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146 Aufsätze BRAK-Mitt. 4/2007<br />
Knauer/Wolf, 20 Jahre „Bastille-Entscheidungen“ <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverfassungsgerichts<br />
Rechtsuchen<strong>de</strong>n abhängig gemacht wer<strong>de</strong>n darf. 57 In diesem<br />
Sinne ist das altruistische Leitbild, welches §2<strong>de</strong>r BRAO zugrun<strong>de</strong><br />
liegt, noch immer aktuell. Eine Anwaltschaft, <strong>de</strong>ren<br />
Leitbild die Profitmaximierung ist, wird sich vollständig <strong>de</strong>r<br />
Quersubventionierung entziehen. Der empirische Nachweis,<br />
dass Skaleneffekte im Rahmen <strong>de</strong>r Rechtsberatung eintreten<br />
können, wur<strong>de</strong> –entgegen an<strong>de</strong>rslauten<strong>de</strong>n Behauptungen 58 –<br />
bislang gera<strong>de</strong> nicht erbracht. 59 Rechtsdienstleistung ist immer<br />
noch keine Konfektionsware, son<strong>de</strong>rn Maßanfertigung.<br />
V. Freie Advocatur?<br />
Zu <strong>de</strong>n oben unter III. geschil<strong>de</strong>rten positiven Entwicklungen<br />
hin zueiner selbstbestimmten Advokatur zeigen sich lei<strong>de</strong>r insbeson<strong>de</strong>re<br />
im Strafprozess Gegenten<strong>de</strong>nzen. Die zunehmen<strong>de</strong><br />
Verantwortlichkeit <strong>de</strong>s Verteidigers führt letztlich dazu, dass<br />
ein Teil <strong>de</strong>r früheren stan<strong>de</strong>srechtlichen Diskussion, bezogen<br />
auf die Wahrheitspflicht, über das Prozessrecht wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n<br />
Vor<strong>de</strong>rgrund tritt. Schon länger zeigt sich die Ten<strong>de</strong>nz, <strong>de</strong>m<br />
Verteidiger imStrafprozess unter Berufung auf die Organstellung<br />
prozessuale Mitwirkungspflichten wie die Pflicht zur Beweisantragsstellung<br />
und diverse Wi<strong>de</strong>rspruchs- und Rügeverpflichtungen<br />
aufzubür<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>n Verteidiger zu einer Art<br />
„Prozessvormund“ <strong>de</strong>s Mandanten machen. 60 Das große Fass<br />
<strong>de</strong>s Streites umdie Organstellung <strong>de</strong>s Verteidigers, <strong>de</strong>r ebenfalls<br />
unmittelbar das berufliche Selbstverständnis <strong>de</strong>r Anwaltschaft<br />
in <strong>de</strong>r Folge <strong>de</strong>r „Bastille-Entscheidungen“ berührt, soll<br />
hier nicht noch einmal aufgemacht wer<strong>de</strong>n. 61<br />
Kritisch muss aber auf eine neue Entscheidung <strong>de</strong>s Großen<br />
Strafsenats <strong>de</strong>s BGH geblickt wer<strong>de</strong>n, die unter an<strong>de</strong>rem mit<br />
„stan<strong>de</strong>srechtlichen (!)“ Argumenten eines <strong>de</strong>r grundlegen<strong>de</strong>n<br />
Prinzipien <strong>de</strong>s Strafprozesses aushebelt und damit das Recht<br />
<strong>de</strong>r strafprozessualen Revision grundlegend verän<strong>de</strong>rt. Bisher<br />
war, auch in <strong>de</strong>r berufsrechtlichen Literatur, 62 anerkannt, dass<br />
die Wahrheitspflicht <strong>de</strong>s Rechtsanwalts <strong>de</strong>n Revisionsverteidiger<br />
nicht daran hin<strong>de</strong>rt, eine auf das Protokoll gestützte Verfahrensrüge<br />
zu erheben, selbst wenn er weiß (o<strong>de</strong>r je<strong>de</strong>nfalls nicht<br />
sicher ist), dass das Protokoll falsch ist und <strong>de</strong>r Verfahrensfehler<br />
tatsächlich nicht stattgefun<strong>de</strong>n hat. 63 Der Grund dafür wur<strong>de</strong> in<br />
<strong>de</strong>r Beweiskraft <strong>de</strong>s Protokolls gemäß §274 StPO gesehen. Der<br />
Gesetzgeber hatte diese „formelle Wahrheit“ über die materielle<br />
Wahrheit gestellt. Das Protokoll durfte nach bisheriger<br />
Rechtsprechung <strong>de</strong>mentsprechend zwar vom Gericht je<strong>de</strong>rzeit<br />
korrigiert wer<strong>de</strong>n, einer Verfahrensrüge durfte aber damit nicht<br />
<strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>n entzogen wer<strong>de</strong>n (Verbot <strong>de</strong>r sog. „Rügeverkümmerung“).<br />
64 Der Große Strafsenat hat mit Beschluss vom 23. April<br />
2007 65 diese Rechtsprechung aufgegeben und eine Protokollberichtigung<br />
zuje<strong>de</strong>r Zeit alszulässig angesehen und damit die<br />
Rügeverkümmerung anerkannt. Es ist inunserem Zusammenhang<br />
von Be<strong>de</strong>utung, dass <strong>de</strong>r Große Strafsenat ausdrücklich<br />
auch auf die Berufspflichten <strong>de</strong>s Verteidigers Bezug nimmt. Es<br />
heißt dort wörtlich: 66<br />
57 BVerfGE 85, 337, 347.<br />
58 Komm (2004) 83 endgültig.<br />
59 Frank/Love, Regulation and Legal Profession, in: Bouckaerts/De<br />
Geest, Encyclopaedia of Law and Economics, Vol. III, Regulation<br />
and Legal Profession, 1017.<br />
60 Vgl. dazu nur Barton, Einführung in die Strafverteidigung, §4,<br />
Rdnr. 8.<br />
61 Siehe dazu nur die brillante Darstellung von Salditt ,in: Widmaier,<br />
Münchener Handbuch Strafverteidigung, 2006, §1.<br />
62 Henssler/Prütting/Eylmann,§43a BRAO, Rdnr. 116. Feuerich/Weyland,<br />
§43a BRAO, Rdnr. 42.<br />
63 S. Dahs, Handbuch <strong>de</strong>r Strafverteidigung, 6.Aufl., Rdnr. 918.<br />
64 St. Rspr. seit RGSt 2, 76.<br />
65 GSSt 1/06.<br />
66 BGH, GSSt 1/06, Rdnr. 49 ff.<br />
„Eine verän<strong>de</strong>rte Einstellung <strong>de</strong>r Strafverteidiger zu<strong>de</strong>r Praxis,<br />
auf unwahres Vorbringen Verfahrensrügen zustützen, spricht<br />
dafür, die Zurückhaltung bei <strong>de</strong>r Berücksichtigung <strong>de</strong>r Protokollberichtigung<br />
aufzugeben, auch wenn mit <strong>de</strong>r Berichtigung<br />
einer zulässig erhobenen Rüge die Tatsachengrundlage entzogen<br />
wird. (…) Die grundlegen<strong>de</strong> Entscheidung <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sgerichtshofs<br />
zum Verbot <strong>de</strong>r Rügeverkümmerung (BGHSt 2,125)<br />
erging in einer Zeit, in <strong>de</strong>r die vom Verteidiger bewusst wahrheitswidrig<br />
erhobene Verfahrensrüge nach verbreiteter Ansicht<br />
als stan<strong>de</strong>swidrige Verfehlung galt (…). Heute wird es hingegen<br />
schon als „anwaltlicher Kunstfehler“ bezeichnet, sich eines<br />
Fehlers imProtokoll je<strong>de</strong>nfalls nicht in <strong>de</strong>r Weise zu bedienen,<br />
dass ein an<strong>de</strong>rer Verteidiger die Revision begrün<strong>de</strong>t. (…) All<br />
dies wi<strong>de</strong>rstreitet diametral <strong>de</strong>n Vorstellungen, von <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r<br />
Bun<strong>de</strong>sgerichtshof inseiner Entscheidung zur Unzulässigkeit<br />
<strong>de</strong>r Protokollrüge (BGHSt 7,162) ausgegangen ist. Hier ist ausgeführt,<br />
das Erfor<strong>de</strong>rnis <strong>de</strong>r bestimmten Behauptung eines Verfahrensfehlers<br />
führe dazu, dass <strong>de</strong>r Verteidiger –unbescha<strong>de</strong>t<br />
<strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r Stan<strong>de</strong>swidrigkeit seines Verhaltens –je<strong>de</strong>nfalls<br />
„vor seinem Gewissen und nach außen hin die Verantwortung<br />
für die Geltendmachung eines je<strong>de</strong>n Verfahrensmangels übernehmen“<br />
muss, „in<strong>de</strong>m er ihn ernstlich behauptet und nicht<br />
etwa nur darauf hinweist, daß er sich aus <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rschrift ergebe“;<br />
dieses Erfor<strong>de</strong>rnis solle „einem Mißbrauch rein formaler<br />
Möglichkeiten entgegenwirken“ (BGH a.a.O. 164; hierzu Fahl,<br />
Rechtsmißbrauch im Strafprozeß 2004 S.665 f.; Tepperwien in<br />
FS für Meyer-Goßner S.595, 599). Die verän<strong>de</strong>rte Einstellung<br />
auf Seiten <strong>de</strong>r Strafverteidiger hat ver<strong>de</strong>utlicht, dass sich die mit<br />
<strong>de</strong>r Rechtsprechung zur Unzulässigkeit <strong>de</strong>r Protokollrüge verknüpfte<br />
Hoffnung nicht erfüllt hat, auf diese Weise –insbeson<strong>de</strong>re<br />
durch <strong>de</strong>n Appell andas Gewissen <strong>de</strong>s die Revision begrün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Verteidigers –bewusst unwahre Verfahrensrügen<br />
zu verhin<strong>de</strong>rn (…). Die Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s anwaltlichen Ethos ist<br />
ein weiteres Argument für die Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Rechtsprechung.“<br />
Ohne die strafrechtliche Argumentation aufnehmen zu wollen,<br />
67 zeigt sich hier, dass <strong>de</strong>r Große Strafsenat seine für die<br />
Chancen einer auf wesentliche Mängel <strong>de</strong>s Verfahrens gestützten<br />
Revision gera<strong>de</strong>zu katastrophale Entscheidung auf das alte,<br />
überkommene Stan<strong>de</strong>srecht stützt. Esist augenfällig, dass <strong>de</strong>r<br />
Senat selbst von „stan<strong>de</strong>swidrig“ spricht,die Entwicklungen <strong>de</strong>s<br />
Berufsrechts also offenbar ignoriert. Denn die Grenzen <strong>de</strong>r anwaltlichen<br />
Berufsausübung sind nicht mehr die <strong>de</strong>r vom Senat<br />
selbst angeführten „Ethik“, son<strong>de</strong>rn die Regelungen von BRAO<br />
und BORA; Letzterer geht das formelle Recht <strong>de</strong>r StPO sogar<br />
vor. Wenn aber richtigerweise §274 StPO sozuverstehen ist,<br />
dass <strong>de</strong>r Inhalt <strong>de</strong>s Protokolls als wahr zuunterstellen ist, so<br />
kann „Stan<strong>de</strong>s“-recht nicht als Argument gegen die Ausübung<br />
<strong>de</strong>r anwaltlichen Pflicht zur Ausschöpfung aller gesetzmäßigen<br />
Rechte für <strong>de</strong>n Mandanten verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n. Das Unterlassen<br />
einer solchen Rüge wäre in <strong>de</strong>r Tat ein anwaltlicher Kunstfehler,<br />
nicht das Erheben <strong>de</strong>rselben.<br />
Die Entscheidung zeigt eine gefährliche Ten<strong>de</strong>nz. Nach <strong>de</strong>r Liberalisierung<br />
<strong>de</strong>s Berufsrechts sollen bestimmte Verhaltensweisen<br />
einer selbstbestimmten, <strong>de</strong>m Mandanten verpflichteten,<br />
nicht obrigkeitsorientierten Anwaltschaft über das Prozessrecht<br />
verhin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n. Ungewöhnlich ist hier, dass die Entwicklung<br />
<strong>de</strong>s Berufsrechts in eine liberalere Auffassung <strong>de</strong>s Anwaltsberufs<br />
vom Großen Strafsenat offen als Begründung dafür<br />
herhält.<br />
67 Hierzu vorerst nur die Beiträge von Jahn/Widmaier,JR2006, 166 ff.<br />
und Tepperwien, in: FS Meyer-Goßner (2001), 595, <strong>de</strong>ren Argumentation<br />
umfänglich überzeugt.