die himmlischen Heerscharen jubeln, tun sie das, was die Stunde gebietet: sie feiern,<br />

sie danken, sie leben auf in neuer Hoffnung. Bei uns ist es nicht anders. Feiern und danken,<br />

aufleben und träumen – das ist auch für uns das Gebot der Stunde. Natürlich genießen wir<br />

unser Weihnachtsidyll. Wir brauchen das für unsere Seelen. Und doch sind wir zweitausend<br />

Jahre später in einer anderen Situation als die ersten Besucher im Stall von Bethlehem. Wir<br />

wissen, wie die Geschichte weitergeht, wir wissen, wie sie ausgeht und wir wissen, was der<br />

Weg Jesu, sein Tod und seine Auferstehung bedeuten.<br />

Deshalb lasst uns den Mut aufbringen und der Einladung des Malers folgen. Lasst uns das<br />

Weihnachtsidyll ein Stück weit aufbrechen und schauen, was dahinter zutage kommt.<br />

„Friede und Liebe gibt es nicht“, lese ich dieser Tage in der Zeitung. Der darauf folgende Artikel<br />

spricht über das Bethlehem unserer Tage. Da verblasst das Idyll der weihnachtlichen<br />

Krippe; da treten die Kreuze von Golgatha hervor. Es ist einige Jahre her, dass ich Bethlehem<br />

besucht habe. Höhepunkt für alle Christen, die Bethlehem besuchen, ist natürlich ein<br />

Gang durch die Geburtskirche. Damals selbstverständlich, heute ist das kaum noch möglich.<br />

Bethlehem ist jetzt von einer zehn Meter hohen Mauer umgeben. Nur ein Stahltor gibt es als<br />

Eingang zur Stadt. Das Stahltor steht am Ende eines Tunnels aus Stacheldraht. „Anti-Terror-<br />

Sicherheitswall“ ist der amtliche Name dieser martialischen Grenzbefestigung.<br />

Er soll dazu dienen, Juden und Palästinenser zu trennen. Christen gibt es schon lange nicht<br />

mehr. In den 50er Jahren waren noch 80 Prozent der Bevölkerung von Bethlehem Christen,<br />

heute sind es nur noch wenige, nämlich die, die es sich aus finanziellen Gründen nicht leisten<br />

können zu fliehen.<br />

Aber das ist noch nicht alles. Was wir als Außenstehende kaum nachvollziehen können: In<br />

den letzten Wochen ist ein Bürgerkrieg der Palästinenser untereinander hinzugekommen.<br />

Die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Hamas und Fatah drohen in diesen Tagen auf<br />

Bethlehem überzugreifen. Das so genannte Peace-Center (Friedenszentrum) in Bethlehem<br />

ist geschlossen worden.


Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 24.12.06<br />

Zugegeben, das ist weit weg. Für die meisten von uns sind es Nachrichten aus einer fremden<br />

Welt, die uns da täglich über die Medien erreichen. Aber gerade jetzt, wo wir uns in unseren<br />

Kirchen und Wohnzimmern ein Stück Bethlehem aufbauen, rückt es uns ganz nahe<br />

und kann uns nicht kalt lassen. Da merken wir plötzlich sehr deutlich: Die Weihnachtsidylle<br />

ist ausgesprochen brüchig.<br />

Ich mag die Darstellung Sieger Köders sehr. Einfach, weil sie beidem gerecht wird: meinem<br />

Bedürfnis, Weihnachten als Idylle zu sehen, aber auch der Realität, die diese Idylle immer<br />

wieder bricht. Weihnachten verliert dadurch nicht, im Gegenteil: Durch Darstellungen wie<br />

diese gewinnt Weihnachten an Tiefe. Das ist tatsächlich bildgewordene Verkündigung!<br />

Wir haben gesehen: Das Leiden Jesu (und mit ihm das Leiden der Welt) ist im Bild präsent<br />

(durch die Kreuze, durch die Kreuzesinschrift, durch die Wundmale, durch David als Symbol<br />

für die Geschichte Israels). Aber auch die Idylle hat ihren Verkündigungswert. Sie ist mehr<br />

als nur Fassade und schöner Schein, und sie will mehr sein, als ein bisschen Balsam für unsere<br />

Seelen.<br />

Was wir in unseren Kirchen und Wohnzimmern errichten, ist ein Stück weit „heile<br />

Welt“ – im besten Sinne des Wortes. In dem Sinne nämlich, dass es Gottes Welt abbildet<br />

– die Welt, die er für uns will; die Welt, die er für uns bereithält; die Welt, auf<br />

die er mit uns zusteuert.<br />

Angesichts des Zustands unserer Welt mag es manchem schwerfallen, daran zu<br />

glauben. Zu groß, zu übermächtig sind die Leidenskreuze. Und dennoch, die Bo t-<br />

schaft der Engel spricht eine klare Sprache: „Frieden auf Erden ...!“<br />

Das ist nicht nur ein Weihnachtswunsch oder -gruß. Das ist eine Programmansage;<br />

das legt offen, was Gott vorhat; das gibt Einblick in die Heilsgeschichte. Viel können<br />

wir nicht sehen, aber doch genug. Es ist wie ein Blick durchs Schlüsselloch ins<br />

Weihnachtszimmer. Man ist geblendet von dem Glanz. Alles wirkt neu und anders im<br />

strahlenden Licht (selbst das Altbekannte).<br />

So ist es tatsächlich mit der Geburt Christi. Sie macht alles neu; sie ist der Höhepunkt<br />

in Gottes Heilsgeschichte.<br />

Und wenn uns mal wieder die Verzweiflung zu überkommen droht angesichts der<br />

schlimmen Nachrichten aus aller Welt, schauen wir auf unser Weihnachtsidyll, die<br />

Krippe und den Stall. Nicht um uns davon einlullen zu lassen, sondern zur Erinn e-<br />

rung daran, dass Gottes Ziel ein anderes ist, nämlich Frieden auf Erden, Frieden für<br />

alle Menschen.<br />

Amen.


Evangelisch-Lutherische<br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

Hamburg-Winterhude<br />

in der<br />

E. Felix <strong>Moser</strong><br />

<strong>Pastor</strong><br />

Predigt am 2. Weihnachtstag<br />

26. Dezember <strong>2006</strong><br />

Predigttext: Jesaja 11,1-9:<br />

Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel<br />

Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des<br />

Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht<br />

des HERRN. Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des HERRN. Er wird nicht richten<br />

nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren<br />

hören, sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den E-<br />

lenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und<br />

mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden<br />

sein und die Treue der Gurt seiner Hüften. Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen<br />

und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und<br />

Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen<br />

beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder. Und ein Säugling wird<br />

spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle<br />

der Natter. Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge;<br />

denn das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein, wie Wasser das Meer bedeckt.<br />

Liebe Gemeinde!<br />

Stimmungsvolle Texte gehören zu Weihnachten wie die guten alten stimmungsvollen Lieder<br />

und die besondere Stimmung im Weihnachtszimmer. Unsere alttestamentliche Lesung heute<br />

Morgen ist so ein Text, ein „verträumter Text“, eine traumhafte Vision. Wir genießen die Lieder<br />

und derart verträumte Texte. Selbst hart gesottene Weihnachtsabstinenzler lassen sich<br />

spätestens am Heiligabend in die Weihnachtsstimmung hineinziehen. Keiner sollte sich aufkommender<br />

sentimentaler Gefühle schämen. Im Gegenteil, es ist doch gut, dass uns wenigstens<br />

einmal im Jahr die Sehnsucht nach der heilen Welt mit Wucht packt. Darin drückt sich<br />

ein tiefes Verlangen nach Harmonie und Frieden aus. Dazu gehören auch überschäumende<br />

Bilder, Träumereien und ein weiter Hoffnungshorizont.<br />

Als wir Kinder waren, haben wir das noch viel intensiver erlebt als heute. Das Weihnachtszimmer<br />

war von einem besonderen Geheimnis umgeben. Es war schon Stunden oder sogar<br />

Tage vorher fest verschlossen und durfte nicht betreten werden. Drinnen wurde das Zimmer<br />

von Eltern und Großeltern regelrecht auf den Kopf gestellt. Es wurde ausgeräumt und in ein<br />

'“Weihnachtsparadies“ verwandelt – mit Christbaum und Krippe, mit Eisenbahn und Kaufmannsladen.<br />

Wenn man die Großen so hört, sagen sie (bis heute) immer dasselbe: „Weihnachten<br />

– das ist das Fest für die Kinder.“ Aber wenn man genau hinsieht, merkt man<br />

schnell: die Erwachsenen genießen es genauso. Viele Große genießen es, mal wieder wie<br />

kleine Kinder genießen zu dürfen.<br />

Weihnachten – das ist wie der Vorglanz einer ganz anderen, neuen Welt; einer Welt, in der<br />

alles in eine gute, schöne, harmonische Ordnung gebracht ist.


Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong><br />

Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 2612.06<br />

Genau das ist die Sehnsucht, die auch im Traum des Jesaja zum Ausdruck kommt. Die Welt<br />

seiner Zeit war eine ungeordnete, zutiefst bedrohte. Katastrophen standen unmittelbar bevor.<br />

Vor allen anderen hat Jesaja den Zerfall des Königshauses vor Augen. Er sieht darin ein<br />

Strafgericht Gottes. Denn Gottesfurcht und Gotteserkenntnis waren geschwunden im Volk;<br />

es fehlte an Weisheit und Einsicht: Recht und Gerechtigkeit waren vergessen. Zunehmend<br />

setzten sich Gewalttätige durch und bereicherten sich auf Kosten der Armen.<br />

Jesaja ist darüber zutiefst bekümmert. Gegen seine Trauer setzt er den Traum, ein Zeichen<br />

von Hoffnung und aufkeimender Freude: Es wird einer kommen, auf dem der Geist Gottes<br />

ruht. Endlich ein gerechter Friedenskönig nach so vielen Gewaltherrschern! Einer, der Versöhnung<br />

mit Gott bringen wird und Friede unter den Menschen. Sogar die Natur ist einbezogen:<br />

Mensch und Tier wird er miteinander versöhnen.<br />

Jedoch, so wie der Prophet sich den Friedensbringer vorgestellt hat, kam er nicht. Sicher, da<br />

gab es in der Geschichte Israels immer mal wieder Geistesträger – solche, die die eine oder<br />

andere Geistesgabe mitbrachten. Aber einer, bei dem alle Gaben da sind (bei dem alles zusammenkommt<br />

und zusammenstimmt, was bei uns durcheinanderfällt), so einer war nicht<br />

dabei.<br />

Die Messlatte liegt aber auch wirklich hoch! Was nennt der Prophet nicht alles! „Weisheit“<br />

soll er haben, also die Erkenntnis in die Ordnung unserer Welt, um sachgerecht unterscheiden<br />

zu können. Dazu „Einsicht und Verstand“ – die Gabe also zu sehen, worauf es ankommt.<br />

Schließlich „Rat“ – das meint die Fähigkeit, angemessen und wirkungsvoll vorauszudenken;<br />

„Stärke“ – die Entschlossenheit und Kraft, das als richtig erkannte umzusetzen und<br />

dann noch - das Schwerste wohl – „Erkenntnis und Furcht des Herrn“. Darunter verstehe<br />

ich, das eigene Leben und die Welt in der rechten Einordnung vor Gott zu begreifen und von<br />

daher eine praktische Frömmigkeit zu leben. Der da verheißen wird, hat den Durchblick des<br />

Herzens und den Einblick in die Herzen.<br />

Als wäre diese Liste noch nicht lang genug, setzt Jesaja noch ein Thema obenauf: Recht<br />

und Gerechtigkeit. Gerechtigkeit wird der Verheißene schaffen, weil er nicht nach dem bloßen<br />

Augenschein geht und auch nicht auf das hört, was andere reden. Er wird ein Erlöser<br />

sein, nicht korrupt, nicht von Eigeninteressen bestimmt. Das ist wie Musik in den Ohren! Das<br />

ist wirklich ein Traum – für die Menschen damals wie heute!<br />

Die zweite Hälfte des Traumes beschreibt eine große Harmonie, einen ewigen Frieden. Von<br />

unserer Weihnachtskrippe kennen wir Ochs und Esel, vielleicht noch ein paar Schafe und<br />

Kamele. Bei Jesaja kommen eine ganze Reihe neuer, ganz ungewohnter „weihnachtlicher“<br />

Tiere dazu: Wolf und Panther, Kuh und Bär, Otter und Natter. Es geht um Bewahrung der<br />

Schöpfung in ganz neuer Dimension: Die Schöpfung bleibt bewahrt vor dem tödlichen Gesetz<br />

von Fressen und Gefressen werden.<br />

Jesajas Traumbild geht aber über die Harmonie in der Natur hinaus. Es spricht auch von<br />

uns, genauer: vom Bösen in unserer Natur. Auch das wird einst überwunden sein.<br />

Mich erinnert das an ein Wort, das Franz von Assisi zugeschrieben wird. „Umarmt den Wolf<br />

in euch,“ soll er gesagt haben. Das meint: Wirklich friedensfähig werden wir erst dann sein,<br />

wenn wir die Gegensätze und Zerrissenheiten in uns überwunden haben; wenn (um im Bild<br />

zu bleiben) auch in uns Wolf und Lamm Seite an Seite weiden können.<br />

Der große Traum des Jesaja – ist es mehr als nur eine verträumte Utopie?<br />

Es ist mehr. Und genau das feiern wir zu Weihnachten. Der Traum. die Utopie ist wahr geworden<br />

durch die Geburt des Gottessohnes. Da kam tatsächlich einer, dem es gelang, all die<br />

hohen Werte zu leben und die Gegensätze unserer Natur zu vereinen. Und jedes Weihnachtsparadies<br />

bei uns zu hause ist immer auch Erinnerung an den, der das hat wahr werden<br />

lassen, von dem alle nur träumen.<br />

Viele der Älteren werden noch etwas mit dem Namen Heinrich Albertz anfangen können, einer<br />

der wenigen, dem es gelang, ein politisches Amt trefflich mit dem geistlichen zusammenzubringen.<br />

Heinrich Albertz war <strong>Pastor</strong> und zudem auch Bürgermeister von Berlin. In einer<br />

seiner Weihnachtspredigten hat er gesagt: „Wir leben nach Christus, und das war die Zeit-


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Paul-Gerhardt Gemeinde<br />

<strong>Pastor</strong><br />

Hamburg-Winterhude Predigt am 2612.06<br />

wende, die einzig reale Wende. Ja, die vernünftige Wende: Nämlich die Wende zu der Vernunft,<br />

sich seine Utopien nicht ausreden zu lassen. Genau das ist Weihnachten!“ – „Sich<br />

seine Utopien nicht ausreden lassen ...“, es ist immerhin ein so genannter Realpolitiker, der<br />

uns das rät.<br />

Wem das Ziel, wem solche Utopien allzu üppig sind, der halte sich an das andere Bild im<br />

Traum des Jesaja: an den kleinen Zweig, der aus dem Stamm hervorgehen wird. Das ist<br />

kaum mehr als ein Zeichen der Hoffnung. Aber es hat ja auch wirklich etwas Anrührendes<br />

(oder besser: Mut machendes), wenn wir auf einem Waldspaziergang einen Baumstumpf<br />

sehen, an dessen Seite oder Rand ein kleiner grüner Zweig zu sehen ist. So ein Stumpf wirkt<br />

auf den ersten Blick tot. Es hat etwas Deprimierendes zu sehen, was von einem manchmal<br />

Jahrhunderte alten Baum übrig geblieben ist. Aber dann der kleine grüne Zweig! Er beweist<br />

doch, wie sehr der erste Eindruck täuschen kann. Das ist Leben, Kraft zum Leben – und das<br />

setzt sich durch gegen die Macht von Vernichtung und Tod.<br />

Auch darin erkenne ich ein Sinnbild für den Menschen. Unsere Sprache hat den Stumpf als<br />

Eigenschaftswort übernommen. Wir sprechen manchmal von „abgestumpften“ Menschen<br />

oder solchen, die „stumpf“ geworden sind. Dabei denken wir an solche, die nur noch isoliert<br />

vor sich hin leben, denen alles egal geworden ist. Nicht einmal für Schmerz sind sie empfindlich.<br />

Sie strahlen Apathie und Verdrossenheit aus.<br />

Gerade auch diesen Menschen verspricht die Verheißung: Da ist noch Leben im tot wirkenden<br />

Stumpf. Ihr nehmt es nur nicht wahr. Vielleicht fehlten nur mehr Licht und Wasser, und<br />

das meint: Aufmerksamkeit und Zuwendung. Vielleicht muss das Leben nur „hervor gelockt“<br />

werden, eine Verheißung, eine Perspektive haben.<br />

Jesaja verspricht: „Gott wird ein rechtes Urteil sprechen den Elenden.“ Das ist vor allem an<br />

die gerichtet, die „stumpf“ oder „abgestumpft“ sind. Resigniert nicht! Neues Leben wächst<br />

euch zu! Verlasst euch darauf; freut euch darüber!<br />

Auch der, der erst einmal nichts anfangen kann mit Jesajas großer Utopie, kann so vielleicht<br />

einen Zugang finden; erste kleine, ganz persönliche Schritte wagen. Wer dann die ersten<br />

Veränderungen erlebt, der weiß, dass Weihnachten wahr ist.<br />

Amen.

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