Herunterladen - tessiner zeitung
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2 11. Oktober 2013<br />
Thema<br />
Ti-Press<br />
von Martina Kobiela<br />
Impressum<br />
Einzige deutschsprachige Tessiner<br />
Zeitung: Wöchentliche Ausgabe<br />
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Herausgeber: Giò Rezzonico<br />
Verkaufte Auflage: 7’365<br />
(WEMF-beglaubigt, Basis 2011/12)<br />
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Preis er mässigungen<br />
Locarnos Hochwasser-Passerellen sind für Kinder, Alte oder Behinderte gar nicht oder nur mit Schwierigkeiten begehbar (Archivbild 2002)<br />
Bei Flut oder Feuer sind invalide Personen besonders gefährdet und müssen<br />
durch spezifische Notfallpläne oder besondere Rücksicht geschützt werden<br />
BEHINDERUNG UND<br />
NATURKATASTROPHE<br />
Im Rahmen des Interreg 4-Projekt STRADA haben<br />
Forscher aus Italien und der Schweiz untersucht,<br />
wie besser mit Naturrisiken im Grenzgebiet umgegangen<br />
werden kann. Die entsprechende Broschüre<br />
wurde der Öffentlichkeit am Dienstagabend vorgestellt,<br />
sie ist unter www. progettosrada.net/ einsehbar.<br />
Die Hauptschlussfolgerung, die die Ingenieure<br />
des kantonalen Amts für Wasser aus der Studie ziehen,<br />
ist die Notwendigkeit eines neuen Stauwerks<br />
bei Miorino im Sesto Callende-Tal. Es würde, so<br />
Ingenieur Andrea Salvetti vom kantonalen Amt für<br />
Fliessgewässer, Überflutungen des Lago Maggiore<br />
in den nächsten Jahrzehnten fast auf Null reduzieren.<br />
Wieviel das neue Stauwerk kosten würde, wollten<br />
die Ingenieure noch nicht verraten.<br />
Gerade bei Naturereignissen, die<br />
sich bereits lange im Voraus ankündigen,<br />
können Massnahmen<br />
ergriffen werden, um die sensibelsten<br />
Mitglieder der Gesellschaft<br />
zu schützen. Die Überflutung<br />
des Lago Maggiore, die sich<br />
meist schon Tage vorher abzeichnet,<br />
ist so ein Fall. Verantwortlich<br />
für die Evakuierung ist<br />
der Zivilschutz der Region Locarno<br />
und Vallemaggia. Vizekommandant<br />
Lorenzo Manfredi<br />
erzählt: “Es gibt einen Senioren<br />
in Locarno, der regelmässig zur<br />
Dialyse zum Arzt muss. Sowohl<br />
bei der grossen Überflutung im<br />
Jahr 1993, als auch bei derjenigen<br />
im Jahr 2000 hat er sich geweigert,<br />
sein Haus zu evakuieren.<br />
Wir haben ihn dann zu jedem<br />
Dialyse-Termin mit dem<br />
Schlauchboot von seinem Haus<br />
abgeholt, zum Arzt gebracht und<br />
anschliessend wieder in sein<br />
Haus zurückgefahren.” Denn die<br />
Passerellen, die der Zivilschutz<br />
bei Hochwasser installiert, sind<br />
für ältere Menschen, kleine Kinder<br />
oder Behinderte gar nicht<br />
oder nur mit Schwierigkeiten begehbar.<br />
Manfredi meint: “Im<br />
Normalfall sollten die betroffenen<br />
Gebäude vor dem Eintreffen<br />
des Hochwassers evakuiert sein,<br />
aber es bleiben immer Menschen<br />
zurück.”<br />
Und nicht alle von ihnen können<br />
gleich gut mit der Naturkatastrophe<br />
vor ihrer Haustür umgehen.<br />
Menschen mit Behinderungen<br />
gelten allgemein zu den am wenigsten<br />
integrierten in unserer<br />
Gesellschaft. Im Alltag sorgen<br />
im Tessin zahlreiche Ämter, Institutionen<br />
und Organisationen<br />
für ihre Integration. Doch wie<br />
sieht es im Katastrophenfall aus?<br />
Genau diese Frage stellen die<br />
Vereinten Nationen am 13. Oktober,<br />
dem internationalen Tag zur<br />
Verhinderung von Naturkatastrophen<br />
(International UN Day for<br />
Disaster Reduction). Mit dem<br />
Aktionstag soll das Bewusstsein<br />
darüber gestärkt werden, was wir<br />
alles tun können, um unser Risiko<br />
bei Katastrophen wie Erdbeben,<br />
Überschwemmungen, Hurrikane,<br />
Tornados, etc. zu verringern.<br />
In diesem Jahr lautet das<br />
Thema des Aktionstags: mit Behinderung<br />
und Naturkatastrophen<br />
leben. Die UNO befrägt<br />
Menschen, Gemeinden und Nationen<br />
auf der ganzen Welt zu<br />
diesem Thema: Wird auf Behinderte<br />
im Falle einer Naturkatastrophe<br />
Rücksicht genommen?<br />
Gibt es behindertengerechte<br />
Evakuierungspläne?<br />
Der Vizekommandant des Zivilschutzes<br />
Locarno, Manfredi, erklärt:<br />
“Wir haben keine Verfügung,<br />
die sich spezifisch auf behinderte<br />
Menschen bezieht.”<br />
Manfredi relativiert und erklärt:<br />
“Gleichzeitig sind unsere Zielpersonen<br />
bei einer Evakuierung<br />
behinderte Menschen, Alleinerziehende,<br />
Alte und Ausländer.”<br />
Denn die typische Familie käme<br />
im Evakuierungsfall meist gut<br />
zurecht, könnte im Hochwasserfall<br />
selbstständig zu Freunden<br />
oder Verwandten ziehen. Ausländern<br />
fehle dieses soziale Netzwerk<br />
oft, auch Alleinerziehende,<br />
Alte und Behinderte hätten es bei<br />
der Evakuierung nicht einfach.<br />
Obwohl kein spezifischer Evakuierungsplan<br />
für Behinderte<br />
existiere, gelte ihnen das Hauptaugenmerk,<br />
versichert Manfredi.<br />
Im Rahmen des Strada Projekts wurden auch diverse<br />
andere Szenarien, um dem Lago Maggiore<br />
und den Lago di Lugano besser zu regulieren,<br />
durchgespielt. Ziel dabei war einerseits die Zufriedenstellung<br />
der verschiedenen Interessengruppen,<br />
vom Tourismus über die Fischer zu den<br />
Landwirten und andererseits die Verringerung der<br />
Überflutungshäufigkeit des Sees, ohne das Ökosystem<br />
negativ zu beeinflussen und ohne die Stadt<br />
Pavia durch Schleusenöffnungen in Gefahr zu<br />
bringen. Die Ingenieure errechneten dabei, dass<br />
eine Koordination der Regulierungsmassnahmen<br />
der beiden Seen nur in Extremsituationen und nur<br />
kurzfristig sinnvoll sei, mittelfristig hätte eine gemeinsame<br />
Regulierung keinen Einfluss auf die<br />
Auch bei Feuer sind behinderte<br />
Personen benachteiligt: Taube<br />
hören den Feueralarm nicht,<br />
Blinde sehen die Notausgänge<br />
nicht und Rollstuhlfahrer können<br />
im Brandfall die Lifte nicht<br />
mehr benutzen, um wieder ins<br />
Erdgeschoss zu gelangen. Im<br />
neuen Hauptsitz der Tessiner Föderation<br />
für die Integration Behinderter<br />
(FTIA) in Giubiasco<br />
gibt es neben spezifischen Evakuierungsplänen<br />
auch bauliche<br />
Sicherheitsmassnahmen, die für<br />
die Sicherheit aller Mitarbeiter<br />
sorgen: Unter anderem Feuertüren<br />
aus Glas des Typs T30. Diese<br />
Schleusen sollen verhindern,<br />
dass sich ein Feuer von einem<br />
Gebäudeflügel zum nächsten<br />
ausweitet. 30 Minuten lang halten<br />
die Türen Rauch und Hitze<br />
stand. Das ist essentiell, denn<br />
wie Mirella Sartorio, Verantwortliche<br />
für die Qualitätssicherung<br />
bei der FTIA, erklärt, sieht<br />
das Notfallprotokoll vor, dass alle<br />
nicht-behinderten Personen<br />
das Gebäude evakuieren und<br />
sich an vorbestimmten Sammelpunkten<br />
einfinden, die Rollstuhlfahrer<br />
bleiben mit einer Begleitperson,<br />
die im Falle eines<br />
Brandes spontan bestimmt wird,<br />
in ihrem Büro, bis die Feuerwehr<br />
eintrifft und sie rettet. Den<br />
Evakuierungsplan hat die FTIA<br />
bilateral mit dem lokalen Feuerwehrkorps<br />
erstellt – so wie es alle<br />
Institutionen mit Nutzern, die<br />
spezielle Bedürfnisse haben,<br />
machen müssen.<br />
Hochwasserfrequenz könnte fast auf Null gesenkt werden, glauben die Verfasser von “STRADA”<br />
Ingenieure verlangen ein neues Stauwerk<br />
Hochwasserfrequenz. Auch eine Erhöhung des<br />
Wasserspiegels im Sommer (momentan wird dieser<br />
in den Sommermonaten tiefer gehalten als im<br />
Winter) hätte kaum einen Effekt auf das Überschwemmungs-<br />
und Austrocknungrisiko des auch<br />
Verbano genannten Binnengewässers.<br />
Der Lago Maggiore wird seit dem Jahr 1943 durch<br />
ein Stauwerk reguliert. Dieses ist laut Ingenieur Salvetti<br />
nur bis zu einer Wasserhöhe von 194 m ü. M.<br />
einsetzbar. Beim historischen Hochwasser von<br />
1868 erreichte der Wasserspiegel des Verbano eine<br />
Höhe von knapp über 200 m ü. M. Auch bei den rezenteren<br />
Überflutungen in den Jahren 1993 und<br />
2000 stieg der See auf über 197 m ü. M., im Jahr<br />
2002 auf mehr als 196 m ü. M (siehe Bild). mk