Heft 2 (2010) - Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren eV
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prosa<br />
Es war uns etwas mulmig.<br />
Als wir zur Rückfahrt am Landesteg<br />
ankamen, lag unser kleines Rettungsschiff<br />
zwei Meter unter demselben. Die Seemänner<br />
hatten eine Leiter aufs Deck gestellt, diese ans<br />
Geländer des Steges von außen angelehnt,<br />
versteht sich, also unbefestigt, denn der<br />
starke Seegang hob und senkte Boot und<br />
Leiter erheblich. Die Flut war noch nicht<br />
eingetroffen, sonst hätte das Boot die Höhe<br />
des Landesteges erreicht. Die Seemänner<br />
drängten zur Eile.<br />
Meinem Onkel gelang der abenteuerliche<br />
Abstieg als erstem. Unversehens packte<br />
mich einer der Seemänner, setzte mich<br />
zehnjähriges Leichtgewicht auf seinen<br />
starken rechten Arm und stieg mit mir die aufund<br />
niederschwebende Leiter herab. Meine<br />
Mutter folgte als nächste. Irgendwie schien<br />
sie an der Leiter zu kleben. Sie hampelte mit<br />
den Beinen, aber kam nicht voran.<br />
„Hilde“, rief mein Onkel, „du musst das<br />
Geländer loslassen, sonst kommst du nie<br />
unten an!“<br />
Ich kam unter die große Deckplane, die einem<br />
überdimensionalen Kinderwagenverdeck<br />
glich, zu sitzen, umgeben von den Beinen<br />
und Knieen der Erwachsenen, die seitlich<br />
saßen.<br />
Ein gewaltiges Auf und Nieder schien<br />
einigen Landratten Angst zu machen, doch<br />
die Robbenjäger blickten grimmig drein.<br />
Ich verstand nicht, warum es einer Dame<br />
schlecht wurde. Ich konnte von meinem<br />
Platz aus die See nicht sehen, auch nicht die<br />
Weite des aufgewühlten Meeres. Kein Land<br />
in Sicht!<br />
Ich fand Gefallen an dem ständigen Rauf und<br />
Runter. Ich begann, Rheinlieder zu singen,<br />
wie ich es von Zuhause gewohnt war, wenn<br />
eine kleine Bootstour angesagt war. Doch<br />
wenn das Boot zu schlingern anfing und<br />
die Wogen seitlich gegen das Schiff prallten,<br />
hielt ich auch für eine Weile den Atem an.<br />
Die Wellen spielten mit unserer Nussschale.<br />
Eimerweise schwappte das Wasser über die<br />
Reling in die Gesichter derer, die nicht so<br />
geschützt saßen wie ich.<br />
Wie lange das so ging, weiß ich nicht mehr.<br />
Ich erinnere mich noch dunkel daran, dass<br />
wir zwei Segelboote aus Seenot retteten;<br />
eines war gekentert, das andere hatte den<br />
Mast gebrochen. Sie wurden in Schlepp<br />
genommen und erreichten mit uns das<br />
Festland.<br />
Meine frohe und furchtlose Laune erkläre<br />
ich mir mit einem kindlich sicheren Glauben,<br />
dass eine stets vorhandene Schutzmacht<br />
über allem wacht.<br />
aus ‚Kindheitserinnerungen‘, Epla-Verlag 2009<br />
IGDA aktuell, <strong>Heft</strong> 2 (<strong>2010</strong>) Seite 17