Musterartikel DAZ Nr. 46, 2012 - Lak-rlp.de
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ARZNeiMitteL UND tHeRAPie<br />
k Kommentar<br />
Review ohne Bedarf<br />
Ohne Frage weist <strong>de</strong>r Artikel von Tsai und<br />
Mitarbeitern auf einen sehr wichtigen und<br />
in <strong>de</strong>r klinischen Praxis oftzuwenig beachteten<br />
Problemkomplex hin, nämlich, dass<br />
Patienten frei erhältliche pflanzliche Arzneimittel<br />
und Nahrungsergänzungsmittel<br />
grundsätzlich als sicher einschätzen, und<br />
kaum ein Bewusstsein hinsichtlich möglicher<br />
unerwünschter Wechselwirkungen<br />
mit an<strong>de</strong>ren Arzneimitteln in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit<br />
besteht.<br />
Unterschätzte Wechselwirkungen<br />
Zu<strong>de</strong>m informieren die meisten Patienten<br />
in <strong>de</strong>r Regel ihre behan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Ärzte o<strong>de</strong>r<br />
Apotheker nicht über<br />
bestehen<strong>de</strong> Selbstmedikationen.<br />
Daher<br />
wer<strong>de</strong>n in Fachkreisen<br />
Risiken möglicher<br />
Wechselwirkungen<br />
zwischen verschreibungspflichtigen<br />
Arzneimitteln,<br />
Phytopharmaka<br />
und Nahrungsergänzungsmitteln<br />
grundsätzlich noch<br />
immer unterschätzt, und überdies können<br />
sie im Rahmen <strong>de</strong>r Verordnung verschreibungspflichtiger<br />
Medikamente nicht berücksichtigt<br />
wer<strong>de</strong>n. Dies istinsbeson<strong>de</strong>re<br />
angesichts <strong>de</strong>r verbreiteten Poly-Pharmakotherapie<br />
unter älteren und chronisch<br />
kranken Patienten ein relevantes Problem.<br />
Schlechte Datenlage<br />
Trotz<strong>de</strong>r Wichtigkeit und Relevanz <strong>de</strong>r Thematik<br />
für die Arzneimittelsicherheit ist die<br />
Anzahl guter,kontrollierterklinischer Interaktionsstudien<br />
von Phytopharmaka und<br />
OTC-Produkten mit verschreibungspflichtigen<br />
Arzneimitteln nach wie vor gering, und<br />
eine wirklich relevante Zunahme von klinischen<br />
Forschungsaktivitäten ist <strong>de</strong>rzeit<br />
kaum feststellbar. Die Grün<strong>de</strong> dafür sind<br />
ebenso vielschichtig wie naheliegend. Sie<br />
umfassen neben <strong>de</strong>n eingeschränkten Ressourcen<br />
<strong>de</strong>r Hersteller vonPhytopharmaka<br />
bzw. Supplementen auch die mangeln<strong>de</strong><br />
Beachtung <strong>de</strong>r Problematik auf Seiten <strong>de</strong>r<br />
forschen<strong>de</strong>n Pharmaindustrie sowie die<br />
bei<strong>de</strong>rseitige Zurückhaltung, aus eigener<br />
Initiative Interaktionsrisiken <strong>de</strong>r eigenen<br />
Produkte systematisch zuexplorieren und<br />
in Informationen für Fachkreise darauf hinzuweisen.<br />
Mehr Reviews als Originalia<br />
Dieser Umstand führt zu<strong>de</strong>r etwas paradoxen<br />
Tatsache, dass zu <strong>de</strong>r Thematik seit<br />
Jahren mehr Review-Artikel als Original-Arbeiten<br />
erscheinen. So fin<strong>de</strong>n sichbei einer<br />
aktuellen Pub-Med Recherche mit <strong>de</strong>n<br />
Suchbegriffen „St. John’s Wort“ (Hypericum<br />
perforatum, Johanniskraut) und „Drug<br />
Interactions“ allein für <strong>de</strong>n Zeitraum <strong>de</strong>r<br />
letzten drei Jahre (2010 –<strong>2012</strong>) insgesamt<br />
min<strong>de</strong>stens 26 Review-Artikel. Vor diesem<br />
Hintergrund überrascht das beachtliche<br />
Medienecho zu <strong>de</strong>r aktuellen Arbeit, insbeson<strong>de</strong>re<br />
in Anbetracht <strong>de</strong>r methodischen<br />
Limitationen und <strong>de</strong>s Mangels an wirklich<br />
neuartigen Erkenntnissen.<br />
WasReviews leisten sollten …<br />
Üblicherweise ist esdie Aufgabe von Review-Artikeln,<br />
die vorhan<strong>de</strong>ne Primärliteratur<br />
zu sichten, nach transparenten Kriterien<br />
qualitativ einzuordnen, übersichtlich<br />
zusammenzufassen, die gesicherte Evi<strong>de</strong>nz<br />
herauszustellen und auf wi<strong>de</strong>rsprüchliche<br />
bzw. inkonsistente Daten und Themengebiete<br />
sowie offene Fragen und künftige<br />
Forschungsfel<strong>de</strong>r hinzuweisen.<br />
... und was überflüssig ist<br />
Review-Artikel, die sich hingegen überwiegend<br />
auf Sekundär- und Tertiär-Literatur<br />
stützen, verzichten notwendigerweise auf<br />
eine qualitative Bewertung von Primärdaten<br />
und eine entsprechen<strong>de</strong> Wichtung <strong>de</strong>r<br />
Information im Hinblick auf die tatsächliche<br />
klinische Relevanz.<br />
Naheliegen<strong>de</strong> Erkenntnisse<br />
Entsprechend haben Tsai und Mitarbeiter<br />
äußerst heterogene Quellen von Tier- und<br />
Humandaten, Fallberichten und kontrollierten-randomisiertenStudien<br />
undifferenziert<br />
nebeneinan<strong>de</strong>rgestellt und einfach die<br />
Zahlen <strong>de</strong>r gefun<strong>de</strong>nen Publikationen zu<br />
einzelnen Produkten ermittelt. Dabei überrascht<br />
es nicht, dass zu Substanzen, die<br />
z. B. grundsätzlich für Interaktionen mit<br />
CYP3A4 bekannt sind –einem zentralen<br />
Enzym im humanen Arzneistoffwechsel,<br />
das am Metabolismus von über 60% aller<br />
bekannten Arzneimittel beteiligt ist, –mehr<br />
Publikationen zu Interaktionen mit <strong>de</strong>n<br />
zahlreichen existieren<strong>de</strong>n CYP3A4-Substraten<br />
zuerwarten sind als z. B. für Produkte,<br />
die Interaktionen mit an<strong>de</strong>ren Enzymen<br />
aufweisen, die eine weniger prominente<br />
Rolle im menschlichen Arzneistoffwechsel<br />
spielen. Für diese grundsätzlich<br />
naheliegen<strong>de</strong> Erkenntnis ist esallerdings<br />
nicht erfor<strong>de</strong>rlich, im Rahmen eines Review-Artikels<br />
Publikationen zu zählen.<br />
Dosierung differenziert betrachtet<br />
Ein weiterer Aspekt, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n allermeisten<br />
Review-Artikeln zu Arzneimittelinteraktionen<br />
–soauch bei Tsai und Mitarbeitern<br />
–nicht hinreichend gewürdigt wird, ist<br />
die differenzierte Betrachtung <strong>de</strong>r eingesetzten<br />
Dosierungen. Im Falle von Phytopharmaka<br />
schließt dies die Kenntnis <strong>de</strong>r<br />
Interaktions-vermitteln<strong>de</strong>n Inhaltsbestandteile<br />
und <strong>de</strong>ren teilweise starkunterschiedlicher<br />
Gehalt in verschie<strong>de</strong>nen pharmazeutischen<br />
Produkten mit ein. Johanniskraut-<br />
Produkte sind hierfür gera<strong>de</strong>zu ein i<strong>de</strong>altypisches<br />
Beispiel. Der Assessment Report<br />
<strong>de</strong>s Committee on Herbal Medicinal Products<br />
(HPMC) <strong>de</strong>r Europäischen Arzneimittelbehör<strong>de</strong><br />
EMA zu Johanniskraut [6] stellt<br />
z.B. fest, dass <strong>de</strong>r CYP3A4-induzieren<strong>de</strong><br />
Effekt gut dokumentiert ist und direkt mit<br />
<strong>de</strong>m Hyperforin-Gehalt von Johanniskraut-<br />
Produkten korreliert. Produkte, die geringe<br />
Mengen an Hyperforin enthalten (< 1%),<br />
haben <strong>de</strong>mgemäß keine relevanteCYP3A4-<br />
Induktion gezeigt. Entsprechend stellt die<br />
finale HPMC-Monographie zur traditionellen<br />
Anwendung (well established medicinal<br />
use) vonJohanniskraut-Produkten fest:„Im<br />
Falle einer täglichen Einnahme von weniger<br />
als 1mgHyperforin und einer Einnahmedauer<br />
von weniger als zwei Wochen<br />
sind keine relevanten pharmakokinetischen<br />
Interaktionen zu erwarten.“ [7]<br />
Qualität ist gefragt<br />
Dieses Beispiel zeigt, dass das alleinige<br />
Auflisten von publizierten Interaktionshäufigkeiten<br />
ohne differenzierte Betrachtung<br />
von Dosis-Aspekten, Produkt-spezifischen<br />
Beson<strong>de</strong>rheiten und Fragen <strong>de</strong>r klinischen<br />
Relevanz insgesamt von geringem praktischem<br />
Nutzen für Ärzte, Apotheker und<br />
Patienten ist. Editoren von internationalen<br />
Peer-Review-Fachjournalen sollten daher<br />
künftig stärker auf die methodische und<br />
inhaltliche Qualität von Review-Artikeln<br />
achten, wobei für Übersichtsarbeiten, die<br />
sich vornehmlich auf Sekundär- und<br />
Tertiär-Literatur stützen, grundsätzlichkein<br />
Bedarf zu sehen ist und keine wissenschaftliche<br />
Akzeptanz gegeben sein sollte.<br />
Dr.med. Robert Hermann, Radolfzell<br />
Arzt für Klinische Pharmakologie<br />
<strong>Nr</strong>. <strong>46</strong>| 15.11.<strong>2012</strong><br />
152. Jahrgang| Deutsche Apotheker Zeitung|5631|35