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Heft 2 (2010) - Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren eV

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prosa<br />

Eck‘, den Fleischhauer, Obst- und Gemüsehändler,<br />

den Milchmann und den Schneider.<br />

Die Wünsche der Kinder bewegten sich<br />

in bescheidenem, leistbarem Rahmen; ihre<br />

Erfüllung wurde bejubelt. Fernseher und<br />

Computer waren unbekannte Größen. Auf<br />

Ausflügen wurden die grossen und kleinen<br />

Rucksäcke mit Hausmannskost und Quellwasser<br />

gefüllt; Einkehr in Gasthöfen zählte<br />

keineswegs zur Regel. Vor Weihnachten<br />

oder Geburtstagen war Basteln, Häkeln und<br />

Stricken angesagt; für den Advent wurden<br />

Krippenspiele eingeübt. Das Beherrschen<br />

eines Musikinstruments oder deren mehrer<br />

stand hoch im Kurs. Und all dies auch noch<br />

bis weit in die sechziger Jahre hinein oder<br />

noch länger.<br />

Walter Ehrismann, Urdorf/Schweiz<br />

E<br />

s war die Zeit, als ich als Junge begann,<br />

die Aushänge der Kioske zu studieren.<br />

Nein, nicht jene bunten, aber diese frühesten<br />

zum Beispiel, an die ich mich noch<br />

erinnere:<br />

1950. Ein Erschossener im Winkel eines Hofes<br />

- durchsiebter, blutiger Leib, auf dem Bauch<br />

liegend, den Kopf verdreht, die Arme abgewinkelt.<br />

Der Robin Hood Siziliens, Salvatore<br />

Giuliano, ein Bandit, war verraten und ermordet<br />

worden. Turiddu, sein Kosename<br />

als vermeintlicher Held der Armen, war tot.<br />

Giuliano hatte für die Abspaltung Siziliens<br />

gekämpft. Die Süditaliener in unserer Straße<br />

begingen einen Trauertag. Drei Jahre später<br />

starb sein Verräter und ehemalige Gefährte,<br />

Pisciotta, im Polizeigefängnis. Er war vergiftet<br />

worden.<br />

Ein anderes Bild hatte sich mir ebenfalls<br />

eingeprägt: Ein toter Mensch in einer rotweiß<br />

ausgeschlagenen Kiste, die Nase spitz,<br />

die Haut wächsern, die Augen geschlossen.<br />

Die kurzen, struppigen Haare streng<br />

nach hinten gekämmt, hohe Stirn, buschige<br />

Augenbrauen, ein grauer Schnauz. 1953,<br />

der tote Stalin. Mit allen Orden. Der Name<br />

sagte mir damals nichts.<br />

Aber auf mich als jungen Menschen wirkten<br />

Bilder mit verkrüppelten Kindern am stärksten.<br />

Kinderlähmung. Auf die bange Frage<br />

an die Eltern: Kann ich das auch erleiden,<br />

gabs keine ausreichenden Antworten. Den<br />

letzten Epidemien in Europa standen 1952<br />

Zürich - die 50er Jahre<br />

erste, unzulängliche Impfversuche gegenüber.<br />

Das einschneidendste Verhängnis für mein<br />

junges Leben aber näherte sich leise und fast<br />

unbemerkt. Mir geht plötzlich die hölzerne<br />

Liegehalle, damals im Kindersanatorium,<br />

durch den Kopf. Als ich Neun war, hatte der<br />

Stadtarzt Schatten auf den Lungenflügeln<br />

entdeckt. Schulklasse um Schulklasse wurde<br />

damals vom stadtärztlichen Dienst<br />

in Reihenuntersuchungen auf beginnende<br />

Tuberkulose überprüft. In den grauen<br />

Hinterhöfen Zürichs hatte es zu wenig Licht<br />

und Sauerstoff. Wir merkten das nicht,<br />

wir spielten. Autos verkehrten zwar noch<br />

nicht so viele wie heute, aber die Luft war<br />

vom Ruß der Kohleheizungen und vom<br />

Industriestaub geschwängert – es waren die<br />

Jahre der letzten Epidemien, bevor die Tbc-<br />

Impfung generell eingeführt wurde.<br />

In endlosen Reihen wartete man, in<br />

Unterhosen auf langen Bänken sitzend,<br />

im Korridor vor der Kammer<br />

mit dem Schirmbildgerät. Es roch nach<br />

Desinfektionsmitteln. Man drückte<br />

die schmale Kinderbrust an die kalte<br />

Röntgenplatte und musste kurz den Atem<br />

anhalten. Dann surrte irgendetwas. Als meine<br />

Eltern bald darauf den positiven Befund<br />

der Diagnose erhielten, änderte sich mein<br />

junges Leben von einem Tag auf den andern.<br />

Ich wurde sofort vom Schulunterricht<br />

ausgeschlossen. Man mied mich. Auch im<br />

IGDA aktuell, <strong>Heft</strong> 2 (<strong>2010</strong>) Seite 12

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