Der Angst vor dem Tod begegnen - tine-schreibt
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noch einmal abzugewöhnen, sieht er nicht. Das Protokoll dieses Interviews befindet sich<br />
im Anhang.<br />
M. erlebte seine Erkrankung nicht als Bedrohung, sondern lediglich als "Störung [seiner]<br />
Kreise"; an seine Sterblichkeit habe er "keinen Gedanken vergeudet". Auf Anregung eines<br />
Arbeitskollegen begab sich M. nach Beginn der Tumortherapie dennoch in psychotherapeutische<br />
Behandlung; seine Bereitschaft dazu sei aus <strong>dem</strong> Umstand her<strong>vor</strong>gegangen,<br />
dass M. seine Erkrankung als "Wink mit <strong>dem</strong> Zaunpfahl" verstanden habe, die ihn darauf<br />
aufmerksam machen sollte, dass er sich in seinem Leben auf <strong>dem</strong> falschen Weg befinde.<br />
In gleicher Weise - "ein dünnerer Zaunpfahl" - interpretierte er einen wenige Jahre später<br />
auftretenden leichten Hirnschlag, der durch einen von einem bis dahin unauffälligen Ventrikelseptumsdefekt<br />
ausgehenden Embolus verursacht wurde. M. berichtet keinerlei Befürchtungen,<br />
dass es zu einem Rezidiv seiner Krebserkrankung kommen könnte.<br />
Seine Zuversicht speise sich aus der Erkenntnis, dass jede Krankheit einen spezifischen<br />
Grund habe, und zwar mangelnde "Balance" auf psychischer Ebene. Sorge man für die<br />
Aufrechterhaltung dieser Balance, trete auch keine Erkrankung auf. M. äußerte in diesem<br />
Zusammenhang einen gewissen Neid für den Kollegen, der ihm zur Psychotherapie riet,<br />
da dieser "nur Kleinigkeiten braucht" - z. B. Schmerzen im Fuß -, um ihn auf ein Ungleichgewicht<br />
hinzuweisen. Eine schwere Erkrankung wie Krebs zeige starke innere Konflikte<br />
an.<br />
Als ihm zur Erklärung seines berichteten angstfreien Zustandes der Begriff der Kontrolle -<br />
im Sinne eines Gefühls der Kontrolle über die eigene Gesundheit - angeboten wurde,<br />
lehnte M. diesen ab. Auch der Begriff des 'Handlungsfähig seins' fand nicht seine Zustimmung.<br />
M.'s darauf folgende Verbalisierung seines Weltbildes legt jedoch den Schluss<br />
nahe, dass er den Begriff der Kontrolle aus ideologischen Gründen ablehnt, und nicht, weil<br />
er nicht zur Beschreibung seines Lebensgefühls geeignet ist.<br />
Als 'gutes' Sterben sieht M. ein schnelles, schmerzfreies Ableben an, da es "<strong>dem</strong> Sinn des<br />
Lebens angemessener" sei als ein längeres Siechtum, während <strong>dem</strong> die Bewegungsfreiheit<br />
eingeschränkt sei. Den <strong>Tod</strong> seiner Großmutter - in hohem Alter - hat M. miterlebt, und<br />
er be<strong>schreibt</strong> diesen als "positives Erlebnis". Den <strong>Tod</strong> seines entfremdeten Vaters empfand<br />
er als bedauerlich, da durch ihn der Aufbau einer besseren Beziehung unmöglich<br />
gemacht worden sei. Zur Beschreibung seiner Aussicht auf den eigenen <strong>Tod</strong> verwendete<br />
er das Bild der Kapelle der 'Titanic': "Das Schiff sinkt - oder vielleicht auch nicht, noch<br />
nicht, man weiß es ja nicht - aber wir bleiben lustig". Über die Möglichkeit seines eigenen<br />
Ablebens denke er jedoch nur selten nach.<br />
Sein soziales Umfeld habe er nicht über das nötige Maß hinaus über seine Krankheit<br />
unterrichtet. Er habe nicht den Eindruck erwecken wollen, um Hilfe zu bitten; auch habe er<br />
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