Herunterladen - tessiner zeitung
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11. Oktober 2013<br />
19<br />
Literatur<br />
MAGAZIN<br />
Schon in der gleichen Nacht hatte<br />
Olivia ihren ersten Auftritt. Sie<br />
zwängte sich in Mutters weissen<br />
Morgenrock, knüpfte ein weisses<br />
Halstuch zu einem Turban und<br />
trat in die Nacht hinaus. Der<br />
Mond im Spiel der Wolken verzauberte<br />
die Landschaft in ein romantisches<br />
Märchenland. Olivia<br />
beugte sich über das Geländer<br />
der Terrasse und schaute hinunter<br />
auf den silber glänzenden Lago<br />
Maggiore. Nach einer Weile setzte<br />
sie sich schliesslich auf den<br />
Lieblingsplatz ihrer Mutter. Der<br />
Junge eines entfernten Nachbarn<br />
sagte zu seinem Vater: “Die alte<br />
Hexe geistert wieder umher.”<br />
Sein Vater belehrte ihn: “Sag das<br />
nicht, die Maddalena del Ponte –<br />
einst die hübscheste Frau von<br />
Ronco – tat viel Gutes in ihrem<br />
Leben. Sie gründete den regionalen<br />
Samariterverein, leitete das<br />
Kulturforum ‘Pro Ronco’ und<br />
war lange Zeit Kuratorin des ehemaligen<br />
‘Museo Ciseri’.”<br />
Nach einer guten Stunde war der<br />
nächtliche Spuk auf der Terrasse<br />
vorbei. Aus der alten Donna<br />
Maddalena wurde wieder die um<br />
dreissig Jahre jüngere Olivia. Es<br />
schien ihr, die erste Vorstellung<br />
sei gelungen. Den unbequemen<br />
Turban aber wollte sie ersetzen.<br />
Sie fuhr am nächsten Vormittag<br />
nach Locarno hinunter. Im Warenhaus<br />
“Innovazione” an der<br />
Piazza Grande kaufte sie eine<br />
weisshaarige Perücke. Sie habe<br />
in einem Drama eine alte Nonna<br />
zu spielen, erklärte sie, was ja<br />
auch der Wahrheit entsprach.<br />
Woche um Woche verging, und<br />
alles verlief wie geplant. Eines<br />
Abends hatte Olivia eine weitere<br />
Bewährungsprobe zu bestehen.<br />
Die aus Bläsern der umliegenden<br />
Dörfer zusammengestellte, von<br />
den del Pontes regelmässig unterstützte<br />
Bandella hielt wieder<br />
einmal eine ihrer seltenen Proben.<br />
Als der letzte Akkord des etwas<br />
angegrauten “Campagnola<br />
Bella” verklungen war, machte<br />
einer den Vorschlag: “Wir könnten<br />
doch der alten del Ponte wieder<br />
einmal ein Ständchen bringen.”<br />
Also zogen sie zu später<br />
Stunde an die Via Fatima Marina<br />
und stellten sich im Halbkreis um<br />
die Casa Vecchia. Kaum hatten<br />
sie die Serenade mit dem “Florentiner<br />
Marsch” eröffnet, trat<br />
Olivia auf die Terrasse, spendete<br />
viel Applaus und sagte bedauernd:<br />
“Meiner Mutter geht es<br />
heute gar nicht gut, aber sie wird<br />
trotzdem kurz erscheinen.” Während<br />
des fast fehlerfrei gespielten<br />
“Gandria Marsches” ging Olivia<br />
ins Haus, zog den weissen Morgenrock<br />
über und setzte die Perücke<br />
auf. Ganz die alte Dame<br />
nachahmend wandelte sie mit<br />
kleinen Schritten und hiess die<br />
Musiker willkommen. Lautlos<br />
wie sie gekommen war, verschwand<br />
die vorgetäuschte Maddalena<br />
del Ponte ins Haus. Kurz<br />
darauf trat wieder Olivia auf die<br />
Terrasse. “Ich habe die Mutter<br />
ins Bett gebracht”, teilte sie mit.<br />
“Sie dankt euch ganz herzlich für<br />
die gelungene Überraschung und<br />
offeriert einen Umtrunk im ‘Della<br />
Posta’.”<br />
5. Das verzauberte Klavier<br />
Olivia überdachte alles bisher<br />
Geschehene und fand, dass ihr<br />
keine Fehler unterlaufen seien.<br />
Doch da fiel ihr plötzlich das<br />
“Das Gespenst von Ronco” ist der Titel einer Erzählung von TZ-Leser<br />
Otto Britschgi. Auf dieser Seite präsentieren wir den zweiten von drei Teilen<br />
WENN EIN FAST ZU<br />
PERFEKTES KLAVIERSPIEL<br />
AUFHORCHEN LÄSST<br />
Ein Konzertgeiger machte an schönen Abenden ausgedehnte Spaziergänge. Und wunderte sich über “das Spiel des Profis”<br />
abendliche Klavierspiel der Mutter<br />
ein. Sie erschrak bei dem Gedanken,<br />
dass diese Ungereimtheit<br />
den Nachbarn auffallen<br />
könnte. Da sie nichts dem Zufall<br />
überlassen wollte, suchte sie<br />
nach einer Lösung des Problems.<br />
Auch fand ihr Improvisationstalent<br />
einen Ausweg.<br />
Wieder fuhr sie nach Locarno<br />
und betrat ein Musikgeschäft.<br />
Der junge Verkäufer legte “Clara<br />
Haskin” und “Dino Lipati” auf<br />
den Plattenteller, aber Olivia<br />
winkte ab. “Nein, nein, viel zu<br />
schwer. Ich wünsche eher Volkstümliches.”<br />
Dann legte der Mann<br />
ein Medley von “Lothar Loeffler”<br />
auf. Auch jetzt lehnte Olivia<br />
ab. “Die Musik könnte passen,<br />
aber da sind doch Kontrabass<br />
und Schlagzeug dabei.” Nun hatte<br />
der Verkäufer begriffen. Er<br />
verschwand im Hintergrund,<br />
wühlte in den Regalen herum<br />
und meinte, das Richtige gefunden<br />
zu haben. “Froher Abend mit<br />
Hans Frey und seinen tanzenden<br />
Fingern”. Mit dieser LP und einem<br />
kleinen Lenco-Abspielgerät<br />
verliess Olivia das Geschäft. Sie<br />
hatte das gute Gefühl, dem Mosaik<br />
wieder einen passenden<br />
Stein eingefügt zu haben.<br />
Von jetzt an unterstützte zur gewohnten<br />
Zeit dieser akustische<br />
Schwindel das Täuschungsmanöver.<br />
Das abendliche perfekte<br />
Klavierspiel weckte den Argwohn<br />
eines ehemaligen, in Ronco<br />
“gestrandeten” Konzertgeigers.<br />
Der Mann pflegte an schönen<br />
Abenden ausgedehnte Spaziergänge<br />
zu unternehmen. Diese<br />
führten ihn meistens auch an der<br />
Casa Vecchia vorbei. Er freute<br />
sich immer, wenn er die zwar<br />
einfache aber flott gespielte Musik<br />
hörte. Einmal aber blieb er<br />
stehen. “Ist denn das die Möglichkeit?<br />
Sind derartige Fortschritte<br />
in so kurzer Zeit überhaupt<br />
machbar?” Was er da hörte,<br />
war das Spiel eines Profis. Er<br />
blieb ein paar Minuten stehen.<br />
Seine feste Überzeugung “Alter<br />
müsse nicht Stillstand bedeuten”<br />
fand erneut Bestätigung.<br />
Hatte Olivia ihren ersten Fehler<br />
gemacht? Vor der Kirche und auf<br />
der Post, beim Einkaufen und auf<br />
der Strasse hatte Olivia fast täglich<br />
die gleichen Fragen zu beantworten.<br />
“Wie geht es der Donna?<br />
Sie zeigt sich im Dorf überhaupt<br />
nicht mehr.” Auch da fand<br />
Olivia eine Lösung. Sie wusste,<br />
für alles war seit Menschengedenken<br />
das “Tante-Emma-Lädeli”<br />
die inoffizielle Nachrichten-<br />
Zentrale. Diese Quelle wollte sie<br />
nützen. Sie zog die Verkäuferin<br />
Was bisher geschah: In der Casa Vecchia in Ronco sopra Ascona<br />
lebten Maddalena del Ponte und ihre Tochter Olivia. Olivia arbeitete<br />
als Telefonistin, während sich die Mutter um den Haushalt<br />
und den immer blühenden Garten bemühte. Jeden Abend setzte<br />
sich Maddalena del Ponte an das etwas verstimmte Bechstein-<br />
Klavier und spielte Melodien und Rhythmen aus den Jahren ihrer<br />
Jugend.<br />
Als der Arzt der Mutter einen Kuraufenthalt in einem Thermalbad<br />
empfahl, fuhren die beiden Frauen nach Abano in Italien.<br />
Und unternahmen die Reise Jahr für Jahr aufs Neue. An ihrem<br />
zehnten Aufenthalt bekam die Mutter Herzprobleme und verstarb.<br />
Maddalena del Ponte wurde vor Ort in Italien begraben.<br />
Olivia trauerte. Und es kam ein weiterer Kummer hinzu. Die Altersrente<br />
der Mutter würde nun wegfallen.<br />
Doch wie wäre es, wenn sie ihren Tod verschweigen würde? – Olivia<br />
del Ponte beschloss, die Mutter weiterhin “leben” zu lassen...<br />
ins Vertrauen und erzählte ihr eine<br />
sorgfältig vorbereitete Geschichte.<br />
Ihre Mutter sei zwar<br />
körperlich wohlauf, aber seltsam<br />
sei sie schon geworden. Tagsüber<br />
schlafe sie und wolle das Haus<br />
nicht mehr verlassen. Sie meide<br />
alle Kontakte und sie menschenscheu<br />
geworden. Nur in der Stille<br />
der Nacht wandle sie oft stundenlang<br />
auf der Terrasse umher. Und<br />
tatsächlich, das Buschtelefon bewährte<br />
sich einmal mehr. Die lästigen<br />
Fragen hörten auf.<br />
Immer am 11. November feiern<br />
die Ronconesen ihren Kirchenpatron<br />
San Martino. Besonders<br />
die Einheimischen folgten dem<br />
Glockengeläute und strömten zur<br />
Kirche. Es war zur Tradition geworden,<br />
dass nach dem mit Orgelspiel<br />
und Chorgesang bereicherten<br />
Gottesdienst Don Felice,<br />
der allseits beliebte Dorfpfarrer,<br />
auf dem Vorplatz die Gläubigen<br />
persönlich begrüsste. Zu Olivia<br />
sagte er: “Das ist das erste Mal in<br />
all den Jahren, dass Donna Maddalena<br />
nicht gekommen ist.” Oliva<br />
sagte: “Mutter wollte ja schon,<br />
aber ich habe ihr abgeraten. Sie<br />
leidet seit einiger Zeit an plötzlich<br />
auftretenden, akuten Hustenanfällen,<br />
teilweise verbunden mit<br />
Atemnot und könnte so den schönen<br />
Gottesdienst stören.” Noch<br />
nie zuvor hatte sie einen Priester<br />
angelogen. Der Pfarrer sagte:<br />
“Ich werde Donna Maddalena im<br />
Gebet einschliessen und ihr<br />
nächstens die Kommunion nach<br />
Hause bringen.” Olivia versuchte<br />
mit Ausflüchten und Ausreden,<br />
diesen Besuch abzuwenden.<br />
Aber Don Felice sagte nur: “Mal<br />
sehen...”<br />
Auf dem Heimweg zwang sich<br />
Olivia zu Ruhe und Besonnenheit.<br />
Sie sah das rote Signallicht.<br />
Drohte ihr von dieser Seite Gefahr?<br />
Sie musste das Vorhaben<br />
des Priesters mit allen Mitteln<br />
abwehren, aber wie?...<br />
6. Ein Brand und viele Fragen<br />
Einmal – es war an einem Samstag<br />
im folgenden Frühling –<br />
nahm das Verhängnis seinen Anfang.<br />
Olivia sass in Locarno bei<br />
ihrer “Parrucchiera” und litt unter<br />
der Trockenhaube. Sie blätterte<br />
gelangweilt in allen Illustrierten<br />
und schlürfte den bitteren<br />
Kaffee. Sie hatte auch Zeit, über<br />
das bisher Vorgefallene nachzudenken.<br />
Alles war gut gelungen,<br />
niemand schien Verdacht zu<br />
schöpfen, und die monatliche Altersrente<br />
traf pünktlich ein. Olivia<br />
konnte nicht wissen, was in<br />
diesen Stunden in Ronco geschah.<br />
Silvio Luccini, der Kommandant<br />
der örtlichen Feuerwehr, sass mit<br />
Kollegen im “Della Posta”. Ein<br />
Telefonanruf unterbrach die lebhafte<br />
Diskussion. Eine schrille<br />
Stimme meldete hastig: “Die Casa<br />
Fortuna brennt.” Nun traten<br />
die Männer in Aktion. Erst einmal<br />
wurde der Pfarrer aufgefordert,<br />
die der Santa Agatha, der<br />
Schutzpatronin der Feuerwehr,<br />
geweihte Glocke zu läuten. Luccini<br />
bliess in das schaurig tönende<br />
Feuerhorn. Von allen Seiten<br />
eilten die Männer zum Spritzenhäuschen.<br />
Sie stellten die Geräte<br />
zusammen, und schon bald setzte<br />
sich der Löschzug in Bewegung.<br />
Während sie eine hundert Meter<br />
lange Schlauchleitung zur Casa<br />
Fortuna legten, wussten sie, dieses<br />
in Vollbrand stehende Haus<br />
war nicht mehr zu retten. Ihre<br />
Aufgabe bestand nun hauptsächlich<br />
darin, die umliegenden Häuser<br />
zu schützen. Zwei Mann platzierte<br />
Luccini an der 50 Meter<br />
vom Brand entfernten Casa Vecchia.<br />
An der Haustüre lasen die<br />
beiden einen handgeschriebenen<br />
Zettel mit der Aufforderung: “Ich<br />
wünsche nicht gestört zu werden,<br />
auch von Ihnen nicht, Maddalena<br />
del Ponte.” “Dann ist die Alte allein<br />
zu Hause”, folgerten sie. Die<br />
beiden Männer organisierten eine<br />
Anstellleiter und stiegen auf<br />
die Terrasse. Es flogen immer<br />
wieder Funken hinüber. Einer der<br />
beiden kletterte, mit Handlöschgerät<br />
und Schaumstoff-Flasche<br />
ausgerüstet, auf das Dach. Der<br />
Andere trat durch die offene Tür<br />
und rief nach der alten Dame. Als<br />
niemand antwortete, ging er in<br />
alle Zimmer und schloss die Fenster.<br />
In einem der Schlafzimmer<br />
sah er etwas, das er nicht zu deuten<br />
vermochte. Auf dem Bett lag<br />
ein weisser Morgenmantel und<br />
daneben eine Perücke mit<br />
schneeweissem Haar. “Wozu<br />
braucht denn die Alte eine derartige<br />
Perücke? Die hat doch schon<br />
weisse Haare.” Der Mann trat<br />
wieder auf die Terrasse und orientierte<br />
seinen Kollegen. Dieser<br />
rief: “Du, Luigi, sieh doch mal in<br />
der Küche nach einem Scheuerlappen<br />
und nässe ihn. Dann<br />
kannst du mich gelegentlich ablösen.”<br />
Luigi ging in die Küche und<br />
suchte das Gewünschte. Er wollte<br />
den Putzschrank öffnen, aber<br />
dieser klemmte. Mit den Fäusten<br />
klopfte er an die Türe, und als sie<br />
sich öffnen liess, kollerten ein<br />
paar Karton-Päckli zu Boden. Er<br />
hob sie auf, legte sie zurück in<br />
das obere Regal und, seltsam,<br />
dort lagen Dutzende derartige<br />
Verpackungen aufgeschichtet,<br />
alle mit der Aufschrift “Knorritsch<br />
Haferflocken”. Der Feuerwehrmann<br />
fand dies komisch.<br />
“Ernähren sich die del Pontes nur<br />
von diesem Leichtgericht?” Und<br />
noch etwas überraschte ihn. Er<br />
sah im Küchenschrank eine, mit<br />
Semmeln prall gefüllte Schublade.<br />
Er wusste nun, in diesem<br />
Haus geschehen Dinge, die er<br />
nicht verstehen konnte.<br />
Am späten Nachmittag war der<br />
Brand gelöscht. Was von der fast<br />
hundertjährigen Casa Fortuna<br />
übrig blieb, war eine rauchende<br />
Ruine. Luccini liess über Nacht<br />
drei Mann als Brandwache zurück.<br />
( ... )<br />
Wie es weitergeht, erfahren Sie<br />
in der nächsten Ausgabe der TZ.