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2.2006 PDF 5.4 mb - ITI

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<strong>ITI</strong> Deutschland<br />

Werkstattbegegnung<br />

zu kanadischer und<br />

deutscher<br />

Gegenwartsdramatik<br />

Von Birgit Schreyer Duarte<br />

Fotos zu<br />

TIM CARLSON „Allwissen“<br />

Vor sieben Jahren wäre in Deutschland<br />

eine Veranstaltung, wie sie gerade<br />

am Maxim-Gorki-Theater stattgefunden<br />

hat – ein Workshop zur neuen Stückentwicklung<br />

für Dramaturgen aus Kanada<br />

und Deutschland – extrem schwer vorstellbar<br />

gewesen, um nicht zu sagen<br />

unvorstellbar. Vielleicht nicht für jeden,<br />

sicher aber für diejenigen, die ich damals<br />

davon zu überzeugen versuchte,<br />

dass meine beabsichtigte Diplomarbeit<br />

interessant und relevant sein könnte:<br />

Kanadisches Drama. Am theaterwissenschaftlichen<br />

Institut der Münchener<br />

Ludwig-Maximilian-Universität, in lokalen<br />

Buchläden, in der Unibibliothek,<br />

unter Freunden und Kollegen wurden<br />

diese beiden Begriffe schlicht als Oxymoron<br />

betrachtet. Wie Prof. Albert-Rainer<br />

Glaap in unseren Diskussionen noch<br />

einmal bestätigte, die Kenntnis von beidem<br />

– kanadischer Theaterpraxis und<br />

Stücken – war unter Akademikern und<br />

Theaterpraktikern in Deutschland fast<br />

nicht vorhanden, bzw. begrenzt auf<br />

eine Handvoll kritischer Literatur, die<br />

hauptsächlich von Prof. Glaap selbst<br />

verfasst worden war. Natürlich kann ich<br />

nicht für die anderen Theaterinstitute<br />

in Deutschland sprechen, doch nach<br />

meinen Forschungen war die Wahrnehmung<br />

kanadischer Theaterkultur minimal<br />

und mein Vorhaben, eine ganze<br />

Abschlussarbeit zu diesem Thema zu<br />

schreiben, stieß häufig auf Skepsis und<br />

Ungläubigkeit. Ich hebe diese (frühere)<br />

Ignoranz so hervor, um zu zeigen, dass<br />

der Erfahrungs- und Wissensaustausch<br />

zwischen Kanadiern und Deutschen,<br />

der durch die Veranstaltung letzte Woche<br />

ermöglicht wurde, von beiden<br />

Seiten begrüßt wurde: Während die<br />

Mehrheit der kanadischen Teilnehmer<br />

ihre Begeisterung zum Ausdruck brachten,<br />

deutsche Theaterkultur und –praxis<br />

kennenzulernen, mit der sie bisher weitgehend<br />

unvertraut waren, wurde hoffentlich<br />

auch deutlich, dass das Bedürfnis<br />

nach und Interesse an Informationen<br />

über die jeweiligen Theaterstrukturen<br />

und Besonderheiten nicht nur aufseiten<br />

der Kanadier existierte.<br />

In den letzten fünf bis zehn Jahren<br />

ist bezüglich des Austauschs zwischen<br />

den beiden Ländern viel passiert: Wie<br />

wir gelernt haben, sind inzwischen ca.<br />

30 kanadische Stücke auf deutschen<br />

Bühnen aufgeführt worden! Allerdings<br />

waren solche Aktivitäten bislang eher<br />

Resultat zufälliger Entdeckungen oder<br />

individueller persönlicher Beziehungen<br />

und können daher nicht als systematisch<br />

bezeichnet werden. Der Workshop, der<br />

vom Internationalen Theaterinstitut in<br />

Berlin und der Kanadischen Botschaft<br />

organisiert und vom Maxim-Gorki-Theater<br />

beherbergt wurde, war mit Sicherheit<br />

ein Schlüsselereignis im künstlerischen<br />

und ökonomischen Austausch<br />

zwischen den beiden Theaterkulturen.<br />

Zum ersten Mal wurden etwa 30 Professionelle<br />

aus dem Theaterbereich und<br />

Akademiker aus Deutschland und Kanada<br />

für den Zeitraum von einer Woche<br />

versammelt, um zu diskutieren, sich zu<br />

befragen, zu erklären, zu forschen und<br />

die jeweiligen Theatertraditionen bzw.<br />

gegenwärtigen Praktiken des Stückeschreibens,<br />

der Dramaturgie, Kuratierung,<br />

Programmierung, Finanzierung,<br />

Veröffentlichung und der Pflege des<br />

zeitgenössischen Theaters gegenseitig<br />

zu bestaunen. Einige Annahmen haben<br />

sich sicher während dieses Austauschs<br />

auf beiden Seiten bestätigt, doch viel<br />

mehr wurde wahrscheinlich infrage<br />

gestellt oder auch korrigiert: Deutschland<br />

als das Theaterland, wo Milch und<br />

Honig fließen, mit vollen Häusern und<br />

ohne den Zwang, als Sklave des Kartenverkaufs<br />

den Publikumsgeschmack<br />

zu bedienen? Kanada als ein kulturelles<br />

Niemandsland mit einer zu kleinen und<br />

zu verstreuten Bevölkerung, um eine<br />

Kunstform aufrecht zu erhalten, die eine<br />

geschulte Gemeinschaft braucht, um zu<br />

existieren?<br />

Für mich persönlich war das Treffen<br />

der Theatermacher der beiden Länder<br />

spannend und<br />

auf vielen Ebenen entscheidend, zuweilen<br />

sogar surreal: Während der sechs<br />

Jahre, die ich<br />

jetzt als Deutsche in Kanada lebe<br />

(forschend als Doktorandin zum Thema<br />

Drama und gelegentlich als Dramaturgin<br />

arbeitend), hatte ich einiges über<br />

Kanadas Theaterkonventionen und gegenwärtige<br />

Entwicklungen zu lernen.<br />

Und in dieser Zeit erfuhr ich viele Facetten<br />

des Diskurses über Unterschiede<br />

und Ähnlichkeiten bei der Annäherung<br />

beider Länder an das Theater. Ich erinnere<br />

mich lebhaft an die allererste dieser<br />

Debatten; die fand in einem alten VW<br />

mit meinem ersten kanadischen Theatermentor<br />

statt, bei dem ich damals ein<br />

einmonatiges Praktikum machte. Wir<br />

waren auf dem Weg zur ersten kanadischen<br />

Theaterprobe, die ich erleben<br />

sollte, für ein kleines Sommertheater<br />

in Süd-West-Ontario. Die Fahrt dauerte<br />

nur 45 Minuten und wir beide hatten<br />

uns gerade erst getroffen, doch wir waren<br />

vom ersten Moment an in erhitzte<br />

und leidenschaftliche Streits über alle<br />

möglichen Aspekte des Theatermachens<br />

und unseren Zweifel an den Unterschieden<br />

zwischen unseren kulturellen Horizonten<br />

involviert. Ense<strong>mb</strong>letheater?<br />

Respekt vor dem Text? Autorentheater?<br />

Regietheater? Dramaturgie als Beruf?<br />

Neue Stückentwicklungsworkshops?<br />

Keine zweite Produktion? Kein Booen im<br />

Theater? Hierarchische Theatersysteme?<br />

Eine 50 Jahre alte Dramentradition?<br />

Post-Kolonialismus im Theater? Und so<br />

weiter und so fort. Viele dieser Fragen<br />

und viele neue trage ich in den letzten<br />

Jahren, bei meinen akademischen und<br />

praktischen Begegnungen mit Theater<br />

in Kanada, mit mir herum. Einige erscheinen<br />

irgendwie momentan beantwortet,<br />

die meisten aber sind komplex<br />

geblieben und führen jedesmal zu einer<br />

neuen Reihe von Fragen, wenn man sie<br />

klar zu beantworten versucht. Ich habe<br />

viele imaginäre Diskussionen zwischen<br />

kanadischen Theatermachern und denen<br />

„zu Hause“ im Kopf ausgetragen,<br />

als Versuch, die Pros und Kontras der<br />

jeweiligen kulturellen Praxis und die<br />

Prinzipien und Anschauungen dahinter<br />

besser zu verstehen. Mit anderen Worten:<br />

Für mich war dieses Treffen, wo ein<br />

solcher Zusammenprall der Kulturen<br />

tatsächlich passierte, hoch inspirierend<br />

und lang vorausgeahnt.<br />

Um mit den Eindrücken zu beginnen,<br />

die ich von dem Workshop letzte<br />

Woche gesammelt habe: Am Beginn<br />

der Diskussion habe ich eine interessante<br />

Tendenz bei den Gesichtspunkten<br />

der Teilnehmer festgestellt: Entgegen<br />

meinen ursprünglichen Erwartungen<br />

gingen die Ansichten der Kanadier untereinander<br />

über Theater und die Rolle<br />

der Dramaturgie weiter auseinander<br />

als die der Vertreter der verschiedenen<br />

Länder zu diesem Thema. Fast keine<br />

Sitzung ging ohne eine manchmal erhitzte<br />

Debatte unter den kanadischen<br />

Theatermachern über die Stellung des<br />

Texts im dramaturgischen Prozess der<br />

Produktion vorüber. Während es die<br />

Überzeugung und Praxis einiger Theatermacher<br />

ist, den Stücktext als Ausgangspunkt<br />

für die Erarbeitung einer<br />

Theaterproduktion zu betrachten und<br />

als das eigentliche Mittel, um Inhalte ins<br />

Theater zu bringen, kritisierten andere<br />

die in Kanada traditionelle Vormachtstellung<br />

des Texts und riefen allgemein<br />

nach einem umfassenderen Einbezug<br />

anderer als textbasierter Prozesse in die<br />

Produktion. Dass am geschriebenen<br />

und gesprochenen Text als Hauptobjekt<br />

für eine Untersuchung des dramaturgischen<br />

Prozesses festgehalten wurde,<br />

hätte man vielleicht als Gesamttendenz<br />

im Raum bezeichnen können, dennoch<br />

blieb die Spaltung der scheinbar unvereinbaren<br />

Ansätze in den Konversationen<br />

der kanadischen Teilnehmer offensichtlich.<br />

Im Gegenteil dazu gab es unter<br />

den deutschen Theaterpraktikern keine<br />

annähernd so klare Teilung fundamentale<br />

Techniken betreffend, obwohl es<br />

dort sicher Meinungsverschiedenheiten<br />

in anderen Aspekten gab. Zusätzlich<br />

wurde über die Woche natürlich die<br />

Spaltung zwischen quebecischen und<br />

anglo-kanadischen Theaterstilen und -<br />

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