Gefängnisse und Lager im sowjetischen Herrschaftssystem - gulag
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608 Irina Scherbakowa<br />
„großen Moskauer Prozesse“ von der Rehabilitierung ausgenommen, also solche<br />
wie Bucharin <strong>und</strong> andere, während dagegen viele direkte Täter der Repressionen<br />
rehabilitiert wurden wie z.B. bekannte Funktionäre der Partei <strong>und</strong> der<br />
Sicherheitsorgane.<br />
5.3. Die Unterbrechung des Rehabilitierungsprozesses zur Brejnew-Zeit<br />
Nach dem Rücktritt Chruschtschows (1964) schlief der Prozeß der Rehabilitierung,<br />
der <strong>im</strong> Zeichen des 20. Parteitages stattfand („Abschaffung des Stalin-<br />
Kultes“, „Rückkehr zu den leninistischen Normen“) bald ein. Und gleichzeitig<br />
begann die Gegenbewegung – in die <strong>Lager</strong>, in die Verbannung, in die psychiatrischen<br />
Spezialkliniken. Allerdings war dieser Strom dem stalinschen nicht<br />
vergleichbar – pro Jahr wurden aus politischen Motiven nicht mehr als ein paar<br />
h<strong>und</strong>ert Menschen verhaftet, mit Ausnahme der Jahre 1957-58, manchmal sogar<br />
weniger. Insgesamt kann man in der Zeitspanne von 1957 bis 1987 von<br />
8.000 bis 20.000 aus politischen Gründen Verfolgten sprechen. 89<br />
5.4. Die Veränderungen in der Perestrojka-Zeit<br />
Radikale Veränderungen gab es erst in der Gorbatschow-Ära. Zu Beginn des<br />
Jahres 1987 wurden fast alle politischen Gefangenen aus den <strong>Lager</strong>n <strong>und</strong><br />
Strafkolonien freigelassen. Allerdings wurden sie nicht rehabilitiert, sondern<br />
nur begnadigt. In diesem Sinne entsprach ihre Freilassung den Freilassungen<br />
der Jahre 1954 bis 1956. Fast gleichzeitig begann auch eine Lockerung der<br />
Zensur: in den Zeitungen tauchte – anfangs noch vorsichtig, später <strong>im</strong>mer<br />
deutlicher – das Thema der Repressionen von 1937 auf. In den ersten Monaten<br />
hielten sich die Zeitungsartikel <strong>im</strong> Rahmen des Konzepts des 20. Parteitages,<br />
doch bald schon – unter dem Einfluß der turbulenten gesellschaftlichen Prozesse<br />
– wurde dieser Rahmen <strong>im</strong>mer mehr ausgeweitet. Die Entlarvung Stalins<br />
(bezeichnend ist hier an sich schon die Tatsache, daß Stalin als Thema überhaupt<br />
auftaucht) ging über in eine vorsichtige Diskussion über das Schicksal<br />
des Sozialismus. Man sprach plötzlich ohne die traditionellen Besch<strong>im</strong>pfungen<br />
über Bucharin, Sinowjew, Kamenew <strong>und</strong> andere nicht rehabilitierte bolschewistische<br />
Führer. Es war plötzlich möglich, zumindest einen Teil der Wahrheit<br />
über die Kollektivierung zu veröffentlichen, zunächst in literarischer Form,<br />
später auch publizistisch.<br />
Die Machthaber versuchten, die Initiative in der beginnenden Diskussion über<br />
die Geschichte an sich zu reißen. Ende September 1987 gründete das Politbüro<br />
eine Spezialkommission „Zum zusätzlichen Studium der Materialien über die<br />
Repressionen der 30er <strong>und</strong> 40er Jahre sowie des Beginns der 50er Jahre“. Einen<br />
Monat später wurde einer der engsten Vertrauten Gorbatschows – Jakow-<br />
89 Diese Angaben sind von der Forschungsgruppe der Memorial-Historiker zur Verfügung gestellt<br />
worden.